Die Gartenlaube (1884)/Heft 10

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[157]

No. 10.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Nach dem Diner hatte sich der Bennewitzer sofort verabschiedet, die Schwestern waren an’s Fenster getreten, der schönen Equipage nachzusehen, und Lili hatte herzhaft gegähnt, dann aus dem „Wildschütz“ ein paar Tacte geträllert:

„Doch ich nehm’ mir einen Alten,
Sehe nicht die vielen Falten“

und geschlossen: „Brrr Frieda! Ich glaube, ich reise bald wieder nach Hause!“

„Ja, ich kann es Dir nicht verdenken!“

Die junge Frau war verdrießlich gewesen und hatte sich in einen Band Novellen von Heyse vertieft. Moritz war zu seiner Mutter gegangen und endlich auch Frieda.

„Höre, Lili,“ hatte sie gesagt, „da drüben ist wieder was nicht richtig, ich gehe einmal nachsehen.“ Nun war die junge Frau schon eine Ewigkeit fort, und Lili langweilte sich noch immer; nicht einmal die blasse Else kam, um sich ihrer zu erbarmen.

Es war das Beste, sie ging wieder heim, da amüsirte sie sich wenigstens noch über den Jagdjunker vom P.schen Hofe; er war doch immerhin weniger langweilig, als der Bennewitzer; na überhaupt, was waren das für Helden, der Bennewitzer und Moritz, der gute große Bär – auf den ist Frieda gar noch eifersüchtig –. Barmherziger Himmel!

Die junge Frau hatte drüben erst ein wenig gehorcht, dann war sie hineingegangen.

Frau von Ratenow saß ruhig wie immer in ihrer Fensternische; die wappengeschmückte Mundtasse stand dort, wie alle Tage, und ihre Hände hielten das Strickzeug. Moritz ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab; er sah sehr erregt aus.

„Ah!“ rief die schöne kleine Frau, „Moritz macht wildes Thier – was ist denn vorgefallen?“

„Ich bin nicht ganz einer Meinung mit Mama, Frieda.“

„Ah!“ sagte die junge Frau ironisch, „das ist allerdings etwas Seltenes.“

„Und ich behaupte,“ erklärte Frau von Ratenow, „man muß nicht locker lassen; es giebt viel Leute, die sich gegen ihr Glück sperren wie ein krankes Kind gegen die Medicin.“

„Und ich behaupte, Mutter, daß es hier bei uns nicht Sitte ist, das Weib zu verkaufen!“ brauste er auf, und sein ehrliches gutes Gesicht überflog die Röthe des Zornes. „Frei soll es sein in dieser Beziehung, das Recht haben, sich hinzugeben oder sich zu versagen. Wo bleibt Sitte, Moral und Weiblichkeit bei den entsetzlichen Grundsätzen, die, leider Gottes! an der Tagesordnung sind. Ich für meinen Theil achte das Mädchen niedrig, das sich freien läßt, lediglich um eine Versorgung zu finden!“ Er stand mit sprühenden Augen vor seiner Mutter.

Die alte Dame blieb völlig ruhig. Moritz war immer ein bischen Schwärmer gewesen, er hatte das von seinem Vater, und der „Jung“ wußte ja gar nicht, was des Lebens Noth bedeute für ein schutzloses armes Mädchen.

„Ich kann sie natürlich nicht in die Kirche schleppen, und Hegebach ist nicht der Mann, sich eine Frau zu erbetteln,“ scholl es zurück. „Was Du sagst, mein Jung, klingt recht schön – wenn man die nöthigen Mittel hat. Du weißt selbst am besten: Theorie und Praxis sind grundverschiedene Dinge. Ich habe das Capitel schon zu oft in diesen Tagen abgehandelt, ich rede nicht mehr darüber. Ich hab ’s gut gemeint! – Meine Großmutter pflegte zu sagen: ‚Liebe – Liebe ist meistentheils Einbildung!‘ Ich habe Mädchen genug gekannt, die um den Ersten, den sie nicht bekommen konnten, in’s Wasser gehen wollten, nur um beim Zweiten nachher zu finden, daß dieser doch nun erst der Wahre, der Rechte, der einzig Geliebte sei. Geh’ doch, Moritz, es ist lächerlich von Dir; Ansichten sind’s, die höchstens noch ein liebeskranker Backfisch oder eine halbverdrehte alte Jungfer ungestraft aussprechen darf.“

„Es mag sein,“ erwiderte er schroff, „daß Viele so sind, aber ich will nicht daran glauben.“

Er war vor Frieda stehen geblieben und sah zu ihr hinunter mit aufleuchtenden Augen.

„Frieda, sprich Du ein Wort zu Ehren Deines Geschlechts!“

„Ich weiß ja gar nicht, was Ihr meint.“ Die kleine Frau wandte den schönen Kopf wie verlegen zur Seite.

„Hegebach hat heute um Else angehalten, und sie –“

„Um Else?“ Die erstaunten Augen flogen von ihrem Manne zu der strickenden Schwiegermama. „Also doch!“ Und sie lachte hell auf.

Unwillkürlich stutzte er. Was sollte dies fast krampfhafte Lachen, das schon ein halbes Weinen war? Dicke schwere Tropfen rannen ja über die erbleichten Wangen.

„Du hast ihr natürlich abgeredet, Moritz,“ kam es zwischen dem Lachen hervor.

[158] „Abgeredet? Nein, Frieda, im Gegentheil; ich habe versucht, ihr die Nothwendigkeit dieses Schrittes zu erklären, aber es hat mir leid gethan hinterher.“

„Freilich!“ Die junge Frau lachte nicht mehr. „Ich wüßte auch gar nicht, wie es werden sollte auf der Burg. ohne Else von Hegebach; es wäre ja undenkbar!“

„Was meinst Du damit?“ scholl die Stimme der alten Dame dazwischen.

„O, nichts, Mamachen – Moritz hat mich wohl verstanden.“

„Ich bedaure, nein, Frieda,“ erwiderte er ruhig.

„Aber ich!“ Frau von Ratenow hatte sich erhoben und stand nun vor der Schwiegertochter. „Ich habe viel Nachsicht mit Dir gehabt, mein Kind, für Deine Launen und Capricen, mit denen Du das ganze Haus tyrannisirst, habe Dich stets entschuldigt, weil ich annahm, daß Du Deinem Gatten herzlich zugethan seiest. Daß er sich von Dir quälen ließ, war seine Sache, er hat’s nicht besser gewollt. Aber wenn Du wagen solltest“ – sie erhob mächtig ihre Stimme – „ihn auch nur in Gedanken einer Unehrenhaftigkeit zu zeihen, wenn Du es wagen solltest, den Ruf des Mädchens anzutasten, das unter meinem Dache groß geworden – Frieda, bei Gott! ich vergesse es, daß Du meines einzigen Sohnes Frau, daß Du die Mutter seiner Kinder bist!“

„Halt ein!“ sagte Moritz, die drohend erhobene Hand der alten Dame sanft herunterziehend. „Frieda weiß nicht, was sie spricht, sie meint es anders.“

Die junge Frau verharrte leichenblaß in ihrem Stuhle; es sprach ein leidenschaftlicher Trotz aus ihren Mienen.

„Nein!“ rief sie aufspringend, „ich meine es nicht anders, ich weiß, was ich gesagt habe. – Seitdem Else Hegebach im Hause ist, ist er ein Anderer geworden, hat er nur noch Augen und Aufmerksamkeiten für sie; ich muß es doch wissen, besser als Du und die Andern!“

„Schweig!“ gebot die alte Dame so würdevoll und ruhig, daß der schöne Mund unwillkürlich verstummte. „Was habe ich einst gesagt, Moritz,“ wandte sie sich zu dem Sohne, „als Du um Dein Weib freitest? Werde nicht müde, sie zu ziehen, damit sie Dir nicht über den Kopf wachse! Jetzt erntest Du die Saat Deiner grenzenlosen Nachgiebigkeit, Deiner Tändeleien; es giebt Weiber und Kinder, denen Güte wie Gift ist –. Und das ist eine Liebesheirath gewesen! Die meine war es nicht, aber ich habe Deinen Vater geachtet und hätte nimmer gewagt ihn zu beleidigen. Nun fehlt nur noch, daß Du sie um Verzeihung bittest, mein Jung, und das Capitel zu einem modernen Eheroman ist fertig.“

„Du weißt ganz genau, Mutter, daß ich das nicht thun werde,“ erwiderte er düster.

Aber die alte Dame hörte es nur noch halb; sie war in ihr Schlafzimmer gegangen und riegelte hinter sich zu.

„Frieda,“ sagte er traurig, sich zu ihr wendend, „Du hast Dich in einen furchtbaren Irrthum hineinphantasirt – weiß Gott, weher konntest Du mir nicht thun!“

Sie stand noch immer da und zupfte an ihrem Battisttaschentuche, die blauen Augen in Thränen funkelnd.

„Frieda, geh’ hinüber, beruhige Dich erst,“ bat er, „und laß uns dann ruhig aussprechen. Mein Gott, wie bist Du auf so Etwas gekommen?“

Er war blaß; sie mußte sehen, daß sie den großen treuherzigen Mann bis in’s Innerste verletzt hatte, aber sie wollte es nicht sehen. Sie schüttelte seine Hand ab und verließ eilig das Zimmer; sie war zu furchtbar gekränkt, sie war eine zu unglückliche Frau – o –

„Lili,“ schluchzte sie in ihrem Boudoir und fiel der Schwester um den Hals, „es ist doch zu fürchterlich, wenn man bei allem andern Unglücke noch eine solche Schwiegermutter hat; so groß und alt Moritz ist, er hängt noch immer an ihrer Schürze wie ein kleines Kind und nimmt nicht einmal meine Partei, wenn sie mich wie ein Schulkind behandelt; aber wie sollte er auch, er liebt mich ja nicht mehr.“

Es war ein häßlicher Tag, der sich seinem Ende zuneigte, und ein häßlicher Abend folgte ihm. Frieda hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und wollte Moritz nicht sehen. Lili aagte ihm das, und ihre Augen blickten so scheu den Schwager an, wie man etwa einen Verbrecher der schlimmsten Sorte betrachtet. Die Kinder schrieen in ihrem Zimmer, und als er sie beruhigen wollte, fürchteten sie sich vor seiner finsteren Miene. Er trat dann in’s Freie; im Hause sei es ja zum Ersticken, meinte er; er ging schließlich vom Hofe herunter, die Allee entlang, in den duftigen Frühlingsabend hinein, und ohne jede Absicht schlenderte er durch das Stadtthor. In den Gassen war es noch sehr lebendig, vor den Thüren lärmten die Kinder und schwatzten die Nachbarn mit einander, und der Mond schien fast grell heute Abend.

„Holla! Liebster Ratenow !“ rief eine Stimme, und Jemand klopfte ihn auf die Schulter, „was treiben Sie denn hier? Suchen Sie Menschen, so kommen Sie mit in’s Casino; Rost giebt seine Verlobungsbowle.“

Der Rittmeister von P. stand vor ihm. Moritz war nicht in der Stimmung; er wollte nicht, er entschuldigte sich mit seinem Anzuge, und schließlich ging er doch mit.

In dem eleganten Speisesaale der Officiersmesse war es schon sehr lebhaft, als die Herren eintraten; der glückliche Bräutigam schien noch der Nüchternste zwischen den Andern, außer etwa dem Bennewitzer, welcher förmlich apathisch seine Cigarre rauchte.

„Was Tausend,“ sagte Moritz, sich mühsam zum Scherze zwingend, „Sie hier, Herr von Hegebach? Wie kommt der Saul unter die Propheten?“

„Man hat mich eingefangen, wie Sie vermuthlich auch, lieber Ratenow,“ erwiderte er, und zog für Moritz einen Stuhl heran. „Ich mochte noch nicht nach Hause fahren – Sie wissen ja, es giebt Tage im Leben, wo man auf keinem Flecke Ruhe hat.“

Moritz schwieg, er wußte wohl, was das heißen sollte, er selbst hatte ihn ja heute früh gebeten, sich bis morgen zu gedulden; Else sei so überrascht, seine Werbung wäre ihr so plötzlich gekommen, und was man noch zu sagen pflegt, wenn nothgedrungen eine Frist gewonnen werden soll.

Man war schon von der Bowle zum Sect übergegangen; Rost zeigte sich ungeheuer spendabel heute, er hatte ja auch einen so „riesig netten“ Schwiegerpapa, der ihm vor der Hochzeit noch helfen würde, sich zu arrangiren, wie er ihm heute versprochen; es kam nun auch auf ein paar Flaschen Sect mehr oder weniger nicht an.

„Haben Sie die Anzeige an Bernardi fortgeschickt, Rost?“ rief der dicke Assessor Dolling.

„Versteht sich!“ erwiderte dieser; „hoffentlich gratulirt er telegraphisch, denn seine Briefe sind nachgerade unausstehlich – worauf der Alles kommt in seiner weltschmerzlichen Verfassung, es ist unglaublich!“

„Seine Briefe sind immer noch besser als er selbst,“ rief einer der jungen Herren, „er thut überhaupt weiter nichts mehr, als arbeiten oder Geige spielen. Ich habe, als ich neulich auf Urlaub war, ein paar Mal versucht, ihn ein Bischen herauszubringen: wozu ist man denn in einer halbwegs anständigen Stadt? Aber Gott bewahre, er sagte sehr von oben herab, das Treiben ekele ihn an, und das Tivolitheater sei ihm überhaupt ein Horror.“

Die meisten der Herren lachten. „Ich habe ihn nicht mehr incommodirt,“ schloß der junge Officier und füllte sein Glas. „Uns von der Cavallerie genirt so etwas nie!“

„Ich glaube nämlich ganz sicher, daß er den Abschied nimmt,“ bemerkte sehr langsam ein Anderer, „nämlich ich bin ganz zufällig dahinter gekommen; er hatte bei meinem Onkel angefragt, der nämlich so eine Art Musiknarr ist, ob er wohl glaube, daß sein Tatent groß genug sei, um als Virtuos, als Künstler etwas zu erreichen.“

„Und da hat,“ fiel der Assessor ein, die Weise des Sprechers nachahmend, „der Onkel hoffentlich gesagt: ‚Lieber Bernardi, Sie sind nämlich nicht recht gescheidt, Sie kratzen just nicht gerade schlecht auf dem Wimmerholz, aber zu einem Virtuosen nämlich gehört denn doch mehr heutzutage.‘“

Lieutenant von Rost, der gar nicht leicht aus der Ruhe kam, wechselte plötzlich die Farbe.

„So ein Mensch!“ sagte er leise zu seinem Nachbar links, „erst hat man ihn mit Müh’ und Noth vor einer großen Thorheit bewahrt, jetzt will er noch eine größere begehen – er ist einfach verrückt.“

Aber seine ärgerliche Bemerkung wurde übertönt durch das brausende „Hoch!“, das die Cameraden auf das Wohl der jungen Braut tranken.

[159] „Fräulein Annie Cramm hoch! Und zum dritten Male hoch!“ scholl es von so und so viel animirten Stimmen.

„Und ein Hoch allen schönen Frauen!“ rief der Rittmeister von P., und wieder stießen die Gläser an einander.

Moritz erhob sich plötzlich. Es war ihm nicht möglich, noch länger hier zu bleiben, in diesem Tumult, bei seiner Stimmung.

„Sie wollen fort?“ fragte der Bennewitzer. „So komme ich mit, wenn Sie gestatten.“

„Sie logiren hier im Hôtel?“ erkundigte sich Moritz auf dem Flur, während noch immer begeisterte Hochrufe aus dem Saale herüberschallten.

„Ja! Aber ich begleite Sie noch, Ratenow.“

Es war nun ganz still auf den Straßen, nur der Mondschein lag über der Stadt, und ein feiner leichter Nebel hing wie ein silberner Schleier an den Dächern und umspann feenhaft die Umrisse der Häuser und Bäume. Sie gingen stumm neben einander her; bei Beiden wollte sich das rechte Wort nicht finden zum Beginne eines Gespräches.

„Mein lieber Ratenow,“ sagte endlich der Aeltere, „ich möchte nicht gern, daß Sie, gerade Sie, mich falsch beurtheilten. Sie sahen mich vorhin so merkwürdig an. Ich bin weder eitel genug um zu glauben, ein so junges Mädchen, wie Else von Hegebach, werde mit Wonne in meine geöffneten Arme sinken, noch bin ich in dem Alter, wo Einen die Erwartung des entscheidenden Wortes von ein paar rothen Lippen ruhelos umher jagt und man für den Fall, daß sie etwa abschläglich lauten könnten, mit Wollust an einen Selbstmord zu denken pflegt. Ich habe dazu viel zu traurige schwere Schicksalsschläge ertragen müssen. Die Gründe, die mich leiteten, um meine Nichte zu werben, sind nur zur Hälfte egoistischer Natur; mich drängte im Großen und Ganzen das Bestreben, meinen Vetter und sein Kind theilnehmen zu lassen an der Hinterlassenschaft unseres Onkels, und dies ist die einzige Art und Weise, wie es gesetzlich geschehen kann. Aber –“ er blieb stehen und legte die Hand auf die Schulter seines Begleiters, „ich füge hinzu, daß ich diesen Plan nicht gefaßt haben würde, wäre das junge Mädchen mir nicht in hohem Grade sympathisch, ich sage: sympathisch, lieber Ratenow; in meinen Jahren spricht man nicht mehr von Leidenschaften.“

Sie schritten wieder vorwärts. Moritz war stumm geblieben: er wußte ja genau, daß der Mann dort die Wahrheit sprach; er wußte, daß er die Wahl unter Vielen hatte, er war noch immer ein stattlicher Cavalier; er war ein Mann, der ein edles großes Herz besaß, er durfte noch Anspruch machen auf ein Glück, und dennoch –.

„Ich habe es mir in den letzten Wochen beständig ausgemalt, wie es sein wird, Ratenow,“ fuhr der Bennewitzer fort mit warmem Klang der Stimme; „ich habe Else’s Gestalt durch meine einsamen Gemächer schreiten sehen und habe ihre Stimme so glückverheißend an mein Ohr tönen gehört; ich bin hinaufgestiegen in die Zimmer, die ich für meinen Vetter bestimmt habe, und ich rechnete die Reiseroute aus, um den staunenden Kinderaugen die Welt jenseits der Alpen zu zeigen. Weiß Gott, Ratenow, es würde mir eine unsagbare Freude sein, diese junge Seele einzuführen in die tausend Schönheiten, mit denen Natur und Menschenhand die Welt geschmückt haben, und –“

Er stockte.

„Mit meinem ältesten Jungen hin ich einmal gereist über den Schwarzwald in die Schweiz, und ich werde nie die Freude vergessen, die mir das ungeheuchelte Entzücken, dieses naive Staunen der jungen Menschenseele verursachte; ich möcht’s wohl noch einmal sehen – –. Ratenow,“ fragte er plotzlich, „kommt da nicht Jemand?“

Sie standen am Eingange der Allee; die dunklen Stämme hoben sich scharf ab im Mondenlichte, und in dem leichten Nebel bewegte sich allerdings, rasch, fast laufend, eine Gestalt ihnen entgegen.

„Es ist eine Frau,“ sagte Moritz, „es ist Else!“ fügte er nach einer halben Minute hinzu. „Else, um Gotteswillen, Else, wo willst Du hin? Wie siehst Du aus?“

Sie hing plötzlich an seinem Halse; er fühlte das Zittern und Beben ihres Körpers.

„Moritz, zum Vater! Bringe mich zum Vater!“

„Was ist geschehen, Else? Rede doch!“

Er löste die Arme von seinem Nacken und schaute in ihr todtenbleiches Gesicht.

„Krank!“ sagte sie mit bebenden Lippen; „die Siethmann kam, sie wollte mich rufen, da bin ich fortgelaufen – bring’ mich hin, Moritz!“

Er zog ihren zitternden Arm in den seinen. „Komm, mein Deern.“

„Ich gehe mit,“ sagte der Bennewitzer. „Ist schon ein Arzt geholt? Wissen Sie es nicht, Else?“

Sie schüttelte den Kopf und lief voran, die Männer hatten Mühe ihr zu folgen. Sie war ohne Hut und Mantel, und in dem ungewissen Lichte hatte es etwas Unheimliches, wie sie so dahin stürmte. Sie war schon die Treppe hinauf, als die Herren eben in die Hausthür traten. Auf dem dämmerigen Flur oben kam ihnen der Arzt entgegen.

„Treten Sie ein, meine Herren,“ bat er leise; „ich habe nach der Tochter geschickt – er wird den Morgen nicht erleben.“

Sie standen in dem kleinen unwohnlichen Gemach neben dem des alten Mannes, der Mondschein fiel voll herein und lag als breiter weißer Streifen auf den Dielen, und darin zitterte der Schatten der jung belaubten Zweige vor den Fenstern draußen. „Tick tack, tick tack,“ sagte die alte Schwarzwälder, und durch die halb geöffnete Thür des Nebenzimmers drangen Laute wie ein qualvolles Stöhnen.

„Papa!“ schrie dann eine Stimme auf, „geh doch nicht fort von mir, laß mich nicht so allein, so furchtbar allein!“

Der Arzt that rasch einen Schritt auf die Thür zu, dann blieb er wieder stehen – der Sterbende sprach langsam, stockend, fast abgerissen unverständlich.

„Nein, nein, Papa, stirb nicht, stirb nicht! Ich muß Dir noch etwas sagen, lieber Papa! Höre mich doch – kannst Du mich noch hören?“

Der Arzt ging hinein. Nach einem Augenblick kam er wieder zurück und winkte dem Bennewitzer. Er trat ein und seine Augen suchten das Mädchen. Sie lag vor dem Lehnstuhl, in dem der Vater ruhte, und hielt seine Kniee umklammert, die rechte Hand des alten Mannes lag auf ihrem Kopfe, seine halberloschenen Augen waren dem Eintretenden zugewandt.

„’s ist rasch gekommen, Vetter, aber ich bin viel – ruhiger, wie sonst, weil – Else, Deine Hand! Ich habe nichts gethan für Dich im Leben, armes Kind, vergieb mir, und Du warst immer gut und gehorsam, vergieb mir, Else, mache es mir leicht, das Sterben – es war so schwer – das Leben.“

Sie hob den Kopf und sah, wie um Erbarmen flehend, umher, aber die müden Augen erfaßten den Blick nicht mehr, verstanden nicht, was sie wollte. Sie fühlte nur, wie mühsam seine Hand nach der ihren tastete und, als er sie erfaßte, den matten Versuch machte, sie zu erheben und hinüberzuziehen, um sie in eine andere Hand zu legen. Die völlige heilige Majestät des Todes überschauerte sie plötzlich bei dem Anblick der furchtbar veränderten Züge, willenlos gab sie sich hin unter den Einfluß, dann fühlte sie, wie eine warme Männerhand die ihre umschloß, und wie die Rechte des Sterbenden kraftlos auf beiden ruhte.

„Wilhelm, lieber Wilhelm,“ sagte eine bewegte Männerstimme, „ich will sie schützen und schirmen – das verspreche ich Dir!“

„Else!“ flüsterte der Sterbende, „Du bleibst nicht allein! Kein – armes – verlassenes Mädchen - nein, Else –“

Sie lag wie kraftlos da, den Kopf auf seinem Knie, die Hand noch immer in der des Bennewitzers; es war, als woge ihr ein blutrother Nebel vor den Augen, und sie vermochte nicht mehr klar zu denken. Dann hörte sie Moritzens Stimme noch einmal: „Es ist vorbei, komm Else, meine alte Deern!“ und sie fühlte, wie man sie emporhob, und dann nichts mehr.

Als sie erwachte, saß Frau von Ratenow vor dem Sopha, auf das man sie gebettet; die alte Dame im Morgenkleide und Haube hatte den Kopf gegen die Lehne gestützt und schlief. Durch die Fenster brachen glühendroth die Strahlen der aufgehenden Sonne und überhauchten das kleine Zimmer mit einem verschönernden Glanz.

(Fortsetzung folgt.)




[160]

Die Hochfluthen des Mississippi-Gebietes.

Ein Beitrag zu ihrer Erklärung von Rudolf Cronau.

Noch sind die Wunden, die der Winter des vergangenen Jahres den Staaten Ohio, Indiana und Kentucky durch seine Hochwasser geschlagen, nicht vernarbt, und schon meldet der Telegraph das Einbrechen neuer ungeheurer Fluthen auf die Werke der Menschenhand, mit wenig Worten verkündend, daß wiederum Tausende von Menschen ihrer Habe verlustig und obdachlose, hungernde, arme Bettler geworden sind.

Wie all dieses Unheil mit einem Schlage gekommen, verrathen die wortkargen Depeschen nicht, und so möge es mir gestattet sein, durch Entrollung eines amerikanischen Flußbildes das dürftige Telegramm zu ergänzen und die Momente darzulegen, durch deren Zusammenwirken das Entstehen so großer und verheerender Fluthen überhaupt ermöglicht wird.

Fern im Nordwesten der Vereinigten Staaten, beim Oertchen Gallatin in Montana, treffen drei Flüßchen zusammen, die, alle drei von ziemlich gleicher Länge, nach ihrer Vereinigung einen der gewaltigsten Ströme der Erde bilden, den Missouri. Behält derselbe zunächst den Charakter eines schäumenden Gebirgsflusses bei, so breitet er sich bald zu einem gleichmäßig dahinrollenden inselerfüllten Strome aus, den senkrechte Klippen um 1000 Fuß überragen. Cedern, Kiefern und Fichten kleiden die Höhen, auf deren unzugänglich scheinenden Gipfeln Heerden von Bergschafen klettern.

Für nahezu sechs Meilen erheben sich diese schwarzen Felsmassen zu beiden Seiten des Flusses, eine wenig mehr als 150 Yards breite Kluft bildend, durch welche die tollen Wildwasser gleich einem Katarakte stürzen. Das ist die berühmte Passage des Missouri durch die Felsengebirge.

Nicht minder großartig sind die Wasserfälle des Missouri, 2575 englische Meilen von seiner Mündung zwischen dem Orte Helena und dem Fort Benton gelegen. 352 Fuß fällt hier der Strom auf einer Strecke von einer Stunde und bildet eine ununterbrochene Reihe von Stromschnellen und Katarakten, von denen der große Fall (vergl. Abbildung) gegen 90, der Cascadenfall gegen 47, ein dritter 60, ein vierter gegen 27 Fuß messen.

Was das Aussehen und den Charakter des Flusses betrifft, so ist derselbe völlig verschieden von allen europäischen Strömen und findet getreue Copien nur in den anderen Zuflüssen des Mississippi und in seinen eigenen mehr oder minder großen Nebenzweigen.

Bei Fort Benton in Montana, einer jener Militärstationen, die Anfangs dieses Jahrhunderts zum Schutze des Tauschhandels mit den Indianern im Charakter der auf unserer Vignette gegebenen Darstellung angelegt wurden, wird der Missouri schiffbar.

Aber auch hier ist er gleich allen anderen Prairieströmen in seinem Laufe unbeständig. Aufnahmen und Stromkarten jüngsten Datums bieten keine Gewähr, daß der Hauptcanal auch noch heute da zu finden ist, wo er gestern gewesen, und unerfahrene, mit der Natur des Flusses wenig vertraute Ansiedler haben nicht selten zu ihrem Schrecken bemerkt, daß Acker nach Acker ihrer an den Uferbänken des Flusses gelegenen Farmen von den ruhelosen Wassern des mächtigen Stromes weggewaschen wurden.

Fast alle Zweige dieses gewaltigen Stromsystems führen, namentlich zur Zeit der Hochfluthen, Ende April bis Juli, schier unglaubliche Massen von Sand und Schlamm mit sich, die, in dem Wasser vollkommen aufgelöst, dasselbe gänzlich undurchsichtig machen und ihm eine Farbe und Beschaffenheit verleihen, die dem Flusse den treffenden Namen „big muddy“, „der große Schlamm“, eingetragen. „Zu dick ist der Fluß, um darinnen zu schwimmen; zu dünn, um darauf zu gehen,“ sagt der Amerikaner, und wahrlich, man muß diese fließende Lehmfluth gesehen haben, um das Zutreffende dieses Ausdruckes begreifen zu können.

Bei niederem Wasserstande, im Herbste, bietet darum der Missouri gerade kein imposantes Strombild, aber zur Zeit der Hochfluthen ist das Schauspiel ein ganz anderes, gewaltiges. Der Missouri trägt dann den Charakter der übrigen Flüsse, die in den gewaltigen Mississippi münden und die, mit Ausnahme vielleicht des oberen waldentsprossenen Mississippi selbst, echte Prairieströme sind und in ihrer Erscheinung ungemein viel Aehnliches haben.

Wollen wir einen Versuch machen, ein Bild von dem Entstehen einer Hochfluth in jenen Ländern zu geben, so haben wir zunächst zu bemerken, daß der Winter in den nördlichen und namentlich in den nordwestlichen Theilen der Union lang und streng ist.

Sind Flüsse, Seen und Bäche zu Eis erstarrt, so sind über der Landschaft kolossale Schneemassen aufgehäuft, die in besonders strengen Wintern mitunter fabelhafte Dimensionen erreichen. So lag im Winter 1880 auf 1881, der sich mit seinen gegen 60 schweren Schneestürmen für immer denkwürdig in die Chroniken des amerikanischen Nordwestens eingeschrieben, der Schnee 5 bis 15 und 20 Fuß hoch, ja einige Schneewellen erreichten sogar eine Höhe von über 50 Fuß.

Die Witterung in Amerika liebt die schroffsten Gegensätze. Ein Frühling in unserem Sinne ist nicht bekannt, fast ohne Vermittelung reicht der eisige Winter dem glühenden Sommer die Hand. Plötzlich kommt die Hitze hereingebrochen, wie ein Regen von Feuerstrahlen, und bringt die ungeheuren Schneemassen riesig schnell zum Schmelzen, welcher Proceß durch den Niedergang mächtiger Regengüsse vielfach beschleunigt wird.

[161]

Die großen Fälle des Missouri.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[162] Sind schon hierin alle Bedingungen zur Erzeugung einer Hochfluth gegeben, so wird dieselbe wesentlich noch unterstützt durch den Charakter und die eigenthümliche Formation der Landschaft. Die hochgelegenen Quellgebiete der meisten Nebenflüsse des Mississippi sind entweder nur spärlich bewaldet, wie das Felsengebirge, ganz baumlos, wie die Prairie, oder stark abgeholzt, wie die Gebiete der Alleghanys. Darum vermögen die wenig bewachsenen Gebirge die Wassermassen nur wenig zu halten, und der thonige, lehmige und sandige Boden der Prairien ist es noch weniger im Stande, zumal dieselben durch die vielfachen heftigen Regengüsse mit zahllosen, während des Sommers meist ausgetrockneten tiefen Rinnen durchschnitten sind, die namentlich auf der höheren Prairie sehr regelmäßig gestaltet und äußerst zahlreich sind.

Diese Rinnen, Schluchten und Engpässe ergießen die in denselben angesammelten Wassermassen fast auf einmal in das Hauptsystem, und die Bäche werden mit einem Schlage zu Strömen, die Ströme zu kochenden Fluthen, die erfüllt sind mit abgespülten Erdmassen, keinen bestimmten Lauf innehalten, meilenweite Thäler überschwemmen und an einem Punkte ganze Landstücke wegreißen, um an andrer Stelle kolossale, langgestreckte Sandbänke und Inseln aufzuthürmen. Die Verheerungen, welche durch solche wilde Hochfluthen angerichtet werden, sind kolossal; entwurzelte Bäume, Uferfetzen, Planken, Zäune, Mühlen und Häuser werden von den Wassern davongetragen, ja es sind Beispiele genug vorhanden, daß die Bewohner ganzer Dörfer und Städte sich gezwungen sahen, Hals über Kopf ihre in der Nähe des Flußufers gelegenen Heimstätten an beständigere und weniger wandelbare Orte zu verlegen. So meldet eine New-Yorker Depesche vom 15. Februar dieses Jahres, daß durch die gegenwärtigen Hochfluthen des Ohio in Lawrenceburg vier Straßenviertel weggerissen wurden. In Folge der Fluthen sind Tausende von Menschen in Cincinnati, Madison, Wheeling und anderen Orten obdachlos!

Haben die Hochfluthen des Missouri und Ohio den Charakter des Wilden, Stürmischen, Dämonischen, so tragen die Hochwasser des unteren Mississippi, nachdem die beiden obigen Ströme sich in ihn ergossen, den des Ruhigen, Majestätischen.

Der untere Mississippi ist zu groß, zu weit und zu tief, als daß er gleich einem Bergstrome dahinstürzen könnte, und so schwellen sogar die ungeheuren Fluthen der Nebenflüsse ihn selbst nur langsam und allmählich an. Ein ausgedehntes System von hohen Uferdämmen – sogenannte „levees“ – verhindert das Austreten des Flusses, und ist der Wasserstand desselben zur Zeit der Hochfluthen, ähnlich wie bei den Canälen Hollands, einige Fuß höher als das Land zu beiden Seiten.

Bei aller Kostspieligkeit ihrer Anlage haben sich diese Dämme einer wirklichen Hochfluth gegenüber doch als nicht ausreichend erwiesen. So brach zuletzt im Februar des Jahres 1882 eine Katastrophe über die Staaten am unteren Mississippi herein, an deren Folgen diese Länderstriche noch lange kranken werden. Anhaltende Regengüsse hatten die Schneemassen des Nordens zum Schmelzen gebracht, und der untere Mississippi begann, angeschwellt durch seine mächtigen Nebenflüsse, in der zweiten Hälfte des Februar zu steigen. Ruhig, allmählich schwollen die Wasser an, und ebenso ruhig gaben die Dämme dem ungeheuren Drucke nach, worauf sich mit Brausen die Fluthen weit in’s Land hinein ergossen. Alle Rettung für die Bewohner des Landes und für ihr Hab und Gut war dahin. So weit das Auge reichen mochte, schweifte der Blick über eine endlose Wasserwüste. Gegen 68,000 englische Quadratmeilen waren überschwemmt, die Wasser erstreckten sich bis auf 45 englische Meilen weit in’s Land hinein, ja bei Hales Point, in Tennessee, hatte sich der Fluß 75 englische Meilen weit ausgebreitet und unzählige Häuser, alles Vieh und die Ergebnisse der letzten Ernten hinweggeschwemmt und vernichtet; auf Dächern und Bäumen mußten die Heimathlosen Zuflucht suchen und konnten erst nach tagelangen schrecklichen Leiden aus ihrer entsetzlichen Lage befreit werden.

In einem Falle hatte sich eine Anzahl von circa 100 Menschen mit ihrem Vieh auf einen schmalen Streifen Landes geflüchtet. Als aber die Wasser fortfuhren zu steigen, sahen die Unglücklichen sich gezwungen, ihr eignes Vieh zu tödten und in’s Wasser zu stoßen, nur um Raum für sich selbst auf dem kleiner und kleiner werdenden Eilande zu gewinnen. Das Elend war entsetzlich. Alle Plantagen waren vernichtet, an 100,000 Menschen obdachlos und ohne Nahrung.

Nicht weniger verderblich äußerte sich im Februar des vergangenen Jahres die Hochfluth des Ohio, dessen geringster Wasserstand bei Cincinnati 18 Zoll, bei gewöhnlicher Fluth 40 bis 50 Fuß beträgt. Diesmal erreichte aber der Strom die Höhe von über 66 Fuß, setzte einen großen Theil der Stadt unter Wasser und richtete gewaltigen Schaden an. Bedeutende Verheerungen verursachte die Hochfluth auch bei Louisville, wo am 12. Februar innerhalb einer halben Stunde 35 Straßenviertel bis 30 Fuß hoch mit Wasser bedeckt wurden.

Viel gefährlicher noch als diese hier geschilderten Hochfluthen sind die Ueberschwemmungen, die, durch Wolkenbrüche verursacht, plötzlich hereinbrechen und den Menschen ganz unvorbereitet treffen. Dieses plötzliche Anschwellen der Flüsse ereignet sich namentlich häufig in den Gebieten westlich vom Mississippi und Missouri.

Von einer solchen Fluth wurde am 1. August 1882 Cincinnati heimgesucht. Bei dem Orte Millesburg in Kentuky war ein Wolkenbruch niedergegangen, der hunderte von Aeckern verwüstete, alles Getreide wegspülte und eine Kohlenmine so mit Wasser füllte, daß die Bergleute nur mit knapper Noth das Leben retteten. Der Regenguß dauerte nur drei Stunden, doch betrug die Menge des gefallenen Regens einen Fuß. Diese Wassermassen stürzten sich in den kleinen Licking River und gelangten so in den Ohio, diesen mächtigen Strom um volle 10 Fuß anschwellend und durch das ganz unerwartete Eintreffen großen Schaden verursachend.

Kaum hatte Cincinnati sich von diesen Schrecken erholt, so ereignete sich wenige Monate später die bereits erwähnte Hochfluth des Februar 1883, und daß sich dieses grause Schauspiel jetzt, nach gerade einem Jahre, auf’s Neue und in derselben schrecklichen Weise wiederholt hat, ist durch die aus Amerika mitgetheilten Telegramme sattsam bekannt.

Cincinnati während der Hochfluth des Jahres 1883.0 Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

[163]

Die Lumpensammler von Paris.

Von Max Nordau.


Vom phantastischen Hintergrunde des Pariser Lebens heben sich drei Figuren ab, welche die Poesie und die Legende mit allem Zauber der Romantik ausgestattet hat: Mimi Pinson, Gavroche, Vireloque. Der Fremde, der von der französischem Hauptstadt nichts weiß, als was er in den Romanen der Pariser Autoren und in ihren zugleich übertriebenen und verwässerten ausländischen Nachahmungen, in stereotypen Reisebeschreibungen und in den lyrisch-hyperbolischen Ergüssen, zu denen sich jeder Journalist in seinen ersten Aufsätzen über Paris verpflichtet glaubt, gelesen hat, kann an die Stadt nicht denken, ohne die Gestalt der gemüthvollen und anmuthigen Grisette, des geistsprühenden und heroischen Gassenjungen und des gnomenhaft geheimnißvollen und philosophischen Lumpensammlers vor seinem Auge aufsteigen zu sehen. Aber diese Gestalten, mit denen die Einbildungskraft des Fernstehenden Paris bevölkert, der Bewohner der Stadt wird sie vergebens in den Straßen suchen. Wer sie wirklich antreffen will, der muß in den Büchern von Musset, von Victor Hugo, von Murger, von Privat d’Anglemont, in der Literatur der langhaarigen Romantiker aus den dreißiger Jahren nach ihnen ausschauen; im Leben wird er ihnen nicht begegnen.

Mimi Pinson wohnt da nicht in blumengeschmücktem Dachkämmerlein, singt nicht mit einem Canarienvöglein um die Wette harmlose Lieder voll unschuldiger Heiterkeit oder thränenfeuchter Melancholie und hängt nicht in selbstloser Liebe an einem Studenten, dessen einziger Reichthum seine zwanzig Jahre sind, sondern sie ist eine arbeitsscheue Dirne, dumm wie ein Fisch, langweilig wie ein Regentag, eitel und selbstsüchtig wie kein anderer Menschentypus in der weiten Welt, ein erniedrigtes Geschöpf, das sich dem Meistbietenden verkauft und dessen Anhänglichkeit genau so lange währt, wie die Freigebigkeit des Verehrers.

Gavroche ist nicht der witzige Beobachter und Kritiker, der aus einem Chore des Artstophanes ausgebrochen zu sein scheint, der die Mächtigen mit dem Scheidewasser. seines Spottes überschüttet und die Tapferen mit einem feinsinnigen Compliment wie mit einer Bürgerkrone bekränzt, eine jede Lage in einem überraschenden Witzworte zusammenfaßt, an Festtagen in den Straßenbacchanalen als Verkörperung hinreißender Lustigkeit die erste Rolle spielt und in den Stunden des Kampfes um große Freiheitsideen mit einem geistreichen Epigramme auf den Lippen stirbt, sondern er ist ein trübseliger, blutarmer, skrophulöser Junge, vorzeitig reif und bis ins Knochenmark verdorben, frech allerdings und ohne Achtung vor irgend etwas Lebendem oder Todtem, aber zugleich unwissend und beschränkt, voll böser, schmutziger Instincte und unfläthiger Gewohnheiten, fähig, einem mühselig humpelnden Mütterlein ein Bein zu stellen, einem Blinden die Almosenpfennige aus der Schale zu stehlen und einem auf der Boulevardbank duselnden Betrunkenen den Bart abzusengen oder die Kleider anzuzünden, in Volksaufständen gern plündernd und meuchlings mordend und auf der Barricade mehr aus leichtsinniger Verkennung der Gefahr als aus bewußter Tapferkeit sterbend.

Und ebenso wenig ist Vireloque ein seltsamer, tiefsinniger Weltweiser, eine Art Diogenes ohne Faß, doch mit einer Kiepe, einer Blendlaterne und einem Stöberhaken, der in schweigender Nachtstunde plötzlich an einer Straßenecke auftaucht, mit dem verspäteten Wanderer ein schopenhauersches Gespräch anknüpft, in welches er Anführungen aus classischen Dichtern, geschichtliche Anekdoten und intime Bemerkungen über hochstehende Persönlichkeiten einflicht, und an einer andern Straßenecke den erstaunten Begleiter ebenso jäh wieder verläßt, sondern er ist ein ganz gewöhnlicher, bescheidener Proletarier, der mit unsauberer, aber immerhin nicht ganz unnützer Arbeit einige Franken täglich verdient und in die tödtlichste Verlegenheit geriethe, wenn man von ihm eine Causerie verlangen würde, wie sie ihm von den poetischen Schilderungen in den Mund gelegt werden.

Dennoch ist Vireloque während der letzten vierzehn Tage der Held im Drama des Pariser Lebens gewesen. Alle Zeitungen haben sich mit ihm beschäftigt, emsige Federn seine Naturgeschichte, seine Psychologie, seine auf- und absteigenden Lebensläufe geschrieben, die Salons über ihn geplaudert, die Vertretungskörper der Gemeinde und des Staates über ihn berathen. Reporter haben ihn in seiner Wohnhöhle aufgesucht und ihm die Geheimnisse seines Daseins abgefragt, Politiker ihm ihr Wort zur Verteidigung seiner Interessen angeboten, Parteien sich ihn streitig gemacht. Was war der Anlaß, daß sich die allgemeine Theilnahme der Weltstadt plötzlich so bestimmt der dunkelsten Classe ihrer Bevölkerung zuwandte? Die Präfectur hatte angeordnet, daß der Kehricht eines jeden Hauses in einen Behälter gesammelt und Morgens vor die Hausthür gestellt werde, um in den zu bestimmter Stunde vorüberkommenden Kehrichtwagen geleert zu werden. Rücksichten der Reinlichkeit und Gesundheit forderten diese Maßregel, welche einen Fortschritt gegen die früheren Zustände bedeutete. Denn bis dahin war der Hauskehricht einfach auf die Straße geworfen worden und die städtischen Arbeiter konnten zusehen, wie sie mit seiner Wegschaufelung fertig wurden.

Ja, aber diese fröhlich unter der Sonne – oder unter den Sternen – ausgebreiteten Kehrichthaufen gestatteten den Lumpensammlern, in aller Bequemlichkeit zu wühlen und zu stöbern, während der tiefe Behälter, der zur bestimmten Stunde auf der Straße erscheinen und alsbald wieder verschwinden soll, seine bescheidenen Schätze viel eifersüchtiger birgt und den armen Vireloque zu einer wahren Bergmannsthätigkeit zwingt, um aus den gleichgültigen Abfällen bis auf den Boden des Gefäßes hinab alles für ihn Werthvolle zu erschürfen. Die Lumpensammler klagten und jammerten, und das Publicum nahm für sie Partei. Es fand zu seiner eigenen Ueberraschung, daß es für Vireloque eine gewisse, fast hätte ich gesagt sentimentale Zärtlichkeit empfinde. Gegen die Verordnung der Präfectur läßt sich nichts Vernünftiges sagen; sie beseitigt eine Barbarei, die man allenfalls in Constantinopel oder Kairo, aber nicht im eleganten Paris begreift. Und doch fordert man ungestüm ihre Abschaffung, weil man nicht will, daß an das Interesse des braven Lumpensammlers gerührt werde.

Es ist bei dieser Gelegenheit viel Falsches und Uebertriebenes von ihm erzählt worden. Man hat behauptet, daß es in Paris 30, ja 50,000 Lumpensammler gebe, die durchschnittlich 6 Franken täglich erstöbern. Das gäbe täglich 300,000 und jährlich 1091/2 Millionen Franken oder nahezu 88 Millionen Mark, weit mehr als irgend ein bekanntes Goldbergwerk liefert, sodaß man glauben müßte, der Pariser Kehricht berge reichere Schätze in sich als die „placers“ Californiens. Das ist aber blos Reporteraufschneiderei. Die Wirklichkeit zeigt weniger großartige Verhältnisse. Nach einer amtlichen Darstellnug des Chefingenieurs von Paris, Herrn Alphand, beschäftigen sich 7050 Personen beiderlei Geschlechts mit Lumpensammeln, von denen 5248 in Paris selbst und 1802 in den Vororten außerhalb der Ringmauer wohnen, von wo sie allnächtlich zur Stadt wandern, um mit dem Morgengrauen unter der Last ihrer gefüllten Kiepe keuchend heimzukehren. Auch einen so reichen Lohn, wie die enthusiastischen Schilderer meinen, wirft das Gewerbe nicht ab. Vireloque darf auf keine höhere Tageseinnahme als 3 Franken rechnen, und die gesammte Ausbeute der ehrenwerthen Körperschaft stellt, wenn das Jahr herum ist, höchstens einen Werth von 6 bis 7 Millionen dar.

Das ist noch immer eine ansehnliche Summe, und man ist zu der Frage berechtigt, welche Schätze denn eigentlich der Kehricht enthält, daß man Millionen aus demselben auslesen kann? Findet der Lumpensammler vielleicht Perlen oder Schmucksachen aus Edelmetall oder Geldscheine? Nein, das ist es nicht; wenn er ausnahmsweise auch einmal dergleichen aufstöberte, so wäre er gehalten, es dem „Concierge“ oder Thorwart des betreffenden Hauses zurückzugeben, und man versichert, daß er dies in der Regel ehrlich thut. Die Kostbarkeiten, nach welchen der Lumpensammler fahndet und deren Werth doch auch Millionen beträgt, sind viel bescheidenerer Natur; es sind Knochen, Papier- und Stofffetzen, Glasscherben, Metallabfälle; aber da gilt das Wort: „Die Menge muß es machen“.

Einzeln werthlos, erreichen diese Dinge in größeren Partien ganz annehmbare Preise, die nur wenig schwanken und über welche der früher genannte Herr Alphand zuverlässige Angaben machte. Es werden in Paris bezahlt: für 100 Kilo Knochen 4 Franken, Papier (je nach dessen Feinheit) 1 bis 5 Franken, Schafwolllappen 40 Franken, Kupferabfälle 80 Franken, Sardinen- und [164] Conservendosen 3 Franken, weißes Glas 6 Franken, grünes (Flaschen-)Glas 1,20 Franken. Die Industrie hat für all diese als unnütz weggeworfenen Abfälle Verwendung. Die Knochen werden zu Mehl vermahlen und als Dünger verkauft oder zu Kohle verbrannt; aus den Papierlumpen wird neues Papier bereitet; die Schafwolllappen dienen zur Verfertigung billiger und natürlich auch nicht sehr dauerhafter sogenannter „Shoddy“-Tuche; von den Blechdosen, in welchen Sardinen u. dergl. verkauft werden, lebt eine ganze, recht interessante Industrie, deren Erzeugnisse so billig abgegeben werden müssen, daß sie ihren Rohstoff, das Eisenblech, unmöglich vom Blechwalzer selbst beziehen könnte, nämlich die Fabrikation von Metallsoldaten, welche mittels einfacher Maschinen aus den Blechdosen ausgestanzt werden; und die Glasscherben kehren in Gestalt neuer Glaswaaren auf unseren Tisch zurück.

Das Lumpensammeln ist zwar eine freie Kunst, aber seine Adepten haben doch ein festes Zunftgefüge, welches sogar Rangabstufungen zuläßt. Zu unterst stehen die „biffins“ oder „chineurs“, halb Dilettanten, halb Desperados, Leute, die tagüber etwas Anderes treiben, mit einbrechender Nacht aber zum Stöberhaken greifen und auf’s Geratewohl vor sich hin wandernd ihr Glück versuchen. Sie sind von ihren Genossen höherer Ordnung scheel angesehen, weil sie das Herkommen der Zunft nicht kennen oder nicht achten, in die Vorrechte Anderer eingreifen und überhaupt im wohlgeregelten Getriebe der ehrsamen Körperschaft das Element der Pfuscher und Störer darstellen.

Der Kofferflicker in Nöthen.
Nach dem Oelgemälde von H. König.


Respectabler sind die „rouleurs“, Lumpensammler von Beruf, von denen jeder seinen bestimmten Straßenbezirk ausbeutet, ohne seinen Cameraden in’s Gehege zu streichen, wogegen er dieselbe Rücksicht für sich und sein eigenes Revier erwartest. Auf der höchsten Sprosse der Rangleiter stehen die „placiers“. Dieselben gelten als die Aristokraten der Brüderschaft. Sie haben das Privilegium, im Kehricht zu stöbern, ehe er noch auf die Straße geworfen wird. Sie dürfen in die Häuser selbst eintreten und da in aller Ruhe arbeiten. Der Concierge kennt sie und steht mit ihnen auf dem Fuße wohlwollender Herablassung. Ein jeder „Placier“ sucht 10 bis 30 Häuser ab und macht sich den Concierges für ihre Duldung durch kleine Dienstleistungen z. B. Wassertragen, nützlich. Die Stelle eines Placier hat einen gewissen Werth, namentlich in den reichen Stadtvierteln; gedenkt er, sich von den Geschäften zurückzuziehen, so verkauft er sie einem Nachfolger, den er an einem Sonntage, ganz sauber gekleidet, den Concierges seines Reviers in aller Form vorstellt und ihrem Wohlwollen empfiehlt. Man versichert, daß einzelne Placiers für ihre Stelle bis zu 1000 Franken bekommen haben.

Das sind die verschiedenen Kategorien der eigentlichen Lumpensammler, die persönlich auf Beute ausgehen. Außerdem giebt es aber Unternehmer, welche ihnen ihre Sammelfrüchte abkaufen, dieselben durch Tagelöhner sortiren lassen und nach Gattungen geordnet in großen Posten weiter verkaufen. Solcher Unternehmer zählt man etwa 100, darunter vier oder fünf, die mit Millionen arbeiten, und Alle gelangen sehr rasch zu Wohlstand, in vielen Fällen zu großem Reichthume. Seit dem Jahre 1868 tritt bei jeder Municipalrath- und Abgeordnetenwahl in Paris ein Herr Berton als Candidat auf. Er ist die lustige Person aller Pariser Wählen. Er nennt sich den „Menschheitscandidaten“, „le candidat humain“. Seine Ansprachen an die Wähler sind auf rosenfarbigem Papiere gedruckt und mit seinem wohlgetroffenen Ebenbilde in Holzschnitt geziert. Er verspricht gewöhnlich in apokalyptischem Stile die Beglückung der ganzen Menschheit, und in erster Linie der Pariser, und erklärt den Wählern, sie seien es der Civilisation schuldig, ihm ein Mandat anzuvertrauen. Nun denn, dieser Herr Berton war ein Lumpenhändler, der sich nach zwanzigjähriger Thätigkeit in noch jungen Jahren mit einer Rente von 60,000 Franken zur Ruhe gesetzt und dem die Arbeit der „rouleurs“ und „placiers“ die Muße geschaffen hat, auf die Beglückung des Menschengeschlechts zu sinnen.

Die Lumpensammler hausen in bestimmten Straßen, welche dann keine andere Bevölkerung enthalten. Die bekannteste unter diesen Straßen ist die Rue Moussetard am linken Seine-Ufer, doch giebt es auch in Montrouge im Süden und in Montmartre und La Villette im Norden starke Lumpensammlercolonien. Ihre Wohnstätten sehen wie Lager wandernder Zigeuner aus. Auf einem unbedeutenden Grunde, den sie entweder vom Eigenthümer oder einer Mittelsperson miethen, errichten sie sich eine an Wigwams oder Kibitken erinnernde Hütte aus den wunderlichsten Bestandtheilen. Die Wände sind aus Lehm gestampft oder wie in den Pfahlbauten der Schweizer Seen aus Weidenruthen geflochten und mit Erde beworfen. Oft vertritt ein Wagenrad, Speichen mit geöltem Papiere beklebt sind, das Fenster. Als Dach dient eine Theerdecke, im besten Falle stückweise zusammengeschleppte Dachpappe. Einzelne Gebäüde sind freilich auch aus Backsteinen, Gyps und Holzsparren aufgeführt, aber diese beherbergen nur die Reichsten und Glücklichsten des Handwerks. Große Reinlichkeit herrscht in diesen Niederlassungen natürlich nicht; das ist schon durch die Vorräthe an „Waare“ ausgeschlossen, die in und vor den Hütten bis zum Verkaufe aufgestapelt sind; in ihrer leiblichen Erscheinung sind jedoch die Lumpensammler weniger schmutzig, als man glauben sollte, und [165] die epidemischen Krankheiten fordern unter ihnen nicht mehr Opfer, als unter der übrigen Armenbevölkerung.

Der größte Theil der Lumpensammler hat nie ein anderes Gewerbe betrieben. Man ist Lumpensammler vom Vater auf den Sohn. Man arbeitet schwer, muß große Lasten schleppen, die Nacht zum Tage machen, bei Sturm und Regen hinausgehen, aber man hat sein Auskommen. Ein dürftiges, aber gleichmäßiges Auskommen, gleichmäßiger, als es manches andere höher stehende Handwerk gewährt, in welchem man es auf 10 bis 12 Franken Tagelohn bringen kann, aber auch Perioden der Arbeitslosigkeit ausgesetzt ist. Zur Polizei unterhalten die Lumpensammler die besten Beziehungen. Wenn sie auch ziemlich außerhalb der bürgerlichen Sittengesetze leben, selten vor dem Standesamte eine Ehe eingehen, gewöhnlich keiner Religion angehören, ohne sicheren Civilstand geboren werden, altern und sterben, so sind doch Verbrechen unter ihnen nahezu unbekannt, und sie gehören vor Allem zu den friedlichsten und gehorsamsten Bewohnern des unruhigen Paris. An den häufigen Revolutionen nahmen sie keinen Antheil, selbst während des Commune-Aufstandes verhielten sie sich ruhig, und man erzählt den bezeichnenden Zug, daß sie auf ihren nächtlichen Rundgang auszogen und ruhig stöberten, als in der „blutigen Woche“ des Jahres 1871 ein Theil von Paris brannte und in anderen Theilen Versailler und Communards noch mit der Wildheit von Menschenfressern gegen einander kämpften.

Alle diese Züge ergeben zusammen das Bild eines ehrlichen, aber recht prosaischen Arbeiters, der sich in seinem einigermaßen schmarotzerischen Gewerbe als Rohstofflieferant gewisser nebensächlicher Industrien und Verwerther unbrauchbarer Abfälle nützlich zu machen sucht. Wie konnte nun gerade diese Figur eine der populärsten des Pariser Lebens werden? Wie konnte sie solches Interesse und solche Sympathie in Paris und darüber hinaus erwecken? Wie konnte ihr die Legende einen Glorienschein um das struppige Haupt zaubern? Ich erkläre mir dies nur dadurch, daß die Romantiker sich viel mit dem Lumpensammler beschäftigt und ihn idealisirt haben. Daß sie aber auf ihn geriethen, das lag bei ihren allgemeinen Tendenzen und Neigungen nahe. Die Romantiker hatten einen Haß auf alles normal Bürgerliche und herkömmlich Regelmäßige. Sie schwärmten für das Ungewöhnliche, für das, was aus der philiströsen Ordnung des Staates, der Gesellschaft, des Erwerbslebens heraustrat; deshalb waren ihnen Zigeuner interessanter, als ansässige, Gewerbssteuer zahlende Gewürzkrämer, Verbrecher und Scharfrichter anziehender, als Schutzmänner und Richter, thörichte Jungfrauen lieber, als weise. Der Lumpensammler mußte den Romantikern in’s Auge stechen. Er arbeitete nicht am Tage wie ein Schuster und Schneider, sondern zur schauerlichen Nachtzeit; er brach wie die Fledermäuse aus unbekannten Schlupfwinkeln hervor und verkroch sich wie diese bei aufgehender Sonne wieder; man begegnete ihm zur mysteriösen Geisterstunde in den schweigenden, schlafenden Straßen, welche mit ihm nur noch die auf Eindrücke, Stimmungen und Entdeckungen ausgehenden Romantiker theilten, und er trug vor Allem eine Blendlaterne. O, diese Blendlaterne! Ich bin überzeugt, daß sie allein mehr als alles Andere dazu beigetragen hat, den Lumpensammler zur Lieblingsfigur der Romantiker zu machen. Die Ideenassociation spielt bei Phantasiemenschen eine große Rolle, und die Blendlaterne erweckt die Vorstellung von außerordentlichen Erlebnissen, nächtlichem Gräuel und dramatischer Missethat. Vom Lichte seiner eigenen Blendlaterne ist ein Strahl auf den Lumpensammler gefallen und hat ihn in poetisches Licht gesetzt. Ginge Vireloque am Tage seinem Gewerbe nach, er hätte nie die Ehre eines Romans oder Dramas erhalten.

Zweifellos giebt es unter den Lumpensammlern, namentlich unter den „Bönhasen“ des Gewerbes, den dilettantischen „biffins“, curiose Gestalten, die aus dem Rahmen der Alltäglichkeit heraustreten. Die Deserteure und Nachzügler des Kampfes um’s Dasein, die Declassirten aller höheren Berufe mögen oft genug zum Stöberhaken greifen, da seine Handhabung keinerlei Vorbereitung erfordert. Wie man in den Pariser Asylen für Obdachlose verkommene Marquis und Grafen, Priester und Professoren, Aerzte und Advocaten, ehemalige Präfecten und erste Tenöre antrifft, so mag ab und zu ein solcher Schiffbrüchiger des Lebens auch unter die Bevölkerung der Rue Mouffetard verschlagen sein – Abfälle der Weltstadt, die sich von Abfällen der Weltstadt zu fristen suchen! So ergeben sich wunderliche Begegnungen wie die, welche der arme Gérard de Nerval erzählt. Er ging eines Nachts gegen drei Uhr leicht angetrunken nach Hause und holte einen Lumpensammler ein, der langsam vor ihm einherschritt.

„Wie viel Uhr ist es, mein Freund?“ fragte der Dichter.

„Quota hora est?“ antwortete der Angeredete, „tertiam esse credo.“[1]

Und als Gérard de Nerval ihn überrascht ansah, fuhr der Lumpensammler in elegantestem Salonfranzösisch fort:

„Sie wundern sich, edler Trunkenbold, daß ich mit Ihnen lateinisch spreche? Erfahren Sie, daß Sie die Ehre haben, mit dem langjährigen Secretär und Mitarbeiter des Herrn von Beaumarchais zu sprechen.“ Darauf grüßte er und schwenkte in eine Seitengasse ab.

Wie gesagt, solche Begegnungen sind möglich, aber sie dürften wohl äußerst selten sein. Die volksthümliche Legende jedoch verallgemeinert diese ausnahmsweisen Anekdoten und macht aus jedem Ritter des Stöberhakens einen Incognito-Herzog oder heruntergekommenen Archäologen. Das ist die Macht der Literatur auf den Volksgeist. Vireloque ist und bleibt in der Vorstellung der Menge eine romantische Figur. Mit leichter Aenderung des Dichterworts kann man sagen: die Menschenclasse, bei der ein dichterischer Geist idealisirend verweilte, „sie bleibt geweiht für alle Zeiten“.

  1. „Wie viel Uhr es ist? Ich glaube, es ist drei Uhr.“

Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.
Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten. 
III.

Nach meiner Mutter beschäftigte sich mit meiner Erziehung ganz besonders ihr Bruder, mein Oheim Simon de Geldern. Er ist todt seit 20 Jahren. Er war ein Sonderling von unscheinbarem, ja sogar närrischem Aeußeren. Eine kleine, gehäbige Figur, mit einem bläßlichen, strengen Gesichte, dessen Nase zwar griechisch gradlinigt, aber gewiß über ein Drittel länger war, als die Griechen ihre Nasen zu tragen pflegten.

In seiner Jugend, sagte man, sei diese Nase von gewöhnlicher Größe gewesen und nur durch die üble Gewohnheit, daß er sich beständig daran zupfte, soll sie sich so übergebührlich in die Länge gezogen haben. Fragten wir Kinder den Ohm, ob das wahr sey, so verwies er uns solche respektwidrige Rede mit großem Eifer und zupfte sich dann wieder an der Nase.

Er ging ganz altfränkisch gekleidet, trug kurze Beinkleider, weißseidne Strümpfe, Schnallenschuhe und nach der alten Mode einen ziemlich langen Zopf, der, wenn das kleine Männchen durch die Straßen trippelte, von einer Schulter zur andern flog, allerley Capriolen schnitt und sich über seinen eigenen Herrn hinter seinem Rücken zu mokiren schien. Oft, wenn der gute Onkel in Gedanken vertieft saß oder die Zeitung las, überschlich mich das frivole Gelüste, heimlich sein Zöpfchen zu ergreifen und daran zu ziehen, als wäre es eine Hausklingel, worüber ebenfalls der Ohm sich sehr erboßte, indem er jammernd die Hände rang über die junge Brut, die vor nichts mehr Respekt hat, weder durch menschliche noch göttliche Autorität mehr in Schranken zu halten sei und sich endlich an das Heiligste vergreifen werde.

[166] War aber das Aeußere des Mannes nicht geeignet, Respekt einzuflößen, so war sein Inneres, sein Herz desto respektabler, und es war das bravste und edelmüthigste Herz, das ich hier auf Erden kennen lernte. Es war eine Ehrenhaftigkeit in dem Mann, die an den Rigorismus der Ehre in altspanischen Dramen erinnerte, und auch in der Treue glich er den Helden derselben. Er hatte nie Gelegenheit der „Arzt seiner Ehre“[1] zu werden, doch ein „standhafter Prinz“[2] war er in ebenso ritterlicher Größe, obgleich er nicht in vierfüßigen Trochäen deklamirte, gar nicht nach Todespalmen lechzte und statt des glänzenden Rittermantels ein scheinloses Röckchen mit Bachstelzenschwanz trug.

Er war durchaus kein sinnenfeindlicher Ascete, er liebte Kirmesfeste, die Weinstube des Gastwirths Rasia, wo er besonders gern Krammetsvögel aß mit Wachholderbeeren – aber alle Krammetsvögel dieser Welt und alle ihre Lebensgenüsse opferte er mit stolzer Entschiedenheit, wenn es die Idee galt, die er für wahr und gut erkannt. Und er that dieses mit solcher Anspruchlosigkeit, ja Verschämtheit, daß niemand merkte, wie eigentlich ein heimlicher Märtyrer in dieser spaßhaften Hülle steckte.

Nach weltlichen Begriffen war sein Leben ein verfehltes. Simon de Geldern hatte im Kollegium der Jesuiten seine sogenannten humanistischen Studien, Humaniora, gemacht, doch als der Tod seiner Eltern ihm völlige Wahl zu einer Lebenslaufbahn ließ, wählte er gar keine, verzichtete auf jedes sogenannte Brodstudium der ausländischen Universitäten und blieb lieber daheim zu Düsseldorf in der „Arche Noä“, wie das kleine Haus hieß, welches ihm sein Vater hinterließ und über dessen Thüre das Bild der Arche Noä recht hübsch ausgemeißelt und bunt kolorirt zu schauen war.

Von rastlosem Fleiße, überließ er sich hier allen seinen gelehrten Liebhabereyen und Schnurrpfeifereyen, seiner Bibliomanie und besonders seiner Wuth des Schriftstellerns, die er besonders in politischen Tagesblättern und obscuren Zeitschriften ausließ.

Nebenbei gesagt kostete ihm nicht bloß das Schreiben, sondern auch das Denken die größte Anstrengung.

Entstand diese Schreibwuth vielleicht durch den Drang, gemeinnützig zu wirken? Er nahm Theil an allen Tagesfragen und das Lesen von Zeitungen und Broschüren trieb er bis zur Manie. Die Nachbaren nannten ihn den Doktor, aber nicht eigentlich wegen seiner Gelahrtheit, sondern weil sein Vater und Bruder Doktoren der Medizin gewesen, und die alten Weiber ließen es sich nicht ausreden, daß der Sohn des alten Doktors, der sie so oft kurirt, auch die Heilmittel seines Vaters geerbt haben müsse, und wenn sie erkrankten, kamen sie zu ihm gelaufen mit Weinen und Bitten,[WS 1] daß er ihnen doch sagen möchte, was ihnen fehle. Wenn der arme Oheim solcherweise in seinen Studien gestört wurde, konnte er in Zorn gerathen und die alten Trullen zum Teufel wünschen und davonjagen.

Dieser Oheim war es nun, der auf meine geistige Bildung großen Einfluß geübt und dem ich in solcher Beziehung unendlich viel zu verdanken habe. Wie sehr auch unsere Ansichten verschieden und so kümmerlich auch seine literärischen Bestrebungen waren, so regten sie doch vielleicht in mir die Lust zu schriftlichen Versuchen.

Der Ohm schrieb einen alten steifen Kanzleystyl, wie er in den Jesuitenschulen, wo Latein die Hauptsache, gelehrt wird, und konnte sich nicht leicht befreunden mit meiner Ausdrucksweise, die ihm zu leicht, zu spielend, zu irreverenziös vorkam. Aber sein Eifer, womit er mir die Hülfsmittel des geistigen Fortschritts zuwies, war für mich von größtem Nutzen.

Er beschenkte schon den Knaben mit den schönsten, kostbarsten Werken; er stellte zu meiner Verfügung seine eigene Bibliothek, die an klassischen Büchern und wichtigen Tagesbroschüren so reich war, und er erlaubte mir sogar, auf dem Söller der Arche Noä in den Kisten herumzukramen, worin sich die alten Bücher und Skripturen des seligen Großvaters befanden.

Welche geheimnißvolle Wonne jauchzte im Herzen des Knaben, wenn er auf jenem Söller, der eigentlich eine große Dachstube war, ganze Tage verbringen konnte!

Es war nicht eben ein schöner Aufenthalt, und die einzige Bewohnerin desselben, eine dicke Angorakatze, hielt nicht sonderlich auf Sauberkeit und nur selten fegte sie mit ihrem Schweife ein bischen den Staub und das Spinnweb fort von dem alten Gerümpel, das dort aufgestapelt lag.

Aber mein Herz war so blühend jung, und die Sonne schien so heiter durch die kleine Lukarne, daß mir Alles von einem phantastischen Lichte übergossen schien und die alte Katze selbst mir wie eine verwünschte Prinzessin vorkam, die wohl plötzlich aus ihrer thierischen Gestalt wieder befreyt sich in der vorigen Schöne und Herrlichkeit zeigen dürfte, während die Dachkammer sich in einen prachtvollen Palast verwandeln würde, wie es in allen Zaubergeschichten zu geschehen pflegt.

Die alte gute Märchenzeit ist verschwunden, die Katzen bleiben Katzen, und die Dachstube der Arche Noä blieb eine staubige Rumpelkammer, ein Hospital für inkurablen Hausrath, eine Salpetrière[3] für alte Möbel, die den äußersten Grad der Dekrepitüde erlangt und die man doch nicht vor die Thür schmeißen darf, aus sentimentaler Anhänglichkeit und Berücksichtigung frommer Erinnerungen, die sich damit verknüpfen.

Da stand eine morsche zerbrochene Wiege, worin einst meine Mutter gewiegt worden; jetzt lag darin die Staatsperücke meines Großvaters, die ganz vermodert war und vor Alter kindisch geworden zu sein schien.

Der verrostete Galantriedegen des Großvaters und eine Feuerzange, die nur einen Arm hatte, und anderes invalides Eisengeschirr hing an der Wand. Daneben auf einem wackligen Brette stand der ausgestopfte Papagey der seligen Großmutter, der jetzt ganz entfiedert und nicht mehr grün sondern aschgrau war und mit dem einzigen Glasauge, das ihm geblieben, sehr unheimlich aussah.

Hier stand auch ein großer, grüner Mops von Porzellan, welcher inwendig hohl war; ein Stück des Hintertheils war abgebrochen, und die Katze schien für dieses chinesische oder japanische Kunstbild einen großen Respekt zu hegen; sie machte vor demselben allerley devote Katzenbuckel und hielt es vielleicht für ein göttliches Wesen; die Katzen sind so abergläubisch!

In einem Winkel lag eine alte Flöte, welche einst meiner Mutter gehört; sie spielte darauf, als sie noch ein junges Mädchen war, und eben jene Dachkammer wählte sie zu ihrem Konzertsaale, damit der alte Herr, ihr Vater, nicht von der Musik in seinen Arbeiten gestört oder auch ob dem sentimentalen Zeitverlust, dessen sich seine Tochter schuldig machte, unwirsch würde. Die Katze hatte jetzt diese Flöte zu ihrem liebsten Spielzeug erwählt, indem sie an dem verblichenen Rosaband, das an der Flöte befestigt war, dieselbe hin und her auf dem Boden rollte.

Unter den Antiquitäten der Dachkammer befanden sich auch Weltkugeln, die wunderlichsten Planetenbilder und Kolben und Retorten, erinnernd an astrologische und alchimistische Studien.

In den Kisten, unter den Büchern des Großvaters befanden sich auch viele Schriften, die auf solche Geheimwissenschaften Bezug hatten. Die meisten Bücher waren freylich medizinische Scharteken. [167] An philosophischen war kein Mangel, doch neben dem erzvernünftigen Cartesius befanden sich auch Phantasten wie Paracelsus, van Helmont und gar Agrippa von Nettesheim, dessen „Philosophia occulta“ ich hier zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Schon den Knaben amüsirte die Dedikazionsepistel an den Abt Trithem, dessen Antwortschreiben beygedruckt, wo dieser Compère[4] dem andern Charlatan seine bombastischen Complimente mit Zinsen zurückerstattet.

Der beste und kostbarste Fund jedoch, den ich in den bestäubten Kisten machte, war ein Notizenbuch von der Hand eines Bruders meines Großvaters, den man den Chevalier oder den Morgenländer nannte, und von welchem die alten Muhmen immer so viel zu singen und zu sagen wußten.

Dieser Großoheim, welcher ebenfalls Simon de Geldern hieß, muß ein sonderbarer Heiliger gewesen sein. Den Zunamen „der Morgenländer“ empfing er, weil er große Reisen im Oriente gemacht und sich bey seiner Rückkehr immer in orientalische Tracht kleidete.

Am längsten scheint er in den Küstenstädten Nordafrikas, namentlich in den marokkanischen Staaten verweilt zu haben, wo er von einem Portugiesen das Handwerk eines Waffenschmieds erlernte und dasselbe mit Glück betrieb.

Er wallfahrtete nach Jerusalem, wo er in der Verzückung des Gebetes, auf dem Berge Moria, ein Gesicht hatte. Was sah er? Er offenbarte es nie.

Ein unabhängiger Beduinenstamm, der sich nicht zum Islam, sondern zu einer Art Mosaismus bekannte und in einer der unbekannten Oasen der nordafrikanischen Sandwüste gleichsam sein Absteigequartier hatte, wählte ihn zu seinem Anführer oder Sheik. Dieses kriegerische Völkchen lebte in Fehde mit allen Nachbarstämmen und war der Schrecken der Karawanen. Europäisch zu reden: mein seliger Großoheim, der fromme Visionär vom heiligen Berge Moria, ward Räuberhauptmann.

In dieser schönen Gegend erwarb er auch jene Kenntnisse von Pferdezucht und jene Reiterkünste, womit er nach seiner Heimkehr ins Abendland so viele Bewunderung erregte.

An den verschiedenen Höfen, wo er sich lange aufhielt, glänzte er auch durch seine persönliche Schönheit und Stattlichkeit, sowie[WS 2] durch die Pracht der orientalischen Kleidung, welche besonders auf die Frauen ihren Zauber übte. Er imponirte wohl noch am meisten durch sein vorgebliches Geheimwissen und niemand wagte es, den allmächtigen Nekromanten bey seinen hohen Gönnern herabzusetzen. Der Geist der Intrigue fürchtete die Geister der Kabbala.

Nur sein eigner Uebermuth konnte ihn ins Verderben stürzen, und sonderbar geheimnißvoll schüttelten die alten Muhmen ihre greisen Köpflein, wenn sie etwas von dem galanten Verhältniß munkelten, worin der „Morgenländer“ mit einer sehr erlauchten Dame stand und dessen Entdeckung ihn nöthigte, aufs schleunigste den Hof und das Land zu verlassen. Nur durch die Flucht mit Hinterlassung aller seiner Habseligkeiten konnte er dem sichern Tode entgehen, und eben seiner erprobten Reiterkunst verdankte er seine Rettung.

Nach diesem Abentheuer scheint er in England einen sichern aber kümmerlichen Zufluchtsort gefunden zu haben. Ich schließe solches aus einer zu London gedruckten Broschüre des Großoheims, welche ich einst, als ich in der Düsseldorfer Bibliothek bis zu den höchsten Bücherbrettern kletterte, zufällig entdeckte. Es war ein Oratorium in französischen Versen, betitelt „Moses auf dem Horeb“, hatte vielleicht Bezug auf die erwähnte Vision, die Vorrede war aber in englischer Sprache geschrieben und von London datirt; die Verse, wie alle französischen Verse, gereimtes lauwarmes Wasser, aber in der englischen Prosa der Vorrede verrieth sich der Unmuth eines stolzen Mannes, der sich in einer dürftigen Lage befindet.

Aus dem Notizenbuch des Großoheims konnte ich nicht viel sicheres ermitteln; es war, vielleicht aus Vorsicht, meistens mit arabischen, syrischen und koptischen Buchstaben geschrieben, worin sonderbar genug Citazionen in allen Sprachen vorkamen, unter andern fand ich oft den französischen Vers:

Où l’innocence périt c’est un crime de vivre.[5]

Mich frappirten auch manche Äußerungen, die ebenfalls in französischer Sprache geschrieben; letztere scheint das gewöhnliche Idiom des Schreibers gewesen zu seyn.

Eine räthselhafte Erscheinung, schwer zu begreifen, war dieser Großoheim. Er führte eine jener wunderlichen Existenzen, die nur im Anfang und in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts möglich gewesen; er war halb Schwärmer, der für kosmpolitische, weltbeglückende Utopien Propaganda machte, halb Glücksritter, der im Gefühl seiner individuellen Kraft die morschen Schranken einer morschen Gesellschaft durchbricht oder überspringt.

Jedenfalls war er ganz ein Mensch.

Sein Charlatanismus, den wir nicht in Abrede stellen, war nicht von gemeiner Sorte. Er war kein gewöhnlicher Charlatan, der den Bauern auf den Märkten die Zähne ausreißt, sondern er drang muthig in die Paläste der Großen, denen er den stärksten Backzahn ausriß, wie weiland Ritter Hüon von Bordeaux dem Sultan von Babilon that.

Und welcher bedeutende Mensch ist nicht ein bischen Charlatan? Die Charlatane der Bescheidenheit sind die Schlimmsten mit ihrem demüthig thuenden Dünkel! Wer gar auf die Menge wirken will, bedarf einer charlatanischen Zuthat. …… (Es folgt im Manuscript eine Stelle, welche sich der Wiedergabe entzieht.) Dem Publikum hat ein physikalisches Kunststück von je mehr Bewunderung eingeflößt, als alle Mirakel des ewigen Gedankens. [WS 3]

(Fortsetzung folgt.)
  1. Titel eines Dramas von Calderon.
  2. Titel eines Dramas von Calderon.
  3. Name eines Krankenhauses in Paris.
  4. Gevatter, College.
  5. „Wo die Unschuld untergeht, ist es ein Verbrechen zu leben.“

Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten. Ueber-     
setzungsrecht vorbehalten.     


Durch das Fensterchen der Almstube schimmerte noch ein mattes Licht, das aber bald erlosch.

Unfern der Hütte ließ sich Festei in gedeckter Stellung zwischen zwei Steinklötzen nieder.

In tiefer Stille verrannen dem Jäger die Stunden.

Mit einem Male – es mochte Mitternacht wohl schon vorüber sein – begannen ihm die Hände zu zittern, und ein kalter Schauer lief ihm über den erhobenen Nacken. Es war ihm, als hätte er ein Geräusch vernommen, wie das Knirschen eines Schuhes auf lockerem Kiese.

Er bohrte die Augen durch die Finsterniß – und gewahrte, im Dunkel eben noch erkenntlich, eine hohe, männliche Gestalt, die sich lautlos an der Hüttenwand entlang tastete, in der Richtung nach der Thür.

[168]

Ein Ueberschwemmungsbild vom unteren Mississippi.
Originalzeichnung von Rudolf Cronau.




Fester spannte der Jäger die Finger um seine Büchse, sprang auf und rief:

„Wer is da?“

Keine Antwort kam. Aber der da drunten stand regungslos eingedrückt in den schwarzen Schatten des vorspringenden Daches.

Einige Schritte that Festei der Hütte zu – und wieder rief er:

„Reden! Oder –“

Da löste die Gestalt sich aus dem Schatten, huschte in langen Sprüngen an der Hüttenwand dahin, verschwand um die Ecke – und nach einer Weile hörte Festei die flüchtigen Tritte des Enteilenden auf dem thalwärts führenden Pfade verklingen.

Eine Verfolgung wäre zwecklos gewesen. So schritt der Jäger seinem Posten wieder zu und hier verharrte er, bis auf den Spitzen der Berge das erste matte Roth erschien.




7.

Das war der erste Morgen. an welchem Festei nicht in die Sennhütte kam. Immer und immer wieder trat Nannei über die Schwelle und blickte hinauf nach dem Jägerhäuschen; da droben aber blieb die Thür geschlossen.

Am Ende dachte sich das Mädchen, daß Festei wohl schon vor Tageslicht mit seiner gestrigen Jagdbeute hinuntergestiegen wäre in’s Thal. Damit traf sie auch das Richtige. Freilich – so meinte sie – mit einem Wörtchen wenigstens hätte er von dieser seiner Absicht zu ihr sprechen sollen. Sie nahm sieh ernstlich vor, mit Festei zu schmollen, und dachte sich schon die zürnenden Worte aus, womit sie ihn empfangen wollte – als aber bei Anbruch der Dämmerung der Jäger raschen Ganges über den Steig einhergewandert kam, da entflog ihr dieser Vorsatz in alle Winde.

„Grüß’ Dich Gott, Nannei! Is wer dag’wesen heut’ – bei Dir – han?“ Das waren Festei’s erste Worte.

„Na, kein Mensch net!“ sagte Nannei und schaute mit sorglichen Blicken in des Jägers Antlitz, dessen Wangen so blaß, dessen Augen so dunkel umrändert waren. „Schaust net gut aus, Festei! Han – fehlt Dir ’leicht ’was?“

„Ah na! Müd’ bin ich halt!“ erwiderte raschen Wortes der Jäger, den Nannei’s Rede bereits in bessere Laune zu bringen schien.

Während sie nun zusammen in die Hütte schritten, berichtete Festei, welch’ ein Glück er mit den beiden Adlern gemacht habe.

„Weißt – wie ich’s drunten in der Ramsau so vorbeitrag’ am Wirthshaus,“ erzählte er, „da hat mich so a Stadtherr ang’redt und hat mich gar nimmer aus’lassen, bis der Handel fertig war. Drei hundert baare Mark hat er mir hin’zählt am Tisch. Da drum hab’ ich’s schon geben können – meinst net?“

Indessen Nannei dieses Glück in freudigen Worten pries, nahm Festei seinen Rucksack ab und legte ihn auf die Herdbank. Dabei wurde ein wirres Tönen und Klingen vernehmlich.

„Ja was hast denn da drin?“ frug das Mädchen verwundert.

„Mein’ Zither hab’ ich mit’bracht. Weißt – weit her is mein Spielerei net – aber so diemal a Stund’ am Abend kann’s ei’m doch vertreiben.“

Diese Bescheidenheit war durchaus keine grundlose. Wie Festei zum ersten Male spielte, erwies er sich wirklich als kein allzugroßer Meister auf diesem Instrumente – und doch kürzte die Cither den Beiden in den nun folgenden Wochen nicht nur manche Stunde, sondern ganze Abende. Nannei konnte sich an den einfach lieblichen Tönen nicht satt hören – und auch Festei schien lieber zu spielen als zu plaudern. Er war nicht mehr so unbefangen fröhlich wie in früheren Tagen. Besonders in den Morgenstunden, wenn er vor seinem Gang in die Berge einige Minuten in der Hütte vorsprach, da schaute sein Auge so ernst, so übernächtig und müde.

Nannei rechnete dem Jäger diese Besuche gar hoch an, da sie sich sagen mußte, daß ihr Dschapei solch’ einer unausgesetzten Fürsorge in Wahrheit gar nicht mehr bedurfte. Die Risse auf seinem Rücken und die Schürfwunden an Brust und Kehle waren lange schon vernarbt; auch der verletzte Huf war bereits seit Tagen des Verbandes ledig. Die Heilung des gebrochenen Fußes [169] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.




brauchte freilich ihre Weile; es ging schon die zweite Augustwoche ihrem Ende zu, als Festei den Lehmverband zu lösen sich getraute – und als wieder eine Woche verflossen war, trippelte das Dschapei schon wohlgemuth in den Grasplätzen vor der Hütte umher.

Das war nun ein Samstag. Oben am Trischübl war bei der andauernden Sommerhitze die Trinkwasserquelle versiegt, und so stieg die Sennerin kurz vor der Essensstunde, wie schon seit einigen Tagen immer, um einen Ganter voll frischen Wassers zu holen, in das tiefere Thal hinunter, durch welches der Bartholomäer-Steig emporleitet, gerade in entgegengesetzter Richtung des Griesthales.

Als Nannei, die Füllung des Eimers erwartend, vor der Quelle stand, die auch nur mehr in einem dünnen Faden Wasser gab, hörte sie näherkommende Tritte. Sie blickte den Steig entlang – und sah den alten Wofei schwankenden Ganges einherkeuchen.

Wie der Alte das Mädchen gewahrte, blieb er eine Weile mit wackelndem Kopfe stehen, dann kam er näher geschlurft, in kaum verständlichen Worten vor sich hinmurmelnd: „Ueberall – bist überall – da kann ich nix dafür!“

„Wo willst denn hin heut’? ’Leicht zu mir?“

„Na – net zu Dir – na - gewiß net! Weißt – suchen muß ich – suchen – ja – ich bringe Dir ihn nachher schon!“

„Wofei! Wofei! Ich mein’ allweil, Du hast heut’ schon wieder a bißl z’viel g’laden. Kannst ja kaum stehen! Geh – scham’ Dich doch!“

„Ja – ja – ich weiß schon – es is a Sünd’ – a fürchtige Sünd’ – drum laßt’s mir auch kein’ Ruh net – aber macht nix – ich find’ ihn schon – kenn’s ja ganz g’nau – ’s Platzl! Mußt Dich net sorgen – na – gar net – sei nur stad –“ Und mit zitternden Händen tastete Wofei nach dem Arme des Mädchens.

Scheu wich Nannei vor ihm zurück, hob den kaum zur Hälfte gefüllten Ganter auf die Schulter und stieg nach flüchtigem Gruße der Höhe des Trischübls zu.

Wohl fürchtete sie, daß der Alte ihr folgen möchte. Da sie aber einmal das Gesicht wandte, gewahrte sie, daß Wofei schon den Steig verlassen hatte und auf Händen und Füßen den steinigen Graben hinankletterte, der unter die Wände des Gejaidberges emporführt.

Was mochte er da oben nur zu suchen haben?

Nannei war allzuwenig neugierig, um sich lange mit dieser Frage zu beschäftigen.

Als sie die Hütte erreichte und auf die Stubenschwelle trat, hätte sie vor freudigem Schreck schier gar den Ganter zu Boden fallen lassen.

Auf der Herdbank saß die alte Baslerin und rief mit lächelndem Munde ihrem Kinde einen herzlichen Gruß entgegen.

„Ja Mutterle, Mutterle! Ja grüß’ Dich Gott!“ jubelte Nannei, die dürren Finger der Alten mit beiden Händen umschlingend. „Na – so a Freud’! Geh, so sag’ nur g’rad, wie geht’s Dir denn – han? Und bist denn net recht müd’?“

„A bißl schon – weißt – aber ich hab’s heut’ recht gut ’troffen. Der Untersteiner Wirth, der hat im Wimbachschloß mit sei’m Wagerl an Gawalier abholen müssen, und da hab’ ich bis mit’reinfahren können. Von drunten da’rauf, das hab’ ich leicht in a dritthalb Stund’ dermacht.“

„O mein, o mein! Aber gelt, Mutterle, jetzt bleibst schon a paar Tag’ bei mir heroben?“

„Aber Nannei! Was denkst denn? Ich kann doch unser Häusl über Nacht net allein stehen lassen – und nachher – wann ich schon so gut auf die Füß’ bin, da müßt’ ich mir an argen Vorwurf machen, wann ich morgen am Sonntag die heilige Meß’ versaumet. Na, na – das därf net sein! Weißt – am ’Nunterweg, da geh’ ich über Bartlmä – ja – und wann ich mich da um a drei auf d’ Füß’ mach’, find’ ich drunten leicht noch a Schiffgelegenheit nach Königssee.“

Die Aussicht auf ein nur so kurzes Zusammensein trübte wohl Nannei’s Freude. Da aber all’ ihre Bitten und Einwendungen fruchtlos blieben, beschied sie sich endlich.

Nun ging es an ein Schwatzen und Plaudern!

[170] Die alte Baslerin hatte freilich wenig zu erzählen. Ihr war ein Tag vergangen wie der andere, beim Klappern der Stricknadeln, in der Sehnsucht nach ihrem Kinde und in der immer regen Sorge um sein Wohl.

Desto mehr wußte Nannei zu berichten – vor allem die ganze, lange Leidensgeschichte ihres Dschapei. So oft sie dabei auf Festei zu sprechen kam, dessen Namen sie, wie häufig er auch von ihren Lippen klang, immer wieder mit einem neuen lobenden Eigenschaftsworte zu schmücken wußte, nahm das Gesicht der alten Baslerin einen gar gespannten und forschenden Ausdruck an. Wurde Nannei in der Erzählung von ihrer Mutter mit einer Frage unterbrochen, so betraf diese Frage gewiß nicht das Dschapei, sondern stets nur seinen Retter – und so kam es ganz von selbst, daß sich alle Hin- und Widerrede schließlich nur um Festei drehte, daß Nannei alles bis in’s Kleinste berichtete, was sie von ihm und seinem Leben wußte.

„Ja, Mutterle – ich sag’ Dir’s – schau – das war halt doch a Glück, daß ich selbigsmal den Festei ’troffen hab’,“ betheuerte Nannei, während sie das inzwischen zubereitete Mittagsmahl zur Seite ihrer Mutter auf das Bänkchen setzte.

„A Glück?“ that die Baslerin ganz erstaunt. „Ja warum denn a Glück?“

„No – wann der Festei net g’wesen är’, hätt’ ja mein Dschapei, mein arms, ganz elend z’Grund geh’n müssen! G’wiß wahr. Mutterle – das is a so a guter, lieber Mensch – der Festei –“

„Soso – soso –“ murmelte die Mutter kopfnickend vor sich hin.

„Ja – schau – am Abend kommt er wieder. Und g’rad schad’ is, daß Du net bleiben kannst, damit ihn triffst. G’wiß wahr – der thät’ Dir selber g’fallen – der Festei – ja!“

„So? Meinst? Ja, ja – kann sein! Ja – hm –“ Mit gefurchter Stirn und unruhig blinzelnden Augen schaute die alte Baslerin eine Weile auf ihre im Schooß gefalteten Hände nieder, dann fuhr sie plötzlich auf, so polternd und zornig, daß Nannei ordentlich erschrak: „Jetzt red’ net allweil! Da – da setz’ Dich her – und iß!“ Als sie aber gewahrte, wie verblüfft das Mädchen ob dieser heftigen Worte dareinschaute, fügte sie in milderem Tone bei: „Wird ja alles ganz kalt!“

Da setzte sich Nannei lächelnd auf die Bank und leistete dieser Aufforderung wacker Folge.

Bald aber ließ sie den Löffel wieder ruhen, begann des Neuen von Festei zu plaudern, erzählte von dem glücklichen Adlerfange, von dem noch glücklicheren Verkaufe der beiden Vögel und sprang vom Essen hinweg in die Kammer, um der Mutter die kostbare Hutzier zu zeigen, mit der ihr Festei eine so „fürchtige Freud’“ gemacht hatte.

Die alte Baslerin hörte das Alles schweigend an – und immer sorglicher und sorglicher gestaltete sich ihre Miene, welcher Umstand sie aber durchaus nicht hinderte, die Pfanne bis auf das letzte Bröselchen zu leeren.

„Komm’, Nannei – setzen wir uns ’naus auf’s Bankl! Ich muß a bißl Luft schnappen!“ sagte sie, mit dem Rücken der Hand die Lippen wischend und der Thür schon entgegenschreitend.

Es war so schön da draußen. Rings um die Hütte lag der warme Sonnenschein, während das vorspringende Dach auf die Bank seinen behaglich kühlen Schatten warf. Da saßen nun die Beiden. Nannei wies der Mutter die beliebtesten Weideplätze ihrer Pfleglinge und pries die Schönheit ihres Almgebietes.

„Und schau, Mutterle,“ sagte sie schließlich, „da droben, da steht ’s Jaagerhäusl. Da haust jetzt der Festei – ja.“

„Soso – der Festei – soso!“ raunte die Alte und lockte mit schnippenden Fingern das Dschapei zu sich heran, das sich soeben aus dem Schatten eines mächtigen Steinblocks erhob. Mit schläfrigen Augen kam das Thier einhergetrippelt und legte den Köpf in den Schooß der alten Frau. „Und – ja – was ich fragen will –“ sagte diese, dem Dschapei mit rührigen Fingern die beiden Ohren krauend, „gelt – er is die Zeit her wohl recht oft zu Dir in d’Hütten ’kommen – der Festei?“

„No freilich! Weißt – er hat ja an jedem Morgen und Abend nachschauen müssen, wie’s mei’m Dschapei geht!“

„Soso! Ja, ja! Aber jetzt – jetzt is ja Dein Lamperl g’sund?“

„Mein – das macht nix! Er kommt deswegen doch! Und g’wiß – ich bin recht froh drum. Weißt – man hat doch an Ansprach’. Und mit’m Festei is gar a guts Reden.“

„No – Du mußt’s ja wissen. Aber – sag’ – von ’was redts denn nachher allweil, wann er so da is am Abend?“

„Du mein Gott – da geht’s uns gar net aus! Er verzählt von sei’m Dienst und von seiner Jagd – und ich von meiner Almerei – und von Dir, Mutterle, mein, von Dir reden wir so viel! Ja – und jetzt hat er sein’ Cithern heroben, da spielt er fast an jedem Abend. Weißt – gar arg gut spielen thut er net, aber man hört’s doch gern – weißt – so viel G’müth hat er halt in sei’m G’spiel.“

„No ja – Cithern – mein – das is ja recht a schöns Instrament – aber –“ und mit einem ängstlich forschenden Blicke hing die alte Baslerin am Gesichte ihres Kindes, „sag’ – wie redt er denn so von Dir – han? Gelt, er sagt Dir ’leicht recht oft, daß Du a gar a liebs und a saubers Deandl bist – und - und – daß D’ihm recht g’fallen thust – han?“

„Ah na!“ betheuerte Nannei allen Ernstes. „So ’was hat er noch nie net g’sagt. An so ’was denkt er gar net – der Festei! Ah na – der net! Aber weißt – da hat mich Einer ang’sprochen – selbigsmal, wie ich auf’trieben hab’. Das is Dir so a kecker Mensch g’wesen! Ja – der!“ Und in wortreichem Geplauder erzählte Nannei ihrer Mutter von den beiden Begegnungen mit Korbini.

„So an unverschämter Kerl – so an unverschämter!“ brauste die alte Baslerin auf. „No also – schau – und da soll ich mich net sorgen, daß Du so allein daheroben bist – ohne Schutz und Hülf’ –“

„Aber Mutterle – is ja der Festei da!“

Dieser Einwurf brachte die alte Frau ganz aus der Fassung. Heftige Worte schienen ihr auf der Zunge zu liegen – und ein paar Mal auch öffnete sie die Lippen wie zu ungestümer Rede – dann aber schüttelte sie seufzend den grauen Kopf und rückte näher zu dem Mädchen heran.

„Schau, Nannei – Du hast Deine achtzehn Jahr’, bist also doch schon im Alter, daß man von so ’was zu Dir reden kann –“ sagte sie mit einer zwar milden, doch eindringlichen Stimme. „Da hast es jetzt schon g’sehen – an dem von Saalfelden – wie so a Bursch diemal is zu ei’m Deandl. Und so wie der is, so sind die Meisten heutigen Tags. Aber ich weiß – Du bist a bravs, a richtigs Deandl – so ’was verschlagt net bei Dir! Und das sind auch noch lang net die G’fahrlichsten, die gleich so grob dreingreifen. Aber schau – so Einer – weißt – der allweil so gut und heilig daherredt, als ob er keiner Fliegen an der Wand ’was anhaben könnt’, und der –“

„Du, Mutterle,“ warf Nannei mit stockenden Worten ein, „Du – Du meinst doch net den Festei?“

„Ah na –“ hastete die alte Baslerin, während ein dunkles Roth ihre faltigen Wangen überzog. „An den denk’ ich ja gar net! Der – mein – der! Der will Dir nix! Aber weißt – ich mein’ halt – wenn so Einer – so Einer, wie ich g’rad g’sagt hab’ – wenn der halt z’samm’trifft mit so ei’m jungen [171] Deandl, und er is allweil der Gute und Brave und redt so schön und schmalzig daher – ja – da hat’s es gleich, und ’s Deandl is verschossen bis über’n Hals! Und wenn er nachher net an ehrlicher Mensch is - nachher - - Aber ich will von so ’was noch gar net reden! G’setzt den Fall, er is a braver Bursch – o mein! Weißt, Nannei – ’s Lieben, das geht g’schwind, aber ’s Leben, das is härter! Da wird gar net denkt und gar net überlegt, da rennt man g’rad ’nein mit’m Kopf und mit’m Herzen – ja! Schau, mein liebs, liebs Deandl, ich hab’s ja selber derlebt! Ich bin auch so droben g’wesen am Berg’ – so ganz allein – und hab’ mein’ Muckei kennen g’lernt – und auch zu mir is Einer ’kommen und hat so g’redt, wie der saubere Saalfeldner zu Dir – kennst ihn ja, den alten Wofei, den versoffnen – selbigsmal is er noch a Holzknecht g’wesen – ja – und kein’ Ruh’ net hat er mir g’lassen, bis ihm net mein Muckei den Buckl amal so recht verdroschen hat –“

„Der Wofei! Der Wofei!“ sprach Nannei leise vor sich, und sie meinte nun so manche von den wirren Reden des Alten zu verstehen. Sie wollte von dem seltsamen Gebahren Wofei’s erzählen – da aber sprach die Mutter schon wieder weiter.

„Schau, Nannei, Dein Vater is a Mensch g’wesen; so a seelenguter, wie’s auf der ganzen Welt kein’ Zweiten nimmer giebt – und drum haben wir uns auch so g’schwind verstanden, und Kein’s hat ’denkt, daß er nix hat und ich nix hab’. G’wiß wahr – ich müßt’ lügen, wann ich sagen wollt’, daß ich’s um meinetwillen an einzige Stund’ bereut hab’. Mein ganz’ Herz hat ihm g’hört – und wie ihn d’Leut’ selbigsmal ’bracht haben – so – so – schau – da hab’ ich g’meint, es reißt mir Alles aus einander in mir drin – und hing’worfen hab’ ich mich über ihn und hab’ g’rad allweil g’schrieen: Muckei! Mein Muckei! Mein armer Muckei –“

Ein krampfhaftes Schluchzen unterbrach die Worte der alten Baslerin, und während sie mit der einen Hand die Augen bedeckte, schlang sie den andern Arm um den Nacken ihres Kindes, welches mit leisem Weinen das Gesicht an der Mutter Schulter lehnte.

Mit schiefem Kopfe und großen Augen schaute das Dschapei eine Weile zu den Beiden auf, dann schüttelte es die Ohren und trippelte aus dem Schatten hinaus in den warmen Sonnenschein.

„Und wenn ich jetzt so ’nüberschau an dieselbige Wand,“ sprach die Baslerin unter Thränen und Schluchzen weiter, „da steigt’s mir wieder ’rauf, – mein’ Lieb’ und mein Leid! Aber schau – Alles, Alles wäre anders g’wesen, wann ich und Dein Vater – unser lieber Herrgott hab’ ihn selig – net so blind ’neing’heirath’ hätten in Tag. G’rad rennen und schaffen hat er müssen von der Früh bis in d’späte Nacht, der arme Kerl, daß er ihm und mir und nachher auch Dir das bißl Leben verhalt’ – und wer bei uns heraußen in die Berg’ nix hat, der muß sich zu jeder Arbeit schicken, wann’s gleich an Arbeit is, wo’s Sterben mit ei’m Hand in Hand geht bei jedem Schritt und Tritt. Und ’s Weib daheim, das hat keine ruhige Stunde vor lauter Angst und Sorge – und legt der liebe Herrgott nachher noch sein’ schwere Hand auf Ein’, so wie bei mir – nachher sitzt man drin in Noth und Kümmerniß und Elend. Und schau, mein liebs, liebs Deandl – schau – ich bin ja net so, wie andere Mütter oft, die ganz obenaus wollen mit ihre Kinder – aber schau – wann ich auch von ganzem Herzen wünsch’, daß amal Ein’ findst, der Dich so gern hat, wie Dein Vater Dein’ Mutter g’habt hat, und an dem auch Du g’rad so hängen kannst mit der ganzen Seel’ – schau – so möcht’ ich doch Dir verspart wissen, was ich im Leben derfahren hab’ an Sorg’ und Elend. Drum nimm Dein Denken halt in Acht – und häng’ net gleich Dein Herz an Ein’, der Dir schon g’fallt am ersten Blick und am ersten Wort – und wann sich amal ’was rührt in Dir, nachher schau halt auch a bißl zu, ob die Sach’ a Ziel und an Absehn hat – und denk’ an so ’was net erst, wann’s lang schon z’spät is!“

Regungslos hielt Nannei den Kopf an die Hüttenwand gelehnt, und unter ihren gesenkten Lidern rannen langsame Thränen hervor.

„No schau – da mußt jetzt net weinen!“ mahnte die Mutter, indem sie sich selbst die noch feuchten Augen trocknete. „G’rad a bißl z’Herzem nehmen mußt Dir, was ich jetzt g’sagt hab’. Allweil is mir das auf der Seel’ g’legen, daß ich’s amal ’rausbring’. Und drum hat’s mich auch ’rauf’trieben zu Dir.“ Und leise fügte sie bei: „Zu unserm Herrgott will ich hoffen, daß ich net selber schon z’spät ’kommen bin.“ Dann erhob sie sich und schüttelte die Röcke. „Und komm’, Nannei, komm’ – jetzt geh’n wir a bißl umeinander und schauen Deine Küh’ an!“

Seite an Seite schritten sie über das Weideland dem Hange zu, von welchem die Almenglocken einhertönten.

Als eine Stunde später die Mutter sich zum Heimgange rüstete, wollte ihr Nannei durchaus ein Stück Weges das Geleite geben. Das aber litt die Mutter nicht; sie meinte, Nannei hätte in den vergangenen Stunden ohnehin schon zu viel von ihrer Arbeit versäumt.

Herzlich und thränenreich war der Abschied.

Während dann die alte Baslerin achtsamen Fußes dem Steige folgte, schaute sie immer wieder feuchten Auges zu den Sigerethwänden empor.

Bei der Quelle, an welcher Nannei den alten Wofei getroffen hatte, verweilte sie eine Zeitlang und schöpfte sich mit der hohlen Hand einen Trunk des eiskalten Wassers. Dann pilgerte sie wieder sinnend ihres Weges dahin, bis sie lauschend einmal den Schritt verhielt. Schwere Tritte klangen – und nun sah sie an einer Biegung des Steiges einen jungen Jäger erscheinen, dessen Gestalt und Gesicht ihr gar wohl gefielen.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Der Kriegsschauplatz im Sudan. Wiederum hat der Islam eine jener kriegerischen Erhebungen gezeugt, deren Gang so oft in der Geschichte durch Ströme von Blut, verwüstete Länder und niedergebrannte Städte bezeichnet wurde. Schon Mohammed soll prophezeit haben, daß im 13. Jahrhundert der mohammedanischen Zeitrechnung ein „Mahdi“ oder „Mahadi“, das heißt „der von Gott auf den rechten Weg Geleitete“ erscheinen, den Islam wiederbeleben und die arabische Herrschaft wiederherstellen werde.

Diese Prpphezeiung lebte in der Ueberlieferung der Gläubigen fort, und in der That fand sich ein Mann, der, als der Tag der Prophezeiung der 1. Moharrem d. J. 1300 mohammedanischer Aera oder der 12. November 1882 n. Chr. Geburt gekommen war, sich als den lange erwarteten Messias bezeichnete. Einst ein schlichter Schiffszimmermann in Chartum, der Hauptstadt des ägyptischem Sudans, ist er heute als „Mahdi“, der „falsche Prophet“ in aller Welt Munde, und er strahlt sogar im Glanze des kriegerischen Ruhmes, der seit je die Schaaren der Wüstensöhne blendete. Dieser Prophet hat in der That mit unzulänglichen Kriegsmitteln ägyptische und englische Generäle geschlagen und einen Aufstand entfacht, den das stolze Albion bis jetzt weder mit Pulver noch mit dem mächtigeren Gold zu dämpfen vermochte.

Wir werden in nächster Zeit unsern Lesern in Wort und Bild[1] die Geschichte dieses Aufstandes und die eigenthümlichen Verhältnisse jenes Landes vorführen, des Sudans, in welchem die Schale des Unrechts die der Gerechtigkeit überwiegt, in welchem die Brandschatzung und Unterdrückung der Bevölkerung eine stehende Regel geblieben und die Schande des Sclavenhandels offen fortwuchert. Heute bringen wir die beifolgende Karte, welche den Leser leicht in den Stand setzen wird, sich über den dortigen Kriegsschauplatz zu orientiren. Nur die eine Bemerkung möchten wir dabei vorausschicken, sich nämlich die Entfernungen und überhaupt alle Dimensionen sehr groß vorzustellen.

Das eigentliche cultivirte und bewohnte Aegypten, also das Nilthal mit dem Delta, ist bekanntlich kaum größer als Belgien, aber das sogenannte ägyptische Reich, das heißt alle Länder, welche nominell direct oder indirect, unter ägyptischer Botmäßigkeit stehen, ist an Flächeninhalt weit größer als das deutsche Kaiserreich. Ferner darf auch bei der Beurtheilung der Kriegsoperationen die ganze Beschaffenheit des Bodens nicht außer Acht gelassen werden, der, mit Ausnahme der Karawanenstraßen, sich noch fast überall im Urzustande befindet. Wasserleere Wüstenstrecken von einigen hundert Kilometern Länge sind selbst in den bebauten Gegenden nichts Seltenes, und meilenlange felsige Einöden liegen zwischen den Städten und Dörfern.

Der bedeutendste Punkt bei dem augenblicklichen Stande der Dinge im Sudan ist Chartum, am Zusammenfluß des Weißen und Blauen Nils. Diese Hauptstadt des ägyptischen Sudans ist zugleich das Centrum des gesammten ostafrikanischen Handels und die westliche Spitze des großen Dreiecks, das voraussichtlich für die weiteren Kriegsoperationen von Wichtigkeit sein wird; Berber bildet in diesem Dreieck den nördlichen und [172] Kassala den östlichen Punkt; und um hier nochmals auf die großen Entfernungen hinzuweisen, bemerken wir, daß jede der drei Seiten des Dreiecks über fünfzig geographische Meilen lang ist.

Mit Berber ist Chartum durch den Nil und mit Kassala durch eine gute, sichere und mit zahlreichen Brunnen und Cisternen versehene Karawanenstraße verbunden; auch der Telegraph geht an dieser Straße entlang bis nach Snakim und Massana, den beiden namhaftesten ägyptischen Häfen an der Westküste des Rothen Meeres.

Sinkat und Tokar sind zwei kleine befestigte Städte in der Nähe Suakims, wobei man freilich nicht an unsere europäischen Festungen denken muß; vor Sinkat erlitt Baker Pascha die schlimme Niederlage, und Tokar ist ebenfalls schon im Besitz der Rebellen.

Doch zurück nach Chartum, wo Gordon, trotz aller Zweifel und Bedenken fast der gesammten europäischen Presse, aber auch zu ihrem Erstaunen, wirklich am 18. Februar glücklich eingetroffen, wie ein Retter und Erlöser im Triumphe empfangen worden ist und unerhörter Weise den Sclavenhandel wieder gestattete. Man hoffte, daß sein Erscheinen die Lage der Dinge mit einem Schlage ändern würde, aber die neuesten Nachrichten lauten für die Engländer nicht besonders günstig.

Der Mahdi war mit seinem Heere bis Mitte Februar nur wenig über El-Obeid hinaus vorgerückt, steht also noch mindestens vierzig, wenn nicht fünfzig Meilen südlich von Chartum. El-Obeid ist die Hauptstadt der ägyptischen Provinz Kordofan, zu dessen Sultan Gordon den Mahdi bereits ernannt haben soll. Südwestlich von El-Obeid sehen wir auf unserer Karte noch Melbeis und Kashgil: zwischen beiden liegt das Schlachtfeld, wo am 3. November Hicks Pascha mit seinem ganzen Heere vernichtet wurde – das schrecklichste Ereigniß des ganzen Feldzuges. Ueber Chartum hinaus nach Norden ist bis dahin Alles ruhig geblieben, wenigstens in Bezug auf die Gesammtheit der dortigen Bevölkerung, obwohl die Sendboten des Mahdi schon bis nach Wadi-Halfa und sogar bis Assuan gegangen sind. Die große Nubische Wüste liegt glücklicher Weise dazwischen, und diese ist für ein größeres Heer geradezu unpassirbar. Sie war auch der schwierigste Theil der Eilreise Gordon’s, der die ganze über vierzig Meilen weite Strecke, von Korosko nach Abu-Hammed, mit seinen wenigen Begleitern auf Reitkameelen zurücklegen mußte. Von da gelangte er nilaufwärts über Berber nach Chartum. Die Schiffbarkeit des Nils wird nur leider durch die Stromschnellen, die sogenannten Katarakte, häufig unterbrochen. Von Assuan an, der südlichen Grenzstadt des eigentlichen Aegyptens, giebt es nordwärts keine Katarakte mehr, und der Dampferdienst von dort bis Kairo ist sehr lebhaft und regelmäßig. Die große Karawanenstraße von Chartum über Dongola durch die Nubische Wüste bis Siut ist deshalb in den letzten zehn, fünfzehn Jahren mehr und mehr verlassen, da die ganze Strecke mit den nöthigen Rasttagen immer achtzig bis hundert Tagereisen in Anspruch nahm. Nur die Sclaventransporte zogen von jeher diesen Weg, wie auch den anderen, östlich durch die Nubische Wüste von Berber bis Assuan.

Noch dürfen wir das große Sultanat Darfor, südwestlich vom Sudan und Kordofan, nicht vergessen, das erst unter dem Ex-Khediv Ismaïl im Jahre 1874 annectirt wurde. Es ist fast dreimal so groß, als das Königreich Baiern, wobei es allerdings auf einige Tausend Quadratkilometer mehr oder weniger nicht ankommt, freilich mit kaum so viel Einwohnern, als jenes. Der Sohn des abgesetzten Sultans befand sich jetzt im Gefolge Gordon’s, der ihn als Nachfolger seines Vaters und als einfach tributären Sultan wieder einsetzen soll.

Noch weit südlicher liegt die letzte ägyptische Garnison, und zwar in Gondokoro am Nil, schon ganz im äquatorialen Afrika, unter dem fünften Grade nördlicher Breite. Die dortige gegen 2000 Mann starke Besatzung steht unter dem Befehle des englischen Obersten Watson, der auf einem Regierungsdampfer über 50 Tage gebrauchte, um mit seinem Stabe dorthin zu gelangen. Gondokoro ist nicht weiter bedroht, aber als ein verlorener Posten anzusehen, von dem auch seit Ende December vorigen Jahres keine zuverlässigen Nachrichten mehr eingetroffen sind.


Der Kollerflicker in Nöthen. (Illustration S. 164). Ein alter Wallensteiner würde als Kollerflicker schon wegen der Seltenheit des dargebotenen Anblicks unserer Theilnahme sicher sein; man sieht ja, welche Mühe es ihm bereitet, das zerrissene und wahrscheinlich morsch gewordene Lederzeug wieder zusammen zu zwingen. Wenn sich aber zum Schaden auch noch der Spott gesellt, so sollten wir uns erst recht bewogen fühlen, für den geplagten Mann Partei zu ergreifen. Dennoch stehen wir vor einem Fall, wo uns das nicht leicht gemacht wird. Der lustigen Dirn’, die sich lachend an den Hausthürpfosten lehnt, guckt der Schelm doch so gutmüthig aus den Augen, daß wir überzeugt sind, es bedürfte nur eines Wortes des Alten, um ihrer Hülfe gewiß zu sein. Er zieht es jedoch vor, seine Arbeit selbst und bei jedem Stich brummiger zu verrichten, und so mag er nun auch allein damit fertig werden.


Für die Marienburg. Eine höchst dankenswerthe Anregung ist in der letzten Zeit von den hervorragendsten Männern der Provinzen West- und Ostpreußens ausgegangen. Nachdem durch das Zusammenwirken des Staates, vieler Gemeinden und Privatpersonen der äußere Ausbau und die Wiederherstellung der Marienburg ermöglicht worden ist, handelt es sich jetzt darum, auch das Innere der Burg in künstlerischer und historisch treuer Weise zu restauriren. Ein soeben veröffentlichter Aufruf fordert dazu auf, einen Verein zu bilden, dem die würdige Ausschmückung des Schlosses obliegen soll, damit auch die inneren Räume des letzteren den Geist und das Leben jener denkwürdigen Zeit widerspiegeln, deren Repräsentant die Marienburg ist. Der einstige reiche Schmuck des Capitelsaales und der Remter soll, soweit er noch nachweisbar ist, von berufenen Händen wiederhergestellt werden, und historische Sammlungen sowie Kunstwerke, welche in Beziehung zu der Geschichte des Schlosses stehen, sollen die jetzt verödeten Räume beleben helfen. Wir wünschen diesem schönen Streben einen vollen Erfolg. Was uns die Marienburg ist als geschichtliches Denkmal und als Perle der deutschen Gothik, das hat der um die Wiederherstellung der Burg hochverdiente Sanitätsrath Dr. Marschall in einem früheren Jahrgang der „Gartenlaube“ (1881, Nr. 17) so anschaulich und erschöpfend geschildert, daß wir nur auf jenen Artikel zurückzuweisen brauchen. Wie sie unter den deutschen Burgen einzig dasteht als kunst- und stilvolles Bauwerk von höchster Vollendung, so unvergleichlich ist auch ihr glänzender geschichtlicher Hintergrund; denn anderthalb Jahrhunderte hindurch war sie die Residenz jener Hochmeister des dentschen Ordens, welche einen Staat beherrschten, der manches heutige Königreich an Ausdehnung übertraf und zur Zeit seiner Blüthe von der Oder bis zu dem estnischen Strande der Ostsee reichte.

„Für die Marienburg“, diese Parole sollte genügen, um jener aus dem fernen Nordosten Deutschlands ergangenen Anregung überall eine freudige Aufnahme zu bereiten und nicht nur die Herzen, sondern auch die Hände zu öffnen.


Auflösung der Charade in Nr. 9:0 Heimweh.


Kleiner Briefkasten.

Herrn R. M. in H. „Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit“ werden von jetzt ab voraussichtlich ohne Unterbrechung erscheinen (das Ausfallen der Fortsetzung in Nr. 9 hatte einen äußeren Grund) und spätestens Ende April wird das ganze vorhandene Manuscript gedruckt sein. Ein rascheres Erscheinen wäre nur auf Kosten des übrigen Inhalts unseres Blattes möglich, welchen wir im Interesse unserer Abonnenten durch keine, wenn auch noch so bedeutsame literarische Seltenheit beeinträchtigen wollen. Sie sollten das um so mehr billigen, als Sie die Memoiren „uninteressant“ finden, worüber Sie mit den Manen Heinrich Heine’s rechten müssen. Merkwürdig ist nur, daß Sie trotzdem die Fortsetzung kaum erwarten können, daß Ihnen die „Portionen“ der unschmackhaften Speise viel zu klein sind! – Wir verweisen Sie im Uebrigen auf die in Nr. 6 enthaltene Einleitung, in welcher der Herausgeber vor zu hoch gespannten Erwartungen sowohl bezüglich des Umfangs als auch des Inhalts warnt und ausdrücklich bemerkt, daß Diejenigen, welche etwa interessante Staatsgeheimnisse, pikante Aufklärungen über Herzensbeziehungen etc. in dem Fragmente suchen, ihre Rechnung nicht finden werden.

H. J. H. in Boskowitz.0 Ungeeignet.

T. H. in Corfu.0 Eine solche Zeitschrift existirt nicht, Sie müssen mehrere Fachblätter halten.

Kn. in Saarbrücken.0 Ja!


Inhalt: Ein armes Mädchen. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 157. – Die Hochfluthen des Mississippi-Gebietes. Ein Beitrag zu ihrer Erklärung von Rudolf Cronau. S. 160. Mit Illustrationen S. 160, 161, 162, 168 und 169. – Die Lumpensammler von Paris. Von Max Nordau. S. 163. – Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit. Herausgegeben von Eduard Engel. III. S. 165. – Dschapei. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 167. Mit Illustration S. 170. – Blätter und Blüthen: Der Kriegsschauplatz im Sudan. S. 171. Mit einer Karte des Kriegsschauplatzes im Sudan. S. 172. – Der Kollerflicker in Nöthen. S. 172. Mit Illustration S. 164. – Für die Marienburg. – Auflösung der Charade in Nr. 9. – Kleiner Briefkasten. S. 172.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Wir haben für diese Schilderung unsern langjährigen durch seine trefflichen Artikel über Land und Leute in Aegypten den Lesern der „Gartenlaube“ wohlbekannten Professor Adolf Ebeling gewonnen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. [im Original:] kamen sie zu ihm gelaufen mit ihren Urinflaschen, mit Weinen und Bitten
  2. Vorlage: sowie sowie
  3. [Dieser Absatz lautet im Manuskript:] Der Zweck heiligt die Mittel. Hat doch der liebe Gott selbst als er auf dem Berg Sinai sein Gesetz promulgirte nicht verschmäht bei dieser Gelegenheit tüchtig zu blitzen und zu donnern, obgleich das Gesetz so vortrefflich, so göttlich gut war, daß es füglich aller Zuthat von leuchtendem Kolophonium und donnernden Paukenschlägen entbehren konnte. Aber der Herr kannte sein Publikum, das mit seinen Ochsen und Schaafen und aufgesperrten Mäulern unten am Berge stand und welchem ein physikalisches Kunststück mehr Bewundrung einflößen konnte als alle Mirakel des ewigen Gedankens.