Die Gartenlaube (1885)/Heft 49

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[805]

No. 49.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Der Zauber war gesprochen – und jetzt erschrak Veverl vor ihrem eigenen Muthe. Sie begann an allen Gliedern zu zittern, krampfhaft umschlossen ihre Finger den Stengel der Edelweißblume. Frost und Hitze wechselten in ihrem Körper, ihr Herzschlag stockte, und der Athem drohte ihr zu versagen. Mit angstvollen Blicken starrte sie umher in der tiefen Dämmerung – mit jedem Augenblick meinte sie die geisterhafte Gestalt des Beschworenen vor sich auftauchen zu sehen – aber Sekunde um Sekunde verrann, die Sekunden wurden zu Minuten, mehr und mehr verschleierte die sinkende Nacht den Grund, und nur das dumpfe Rauschen des Höllbachs war zu hören, sonst kein Laut rings in der dunklen Runde.

Endlich schüttelte Veverl aufseufzend das Köpfchen. Es war Erleichterung, was sie empfand, und nicht Enttäuschung. „’s muß dengerst net das rechte Bleaml sein!“ flüsterte sie.

„Es hilft nix – bleiben muß ich – bleiben die ganze Nacht!“ dachte sie schluchzend, „und zwar hier am Höllbachgraben.“ Dann hob sie die zitternde Hand, bekreuzte sich und begann zu beten.

Während sie so mit leiser Stimme ein Vaterunser um das andere sprach, überkam eine ruhige, tröstliche Stimmung ihr Gemüth. Sie konnte beten – was hatte sie da zu fürchten? Ewig würde die Nacht ja auch nicht währen, meinte sie – und bei grauendem Morgen schon mußte Dori in die Sennhütte kommen; dann würde er mit Enzi ausgehen, um sie zu suchen und zu finden.

So begann sie sich in ihr Schicksal zu ergeben, und mit Geduld ertrug sie die heftigen Schmerzen an ihrem Fuße, im dessen Knöchel sich eine glühende Geschwulst gebildet hatte.

Die Nacht war da; kühl und finster lagerte sie über den Bergen; nur wenige Sterne funkelten mit mattem Schein am Himmel, der sich mit dünnen Nebelschleiern überzogen hatte. Von den felsigen Höhen fuhr ein kalter Wind zu Thal, bald zu trägem Luftzuge sich dämpfend, bald fauchend unter jähen, heftigen Stößen; es war ein Wind, der nahen Regen verkündete.

Veverl kannte die Bedeutung dieses Windes. Mit besorgten Blicken schaute sie in die westliche Ferne und sah vom Horizonte eine schwarze Wolkenmauer emporsteigen, die auf ihrem Zuge Stern um Stern vom Himmel löschte.

Mühsam rückte sie einem Felsblock entgegen, hinter welchem sie die scharfe Kälte des Windes weniger zu spüren hatte und wohl auch einigen Schutz vor dem

Adolph Menzel. Nach einer Photographie von Adolph Halwas, Hofphotograph in Berlin.

[806] Regen finden konnte, wenn das drohende Unwetter zum Ausbruch kam. Kaum hatte sie ihren Sitz zu Füßen des Blockes eingenommen, als sie mit beiden Händen heftig an die Brust fuhr, sie fürchtete das Edelweiß verloren zu haben, das sie ins Mieder gesteckt hatte. Erleichtert athmete sie auf, als sie die Blume fühlte. Sie wollte dieselbe bewahren zum lebenslangen Gedenken an diese Nacht – und an die verwegene Hoffnung, die der erste Anblick des weißen Sternes in ihr erweckt hatte. Bei dem Gedanken an jene Minuten schalt sie sich im Stillen um der herz- und athemstockenden Angst willen, von der sie sich beim letzten Worte der so muthig begonnenen Beschwörung hatte befallen lassen. Was hätte sie zu fürchten gehabt – von diesem „so viel guten Geist, der alle braven Menschen gern hat“, wie ihr „Vaterl“ wohl zu hundertmalen ihr versichert hatte?

Sie sah den Alten im Geiste vor sich stehen, in der Gestalt, die ihr der Vater einst geschildert – sie sah den grauen, faltigen Mantel, das weiße Gesicht mit den blauen Augen, den braunen Bart und auf dem lockigen Haar den mit der Edelweißkrone gezierten Hut – eine Gestalt „zum Gernhaben ehnder als zum Fürchten“.

Das hätte sie sich wohl gefallen lassen können, meinte sie jetzt, wenn er in solcher Gestalt ihr erschienen wäre, wenn er sie auf seine Arme gehoben, bis zur Hütte getragen, mit einer Berührung seiner Hand ihren Fuß geheilt und sie noch überdies mit reichen Geschenken bedacht hätte. Sie hätte beschwören können, daß sie von dem Sprüchlein, das der Vater sie einst gelehrt, kein Buchstäbchen vergessen hatte, „’s Bleaml halt,“ dachte sie, „’s Bleaml kann net ’s rechte sein!“ Sie mußte sich wohl beim Zählen der Strahlen geirrt und sicherlich den einen und anderen doppelt gezählt haben.

Zögernd löste sie die Blume von ihrer Brust und begann mit den Fingern die sammetweichen Zacken des Sternes abzufühlen. Und wieder zählte sie dreißig Strahlen. Sie schrak zusammen, die Wangen wurden ihr heiß, und ein Zittern kam in ihre Hände. Aber sie schüttelte den Kopf und wollte nicht glauben. „Ah ja – ah ja – ich hab’ ja vergessen –“ stammelte sie plötzlich, tastete nach der Mitte der Blume – und fühlte richtig die „sechs Schöpferln“ – sechs kugelige Samenknöpfchen. Ein Schauer überlief ihre Schultern. „Na – na – und es kann ja doch net’s rechte Bleaml sein – sonst hätt’ er ja kommen müssen,“ stotterte sie, begann aufs neue die Strahlen zu zählen – und dabei vergaß sie des schmerzenden Fußes, vergaß sie der Nacht und des Himmels, der in der weiten Runde schon behangen war mit dicht geballtem, wogendem Gewölke. Erst als ein greller Blitz zur Erde zuckte, dem ein rascher, krachender Donner folgte, fuhr sie auf.

Da fielen auch schon die ersten schweren Tropfen – und ehe noch Veverl zum Schutze sich enger an den Fels zu schmiegen vermochte, rauschte und klatschte schon ein strömender Regen über das Gestein.

Veverl legte die Blume in ihren Schoß, zog die Kniee in die Höhe und schlug das oberste Röckchen gleich einem Mantel um die fröstelnden Schultern. Es war ein karger Schutz, den sie dadurch gewann. Mit Sausen und Wirbeln peitschte der Wind ihr den Regen entgegen, und bald fühlte sie, wie die kalte Nässe durch das dünne Gewebe an ihren Körper quoll. Ungeduldig harrte sie auf einen Blitz, bei dessen Schein sie in ihrer Nähe einen besseren Unterschlupf zu gewahren hoffte.

Mit einem Male fuhr sie lauschend auf – es war ihr gewesen, als hätte sie Tritte gehört – und nun wieder vernahm sie ein Knirschen und Klirren, als ginge Einer mit genagelten Schuhen über das Geröll.

„Dori – Dori – bist Du’s?“ so rief sie mit hastender, flehender Stimme in Sturm und Nacht hinein.

Die Tritte verstummten, und schon wollte das Mädchen zu neuem Rufe die Lippen öffnen. Da jählings loderte mit einem Donnerschlage, unter dem die Erde bebte und schütterte, ein Blitzstrahl aus den Wolken, bei dessen flammendem Scheine der Wald und die Berge wie in Feuer zu schwimmen schienen – und mit einem gellenden Aufschrei warf sich Veverl in die Kniee. Wenige Schritte vor ihr, inmitten der lohenden Helle, ersah sie eine Gestalt in grauem Mantel, mit geisterblassem Gesichte, welches ein dunkler Bart umrahmte und lockige Haare umwallten, darauf der Spitzhut saß, den eine Krone von Edelweißsternen schmückte.

„Alle guten Geister – der Edelweißkönig!“ vermochte Veverl noch zu stammeln, dann schwanden ihr die Sinne.


Als Veverl aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die klatschenden Schläge des Regens auf ihrer Wange das Erste, was sie empfand. Die kalte Nässe ermunterte sie rasch, und sie fühlte plötzlich, daß ihr Haupt an einer Schulter ruhte, daß ein Maatel ihren Körper eng umschlang, und daß sie von zwei starken Armen durch Sturm und Nacht getragen wurde. Im gleichen Augenblicke erinnerte sie sich an Alles und meinte zu verstehen, was mit ihr geschah. Ein seltsames Gefühl, halb Schreck, halb wonniger Schauer, durchzuckte sie bei dem Gedanken, daß es nun wirklich so gekommen war, wie sie in ihrer Noth geträumt und gehofft hatte: der beschworene Alf war ihr erschienen, hatte sie auf seine Arme gehoben und trug sie wohl jetzt der Almhütte zu.

Es war ihr, als ging es wie im Fluge, während in Wahrheit doch ihr Retter mit ängstlicher Vorsicht über das rauhe Geröll dahinschritt und sich in der sturmerfüllten Finsterniß mit schwerer Mühe einen Weg durch die wirren, triefenden Latschen bahnte. Inmitten des Gebüsches hielt er stille, und Veverl sah beim rasch verflackernden Scheine eines Blitzes, wie dicht vor ihr ein mächtiger Felsblock, als hätte ein Zauberwort ihn bewegt, langsam zur Seite rollte. Gleich darauf war es ihr, wie wenn sie mit jenem, auf dessen Armen sie ruhte, in die Erde zu versinken begänne. Erschrocken fuhr sie zusammen, und während hinter ihr ein dumpfer Schlag sich hören ließ, als hätte sich eine schwere Pforte geschlossen, stammelte sie mit zitternden Lippen den Namen des Erlösers und der heiligen Jungfrau.

Da schlossen sich die beiden Arme fester um ihren Leib, und an ihr Ohr schlug eine traulich klingende Stimme: „Mußt Dich net fürchten, Veverl, es g’schieht Dir nix! Und – is Dir schon wieder besser, han? No – Gott sei Dank!“

Gott sei Dank! Dieses eine Wort gab ihr allen verlorenen Muth zurück. Was Uebles konnte ihr von einem Geiste widerfahren, der vor den heiligen Namen, die sie gesprochen, nicht in Rauch und Luft zerfloß, der selbst den lieben Herrgott auf den Lippen führte? Da konnte es ihr nun gleichgültig sein, ob er sie zur Almenhütte trug, oder in sein eigenes „Geisterhöhl“. Sie wußte, daß er sie vor dem Sturme schützte und ihren Fuß heilen würde – das Wie war seine Sache.

Wohl hob sie jetzt schon mit einem muthigen Blicke die Augen, aber undurchdringliche Finsterniß lag um sie gebreitet. Sie fühlte nur, daß es tiefer und tiefer ging, wie über Geröll und steinerne Stufen. Es mußte ein schmaler Gang sein, durch den sie getragen wurde. Denn sachte streifte sie bald mit den Haaren, bald mit einer Fußspitze die Wände.

Mit jeder Sekunde steigerte sich ihre Spannung und das Gefühl des Wundersamen, von dem sie befangen war. Mit jedem Augenblicke erwartete sie das Aufflammen eines zauberhaften Lichtes, jetzt, und jetzt, meinte sie, müßte sich das unterirdische Reich des Alfen in jener Pracht enthüllen, die sie in ihren Träumereien sich ausgenmlt hatte, und die zu schauen immer und immer das Ziel ihrer stillen Wünsche gewesen war. In dieser Erwartung eines Ungewöhnlichen bestärkten sie die seltsamen, zischenden und pfeifenden Laute, die sie manchmal vernahm, das geisterhafte Flattern, das ab und zu an ihrem Haupte dicht vorüber zu huschen schien, das dumpfe Dröhnen und Knattern, welches sich von Zeit zu Zeit erhob, und das geheimnißvolle Murmeln und Rauschen, das von Sekunde zu Sekunde deutlicher hörbar wurde, das bald wie nahe plaudernde Stimmen klang und bald wie fernes Gelächter.

Nun plötzlich verhielt ihr Retter die Schritte, lockerte den Mantel, der sie umhüllte, und während sie ihn sagen hörte. „So, Veverl, schau, da kann Dir kein Sturm nimmer an und kein Regen,“ ließ er sie niedergleiten auf die Erde. Kaum aber, daß sie auf die Füße zu stehen kam, sank sie mit einem leisen Wehlaut in die Kniee.

„Ja um Gotteswillen! Was hast denn? Du kannst ja net steh’n!“ so hörte sie ihren Alfen ganz erschrocken fragen. „Bist am End gar recht ungut gefallen und hast Dir ’was ’than?“

„Ja – am Fuß – am linken –“ stammelte sie und fühlte sich im gleichen Augenblicke wieder emporgehoben, einige Schritte getragen und achtsam niedergelassen auf ein weiches Lager, während er im Tone ängstlicher Besorgniß ausrief. „O mein Gott! Ja – jetzt versteh’ ich’s. Da muß ich ja ’gleich nachschauen – aber – aber sorg’ Dich net! Es wird ja so g’fährlich net sein! Das wird sich schon wieder machen lassen – ja – da weiß ich gar viel, was gut is für so was!“

[807] Freilich, dachte Veverl und nickte unwillkürlich mit dem Köpfchen, was gut is für so ’was, wer in der Welt sollte das besser wissen als er, der da mit hastigen Schritten sich von ihr entfernte? Sie hörte ein Rascheln und Knistern, sah ein röthliches Licht erglimmen und an einer goldig glitzernden Felswand die helle Flamme einer Fackel auflodern. Sie verwandte keinen Blick zur Rechten oder Linken, mit gebannten Augen hing sie an der männlichen Gestalt, deren Umrisse sich scharf von der flackernden Helle abhoben – und da meinte sie gleich zu erkennen, daß diese Gestalt auf ein Haar der Gestalt ihres Vaters glich, der ja auch eine Joppe getragen hatte, eine kurze Lederhose, graue Strümpfe und genagelte Schuhe. Sie meinte ihn ordentlich vor sich zu sehen, wie er oft, wenn er an stürmischen Tagen vom Walde nach Hause gekommen, auf dem Herde das Feuer anschürte, während das Wasser von ihm niedertroff, gerade so wie von jenem, der dort vor der lodernden Fackel stand.

Nun wandte er sich und kam, in der Hand ein Kerzenlicht, auf das Lager zugeschritten. Veverl saß, zitternd am ganzen Leibe, und starrte in sein bleiches Gesicht, das mit dem gekräuselten Barte und zwischen den braunen, die Schultern berührenden Haaren sich ansah, wie das Gesicht eines Jünglings, und dennoch wieder wie das von Kummer und Schmerzen erzählende Antlitz eines gereiften Mannes.

Dicht vor Veverl blieb er stehen, hob das Licht empor, als wollte er sein Gesicht noch heller beleuchten und frug mit einer Stimme von tiefernstem Klange: „Veverl! Kennst mich denn auch? Weißt denn, wer ich bin?“

Sie vermochte kein Wort über die Lippen zu bringen. Sie nickte nur, während sie keinen Blick von seinem Gesichte verwandte, mit dem Köpfchen hastig vor sich hin. Wie hätte sie ihn nicht kennen sollen? hatte sie ihn doch selbst gerufen!

„Gelt, gelt, das verschlagt Dir völlig d’Red’ – und ’leicht willst es gar net glauben, daß ich’s bin, g’wiß und wahrhaftig,“ sagte er. „Aber – aber jetzt is ja net Zeit zum reden,“ hörte sie ihn weiter sagen. „Komm, Veverl, komm, laß mich Dein Fußerl b’schauen.“

Er ließ sich auf die Kniee nieder, stellte den Leuchter neben sich auf den felsigen Boden und begann an Veverl’s verletztem Fuß die Schuhriemen zu lösen. So sachte und sorgsam er dabei auch verfuhr, Veverl meinte vor Schmerz vergehen zu müssen, aber sie preßte die Lippen zusammen und rührte sich nicht.

„O mein Gott, Veverl, o mein,“ so jammerte er, als er den entblößten rothverschwollenen Fuß auf seinen Knieen hielt, „das schaut sich ungut an.“ Dann bat er sie, zu versuchen, ob sie den Fuß noch zu bewegen vermöchte. Mit aller Gewalt verbiß sie den Schmerz, drehte den Fuß rings im Knöchel und rührte die Zehen.

„Na also,“ sagte er und schaute mit einem ermunternden Lächeln zu ihr empor. „Das schaut sich übler an, als wie’s is. Da is nix ’brochen und nix g’rissen. Weißt, arg aufg’schürft hast Dich halt – und natürlich – ’s G’lenk a bißl verprellt und ’leicht a Flaxen überzogen. Aber sorg’ Dich net – ich richt’ Dir Dein Fußerl, Dein armes, schon wieder z’samm, daß gar nix nimmer merkst.“

Da erschien auch auf Veverl’s Lippen ein muthiges Lächeln – alles kam ja, wie sie geträumt und erwartet hatte – mit ehrfürchtig dankbaren Blicken schaute sie auf ihn nieder, und als er nun den Fuß noch einmal betrachtete und dabei die beiden Hände sanft um den verschwollenen Knöchel legte, fühlte sie durch die Kühle, die von diesen Händen in ihr heißes brennendes Blut überströmte, den Schmerz zur Hälfte gelindert.

Jetzt rückte er einen nahestehenden Holzstuhl herbei, legte den kranken Fuß darauf, damit das „g’sunkene Blut a bißl verlaufen“ könnte, wie er sagte; dann raffte er den Leuchter von der Erde, eilte davon, und als ihm Veverl nachschaute. war es ihr, als verschwände er mitten durch die Felswand ihren Blicken. Regungslos und mit verhaltenem Athem lauschend saß sie, aber sie hörte keinen Tritt, nur das Knistern der Fackel und jenes geheimnißvolle Murmeln und Rauschen. Sie kreuzte die Arme über dem pochenden Herzen und lugte mit scheuen Augen in dem länglich gerundeten Höhlenraume umher, in dessen äußerster Rundung die Mündung des Felsenganges, durch den sie gekommen sein mußte, gleich einem schwarzen Trichter sich ausnahm. Staunend betrachtete sie die im Fackelschein schimmernden und glitzernden Wände, die ihr wie von tausend Edelsteinen übersät erschienen. Ueber diese Wände wölbte sich eine von funkelnden Tropfen und Zacken starrende Kuppel, die bei dem Spiele der zuckenden Lichter und Schatten sich ansah, als tröffe sie von flüssigem Erze – von hellem Gold und Silber, wie Veverl meinte. Auch die nichts weniger als feenhafte Einrichtung der Höhle mit dem kleinen eisernen Ofen mit Pfannen, Krügen und Schüsseln, welche hier und dort auf Vorsprüngen und in Spalten der Wände lagen und staken, ja selbst die richtige Bettlade mit einer Heumatratze, einem Polster und zwei schneeweißen Lammfellen darüber, wußte Veverl ihrem Glauben anzupassen; hatte sie doch von ihrem Vaterl erfahren, daß die guten Geister, als deren erster und bester ihr der Edelweißkönig galt, bei all ihren geisterhaften Eigenschaften „im übrigen akrat wie d’ Menschen sind“, daß sie hungern und dürsten, trinken und essen. –

Dennoch schrak sie leicht zusammen, als sie jenen, an den sie unablässig dachte, „plötzlich vor sich stehen sah, als wäre er aus der Erde hervorgewachsen“. Er hielt ein gefaltetes nasses Tuch in Händen, das sich freilich ansah wie ein grobleinenes „Handfahnl,“ das aber gewiß irgend ein feenhaftes Gewebe war, welches er beträuft hatte mit wundersamer Arzenei. Unter freundlich zuredenden Worten wand er dieses Tuch um Veverl’s kranken Fuß; dabei seufzte sie und drückte die Augen zu vor Schauer und Behagen. Ach – wie kalt das war! – und wie wohl das that! Nun faßte er sie um den Leib, als wollte er sie auf dem Bette in bequeme Lage bringen, fuhr aber hastig mit den Armen zurück. „O mein Gott! Daß ich da net schon lang dran ’denkt hab’! Bist ja über und über naß. So kannst ja net bleiben – da thätst mir ja am End’ noch verkranken.“

Mit einem zögernden Blicke streifte sie sein eigenes, bis auf den letzten Faden durchnäßtes Gewand. Er gewahrte diesen Blick und sagte, als vermöchte er in ihren Gedanken zu lesen: „Mein, mir schadt’s nix! Bei ei’m Leben wie das meinige, weißt, da wird man so ’was g’wöhnt. Aber Du – Du därfst mir net so bleiben! Mußt schon ’s Tüchel weglegen und ’s Mieder – und – ’s oberste Röckerl wenn abstreifen thätst, das machet ja auch nix. Ich zünd’ a Feuer an, das macht a bißl warm herin, Deine Sachen werden wieder recht schön trocken – und – und schau – scheuen mußt Dich fein g’wiß net vor mir. Gelt na? Ich bin ja doch schier gar wie a Bruder zu Dir!“

Mit einem vertrauensvollen Blicke schaute Veverl zu ihm empor und nickte unter einem schüchternen Lächeln mit dem Köpfchen. Dann hob sie die zitternden Hände und löste das geblumte Tuch von ihren Schultern. Als sie das Mieder öffnen wollte, schrak sie plötzlich zusammen. „Jesus Maria,“ stammelte sie, „’s Bleaml – mein Bleaml hab’ ich verloren!“

„A Bleaml hast verloren?“

„Ja, ja, ’s Edelweiß – mein Edelweiß!“

„Geh’, da brauchst Dich net z’ kümmern,“ tröstete er. „Kannst ja wieder eins haben von mir – ich hab’s ja g’nug. Hundert für eins kannst haben!“

Ein Seufzer der Erleichterung schwellte ihre Brust, und während er sich dem Ofen zuwandte und sich bei demselben zu schaffen machte, legte sie rasch das Mieder ab und streifte das durchnäßte Röcklein nieder über das rothe Unterkleid. Dann breitete sie die abgenommenen Gewandstücke über den Holzstuhl und ließ sich lautlos zurücksinken auf das Lager.

Als sie nun vom Ofen her Schritte sich nähern hörte, überkam sie trotz all der willenlosen Folgsamkeit doch ein Gefühl der Scheu und Scham, und hastig zog sie die wollene Decke über sich her bis an den Hals.

Jetzt stand er vor ihr und schaute ihr mit leisem Lächeln in die schüchteren Augen. „Gelt, so taugt’s Dir schon besser? Ja – da kannst es jetzt ganz schön abwarten, bis Dein Fußerl wieder Verstand annimmt. Aber –“ Er unterbrach sich, eilte davon und kehrte mit einem weißen Tuche zurück. „Weißt, so kannst ja net liegen mit die tropfnassen Haar’. Geh, heb’ Dich a bißl in d’ Höh’!“

Willig richtete sie sich empor und hielt das Köpfchen regungslos, während er die Nadeln aus ihren Zöpfen zog, die Flechten löste und mit dem Tuche sanft und achtsam die schweren Strähnen ihres braunen Haares trocknete. „So – schau, jetzt kannst Dich wieder legen,“ sagte er, dann stand er lange wortlos vor ihr und betrachtete sie mit glänzenden Augen. Er schien sich an dem Bilde nicht satt sehen zu können, das sie seinen Blicken bot, wie sie so vor ihm lag, unter der dunklen Decke, deren Falten die Formen ihres schlanken Körpers verriethen in dem weißen, hoch bis zum [808] Halse reichenden Hemde, das liebliche, von den offenen Haaren umflossene Gesicht sanft eingedrückt in das schneeige Lammfell, und übergossen vom falben, zitternden Scheine der flackernden Fackel.

Seufzend wandte er sich endlich ab; Veverl konnte ihm mit den Augen nicht folgen, denn sie wagte nicht sich zu rühren; sie hörte nur, daß er im Ofen ein Feuer entzündete, ab und zu ging und mit allerlei Geschirr hantirte. Wirre Gedanken schossen ihr durch das Köpfchen, aber sie vermochte keinen mehr zu Ende zu denken, es lag über ihr wie eine Betäubung, wie ein seelischer Rausch. Eine prickelnde Wärme durchrann ihren ganzen Leib. Sie fühlte sich so leicht – und es war doch die beginnende Erschlaffung nach all der Aufregung und Uebermüdung, was sie empfand. Sie spürte ihre Glieder nicht mehr, kaum noch den leise schmerzenden Fuß. Die Lider wurden ihr schwer, seufzend schloß sie die Augen und lauschte gedankenlos der seltsamen Musik, zu der das Knistern der Fackel, das Prasseln des Feuers und jenes unablässige Murmeln und Rauschen in ihren Ohren sich verwob. Leiser und leiser klang ihr diese Musik, sie schien sich zu entfernen, endlich verstummte sie und Veverl hörte nichts mehr.

Da ließ sich durch die Felswand des Höhlenraumes ein Geräusch vernehmen, das dem Rollen und dem Aufschlag eines fallenden Steines glich. Jener am Ofen hob lauschend den Kopf. Noch dreimal hörte er in gleichen Zwischenräumen dieses Geräusch sich wiederholen, und nun verschwand er mit eilenden Schritten in dem dunklen Trichter des Felsenganges.

Stille Minuten verstrichen. Im Ofen verstummte das Prasseln und das Fauchen der ziehenden Flamme, und als das Feuer erloschen war, da war auch die Fackel niedergebrannt bis auf einen müde flackernden Stumpf.

Sanft und ruhig gingen die Athemzüge der Schlummernden. Manchmal rührte sie leicht die Lippen, als spräche sie im Traume. Nun plötzlich schrak sie leise zusammen und schlug mit einem tiefen, stockenden Seufzer die Augen auf. Das Erwachen erst verrieth ihr, daß sie geschlafen hätte. War sie denn aber auch wirklich erwacht? Oder schlief sie noch und träumte nur, daß sie erwacht wäre? Ja, gewiß, so mußte es sein, denn wenn sie wirklich und wahrhaftig wach gewesen wäre, hätte sie doch nie und nimmer hören können, was sie hörte: diese halblaute Stimme, die aus den Felsen zu quellen schien und auf ein Haar der Stimme des Jörgenvetters glich! Der Jörgenvetter, der war ja meilenweit vom Orte - auf Geschäften in einem fernen Dorfe. Und wie käme der auch zum Edelweißkönig! Da müßte er doch die Königsblume gebrochen haben, die sie selbst gebrochen hatte, die also kein Anderer mehr brechen konnte. Fast hätte sie lachen mögen über ihren unsinnigen Traum – dann wieder kam es ihr so wunderlich vor, daß sie sich im Traume sagen konnte, daß sie träumte. Und was sie in diesem Traume die Stimme des Jörgenvetters reden hörte, das war „schon gar zu g’spaßig“. Sie hörte ihn vom Edelweißkönig erzählen, Alles, was sie selbst von ihm gewußt, Alles, was sie selbst den beiden Kindern einst von dem guten Alfen erzählt hatte – und das Alles erzählte der Jörgenvetter eben Dem, von dem er erzählte, dem Edelweißkönig. Denn auch die Stimme des Alfen hörte und erkannte sie in ihrem Traume. Und wie sich der verwunderte über Alles, was er von sich zu hören bekam! „Ja, was D’ sagst! Ja, jetzt versteh’ ich’s – jetzt versteh’ ich Alles! Na so ’was! Aber da paß auf – da will ich noch mein’ Freud’ dran haben! Hab ja so gar wenig g’nug!“ so hörte Veverl in ihrem Traume den Edelweißkönig sagen, als dem Jörgenvetter die Weisheit auszugehen schien. Nein, wie man nur so unsinnig träumen kann! Dann meinte sie leise Schritte zu vernehmen, die näher kamen und vor ihrem Lager still hielten – und nun träumte sie gar, der Jörgenvetter flüsterte dem Edelweißkönig zu: „Schau s’ nur g’rad an! Wie lieb als s’ daliegt! Han, g’fallt s’ Dir net auch?“ Und weiter war es ihr, als schwiege der Edelweißkönig eine Weile, als hörte sie ihn dann mit einem tiefen, zitternden Seufzer sagen: „O mein Gott, Jörg – wie müßt’ das schön sein: leben können, und leben in Glück und Licht, mit ei’m, das ei’m ang’hört mit Leib und Seel’, das sich mit ei’m freut in guter Zeit und ei’m in harbe Stunden d’ Haar wegstreicht aus der sorgenden Stirn. Aber – Du lieber Himmel – wie dürft’ denn ich mir so ’was noch verhoffen!“

Nein – wie einem nur im Traum der Ton einer Stimme so ans Herz greifen und einem so weh thun kann, schier gar zum Weinen weh! Und so natürlich meinte Veverl dieses Weh zu träumen, daß sie völlig zu spüren glaubte, als schlichen ihr zwei heiße Thränen durch die geschlossenen Lider auf die Wangen. Immer und immer nur in ihrem Traume dachte sie an diesen herzergreifenden Ton und achtete kaum darauf, daß sie auch noch träumte, als vertröste der Jörgenvetter den Edelweißkönig auf eine kommende Zeit, als nähme er mit herzlichen Worten von ihm Abschied und verspräche ihm ein Wiedersehen in einer der nächsten Nächte. Dann plötzlich sah sie die Beiden vor sich, so deutlich wie mit offenen, wachen Augen, sah den Jörgenvetter dem dunklen Trichter des Felsenganges zuschreiten und darin verschwinden, den Alfen aber regungslos vor ihrem Lager verharren und vor sich niederstarren mit gesenkten Augen. Und während sie seinen schweren Athemzügen lauschte, war es ihr, als würde es ihr selbst ganz schwer auf der Brust. Dann wieder sah sie in ihrem Traume, wie der Alf mit einem tiefen Seufzer die Hände zur Stirn hob, wie er sich niederkauerte auf den felsigen Grund, die Arme über den Bettrand legte und in ihnen das kummervolle Gesicht verbarg. So sah sie ihn lange, lange liegen und blickte mit regungslosen Augen nieder auf sein braungelocktes, im Fackelscheine goldig glänzendes Haupt. Endlich hob er wieder den Kopf und legte ihn seufzend in die aufgerichtete Hand. Und da schaute ihm Veverl unablässig in das blasse Gesicht – und es war ihr so leid, daß er die Lider geschlossen hielt, daß sie seine Augen nicht sehen konnte. Je länger sie dieses Gesicht, das von quälenden Sorgen und nagendem Kummer zu erzählen schien, betrachtete, desto weher und mitleidiger ward ihr ums Herz. Sie konnte die Augen kaum abwenden von den tiefen, finsteren Furchen auf dieser sorgenvollen Stirn, welche die Schatten der überhängenden Haare noch mehr verdüsterten. O du lieber Himmel! Es ist doch ein recht armseliges Leben, so ein Geisterleben, „g’wiß net zum neiden“! Immer so allein und verlassen!

Veverl wußte nicht, wie es geschah – sie hob nur mit einem Male die Hand, und sanft und sachte strich sie dem „so viel traurigen“ Alfen die dunklen Haare von der furchigen Stirn. Da sah sie ihn auffahren, sah, wie er mit beiden Händen ihre Hand erfaßte und das Gesicht darauf niederdrückte, und fühlte, wie ihr seine heißen Thränen durch die Finger rannen. Und so lag sie nun und rührte sich nicht. Mit feuchten Augen schaute sie über das Haupt des Alfen hinweg auf die langsam erlöschende Fackel, von deren glühendem Stumpfe ab und zu ein glimmendes Kohlenstückchen gleich einem langsam fallenden Sternlein niedersank auf den Felsenboden. Und dabei war es ihr ein so wohliges Empfinden, ihre Hand so fest und eng umschlossen zu fühlen.

Langsam ließ sie die Lider sinken und athmete mit offen lächelnden Lippen, so tief, als tränke sie nach rauher Winterszeit die laue Luft des ersten Frühlingstages. Dann wieder war ihr zu Muthe, als wäre sie endlose Stunden mühsam und frierend durch Nässe und Schnee gewandert und säße nun in einem bequemen Eckchen zur Seite des Herdes, darauf ein lustiges Feuer flackerte - und das war der Herd in ihrem lieben Waldhause, das war die kleine, saubere Küche, durch deren Fensterlein die Nacht mit ihren Sternen lugte und der stille, weiß beschneite Wald. Am Herd stand ihr Vaterl und schürte die Flamme. Und seltsam – wie jung ihr Vater geworden war! Und wie er aufs Haar dem Edelweißkönig glich! Da plötzlich klingen helle Schellen, man hört den Dori jauchzen und knallen, der Jörgenvetter erscheint unter der Thür, ihm folgt die Mariann’ mit den Kindern – und da mit einem Male sieht sich die Waldhausküche an wie die trauliche Wohnstube im Finkenhofe, die Kinder spielen hinter dem Ofen, die Mariann’ trägt auf, daß der Tisch sich biegen will, an dem sich Veverl mit dem Edelweißkönig sitzen sieht, gegenüber dem Jörgenvetter, der den Mund nicht zubringen will vor Lachen und Schmunzeln. –

Das war nun ganz gewiß ein wirklicher und wahrhaftiger Traum, denn der Jörgenvetter saß gar nicht zuhause in seiner Stube – der schlich im Frühlicht des ergrauenden Tages von der „hohen Platte“ her durch die dichten Latschenfelder dem Bründlalmsteige zu. Als er den Pfad erreichte, blieb er eine Weile stehen, wie wenn er sich besänne, welchen Weg er einschlagen sollte, dann nickte er vor sich hin und folgte dem Steige in der Richtung, die nach den Almen führte.

Am andern Tage aber wußten nicht allein Dori und Emmerenz, sondern auch alle Dienstboten des Finkenhofes ganz genau, wohin das Veverl gegangen wäre – nach Mariaklausen auf die Wallfahrt.

[809]

Kunstpause.
Nach dem Oelgemälde von Adolph Menzel.

[810] Auch Herr Simon Wimmer bekam von der Wallfahrt zu hören, als er gegen Abend im Finkenhofe vorsprach und nach Veverl frug.

„Didididi!“ lachte er. „Was hat denn dem lieben Schätzle auf einmal ’s Herzle so schwer gemacht? Sie wird sich doch net gar verliebt haben? denn es heißt ja, daß die heilige Mutter von Mariaklausen gut ischt für so ’was.“

Jörg schwieg und runzelte die Stirn, worauf Herr Simon Wimmer die Daumen zu drehen begann und mit einem nachdenklichen „Tja, tja!“ das schüttere Haupt zwischen den Schultern wiegte, dann that er einen Seufzer, so tief, als wäre er aus der großen Zehe heraufgeholt – und begann vom Wetter zu reden. Vom blauen Himmel kam er auf seine blauen Aussichten zu sprechen, auf seine demnächst erfolgende Gehaltsaufbesserung, auf seine „ang’sehene“ Stellung und seine „Büldung“, dann wurde er vertraulich, tätschelte die Hand des Bauern, sprach von „schönem Beisamm’sitzen“ und von „ginschtiger G’legenheit“ – und ehe sichs Jörg versah, war der Heirathsantrag fertig. „No also,“ schloß Herr Wimmer, zum zweiten Male seufzend, „jetzt ischt’s heraußen, was mir schon alleweil auf der Zung’ g’legen ischt. Ja – und wenn der Finkenbauer nix dagegen hat, nachher ischt älles richtig und ich heirath ’s Veverle.“

„Na, na, das schlagen S’ Ihnen nur gleich aus’m Sinn, Herr Kommandant,“ fuhr Jörg fast zornig auf, „da kann nix draus werden! Jetzt schon gar nimmer!“

Er verstummte, als wäre er selbst vor diesem Worte erschrocken.

Herr Simon Wimmer erblaßte, soweit der Kupferanflug seines Gesichtes das Erblassen gestattete. „Aber hören S’ Finkenbauer, hören S’,“ stotterte er, „das ischt doch kein Art und Weis net, wie man so an ehrenvollen Antrag aufnimmt. ’vor der Finkenbauer so kurzweg Na sagt, hätt’ man doch z’erst noch drüber reden können, wie’s der Brauch ischt unter richtige Mannerleut’. In so a ang’sehene Stellung z’kommen, an gebildeten Menschen zum Mann z’kriegen und Frau Kommandantin z’heißen, das ischt doch auch a bissele ’was!“

Iörg suchte einzulenken, sprach von Veverl’s Jugend, meinte, daß man in dieser Angelegenheit doch zuerst das Mädchen selbst befragen müßte, und versicherte unter begütigenden Umschweifen, daß er von seiner Person aus nicht das Geringste gegen eine solche Verbindung einzuwenden hätte.

„Na, na – da braucht sich der Finkenbauer jetzt gar nimmer anzustrengen,“ versetzte Herr Simon Wimmer tief beleidigt, während er sich erhob und mit dem Aermel den Mützendeckel bürstete. „Dem Finkenbauer sein’ Sinn hab’ ich aus sei’m ersten Wort erkannt. Und es ischt für mich arg, daß ich sehen muß, wie mir der Finkenbauer mein’ Freundschaft vergilt. Er dürft’ schon a bissele mehr drauf geben – ja. Man kann net wissen, wofür’s gut ischt, en Freund in meiner Stellung z’haben. Vielleicht denkt sich der Finkenbauer gar net, was man da amtlich oft z’hören kriegt – ja – und wenn ich net älleweil dem Finkenbauer sein Freund g’wesen wär’ –“

Er verstummte und zuckte mit einer seltsam geheimthuenden Miene die Achsel.

„Was soll das heißen, Herr Kommandant?“ fuhr Jörg erschrocken auf. „Da muß ich schon bitten! Was kann man hören von mir und über mich?“

Wieder zuckte Herr Wimmer die Achseln. „Der Finkenbauer kann doch net von mir verlangen, daß ich ihn in meine Amtsg’heimnisse ’neinschauen lass’. Unter Freund und Freund, natürlich, da wär’s ’was anders g’wesen! Aber so! Und – wenn ich schau an des net denk’, was man so hört – man hat ja selber auch seine Augen. Nix für ungut – das ischt ja nur so a Meinung. Und im Uebrigen – wenn mir der Finkenbauer auf mein’ Antrag noch was z’sagen hätt’, weiß er ja, wo er mich finden kann.“ Damit stülpte Herr Wimmer die Mütze schief über das obrigkeitliche Haupt, salutirte und stelzte in hochmüthiger Haltung zur Stube hinaus.

Mit langen Schritten wanderte Jörg in der Stube auf und nieder; dann wieder blieb er stehen und schüttelte hastig den Kopf. „Ach was! Was kann er denn g’hört haben? Was kann er denn wissen und sehen? Nix! Nix! Gar nix, als daß ich diemal net daheim bin! Aber – aber dahinter kann ja doch ’was sein! Und – es nutzt nix - es nutzt nix mehr! Jetzt muß er mir fort – fort über d’ Grenz’ – so bald als möglich! A jeder Tag kann a G’fahr für ihn bedeuten!“

Aufathmend fuhr sich Jörg mit beiden Händen über die Stirn und eilte aus der Stube, als würde ihm zu schwül zwischen den vier Wänden. Als er den Hof betrat, hörte er sich von der Straße her mit lautem Gruße anrufen. Er blickte auf und erwiderte zerstreut. „Grüß' Gott auch, Brennerwastl, wo kommst denn her?“

Der Bursche zögerte einen Augenblick, dann öffnete er das Gatter. Während er näher kam, rückte er den Hut und drehte dabei den selten schönen Spielhahnstoß nach vorn, damit ihn Jörg nur ja nicht übersehen möchte.

„Drin im Stadtl bin ich g’wesen,“ begann er zu erzählen, „weißt, da hat’s heut’ die Verhandlung ’geben vom Valtl seiner Klag’ gegen den Grafenjager – wegen derselbigen G’schicht’ beim Almtanz. Mich hat halt die Sach’ aus g’wisse Gründ’ a bißl verinteressirt. Und ich sag’ Dir’s – a größere Freud’ hätt’ ich schon nie net haben können, als wie ich den Spruch g’hört hab’. Frei is er ’worden, der Gidi, ganz und gar frei, denn aus die Zeugenschaften hat’s G’richt die Einsicht kriegt, daß der Valtl der Hackler g’wesen is, der Ruhestörer, wo’s Messer ’zogen hat – und daß der Gidi d’ Ruh’ g’rad wieder herg’stellt hat. Natürlich – da hat jetzt der Andere zu die Schläg’ noch ’s G’spött und ’s G’lachter – und die ganzen Kosten muß er zahlen. Der is Dir weiters net springgiftig! Verschnellen thut er schier vor lauter Wuth. Ja – und wie er ’raus is aus ’m G’richt – a paar von die Zeugen haben’s g’hört – da hat er g’schworen, daß er dem Gidi ’was anthut. Aber das soll er sich nur net einfallen lassen, sonst hat er mich auch gegen ihn, denn ich bin dem Gidi sein Freund.“

Die Suada des Brennerwastl’s wurde durch einen Knecht unterbrochen, der den Bauer in die Schmiede rief. Jörg verabschiedete sich von dem Burschen, wobei er ihn ermahnte, zu anderen Leuten über Valtl nichts zu reden, was er nicht wirklich verantworten könnte. „Kannst ja net wissen, wie man’s ihm wieder zutragt, und – der Valtl is kein Guter net!“ –

Der folgende Tag war ein Feiertag, Mariä Geburt – der Geburts- und Namenstag der Finkenbäuerin. Am frühen Morgen schon kamen die Dienstboten, um die Bäuerin „anzuwünschen“. Die beiden Kinder stammelten die Sprüchlein herunter, die sie von Veverl gelernt hatten, und schalten dann der Mutter gegenüber tüchtig auf ihre Lehrmeisterin los, die, wie das Liesel sagte, „jetzt auf amal hat wallfahrten müssen, statt daß s’ die zwei Edelweißbuschen b’sorgt hätt’, wo s’ uns für’n heutigen Tag versprochen hat.“

Wie dann die Glocken zu läuten begannen, wanderte Jörg mit seinem Weibe und seinen Kindern der Kirche zu, um dem Hochamte beizuwohnen. Als sie wieder heimkehrten, hatte Mariann’ in der Küche zu thun, und die Kinder trugen im Hofe ihr Feiertagsgewand spazieren, während Jörg in der Stube saß und sich in das „Wochenblattl“ vertiefte, das der Postbote gebracht hatte.

Eine Stimme, die vom Flur hereinklang, ließ ihn die Lektüre unterbrechen. Die Thür öffnete sich, und Gidi trat in die Stube. Sein Gesicht war geröthet wie von tiefer Erregung. Mit hastigen Schritten näherte er sich dem Tische und warf den Hut auf die Fensterbank.

„Grüß’ Dich Gott, Finkenbauer!“

„Grüß’ Dich Gott auch!“ erwiderte Jörg mit zögernden Worten, wobei er sich langsam erhob. „Schier verwundern muß ich mich! Hast Dich ja gar seltsam g’macht unter mei’m Dach.“

„Mein Gott, der Sommer halt – und – aber um so ’was ausz’reden, deßwegen bin ich net da! Finkenbauer – kannst Dir denken, wer heut’ noch kommt?“

„Was soll ich mir denn da denken? ’leicht kommt der Abend nach’m Tag.“

„Ehvor’s aber Abend wird, Finkenbauer, ehvor kommt noch mein junger Graf!“

Jörg erblaßte bis in die Lippen. Eine Weile stand er wortlos, dann brach es in heiseren Lauten aus ihm hervor. „Und mir – mir denkst doch am End’ net a Freud’ mit Deiner Botschaft z’ machen!“

„A Freud’? Ah na! Ehnder macht’s Dir noch mehr Kümmerniß, als schon g’litten hast – wann derfahrst, daß a Unglück, wo g’schehen is, net g’schehen hätt’ müssen, wenn – ja, wenn das traurige Wenn net g’schehen wär’! Da, Finkenbauer, da –“ und mit flinken Händen brachte Gidi aus seiner Joppentasche ein engbeschriebenes Blatt zum Vorschein. „Da, den Brief mußt lesen, den der Eustach, der Kammerdiener, der Schloßhauserin g’schickt hat.“

[811] Abwehrend streckte Jörg die Arme aus. „Laß mich in Ruh’. Ich will nix lesen – ich will nix wissen!“

„Willst ihn auch net lesen, wann ich Dir sag’, daß Dei’n Ferdl selig sein guter Nam’ da drin steht – und drin steht, daß er net schuld is an dem Blut, wo geflossen is?“

Mit gläsernen Augen starrte Jörg den Jäger an. „Gidi – Gidi –“ stammelte er, „gieb mir den Brief, den Brief laß mich lesen!“ Die beiden Arme streckte er nach dem Blatte, und als er es in Händen hielt, hob er es dicht vor die Augen und begann zu lesen, mit nickendem Kopfe und raunenden Lippen. Als er zu Ende war, drehte er das Blatt zwischen den zitternden Fingern und starrte wieder den Jäger an, dann ließ er sich auf die Holzbank niedersinken, legte das Blatt vor sich auf den Tisch, fuhr mit den Händen in sein graues Haar und begann aufs neue zu lesen.

Der Jäger stand vor ihm und sah mit theilnahmsvollen Blicken auf ihn nieder – und so hörte keiner von ihnen den Wagen rollen, der draußen auf der Straße vor dem Thore des Finkenhofes anzuhalten schien.

„Na! Na! Nu! Und wenn’s auch zehnmal g’schrieben steht,“ fuhr Jörg mit einem Mal auf, die beiden Fäuste wider die Stirn pressend, „es kann nix nutzen – es kann ja nix nutzen!“

„Nutzen, Jörg, nutzen kann’s freilich nix mehr,“ fiel Gidi mit bewegter Stimme ein. „Da schaut sich jetzt ’s Unglück ehnder noch größer an, als wie’s z’erst schon war. Aber schau – drin im Grafenhaus kannst es ja kei’m net verargen. Denn so, wie alles g’wesen is, hat ja a jeder denken müssen, der Ferdl hat’s than! Und daß er sich g’flücht’ hat, das hat ja jeden noch b’stärken müssen in dem fürchtigen Verdacht. Und so – natürlich - der einzige, wo hätt’ sagen können, wie’s g’wesen is, der hat ja net reden können, der is dag’legen zwischen Leben und Sterben. Jetzt freilich – jetzt kommt alles Reden z’spat!“

Gidi verstummte und ließ sich mit einem müden Seufzer an der Seite des Bauern nieder, der noch immer regungslos am Tische saß, in grübelndes Sinnen versunken. Manchmal flog es über Jörg’s Gesicht wie der lichte Ausdruck hoffnungsvoller Gedanken, aber immer wieder verfinsterten sich seine Züge, und immer wieder raunte er vor sich hin: „Es kann ja nix nutzen – es kann ja nix nutzen.“

„Wann der Ferdl nur g’rad das eine net ’than hätt’! Wann er nur ’blieben wär’!“ fuhr Gidi mit jammernden Worten wieder auf. „Aber freilich – ich kann mir’s ja denken, wie’s ihm g’wesen is: 's Unglück von der Hanni muß ihn ja schon ganz auseinander ’bracht haben – und ’leicht hat er sich da ’denkt: der ’s schuld dran und der hat meine Schwester am G’wissen – und so rennt er hin zu ihm – und mein’ jungen Grafen, wie er hört vom Unglück, kommt der Jammer an – ich weiß ja, ich hab’s ja lang schon g’merkt g’habt, was ihm d’ Hanni gilt – und in der Schwächen, die ihn anpackt, thut er den unseligen Fall mit der Stirn g’rad auf den scharfen eisernen Thürhaken – und wie ihn der Ferdl auf amal so daliegen sieht, übergossen von Blut, schier als a Todter, da muß ihn ’s Grausen anpackt haben – ’leicht hat er sich auch gleich ’denkt: jetzt werden s’ sagen, ich hab’ ’s ’than – und da hat ihn halt der Schreck noch ganz um sein bißl Besinnung ’bracht – und so wird’s ihn davon ’trieben haben, daß er ’naus is zum Haus und fort und fort – g’rad heimzu allweil – allweil heimzu, ohne Denken und ohne Verstand. Und wer kann’s wissen – ’leicht hat er sich in seiner Verstörung noch eing’redt, als hätt’ er wahrhaftig a Schuld verübt! Du, Jörg, Du mußt ja wissen, was er Dir fürg’redt hat in derselbigen Nacht – und schau – da kannst nachher den Grafenleuten drin ihren Verdacht auch net so arg verübeln – denn wann Dich auf den Abend b’sinnst, wo bei mir droben g’wesen bist im G’schloß, da bast Du selber nix anders ’denkt, als daß der Ferdl wirklich –“

„Nix hab’ ich denkt! Nix! Nix! Gar nix!“ brauste der Bauer auf, wobei sich sein Gesicht verzerrte vor heller Angst. „Was damals g’redt is worden zwischen uns, das waren lauter Wenn und Aber! Und jetzt redst so zu mir! Na, na, den möcht’ ich sehen, der mir nachweisen kann – das heißt – ja – eins hab’ ich für g’wiß g’sagt: daß ihm recht g’schehen is, Dei’m saubern Grafen – so oder so! Und das sag’ ich heut’ noch, wo meiner Hanni ihr Grab schon grün verwachsen is – und saget’s ihm ins G’sicht, wann er da stünd’ vor mir –“

Jörg verstummte und blickte nach der Thür, welche hastig aufgerissen wurde. Die beiden Kinder stürmten in die Stube. „Vater, Vater, draußen is Einer, der fragt nach Dir,“ berichtete Pepperl, und das Liesei ergänzte. „Ja, Vater – a ganz a nobliger Herr“

„Um Gotteswillen,“ fuhr Gidi auf, „es wird doch net –“

Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, vor Schreck und Freude. Einen Augenblick starrte er wie versteinert auf die schlanke, dunkelgewandete Gestalt des jungen Mannes, der, den Hut in der Hand, die offene Schwelle betreten hatte – starrte in das feine durchgeistigte Gesicht, das in Blick und Zügen von kaum überstandener schwerer Krankheit und von tiefem Leid erzählte, und wollte die Augen von der breiten Narbe nicht losbringen, die sich in dunkler Röthe von dieser weißen Stirn abhob und unter dem locker gescheitelten Haare sich verlor. Das helle Wasser sprang dem Jäger auf die sonngebräunten Wangen, er schlug die Hände in einander, und unter den stammelnden Worten: „Herr Graf! Herr Graf! Grüß’ Ihnen Gott, Herr Luitpold – grüß’ Ihnen Gott bei uns daheim, mein lieber Herr Graf!“ eilte er seinem jungen Herrn entgegen.

(Fortsetzung folgt.)     


Adolph Menzel.

Am 8. December d. J. vollendet der hervorragendste unter den deutschen Künstlern unserer Tage sein siebzigstes Lebensjahr: Adolph Menzel, dessen geistvollen Kopf mit den packenden Augen wir unsern Lesern im Abbilde vorführen. Das Wort Goethe’s:

„Wer mit seiner Mutter, der Natur, sich hält,
Find’t im Stengelglas wohl eine Welt,“

kann als der Wahlspruch seiner Kunst gelten, doch hat er nichts mit jenem geistlosen Naturalismus gemein, der das Höchste

geleistet zu haben wähnt, wenn er das Häßliche, das Seltsame und Abstoßende so häßlich, so seltsam und so abstoßend wie möglich mit mechanischer Treue und mit einigen blendenden technischen Bravourstückchen wiedergegeben hat. Er ist nur jenem ererbten Vorurtheil gegenüber getreten, welches in seiner Jugendzeit das Kunstschaffen und Kunstempfinden beherrschte, dem Vorurtheil, als ob nur eine beschränkte Auslese der Dinge in der Welt würdig und fähig wäre, von der Kunst behandelt zu werden, sei es, daß sie durch besondere Schönheit ausgezeichnet sind, oder daß eine tiefe oder sonst werthvolle „Idee“ in ihnen zur Erscheinung gelangt.

Auch Menzel verkennt den hohen Werth der Schönheit nicht, aber er verschmäht es, ihr Gebiet nach vorgefaßten Meinungen, die erfahrungsmäßig mit den Geschlechtern der Menschen wechseln, einzuengen, und wie man in allem Schönen eine gewisse Art von Zweckmäßigkeit als wesentliches Merkmal erkannt hat, so legt er mehr Werth auf das Charakteristische, d. h. die sinnfällige Uebereinstimmung zwischen der äußeren Erscheinung und der Bestimmung eines Gegenstandes, als auf das im gewöhnlichen Wortverstande sogenannte einfach Schöne, und er besitzt in ausgezeichnetem Grade die Gabe, die Formen der Natur, man möchte beinah’ sagen, der ersten besten Natur in dieser ihrer bedeutungsvollen Zweckmäßigkeit zu verstehen und Anderen verständlich zu machen.

Vor Jahren begegnete ich einmal dem kleinen Herrn und großen Meister mit meinem verstorbenen Freunde Alfred Woltmann zusammen auf dem Berliner Subskriptionsball, und Letzterer, der ein großer Verehrer weiblicher Schönheit war, ließ eine Bemerkung fallen des Sinnes, daß er nach dieser Richtung hin eine Enttäuschung erfahren habe. Da fuhr Menzel auf: „Ach was, Ihr redet immer von Schönheit! Wo findet man eine bessere Gelegenheit, um die Natur zu studieren, als hier!“ Und damit stürzte er sich wieder ins Gewühl, um mit seinen unfehlbaren Augen neue „Naturmotive“ zu sammeln.

Noch weniger als auf die Schönheit, die er nur mehr auf der Seite des Charakteristischen sucht, verzichtet Menzel auf die Weihe der Idee. Der schlagendste Beweis hierfür liegt in dem Umstande, daß wohl die Hälfte seiner ganzen künstlerischen Thätigkeit [812] der Verherrlichung und sozusagen künstlerischen Wiedergeburt des Zeitalters Friedrich’s des Großen gewidmet ist. Die zahllose Menge seiner Zeichnungen und Gemälde aus diesem Kreise ist getragen und durchweht von der Idee der Größe des Einzigen, für die der Künstler in patriotischem Stolze erglüht ist.[1] Nun gilt ihm um des großen Königs willen aber auch kein Gamaschenknopf und kein Ornamentschnörkel zu gering, um durch deren richtige Wiedergabe ein ganz getreues Bild der Welt zu schaffen, in welcher die Riesengestalt seines Helden sich bewegt hat. Und auch wo er in die unmittelbarste Gegenwart hinein greift, thut er es nicht leicht, ohne daß man ihm das innige Interesse an seinem Gegenstande deutlich anfühlt, eine Theilnahme, die nicht bloß an der äußeren Oberfläche haftet, sondern in die Tiefe der Dinge dringt. Ganze Bände zeit- und kulturgeschichtlicher Schilderungen können kein so treffendes, kein so reiches, kein so verständliches Bild von der Stimmung einer ganzen Bevölkerung in einem Augenblicke bangster Beklemmung und doch freudiger und opfermuthiger Zuversicht geben, wie jenes einfache Gemälde Menzel’s in anspruchslosem Formate, das die Abfahrt König Wilhelm’s zum Franzosenkriege im Jahre 1870 schildert, und das noch jedes menschliche Herz ergreifen und jeden edelen Sinn erheben wird, wenn der größte Theil der mit großem Pomp gemalten Haupt- und Staatsaktionen und Gefechtsmomente aus dem „großen Jahre“ längst vergessen sein wird. –

Die Zeit, in die Menzel’s Entwickelung fällt, hegte die Auffassung, daß in erster Linie der Gegenstand die Kosten der künstlerischen Wirkung zu tragen habe. Hatte man einen Gegenstand von poetischer Stimmung, von geschichtlicher Größe, von religiöser Weihe, ja auch wohl gar von philosophischer Tiefe ergriffen, so glaubte man, es sich mit den künstlerischen Eigenschaften leicht und bequem machen zu können. Wenn nur der poetische, geschichtliche, religiöse oder philosophische Gegenstand so ungefähr zu erkennen war, so verließ man sich auf dessen innewohnende Kraft und war bescheiden genug, den damit erzielten Eindruck als hinreichenden Erfolg der künstlerischen Arbeit anzusehen. Im Gegensatze dazu erkannte Menzel, daß das Werk der Malerei seinen Gegenstand nicht als einen schon schlechtweg interessanten voraussetzen und entnehmen darf, sondern ebenso wie das Werk der Dichtkunst das Recht haben und im Stande sein muß, für den der Natur oder dem Menschenleben roh entnommenen Stoff die Theilnahme selbst erst zu erregen, und daß zu diesem Zwecke das malerische Kunstwerk als solches mit eigenartigen Vorzügen und Anziehungen ausgestattet sein muß, die auf der vollkommenen Benutzung der dieser Kunst gerade eigenen Darstellungsmittel beruhen.

So kam es, daß Menzel auf seinem ganz selbständig und unabhängig zurückgelegten Entwickelungsgange von Anbeginn sich der technischen Hilfsmittel in einem Umfange und in einer Vollendung bemächtigte, die – wenigstens innerhalb der deutschen Kunst – bis vor wenigen Jahren unerhört war und noch heute unerreicht dasteht, und die als etwas Auffälliges und eigenthümlich Werthvolles schon beim Hervortreten der ersten Schöpfungen des Meisters anerkennend bemerkt wurde. Er radirte in Kupfer mit Meisterschaft; er warf sich auf die eben erfundene Lithographie und brachte es auch hier zur Virtuosität; und wenn heute die Illustration auf der Basis des Holzschnittes eine Macht ist und hat werden können, so hat Menzel, an dessen Zeichnungen die moderne Holzschneiderschule sich geübt und entwickelt hat, daran das allerwesentlichste Verdienst. Wie ausgezeichnet er im Oelgemälde ist, kann als bekannt gelten, und staunenswerth ist seine Kraft und Gewandtheit in jener freien Abart von Aquarellmalerei mit starker Benutzung von Deckfarben (Gouache), die er sich als ein schnelles und wirksames Darstellungsmittel handgerecht geschaffen hat. Die Sicherheit seiner Zeichnung spottet aller Schwierigkeiten und ist im denkbar höchsten Grade unabhängig von einem bestimmten für seine Kunst etwa typischen Formencharakter. Seine Studien nach der Antike z. B. können gerade betreffs der stilgetreuen Wiedergabe als Muster gelten. Und wenn er eine Figur wie den Dornauszieher unermüdet in fast einem Dutzend verschiedenen Ansichten gezeichnet hat, so zeigt das zugleich, mit welcher Vorurtheilslosigkeit er das Schöne und das Wahre nimmt, wo es sich bietet, in der Kunst sowohl wie in der Natur. In der Farbe hat Menzel immer als der Vordersten einer die große Wandlung mitgemacht, welche sich innerhalb der letzten vierzig Jahre vollzogen hat, und er darf heute unbedingt den größten Koloristen unserer Zeit beigezählt werden, wenn man unter diesem Ausdrucke nicht die einseitigen Virtuosen, sondern diejenigen wirklichen Künstler versteht, welche dem Elemente der Farbe in der Malerei zu einer möglichst glänzenden, aber immer doch dem allgemeinen Zwecke des Kunstwerks dienenden Stelle verholfen haben.

Denn nur mit dem Maßstabe eines Künstlers, nicht eines Virtuosen darf und will Menzel gemessen sein; daher hat für ihn alles Technische keine selbständige Bedeutung, sondern nur eine solche als selbstverständliches Mittel zum Zweck. Als ich ihm daher einmal rühmend von dem technischen Aufschwunge unserer gegenwärtigen Kunst sprach, fiel er mir eifrig in die Rede und er hatte damit offenbar mehr Recht als ich –: „Reden Sie mir nicht von Technik, es giebt keine Technik!“ Das sagt ein Menzel, der größte und unfehlbarste Techniker unter den modernen Malern! –

Nach manchem gelungenen Anlauf früherer Jahre hat Menzel im letzten Jahrzehnt eine Specialität zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet, in der er unbedingt einzig dasteht: die Darstellung unseres eisernen Zeitalters bei der Arbeit. Sein gewaltiges Bild eines Eisenwalzwerkes hat nirgends in der Welt seines Gleichen. „Alles Uebrige, was Ihr habt,“ sagte vor Kurzem Ernest Meissonier, der im Kleinen große französische Meister, zu einem deutschen Kunstfreunde, „das haben wir ebenso gut und besser; aber für Menzel’s Walzwerk haben wir keinen Rivalen!“ Meissonier, der schon 1867 auf der Pariser Weltausstellung dem vertretenen Menzel mit Löwenmuth eine seiner würdige Auszeichnung erstritt, ist auch der Haupturheber des großen und bisher noch nie erhörten Triumphes, welcher unserem Menzel während dieses Sommers in Paris bereitet worden ist, indem eine Anzahl hervorragender Künstler und Kunstfreunde eine Menzel-Ausstellung daselbst veranstaltete.

Das Bild von Menzel’s Meisterhand, welches wir heute unseren Lesern in gelungener Holzschnittnachbildung vorzulegen die Freude haben (vergl. Seite 809), gehört der letzterwähnten Specialität unseres Künstlers an und zeigt in seinem drastischen Humor, daß auch diese Saite – allerdings eine nothwendige auf der Leier jedes wahrhaft großen Künstlers – unserem Menzel nicht versagt ist. Wir würden es für ungeziemend halten, wenn wir im Uebrigen das Bild nicht für sich selber sprechen ließen.

Dem ehrwürdigen Meister aber rufen wir zu seinem bevorstehenden Ehrentage einen herzlichen Glückwunsch zu und ein kräftiges „auf Wiedersehen zum Achtzigsten!“ Bruno Meyer.     



  1. Eine der berühmtesten dieser Darstellungen: „Friedrich der Große am Sarge des Großen Kurfürsten“ hat die „Gartenlaube“ schon vor Jahren (1878, Nr. 50) veröffentlicht.

Römische Cäsaren.
Von Johannes Scherr.
I. Tiberius.
(Schluß.)


5.

Aus den Peristylien (Salons) der vornehmen Welt Roms ging das Geraune hervor, die tragischen Einbußen, welche die kaiserliche Familie erlitt, seien vornehmlich auf die gewissenlosen Ränke der Kaiserin Livia zurückzuführen. Beweise hierfür liegen nicht vor, es wäre denn, daß man die bezüglichen Aufstellungen und Behauptungen beim Tacitus und andern für beweiskräftig ansehen wollte. Die Livia brauchte auch gar nicht zur Giftphiole zu greifen, um die beiden ältesten Enkel des Augustus, Gajus Cäsar und Lucius Cäsar, aus dem Wege zu schaffen. Diese Herren Prinzen sorgten ja mittels ihrer von der Mutter überkommenen und eifrig bethätigten Lüderlichkeit schon dafür, sich selber zu vergiften. In Festhaltung der immerhin tröstlichen Illusion, daß es auf Erden so etwas wie Gerechtigkeit gebe, könnte man die schweren Schläge, welche den Augustus als Vater [813] und Großvater trafen, weniger der Livia als vielmehr der Nemesis zuschreiben, von welcher man sagt, daß sie die Weltgeschichte durchschreite, um die Pläne und Hoffnungen der Octaviane, Philippe, Napoleone u. s. w. zunichtezumachen.

Kurz nach des Tiberius Heimkehr starb, unterwegs nach Spanien, Lucius Cäsar zu Massilia (Marseille) am 20. August des Jahres 2 n. Chr. und 18 Monate später verschied Gajus auf der Rückreise aus Asien nach Italien begriffen, zu Limyra in Lykien an durch eine empfangene Verwundung gesteigerter Entkräftung. Der Kaiser versuchte die Lücke, welche diese ihn höchst schmerzlich ergreifenden Todesfälle gerissen, einigermaßen auszufüllen dadurch, daß er seinen jüngsten Enkel, Agrippa Posthumus, und zugleich seinen Stiefsohn Tiberius förmlich adoptirte. Das hatten die Bestürmungen vonseiten der Livia endlich doch zuwegegebracht, aber es war auch eine Staatsnothwendigkeit. Denn Augustus wußte recht gut, daß der rohe, bildungslose und halbtolle Junge, sein Enkel Agrippa Posthumus, ihm keine Hilfe und Stütze im Reichsregiment sein könnte, daß dagegen Tiberius ihm das sein würde. Darum begleitete er den feierlichen Akt der Adoption am 27. Juni des Jahres 4 n. Chr. in der Sitzung des Senats mit den Worten: „Ich schwöre, daß ich um des Staatswohls willen den Tiberius an Sohnesstatt annehme.“ Etliche Jahre nachher sah sich der greise Kaiser in die bittere Nothwendigkeit versetzt, auch seine Enkelin und den letzten ihm gebliebenen Enkel als brandige Auswüchse von seinem Dasein zu trennen. Die jüngere Julia, eifrig darauf aus, im Laster ihre Mutter zu überbieten, wurde zur Buße dafür auf der Insel Trimerus (Tremiti) an der apulischen Küste eingethürmt. Agrippa Posthumus, zu allem Rechten unfähig und unwillig, war schon mit 19 Jahren ein so brutaler Wüstling, daß er durch sein Gebaren die Würde des kaiserlichen Hauses in den Koth schleifte. Sein Großvater ließ ihn daher auf der Insel Planasia (Pianosa) bei Elba gefangensetzen, woselbst er später (14 n. Chr.) getödtet wurde, unentschieden, ob noch einer Anordnung des Augustus gemäß oder einem Befehl des Tiberius zufolge.

So war für den Sohn der Livia die Bahn freigemacht. Aber schon jahrelang zuvor war das Verhältniß Tibers zu seinem Stiefvater ein besseres und traulicheres geworden. Die politischen und militärischen Fähigkeiten und Leistungen des Adoptivsohns mußten dem alten Kaiser mehr und mehr nothwendig werden und ihm auch mehr und mehr Achtung abgewinnen. Tiberius verstand es, ihm die ungeheure Bürde der Weltherrschaft zu erleichtern, ohne doch die Eitelkeit und Eifersucht zu verletzen, allwomit der Greis an dem Besize dieser Herrschaft hing. Der Kaiser machte sich allmälig immer bestimmter mit dem Gedanken vertraut, in seinem Stiefsohn seinen Nachfolger zu sehen. Eine Reihe von Auszügen aus Briefen des Adoptivvaters an den Sohn, welche Sueton uns überliefert hat, zeigt klärlich, wie hoch Augustus den Tiberius werthete und, in seiner Art, auch liebte. Er wird da „Allerliebster Tiber“ (jucundissime Tiberi) angeredet und seiner feldherrlichen Tapferkeit, Umsicht und Wachsamkeit halber gelobt. Mit Fug. Denn Tiberius war es ja, welcher mittels wiederholter Feldzüge in Germanien und Pannonien die in jenen Gegenden sehr gefährdete Waffenehre und Macht Roms wiederherstellte und zur Geltung brachte. Das gute Vernehmen zwischen Stiefvater und Adoptivsohn, welcher in den letzten Jahren des Augustus als anerkannter Mitregent dastand, blieb ungetrübt bis zur Stunde, allwo zu Nola Tiberius die Zügel der Herrschaft aus der im Tode erstarrten Hand seines Vorgängers übernahm.

Wie war nun zu dieser Zeit der Ruf des fünfundfünfzigjährigen Mannes? Tacitus antwortet: „Man muß seinen Wandel als Privatmann und sein Verhalten als General unter Augustus vortrefflich nennen“ (egregium vita famaque, cet.). Aber in demselben Athem deutet der römische Historiker an, diese Vortrefflichkeit sei nur eine scheinbare und listige gewesen, und spricht von erheuchelten Vorzügen („fingendis virtutibus“). Man muß sich eben gefallen lassen, daß beim Tacitus vieles unmotivirt und unvermittelt neben einander steht. Wie, bis zum fünfundfünfzigsten Lebensjahr, ja sogar noch verschiedene Jahre darüber hinaus – wie sich aus dem Zusammenhang der bezüglichen taciteischen Stelle ergibt – hätte Tiberius den Heuchler gemacht, um dann erst die Maske der Verstellung abzuthun? Rein unmöglich das! Wer so lange geheuchelt, kann gar nicht mehr aufhören, zu heucheln: die Heuchelei ist ihm zum Lebenselement, ja, zur Natur geworden.

Die historische Wahrhaftigkeit verlangt demnach gebieterisch eine andere Erklärung der furchtbaren Veränderung, welche mit Tiberius, dem Kaiser Tiberius vorging – übrigens nicht etwa plötzlich, sondern nur sehr allmälig. Eine unbefangene Prüfung und Werthung der uns zu Gebote stehenden Quellen dürfte zu diesem Ergebnis führen: – Die Masse von Verbitterung oder, gerade herausgesagt, von Galle, welche sich von kindauf in Tiberius angehäuft hatte, mußte den physischen Organismus des Mannes so verstimmen, daß infolge dieser Verstimmung auch eine psychische Hypochondrie eintrat, welche mitunter geradezu eine starke Färbung von Wahnsinn annahm. Solcher Wahnsinn – für welchen man ja die richtige Bezeichnung „Kaiserwahnsinn“ gefunden hat – mußte sich dann um so schrecklicher gestalten und äußern, als einestheils in dem Gedanken, der Herr der Welt zu sein, etwas so Märchenhaftes, Verlockendes, Bezauberndes und Berauschendes lag, daß auch ein solid gebautes Menschengehirn davon wohl schwindelig und wirbelig werden konnte, und anderntheils fortgesetzte schlimme Erfahrungen den Tiberius wohl an der Welt, an den Menschen und an sich selbst irremachen und verzweifeln lassen konnten.


6.

„In Rom – so schreibt Tacitus da, wo er Tibers Regierungsantritt erzählt – wetteiferten Consuln, Senatoren und Ritter in der Knechtschaffenheit (ruere in servitium). Je höheren Ranges, desto gleißnerischer und zudringlicher. Mit einstudirter Miene, um ja keine Freude über den Tod des einen Fürsten und keine Betrübniß über des andern Gelangung zum Regiment sehen zu lassen, brachten sie in niederträchtiger Huldigung Thränen, Lachen und Seufzer mit- und durcheinander vor.“

Hier ist im Lapidarstil angedeutet, warum Tiberius als Kaiser wurde, werden mußte, was er geworden. Diese römische Sklavenbande bedurfte der Peitsche und küßte sie.

Sueton seinerseits meldet: „In der ersten Zeit seiner Regierung benahm er sich ganz bürgerlich und fast wie ein Privatmann (civilem admodum ac paullo minus quam privatum egit). Von den großen Ehrenbezeigungen, welche man ihm verschwenderisch darbot, nahm er nur wenige und bescheidene an. Die Errichtung von Tempeln, die Stiftung von Priesterschaften ihm zu Ehren verbat er sich entschieden. Auch Standbilder sollten ihm nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubniß aufgerichtet werden. Die Titel Imperator und Augustus lehnte er ab.“ Das wird durch das Zeugniß des Cassius Dio bestätigt, welcher angibt, Tiberius habe nur den Titel Princeps führen wollen in der Bedeutung eines Vordersten, eines Fürsten, eines Ersten unter seinen Mitbürgern. Zu betonen ist auch die Nachricht beim Sueton, daß der neue Kaiser es verschmäht habe, gegen solche, die ihn und die Seinigen beschimpften und verleumdeten, gerichtliche Verfolgungen anstrengen zu lassen, und daß er bei solchen Veranlassungen die Aeußerung gethan: „In einem freien Staate müssen Denkweise und Sprache frei sein.“

Alles zusammengenommen, wird man also sagen dürfen, sagen müssen, daß die Anfänge von Tibers Regiment gut, würdig und löblich gewesen seien. Möglich, daß auch die Fortsetzung so geblieben, falls die Zeit eine andere war. Die sämmtlichen auf uns herabgelangten Berichte ergeben als Summe, daß der Nachfolger des Augustus seine Regentenpflichten etwa in der Art und Weise faßte und zu erfüllen strebte, wie viele Jahrhunderte später König Friedrich der Zweite und Kaiser Josef der Zweite sie gefaßt und erfüllt haben; nämlich so, daß er sich als erster Diener des Staates fühlte und bekannte. Keineswegs nur in Worten, sondern vielmehr mittels seines ganzen Thuns und Waltens. Wäre der Begriff des modernen Konstitutionalismus auf das römische Staatswesen anwendbar, so könnte man versucht sein, den Tiberius einen konstitutionellen Monarchen zu nennen. Wie er es sich im allgemeinen angelegen sein ließ, der eingerissenen Knechtseligkeit entgegenzuarbeiten, so bemühte er sich im besonderen, das tiefgesunkene Ansehen des Senats wieder zu heben, namentlich dadurch, daß er sich den Beschlüssen der „Versammelten Väter“ unweigerlich fügte. Redlich und angestrengt arbeitete er für die Sicherung der Reichsgränzen und des römischen Machtbestandes, für eine gute Ordnung der Finanzen, für eine ehrliche Führung [814] des Staatshaushalts, für die Handhabung einer unparteiischen Rechtspflege, für die Sicherheit der Personen und des Eigenthums, für die Beschränkung des übermäßigen Luxus und für die Besserung der schlechten Sitten.

Aber trotz alledem und allediesem hat der Kaiser Tiber niemals das Gefühl der Liebe, sondern allen Leuten nur die Empfindung scheuer Furcht eingeflößt. Tacitus hat das gewiß richtig aus der persönlichen Erscheinung des Fürsten erklärt, aus dessen Mangel an verbindlichen Formen, aus seinem eckigen, schroffen, abstoßenden Gebaren, das eben nur der entsprechende Ausdruck seiner düsteren Seelenstimmung war. Es ist dieses Mannes Unglück gewesen, daß er nicht zu sein vermochte, was sein Vorfahr in so hohem Grade zu sein vermocht hatte, ein vollendeter Komödiant. Das Komödiantische unterhält und ergötzt ja die Leute, vorab die Weiber, welche letzteren ja, wie weltbekannt, bei Schaffung der sogenannten öffentlichen Meinung nicht etwa nur einen, sondern vielmehr alle zehn Finger, von der Zunge gar nicht zu reden, im Spiele haben. Tiberius verschmähte es, den Gaukler, Wortschaumschläger und Süßholzraspeler zu machen. Er gab sich, wie er war, folglich als einen nichts weniger als liebenswürdigen Menschen. Darum ist er von Anfang an entschieden unpopulär gewesen. Die Wucht seiner Unpopularität wirkte auf ihn wieder zurück, machte ihn von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde verschlossener und unzugänglicher, mißtrauischer und argwöhnischer. Die Folge hiervon war eine finstere Vereinsamung inmitten der Machtfülle und des Glanzes der Weltherrschaft. Diese Vereinsamung mußte mehr und mehr seine krankhafte Verstimmung und Verbitterung steigern, bis zuletzt, vollends ganz durchgiftet und durchseucht von entsetzlichen Enttäuschungen, das kranke Gemüth des Herrschers in wilden Wahnsinn, in wüthende Verzweiflung ausbarst.

Sueton und Tacitus stimmen darin überein, daß, obzwar Tiberius „mit der Zeit mehr und mehr den Fürften herauskehrte, dennoch in seinem Wesen die Seite der Milde und der Fürsorge für das Gemeinwohl noch die vorherrschende blieb“ und daß diese gute und glückliche Periode seiner Regierung neun Jahre gewährt habe, bis zum Tode seines einzigen Sohnes, des Kronprinzen Drusus, auf welchen der Vater die größten Hoffnungen gesetzt hatte und der i. J. 23 n. Chr. nach kurzer und scheinbar unbedeutender Krankheit wegstarb. Allerdings vergiftet, wie acht Jahre später kund wurde, aber keineswegs durch den eigenen Vater, wie der dumm-boshafte Stadtklatsch munkelte. Selbst Tacitus konnte nicht umhin, diese absurde Verleumdung als solche zu brandmarken (Jahrb. 4, 11). Gewiß aber ist dem Kaiser nicht verhohlen geblieben, daß die hauptstädtische Lästersucht ihm selbst das Abscheulichste, die Vergiftung des eigenen Sohnes, gewissenlos anlog, und wiederum auch dadurch mußte die Schneide der Menschenverachtung und des Menschenhasses tiefer in seine Seele gedrückt werden. Oftmals gab er diesen Eindrücken grimmigen Ausdruck, indem er auf griechisch ausrief: „Oh, über dieses nach Knechtschaft haschende, nach Sklaverei gierige Menschenpack!“ Wenn aber ein Imperator urbis et orbis, der Herr der römischen Welt einmal so weit war, in den Menschen nur noch Sklaven zu erkennen, so hatte er nur noch wenige Schritte zu thun, um dort anzulangen, wo es ihm eine bittere Lust, eine Wollust der Verzweiflung sein mußte, auf diesem „Pack“ recht hart und schwer herumzutreten.

Ein solches Gelüste konnte in dem ergreis’ten Monarchen nur noch geschärft werden durch seine Beziehungen zum römischen Adel, welcher, wenn man es so ausdrücken darf, den Tiberius mit der einen Hand streichelte und mit der andern kratzte. Die tiefe sittliche Versunkenheit der römischeu Nobilität zu dieser Zeit ist ja allgemein bekannt. Diese Sippschaft von adeligen Herren und Damen, diese ganze vornehme und feine Societas Roms hatte eine auffallende Aehnlichkeit mit der feinen und vornehmen Société von Paris in den letzten Jahrzehnten vor der großen Revolution. Hier wie dort lebte der Adel ganz wesentlich von Mißbräuchen, hier wie dort suchte er von dem Monarchen mittels der niederzüchtigsten Schmeichelei Auszeichnungen, Begünstigungen, Schenkungen und Gnadenbeweise zu erschwindeln und doch machte hier wie dort die Aristokratie im Geheimen Opposition gegen den öffentlich mit Kniebeugungen und Lobpsalmen beschmeichelten Herrn und Gebieter und suchte sich für ihre selbstverschuldete Erniedrigung durch die Ausheckung und Verbreitung der boshaftesten Lügen und giftigsten Verleumdungen schadlos zu halten.

Der einsame und düstere Fürst sah und wußte das alles. Der Abschen, den ihm dieser vornehm-süße Pöbel, dieser betitelte Menschenkehricht einflößte, wurde allmälig ein gränzenloser. Eine logische Folge hiervon ist gewesen, daß er sein Vertrauen plebeischen Männern schenkte und solchen die wichtigsten Posten im Staate anwies. Aber gerade hierin sollte er die schrecklichste Erfahrung seines an traurigen Erfahrungen so reichen Lebens machen, gerade da mußte er so schwarzen Undank, so grauenhaften Verrath ernten, daß davon der Ausbruch des tiberischen Tyrannenwahnsinns zweifelsohne datirt.


7.

Des Kaisers erster Günstling, Vertrauter und Minister war Aelius Sejanus, ein Mensch von dunkler Herkunft aus der etruskischen Stadt Vulsinii. Er führte amtlich den Titel Generalquartiermeister („praefectus praetorio“) oder Gardegeneral. Bei ihm stand jedoch nicht nur der Oberbefehl über das Gardecorps und die sämmtlichen in der Hauptstadt und ihrer Umgebung stationirten Truppen, sondern er war thatsächlich auch das, was wir unter einem Kriegsminister verstehen. Noch mehr, er war der Sache nach Erster Minister oder Reichskanzler, des Monarchen rechte und linke Hand in allem und jedem. Tiberius vertraute ihm unbedingt und ermüdete nimmer, ihn mit Würden und Reichthümern, Gnaden und Ehren zu überschütten. Zuletzt ertheilte er ihm noch Amt und Titel eines „Gehilfen im Reichsregiment“ (adjutoris imperii), also eines Mitregenten, und suchte ihn auch verwandtschaftlich mit dem kaiserlichen Hause zu verknüpfen, indem er seinen Großneffen vonseiten seines Bruders Drusus mit einer Tochter Sejans verlobte.

Dies alles jedoch reichte nicht aus, des Emporkömmlings rasenden Ehrgeiz zu sättigen. Sejan hatte kein niedrigeres Ziel ins Auge gefaßt, als sich selber an den höchsten Platz zu schwingen, entweder den Kaiser zu verdrängen, zu beseitigen oder wenigstens alles vorzubereiten, um der Nachfolger desselben werden zu können. Höchst talentvoll, außerordentlich gewandt, verschlagen und erfahren, wie in allen Lastern, so auch in allen Listen und Künsten der Zettelung und Nachstellung Meister, vor keinem Verbrechen, aber auch vor gar keinem, so dasselbe ihm zweckdienlich erschien, zurückschreckend, so konnte dieser Mensch in dem Rom von dazumal sich wohl mit der Hoffnung schmeicheln, sein ungeheures Ziel zu erreichen.

Entschlossen und energisch betrat er die gefährliche Bahn. Sein erstes großes Unternehmen auf derselben war, daß er die Livilla, die Gemahlin des Kronprinzen, des einzigen Sohnes seines gütigen Gebieters, verführte und mit ihrer Beihilfe den Drusus mittels Giftes umbringen ließ. Dann verschritt er dazu, andere Steine, welche hindernd auf seinem Wege lagen, ebenfalls zu beseitigen. So die Prinzessin Agrippina, Witwe von Tibers verstorbenem Bruder Drusus, und ihre Söhne, auf welche nach der Vergiftung des Kronprinzen Drusus die Aussicht auf die Thronnachfolge übergegangen war. Man blickt in einen Abgrund von Gräueln hinein, wenn man den Ränken und Tücken nachgeht, welche Sejan zur Förderung seines Planes anspann und durchführte.

Während diese auf das Verderben und die Ausrottung der gesammten kaiserlichen Familie abzielenden Ruchlosigkeiten des allmächtigen Ministers ihren Fortgang nahmen, hatte der alte Kaiser, durch den Verlust seines einzigen Sohnes tief erschüttert, den lange erwogenen Entschluß gefaßt, die ihm verhaßte Hauptstadt zu verlassen und sich an einen ländlich-stillen, seiner Schwermuth mehr zusagenden Aufenthaltsort zurückzuziehen. Er that so und ging i. J. 26 n. Chr. zunächst nach Campanien, von wo er aber bald mach der im Golfe von Neapel wunderbar schön gelegenen Felseninsel Capri übersiedelte. Alldort nahm er seine bleibende Residenz und erbaute nach und nach 12 Villen. Die Insel, nur an einem einzigen, leicht zu überwachenden Punkte zugänglich, war mit ihrer Stille und mit ihrem milden Klima so recht gemacht zum Wohnort eines verdüsterten Greises, welcher dem Zudrange der Leute sich entziehen und doch die Zügel der Herrschaft nicht aus den Händen geben wollte. Man zeigt auf Capri noch jetzt die Trümmer vom „Palazzo“ des „Timberio“, wie der Kaiser in der Volkserinnerung heißt. Auch geht auf der Insel eine Sage um, welche an unsere deutsche vom Barbarossa im Kyffhäuser gemahnt. Tief in dem Berge, auf welchem die [815] Trümmer vom Palazzo des Timberio liegen, da sitze der Kaiser, eine Gestalt von Bronze mit Augen von Diamant, auf einem riesigen Rosse von Erz.

Derweil schritt Sejan voran auf seiner verwegenen Laster- und Frevelbahn. Schon konnte er wähnen, dem Ziele ganz nahe zu sein. Senat und Volk Roms erschöpften sich in sklavenhafter Kriecherei vor dem Minister. Standbilder wurden ihm errichtet, in überschwänglichen Lobpreisungen seine angeblich großen und mannigfachen Verdienste um den römischen Staat anerkannt. Die Schmeichelei ließ gerade hier wieder einmal sehen, in welche Tiefe die menschliche Niederträchtigkeit hinabzusteigen vermag. Die Augen seines Herrn und Gebieters schien Sejan vollständig verblendet, dessen Ohren ganz und gar verstopft zu haben. Nun aber beging der vom Glück über alle Maßen verhätschelte, bis zum höchsten Grade des Größewahns hinaufgeschmeichelte Narr der Fortuna den groben Fehler, von der Seite des Kaisers auf Capri weg und nach Rom zu gehen. Vermuthlich darum, weil er meinte, nur in der Hauptstadt die letzte Hand an das vielverschlungene Gewebe seiner Entwürfe legen zu können. Der Empfang, welchen er fand, mußte in dieser Meinung ihn noch bestärken. Der Senat und das Volk bewillkommten ihn, als wäre er schon der wirkliche und anerkannte Herrscher. Und doch sollte es mit seiner ganzen Herrlichkeit so rasch zu Ende gehen, daß wir verstehen, wie Cassius Dio mit Bezug auf diesen Sturz sagen mochte: „Ein Gott selbst, welcher einen so baldigen und schrecklichen Umschlag der Dinge geweissagt hätte, würde keinen Glauben bei den Menschen gefunden haben.“

Nach Sejans Abreise von Capri hatte Tiberius seinen Großneffen den Prinzen Gajus, genannt Caligula, einen Enkel seines Bruders Drusus, als den muthmaßlichen Thronfolger nach der Insel kommen lassen. Diese gute Gelegenheit benützte die Großmutter Caligula’s, die noch lebende Witwe des Drusus, Antonia, auf welche der Kaiser allzeit großes Vertrauen gesetzt hatte, um brieflich ihrem Schwager über alle die Zettelungen, Ruchlosigkeiten und Pläne Sejans die Augen zu öffnen. Die Wirkung dieser Aufklärung war furchtbar. Der Günstling, der Vertraute, welchen er aus dem Nichts zur höchsten Höhe emporgehoben, war der Verführer seiner Schwiegertochter, der Mörder seines einzigen Sohnes, der Verderber der kaiserlichen Familie, ein Laster- und Frevelbube, welcher augenscheinlich auch nicht anstehen würde, seinen Wohlthäter selber zu vernichten, sobald das ihm zweckfördernd erschiene!

Die ganze Flut von Grimm und Wuth, welche sich seit lange, lange in der Brust des Kaisers, zu dessen Verfinsterung auch der zwei Jahre zuvor erfolgte Tod seiner Mutter Livia nicht unwesentlich beigetragen, angesammelt und aufgestaut hatte, brach jetzt aus und los. Der kranke Greis wurde ein blutlechzender Tiger. Ja, nur mit dem Gebaren eines Königstigers, welcher zum Todessprung auf sein Opfer sich niederduckt, ist das grauenhaft listige Verfahren zu vergleichen, welches Tiber einschlug, um den Verräther und Mörder Sejan zu umstricken und zu vernichten. Am 18. Oktober des Jahres 31 n. Chr. fiel zu Rom der zerschmetternde Blitzstral. Der auf der Zenithhöhe seiner Macht und Sicherheit sich wähnende Verräther ward plötzlich in offener Senatssitzung angeklagt, verhaftet und noch an demselben Tage hingerichtet. Damit aber nicht genug: ein so fürchterliches Strafgericht erging über Sejans ganzen Anhang, daß die Gossen der Straßen Roms vom Blute dampften.

Fünfzig Jahre hernach hat Juvenal in der 10. seiner Satiren jenen oktoberlichen Schreckenstag in seinem pathetisch-drastischen Kothurnstil geschildert und hat daraus achselzuckend die freilich nicht neue Moral gezogen, daß der süße und der saure Pöbel („turba“) steigenden Glückspilzen allzeit den Hof mache, gefallene aber hasse („sequitur fortunam ut semper et odit damnatos“).

Wie es dem Alten auf Capri zu Muthe gewesen, bezeugt einer seiner in jenen Tagen an den Senat gerichteten Briefe, an jener bekannten Stelle, allwo er den Verzweiflungsschrei ausstieß: „Was ich an euch schreiben soll, versammelte Väter, oder wie ich es soll oder ob ich dermalen gar nicht schreiben soll, mögen alle Götter und Göttinnen mich noch verderblicher treffen, als ich täglich mich getroffen fühle, wenn ich es weiß.“

Noch sechs Jahre lang schleppte der Greis die Qual seines Daseins weiter, augenscheinlich von häufigen Anfällen von Irrsinn, ja von Tobsucht heimgesucht. Trotzdem ist von der gäng und gäben Ueberlieferung, Tiberius habe sich alle diese Jahre hindurch auf seinem Inselfels förmlich in teuflisch ausgetiftelten Grausamkeiten oder abwechselnd damit in namenlosen Lüsten gewälzt, bei näherem Zusehen manches, vieles sogar als offenbare Uebertreibung oder bare Verleumdung zu streichen. Dagegen untersteht es keinem Zweifel, daß Tiber in seinen letzten Jahren seiner gränzenlosen Menschenverachtung allerdings den Ausdruck der vollendetsten und schonungslosesten Tyrannei gegeben hat. Er schien es darauf angelegt zu haben, ausfindig zu machen, was alles die Menschen sich bieten und gefallen ließen, wie weit sie es in feiger Sklavenhaftigkeit bringen könnten, und wenn er wieder eine recht sprechende Probe davon erhalten, hat er wohl, wie Cassius Dio meldet, in dämonischer Schadenfreude ausgerufen: „Wann ich todt, mag die Welt im Feuer aufgehen!“ Daraus ist, gelegentlich bemerkt, zu ersehen, das das pompadour’sche: „Nach uns die Sündflut!“ und das metternich-gentz’sche: „Uns wird es wohl noch aushalten!“ nur Plagiate gewesen sind.

Zu Anfang des Jahres 37 n. Chr. fühlte sich der greise Tyrann plötzlich von jenem Drang, den Ort zu wechseln, ergriffen, welcher ja Menschen, über denen die Hand des Todes schwebt, häufig anfaßt. Er machte sich von Capri nach dem Festland auf und reis’te nach Tusculum, um daselbst, jedoch mit Vermeidung Roms, seine alte Schwägerin Antonia zu besuchen. Auf der Rückfahrt nach seiner Insel erkrankte er unterwegs, ließ sich nach der am Vorgebirge Misenum gelegenen Villa des Lucullus bringen und dort ist er am 16. März genannten Jahres gestorben, nicht, wie sich widersprechende Sagen wollten, eines gewaltsamen, sondern eines natürlichen Todes. Achtzehn Jahrhunderte später hat ein deutscher Dichter, Emanuel Geibel, den „Tod des Tiberius“ meisterlich geschildert. Das ist wohl die bedeutendste Aeußerung, welche die geschichtliche Erscheinung des Alten von Capri bislang der Poesie abgewonnen hat. Das Trauerspiel des dänischen Dichters Hauch, obzwar nicht ohne Verdienst, reicht an seinen Gegenstand nicht hinan.

Und die Summe unserer historischen Betrachtung?

Diese: – Tiberius trat auf als ein Vollstrecker des Strafurtheils, welches die Weltgeschichte als Weltgericht über das antike Weltalter und namentlich über das Römerthum gesprochen hatte. Immer zu Zeiten, wann die Menschheit siech, die Gesellschaft brandig und faulig geworden, kommt so ein skrupelfreier Aderlasser daher, so ein dämonisch kühner und rücksichtsloser Arzt, dessen einziges Recept lautet: Eisen und Feuer!


Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.
(Fortsetzung.)


Pater Otto ließ sich jeden Gang wohl schmecken, redete auch seiner Muhme fleißig zu, so daß sie nach und nach sich bald von dieser, bald von jener Speise vorlegen ließ, ohne freilich recht zu wissen, ob und was sie aß, und er stieß mit Edgar wiederholt an und trank ihm zu „auf Erfüllung guter Wünsche!“ und allen Beiden „auf eine glückliche Zukunft!“

Der Priester zeigte sich in so unbefangener und guter Laune, als ob er bei einem richtigen Hochzeitsmahl säße, so daß die anderen Beiden, je länger die Tafel währte, desto weniger aus dem wunderlichen Heiligen klug wurden. Sie sahen sich einander erst fragend, dann wieder liebevoll an. Edgar’s Zweifel an der Geliebten schwanden, und Bianca konnte sich des Einfalles nicht erwehren, daß der Vetter am Ende gar ihre Flucht begünstigen möchte.

So kam es, daß die zweite Hälfte der Sitzung sich in der That nicht so unbehaglich wie die erste gestaltete, daß ab und zu das Mädchen und ihr Baron ein Wort in die Unterhaltung warfen, deren Kosten bisher nur Pater Otto ganz allein bestritten hatte, und daß nach und nach ein munterer Geist über der Verhandlung [816] schwebte, in welchem den Hühnern der Frau Wirthin und den besseren Weinen Edgar’s mehr zugesprochen wurde, als ihren Vorgängern auf demselben Tisch.

Die ganze Situation erschien den beiden Liebesleuten wie ein seltsames Räthsel. Aber sie schickten sich darein in Erwartung baldiger Auflösung desselben und hofften schon nicht mehr Zerstörung, sondern Förderung ihres kecken Planes durch den verwandten Gottesmann, welchem nichts Menschliches fremd war.

Es hörte sich auch anfangs ganz so hoffnungsvoll an, wenn Pater Otto, nachdem die Tafel aufgehoben worden, den Vorschlag machte, den Kaffee draußen auf einer Bank unter den Nußbäumen einzunehmen, wo man vom Wirthshause fern und vor jedem neugierigen Ohr sicher war. „Denn, meine lieben Leut’,“ fügte er hinzu, „wir haben jetzt ernsthaft mit einander zu reden und was nur wir Drei allein hören und erwägen sollen.“

Er ging voraus durchs Gras, nicht anders, als wollt’ er den beiden Verliebten Zeit gönnen, sich ihre Verwunderung über so merkwürdiges Eingreifen in eigenste Absichten auszudrücken und ihre Gedanken an einander zu sammeln.

Sie huschten auch alsbald zu einander, und ein Kreuzfeuer von leisen Fragen trug doch etwas zur Erleichterung ihrer verblüfften Seelen bei.

„Hatten Sie eine Ahnung, Bianea, daß er wußte . . .“

„Baron, wie mögen Sie so etwas nur denken . . .“

„Ich gestehe, daß ich Arges und Aergeres dachte . . .“

„Aber Edgar!“

„Was er nur vorhat?“

„Ich weiß es nicht!“

„Wie wär’s, wenn wir rasch einspannen ließen und ihm vor der Nase davonführen?“ sagte Sperber, dem die Lage der Dinge wieder gar nicht geheuer schien. Der Schwarzrock hatte wieder eine verdammt ernsthafte Miene aufgesetzt, wie er nunmehr dort drüben im Schatten der Nußbäume ein kleines Brevier, zwischen dessen Blätter er den rechten Zeigefinger gesteckt, ab und zu vor die Augen brachte, und also betend im grünen Grase auf- und niederwandelte, als wär’ er allein.

Sie hätten ihm jetzt vielleicht wirklich entwischen können.

Aber Bianca schüttelte zu dem leisen Vorschlage hastig den Kopf. Der Einfluß, den Pater Otto als Vetter, Freund und Lehrer von Kindheit an auf sie geübt, war viel zu groß, als daß sie nicht empfunden hätte, was er in dieser Stunde sagen werde, sei von entscheidender Wichtigkeit für ihr ganzes Leben und müsse gehört werden, wenn sie vor sich selber nicht feig und erbärmlich erscheinen wolle.

Der Entschluß stand ja nach wie vor noch bei ihnen allein! Und sie sah trotz ihrer Weigerung, sich der Unterredung mit dem Mönche zu entziehen, den Geliebten aus ihren blauen Augen so innig an, daß er keinen anderen Willen mehr hatte, als den ihrigen.

„Kinder, der Kaffee ist da!“ rief nun der Chorherr von den Bäumen her, wo eine Magd das Tuch über den Tisch breitete und Tassen und Kanne zierlich genug aufstellte.

Die Beiden traten langsam näher.

Sperber suchte nach Bianca’s Hand, und die Sorge seines Herzens ließ ihn noch einmal das Bedenken aussprechen: „Er wird Sie überreden?“

„Nein, Edgar!“ antwortete das schöne Mädchen. „Verlassen Sie sich auf mich! Ich bin nicht von denen, die ihr Wort zurücknehmen!“

So schritten sie Hand in Hand auf den Nußbaum zu, wo Pater Otto die zierlichen Schalen mit der duftigen braunen Moccabrühe vollgoß und, als ob er hier der Hausherr wäre, sie den Ankommenden kredenzte.

Schweigend schlürften alle drei, und als sie fertig waren und die Tassen wieder auf den Tisch setzten, sahen sie einander fragend, erwartungsvoll, schier feierlich an.

Der Priester nahm eine Cigarre aus Edgar’s verbindlich dargereichtem großen Reise-Etui, dankte, machte sich Feuer, warf das Schwefelhölzchen auf den Boden, trat das Flämmchen aus, that einen langen Zug und hub dann, während er den ersten Rauch der Havanna von sich blies, also an:

„Was Ihr nun wollt, meine lieben theueren Freunde, das ist klar. Ihr wollet einander angehören fürs Leben, und selbander in die schöne weite Welt ziehen ...“

„Und mein Engagement in Königsberg antreten!“ warf Bianca festen Tones dazwischen, als Pater Otto seiner Cigarre noch einmal eine lange duftige Rauchwolke entsog.

„So ist es!“ fuhr er fort. „Ihr habt es beide vielleicht nicht richtig angefangen. Aber Geschehenes tadeln hätte hier keinen Zweck. Baron Sperber war vielleicht nicht offenherzig genug mit sich selbst und gegen den Onkel nicht klar genug. Aber Dein Vater ist ein Grobian. Ich weiß Alles. Passons là-dessus.

Weniger klar dürfte nun aber Euch, meine lieben verehrten Freunde, sein, was ich will.

Vor Allem Eins: ich will Euch in Euerem Vorhaben nicht hindern! Glaubt, daß ich von Herzen Euer guter, treuer, redlicher Freund bin!“

O und ah! schollen jetzt von Rührung halb unterdrückt durch einander. Von beiden Seiten rückte eines der Verliebten an den trefflichen Otto heran. Bianca, deren Augenwimpern feucht waren und zuckten, faßte mit beiden Händen zutraulich seinen Arm und Edgar legte seine männliche Rechte auf die schlanken blassen Finger des gelehrten Mönchs.

Dieser redete weiter unentwegt. „Ja, ich bin Euer wahrer Freund und werd’ es Euch beweisen, mit Hintansetzung meiner Person, ich werde gerne Tadel und Strafen auf mich nehmen, um Euch zu Willen und Eurem Lebensglück förderlich zu sein.

Denn,“ und er seufzte tief auf dabei, „ohne harten Tadel und ohne schwere Strafen für mich wird es nicht hingehen! Mag es darum sein!

Ihr seht mich fragend an? Ihr versteht mich nicht? Nun denn, so machet Euch auf und folget mir und Ihr werdet Alles begreifen!

Ich habe drüben im Dorf in jener Kirche, deren spitzes Thürmchen Ihr aus dem Thalgrunde hervorstechen seht – es ist keine halbe Stunde hinüber – ich habe dort Alles vorbereitet, um Euch Beide vor des Herrn heiligem Altar als rechte und gerechte Brautleute zusammenzugeben und den Bund fürs Leben nach den Satzungen der Kirche zu segnen.

Ihr mögt Euch denken, daß es nicht ganz einfach zugegangen sein kann, meinen verehrten Amtsbruder in Christo, den dortigen Herrn Pfarrer, in solch eine abnorme Bestimmung einwilligen zu machen. Aber ich habe Alles auf mich genommen, ich werde jede Verantwortung vor der bürgerlichen Behörde, wie vor dem Herrn Erzbischof tragen. Es muß sein, daß ich darum leide. Aber ich will es mit Freuden thun, um Sünde zu verhindern und Euch glücklich zu wissen.“

Die Cigarre war nun doch ausgegangen. Bianca lehnte mit dem Angesicht auf Otto’s Arm, und ihre leisen Thränen rannen langsam an dem schwarzen glänzenden Stoff seines Kuttenärmels hinab. Edgar aber hatte die Hand des Redenden losgelassen, er starrte betroffen in die Tischplatte hinein, kaute die Lippe und bewegte kaum hörbar in verhaltener Ungeduld die Fingerspitzen auf dem Kaffeetuch.

Otto achtete dessen gar nicht und sprach weiter in gleichmäßigem Fluß und leidenschaftsloser Betonung.

„Euch glücklich und vereint zu wissen, wird mein Trost im Leiden sein. Und Ihr werdet mir ein treues Gedenken bewahren, wie ich jetzt Eueren Herzenswunsch erkannt habe und mich beeile ihn zu erfüllen.

Denn daß das Euer Herzenswunsch ist, nicht wie die Wahnsinnigen und die Verächtlichen in die weite Welt hinauszurasen, sondern wie ehrliche christliche Eheleute überall Gottes Wege zu wallen, das nehm’ ich als sicher an, Jedes andere Vermuthen wäre eine Schmach.

Ich ermögliche Euch nur hier und sofort, was Ihr mühsam und langsam im fremden Lande hättet suchen müssen.

Besser und klüger wär’s ja, Ihr kehrtet um und machtet Alles nach der Regel und nach gutem Gebrauch in Ordnung.

Aber ferne sei es von mir, Euch zu drängen! Ich kenne Deinen abenteuerlustigen, romantischen Sinn, liebe Bianca. Ich weiß, daß Dein Vater Euch Beide nicht sehr freundlich aufnehmen und jedenfalls sich lange Bedenkzeit ausbitten würde. Fahret denn aus in Gottes Namen! Aber nicht ohne den Ring am Finger! nicht ohne den Segen der heiligen Kirche!“

Pater Otto griff bei diesen Worten in die Westentasche und zog ein Bällchen Seidenpapier hervor, darin zwei Ringlein eingewickelt waren.

[817]

In der Plättstube.
Aus dem Werke: „Das Lob des tugendsamen Weibes“.
Von Ludwig von Kramer.

[818] Er nahm sie heraus, erhob sie zwischen zwei Fingerspitzen und sagte: „Ich habe auch dafür schon gesorgt!“

Dabei sah er die beiden jungen Leute jetzt erst des Genaueren an, einen nach dem andern, als wollt’ er die Wirkung seiner Worte an ihren Gesichtern erkennen.

Er sah in seines Mühmchens nassen Augen, auf ihren nassen zuckenden Wangen, daß er zu ihr nicht umsonst geredet hatte; er sah, daß diese nassen Augen jetzt in ihr Vorhaben wie in einen Abgrund blickten, dessen Tiefe, dessen Grausen sie jetzt erst ahnte. Er sah an der weltmännischen Verlegenheit Edgar’s, daß dieser ihn zu allen Teufeln wünschte und annoch nicht im Entferntesten dazu gestimmt war, den Weg nach der Dorfkirche einzuschlagen.

Darum zog er gleich herbere Saiten auf und sprach etwas rascher, etwas bewegter, die Uhr in der Hand und ihre Zeiger betrachtend:

„Der Weg ist, wie gesagt, kaum ein halb Stündchen weit. Ihr könnt den Wagen nachkommen lassen. Er wird uns leicht einholen und jedenfalls nach der Ceremonie bereit stehen, Euch sofort ins Weite zu bringen. Die heilige Handlung wird kurz sein. Etwas Predigt hab’ ich Euch ja jetzt schon vorab gehalten. Der bessere Rest ist bald gesprochen. In anderthalb Stunden vielleicht, jedenfalls in zwei Stunden, mögt Ihr Euere Hochzeitsreise mit Gott antreten, ohne sonstige Verzögerung von irgend einer Seite zu befürchten.

Was weiter hier darauf folgen muß, werd’ ich besorgen und werd’ ich dulden! – Was ich aber niemals dulden würde (dabei hob er das Haupt hoch und sprach mit einschneidendem Ton), das wäre, wenn Du Bianca Dein ganzes Lebensglück auf eine Laune, Deine Ehre auf einen hirnwüthigen Einfall verwetten, Dich zu Grunde richten, Deinen Vater unglücklich machen und das Andenken Deiner seligen Mutter im Grabe schänden möchtest. Für die lustige Woche eines Verführers bist Du mir zu schade! – Ferne sei es von mir, solch einen Argwohn gegen Sie zu hegen, lieber Herr Baron von Sperber! Entschuldigen Sie gütigst, daß ich nur die Möglichkeit einer solchen Spitzbüberei in Rede stellte! Verzeih mir das auch Du, Bianca! Aber Du wirst mir zugeben, daß ich in jenem Fall das Recht und die Pflicht hätte, Dich einfach am Arm zu nehmen, Dich, kost’ es was es wolle, in Deines Vaters Haus zurückzuführen und allen weiteren Anfechtungen einen oder mehrere Riegel vorzuschieben, die vollkommene Sicherheit böten.“

„Ja, ja!“ schluchzte Bianca, der die ganze Scene ungemein gefiel und die, ohne Sperber darum minder gut zu sein, ihren Vetter jetzt als den Retter ihres Lebens, ihrer Tugend und ihrer Ehre bewunderte und bedankte.

Finster blickte Sperber auf all diese höchst überraschende, nach seiner Meinung höchst unmotivirte Rührung.

„Nun, Herr Baron?“ nahm jetzt Pater Otto wieder das Wort. „Wollen wir aufbrechen? Es ist Zeit.“

In unserem guten Sperber war bei all diesen Reden des Priesters und Angesichts des Verhaltens, welches Bianca dabei an den Tag legte, der kaum entlassene Verdacht von Neuem und mit erhöhter Macht wiedergekehrt. Er glaubte in der ganzen Geschichte ein von langer Hand abgekartetes Spiel zu erkennen, wodurch er, der ahnungslose, blind vertrauende Fremdling, ins Garn gelockt und, eh’ er sich’s versah, mit einer Frau beglückt werden sollte, mit einer Frau, die ihm in der That bis zu dieser Minute in jedem Sinne begehrenswerth erschienen war, die ihm aber die Nothwendigkeit, sie auch in aller Form Rechtens ehelichen zu müssen, noch niemals weder in Gesprächen noch in Andeutungen nahe gelegt hatte. Unter andern Umständen und wenn ihm die Familie Latschenberger nur einigermaßen besser behagt hätte, wäre er gewiß selber zu dieser Idee gediehen. Ja, auch trotzdem vielleicht, denn er liebte Bianca von Herzen und mehr sogar, als er wußte. Aber sich in so brutaler Weise von einem hinterlistigen Pfaffen übertölpeln zu lassen und ein Mädel, das sich mit solch einem Pfaffen, ihn zu übertölpeln, verschworen hatte, in das alte Patrizierhaus an der Alster als seine Gemahlin heimzuführen, das ging ihm doch gegen den Strich, und er hatte Mühe, seinen aufkochenden Groll zurückzuhalten und jenen nicht gleich jetzt ins Gesicht zu sagen, daß sie ihn in ganz unwürdiger Weise zum Narren gehalten hätten, daß er aber doch kein solcher Gimpel sei, um sich durch das Pfeifen des impertinenten Mönchs auf die von Fräulein Scandrini so glatt gestrichene und so zierlich dargereichte Leimruthe locken zu lassen. Nein, auf also lächerliche Weise wollte Sperber trotz seiner großen Gutmüthigkcit und seiner noch größeren Verliebtheit nicht kleben bleiben.

Er war nicht der Mann der lauten Grobheit. Er wollte Bianca, die Hinterlistige, obwohl er sie in diesem Augenblick unbedenklich mit dem nächsten besten Tischmesser hätte erdolchen mögen, nicht beleidigen. So hielt er noch mit Worten an sich. Aber sein Angesicht verrieth deutlich genug, daß er nicht gesonnen sei, die Opfer, welche der Chorherr für seine Gewissensruhe zu bringen dürstete, sofort anzunehmen. Abwechselnd seine wohlgepflegten Fingernagel und die beiden gegenübersitzenden Menschen betrachtend, sprach er endlich:

„Euere Hochwürden werden es begreiflich finden, wenn mich dero Vorschlag überrascht hat, wenn ich mich nicht sogleich in denselben finden kann …“

Bianca blickte den Redenden da mit weit offenen Augen erschreckt an. Ihrem theatralisch bewegten Gemüthe war der Vorschlag des Vetters himmlisch schön und alle Sorgen und Zweifel mit einem Schlage lösend erschienen. Diese Trauung in der waldverborgenen Dorfkirche, mit dem jungen Priester auf der einen Seite, der sie einst geliebt hatte und der nun, um sie glücklich zu wissen, geistlichen und weltlichen Strafen entgegenging, mit dem gepackten Reisewagen, der sie gleich nach dem Amen in die ferne Fremde führen sollte, auf der anderen Seite, das war ja ein Aktschluß, wie man ihn rührender weder in der Oper noch in der Burg sehen konnte. Sie hörte ordentlich die Musik des vollen Orchesters dazu. Nach ihrem Sinn mußten jetzt Edgar und sie dem hilfreichen Priester zu Füßen stürzen oder ihm doch um den Hals fallen und ihm unisono für diesen glorreichen Einfall danken, um sofort die nächste Scene vorzubereiten und ihr Glück zu beschleunigen.

Wie Edgar sie jetzt in seinen Gedanken mit kränkendem Verdacht überhäufte und aus seinem Herzen zu schieben suchte, so schien er ihr mit jedem Worte, das er sprach, kleiner zu werden, zu einer ganz gewöhnlichen Dandygestalt einzuschrumpfen und jeden lyrischen Zauber zu verlieren.

Er fuhr fort: „Vor Allem muß ich Sie bitten, hochwürdiger Herr, mir kein Unrecht zu thun. Ich bin kein Don Juan: mein Sinn steht weder auf Verführen noch auf Entführen. Wenn ich in diese, allerdings ein wenig abenteuerliche Ausfahrt willigte, so geschah es, weil Fräulein Bianca es so haben wollte und weil ich sie so herzlich liebte, daß ich jeden ihrer Wünsche zu erfüllen bereit war. Im Uebrigen glauben Sie mir, ich bin ein Freund von geregelten Verhältnissen. Aber meine Verhältnisse sind zum Heirathen nicht geregelt genug. Ich denke eben darin vielleicht etwas prosaisch, etwas beschränkt, etwas kleinstädtisch. Ich denke darin, wie ich es in meiner Familie gelernt habe von Kleinauf und wie ich weiß, daß meine Familie solch einen Schritt, wie Sie ihn mir zumuthen, beurtheilen, wie sie eine Frau, die ich unter solchen Umständen, ohne Einwilligung der Eltern, unterwegs, ex improviso, gefreit, aufnehmen würde.

Verstehen Sie mich um Gottes Willen nicht falsch! Niemand ist inniger als ich von der Ueberzeugung durchdrungen, daß Fräulein Bianca aller Ehren und jeder und der angesehensten Familie werth ist. Ich würde mir’s als höchstes Glück auslegen, sie in meine Familie einzuführen. Allein, dazu sind andere Vorbereitungen erforderlich, als Sie mir jetzt in Kürze vorschlagen. Ich darf gegen geltende Sitte nicht verstoßen. Ich will es auch nicht.

Mein Großonkel, James Edward Sperber, hat einen seiner Söhne wegen weit geringerer Verstöße gegen die Sitten des Hauses, als Sie mir zumuthen, enterbt.

Ich will nicht enterbt werden. Was würde dann aus meiner Frau? Und ich wünsche meine Frau in jedem Sinne glücklich zu wissen.

Ich wiederhole, daß ich glücklich sein würde, wenn Bianca meine Frau würde. Ich bin auch bereit, bei meiner Familie vorbereitende Schritte zu thun. Aber auch von Bianca’s Seite müßten da Vorbereitungen getroffen werden und ganz entschiedener Art. Ich habe schon angedeutet, daß meine Familie etwas kleinstädtisch in gewisser Beziehung denkt. Fräulein Scandrini müßte von vornherein auf ihre Karriere als Bühnenkünstlerin definitiv verzichten ...“

„Niemals!“ klang es jetzt mit schallender Entrüstung von Bianca’s Lippen. Und dann sah einer den anderen schweigend an. [819] Bianca hatte mit wachsender Entrüstung die Auseinandersetzungen Sperber’s angehört. Sie erschienen ihr bis zur Unausstehlichkeit verständig oder vielmehr bis zum Ekel einfältig. Sie selber hatte in ihrer kindischen opernhaften Lebensanschauung bisher nicht ans Heirathen ernstlich gedacht. Sie wollte einen Strich ziehen unter ihr bisheriges Leben und das Weitere Gott und der Kunst anheimgeben. Von dem Augenblick an aber, da Pater Otto die Verehelichung so leicht, so bequem, so nahe und, wohl bemerkt, in so romantische Beleuchtung gerückt hatte, war es ihr, als hätte einer eine Binde von ihren Augen abgenommen und zeigte ihren überraschten Blicken Glück und Glanz und Glorie zum Handgreifen bereit vor ihr. Sie wollte auch freudig und sogleich mit Händen darnach greifen. Und wie mit Messern stach’s ihr ins Herz, als sie gewahrte, daß der sonst so verliebte, so widerspruchslos ergebene Freund Edgar es gar nicht so eilig hatte. In dieser Minute sank er thurmhoch von dem Piedestal herunter, auf das ihn ihre Schwärmerei gestellt hatte.

Mit unglaublicher Raschheit vollzog sich die Wandlung in ihren Anschauungen, und obwohl der Gedanke der Flucht doch in ihrem Köpfchen gewachsen und ausschließlich von ihr diktirt worden war, so meinte sie doch aus der bisherigen Einleitung zu derselben die klare Pflicht Edgar’s folgern zu müssen, einem Mädchen, das er entführt habe, vor dem ersten besten Priester am Wege die Ehre wiederzugeben.

Sperber faßte den bisher so harmlosen Spaziergang minder folgenschwer auf. Hatte er schon den Schluß seiner Rede, der die Absicht aussprach, Bianca als seine Frau zu gewinnen, nicht so sehr mit hinreißender Ueberzeugungskraft ausgestattet, sondern mehr wie eine oratorische Figur, um seinen Rückzug nicht ungedeckt auszuführen, und etwas kleinlaut von sich gegeben, so schwieg er nun vollends auf das entschiedene Niemals der Sängerin.

Pater Otto verlor die Ruhe durchaus nicht. Er brach zuerst die peinliche Stille, die über den halbgeleerten Kaffeetassen schwebte, indem er sagte: „Ich nehme gern als Blutsverwandter meiner Muhme Kenntniß von Ihren ehrenwerthen, nur etwas weit ausblickenden Vorsätzen, Herr von Sperber, kann aber nicht umhin, mein Bedauern darüber auszusprechen, daß Sie bei den großen Rücksichten, die Sie auf die Sitten und Anschauungen Ihrer werthen Familie nehmen, auf die Ehre unserer Familie so wenig Rücksichten zu nehmen beliebten, wie . . .“

Edgar wollte hier ärgerlich auffahren. Aber der Chorherr wehrte mit lächelnder Miene der Unterbrechung und vollendete, mit den Händen auf den Tisch und dessen Zurüstung deutend, seinen Satz mit den Worten. „wie unser ganzes Hiersein doch wohl beweist.“

Dann zu seiner Muhme sich wendend fuhr er leiser fort: „Du siehst, liebe Bianca, das dritte Gedeck war nicht vom Ueberfluß.“

Sie sank. schluchzend an seinen Hals.

„Du bist doch einverstanden, daß ich Dich nunmehr ins Haus Deines Vaters zurückbegleite?“

Bianca war keines Wortes mächtig und schüttelte nur bejahend das blonde Haupt, ohne das Angesicht zu zeigen, denn sie weinte nicht nur um Sperber’s Kleinmuth und Verrath, sondern auch um den Zusammenbruch all der guten Gedanken, welche sie seit Wochen hoch über die dumme wirkliche Welt erhoben hatten.

„Dann bleibt mir weiter nichts übrig, Herr von Sperber,“ sagte Pater Otto, nun ganz in den Ton weltmännischer Freundlichkeit einlenkend, „als Ihnen für den gelungenen Ausflug und das vortreffliche ländliche Mahl, mit dem Sie uns erfreut haben, vielmals zu danken und Sie zu bitten, nunmehr den Wagen befehlen zu wollen, damit er uns nach der nächsten Bahnstation bringe, von wo aus ich meiner Muhme das Geleite nach Wien geben will. Es möchte die Stimme Bianca’s unter der Abendluft leiden, die hier im Gebirge doch manchmal auch im Sommer recht bedenklich wirken kann.“

Edgar, blaß bis in die Lippen, verbeugte sich und sagte: „Ich werde sofort selbst Auftrag geben!“ Und er ging mit langen, weniger als sonst schwebenden Schritten dem Hause zu.

Aber der sorgsame Schani mußte schon ohnehin die Stunde zum Aufbruch reif erachtet und darum die Pferde eingeschirrt haben, denn kaum, daß der Baron verschwunden war, rollte der Unnumerirte schon um die Ecke, und das flotte Gefährt stand zur Abfahrt bereit. Bianca hatte kaum Zeit gehabt, den Zipfel ihres Taschentuchs mit Wasser zu begießen, um die brennenden Augen zu kühlen und die Spuren ihrer Thränen von den Wangen zu wischen.

„Komm!“ sagte Pater Otto und reichte ihr den Arm. Ihr war zum Umsinken elend. Der jähe Wechsel in Allem, was sie empfand und dachte, diese ganze Umkehr ihrer Hoffnungen und Wünsche wollte ihr das Herz abdrücken. Sie entwand sich dem Priesterarm, es schien, als wollte sie laut auf gen Himmel schreien.

„Laß Dir vor den fremden Leuten nichts anmerken!“ raunte Pater Otto dem Mädchen zu. „Fassung! Stolz! Da kommt die Frau Wirthin schon herangestürzt zum Abschiede. Willst Du eine Künstlerin sein, so spiele nur gleich hier etwas Komödie und lächle, wenn Dir auch das Weinen näher ist.“

Sie hob das Haupt, und richtig, sie lächelte das grüßende Bauernweib huldreich an, das der „gnädigen Frau“ noch einen bunten Feldblumenstrauß in den Wagen reichte und dem Hochwürdigen demüthig die Hand küßte.

Edgar ward von diesem Lächeln Bianca’s nach all dem, was eben hier vorgegangen, nicht wenig erbost. Eine herzlose Kokette voll gemeiner Absichtlichkeit sah er nunmehr in diesem blonden Frauenzimmer und weiter nichts, während dieses mit aller Gewalt den Aufschrei bittersten Grams in ihrem sterbensbangen Busen niederkämpfte.

Laut sagte Sperber nichts weiter, als daß nun auch er mit vollendeter Höflichkeit den Priester neben Bianca zu sitzen, für sich selber aber um Erlaubniß bat, hier zurückbleiben zu dürfen, wo er noch Einiges zu ordnen habe.

„Wohin befehlen Hochwürden?“ fragte Schani, sich vom Bocke rückwärts wendend und den lichtgrauen Hut hoch über dem zinnoberrothen Gesichte lüftend.

Pater Otto nannte den Namen der Bahnstation, und der Sand knirschte unter den kreisenden Rädern. Edgar verbeugte sich noch einmal und tief, Pater Otto bedankte sich noch einmal, Bianca sah noch einmal in des Einstgeliebten blasses boshaftes Gesicht – und schon lag das kleine Gasthaus hinter ihnen. Lautschluchzend weinte das Mädchen, das vor wenigen Stunden mit ganz anderen Gefühlen in denselben Kissen ausgefahren war.

Anf einmal fuhr sie empor. „Warum lässest Du gleich nach dem Bahnhofe fahren?“ fragte sie. „Du mußt doch vorher in die Kirche dort drüben und Alles abbestellen, was Du für die Trauung angeordnet hast. Nicht?“

Der Priester schüttelte gelassen das Haupt. „Das thut nicht noth!“ antwortete er. „Der Vorbereitungen waren nicht so viele.“

Dann schwieg er, ohne Bianca weiter anzusehen. Diese jedoch betrachtete ihn mit brennenden Augen, als wollte sie Beantwortung der Fragen, die jetzt in ihrem Inneren auftauchten, aus seinen stillen Zügen lesen.

Vielleicht hatte Pater Otto gar keine Vorbereitungen in jener Kirche treffen lassen, vielleicht hatte er mit dem dortigen Herrn Pfarrer niemals ein Sterbenswörtlein über ein matrimonio segreto seiner Nichte gewechselt, und zwar aus dem guten Grunde, weil er die Menschen besser kannte und von vornherein seiner Sache sicher war, sicher, daß dieser Herr von Sperber, der sich einen Hauptspaß daraus machte, mit einer angehenden Sängerin ins Blaue hinein zu suitisiren, nie daran denken würde, sich mit einem kleinen Bürgermädel aus der Josefstadt, mit einem leichtgläubigen, überspannten, ehrgeizigen Ding ohne Namen, ohne Geld wirklich und endgültig zu verheirathen. Zu einem Scherz, auch wenn’s ein recht kostspieliger war, wie so eine mehrmonatliche Hochzeitsreise nach Italien oder Paris, war er jederzeit geneigt – heirathen aber, das ging über den Spaß!

War es nicht abscheulich von Pater Otto, sich mit solchen Gedanken getragen zu haben? O gewiß! Aber war es nicht noch viel abscheulicher von Edgar, daß Jener mit diesen abscheulichen Gedanken Recht behielt?

Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie haßte Pater Otto, sie haßte Edgar von Sperber, sie haßte sich selbst und das Leben, das ihr bevorstand. Der Ekel schüttelte sie. Nie vordem hatte sie sich mit Seel’ und Leib in einem so entsetzlichen Zustande befunden wie nun. Zum ersten Male dachte sie, daß ein jäher Tod gar kein so übles Geschick wäre.

(Fortsetzung folgt.)

[820]

Lebkuchen und Marzipan. [1]

Zuckerwerk verdirbt der Kinder Leiber, Schmeichelei die Weiber,“ sagt ein altes Sprichwort. Trotz dieser Mahnung werden in dem letzten Viertel jedes Jahres für die fröhliche Weihnachtszeit so ungeheuere Massen von Zucker verarbeitet, daß die Zuckerkrisis sofort aus der Welt geschafft sein würde, wenn man auch in den übrigen neun Monaten so menschenfreundlich wäre, den Mitmenschen das Dasein so viel als möglich zu versüßen. Unter all den Süßigkeiten aber, die an dem im Herzenlicht strahlenden Christbaum hängen oder unter denselben gelegt werden, nehmen zwei die hervorragendste Rolle ein: Lebkuchen und Marzipan. Beide sind altehrwürdige Leckerbissen, welche eine Geschichte haben und dazu, wie wir beweisen wollen, eine recht interessante. –

Fig. 1.0 Bewaffneter Herr a. d. 17. Jahrh.

Fig. 3.0 Reiter vom Schlusse des 16. Jahrhunderts.

Da das Alter den Vortritt hat, so müssen wir uns zunächst mit dem Lebkuchen beschäftigen, der schon einige Jahrhundert hindurch in Deutschland gegessen wurde, bevor sich die Zähne und der Magen an das Marzipan gewöhnt hatten. Bereits vor 600 Jahren erfreute sich an dem duftigen „lebekuoche“ oder „lebkuoche“ Jung und Alt, Weltlich und Geistlich; hauptsächlich letztere Kategorie, denn aus den Sitzen der mittelalterlichen Kultur, aus den Klöstern, ist der Lebkuchen hervor gegangen. Sein Name ist der Verräther seiner Herkunft. Der erste Theil des Wortes stammt aus dem mittellateinischen libum, das ist Fladen, welche halbgelehrte Zusammensetzung uns berichtet, daß das süße Gebäck zuerst an geistlicher Stätte bereitet wurde. Die Klosterschwestern waren in dieser Beziehung besonders erfinderisch, und heute noch melden die Namen köstlicher Bäckereien, wie Nonnenkräpflein, Nonnenplätzlein etc., wem sie ihren Ursprung verdanken. – In Nürnberg, das heute noch als Hauptsitz der Lebkuchen-Industrie anerkannt wird, spielten die Lebkuchen im 15. Jahrhundert auch außerhalb der Klostermauern schon eine hervorragende Rolle. Kaiser Friedrich III., der sich oft und gern in der alten Reichsstadt aufhielt, hatte Kunde erhalten, daß dieselbe sich eines reichen Kindersegens erfreue. Um diesen einmal in seiner ganzen Größe überblicken zu können, beehrte das Reichsoberhaupt alle Kinder unter 10 Jahren mit seiner Einladung. Aus allen Gäßchen und Gassen zappelten am Sonntag nach Himmelfahrt des Jahres 1487 die aufs Zierlichste geputzten Männchen und Fräuleins zur kaiserlichen Burg hinauf. Bald waren deren gegen 4000 im Stadtgraben unter derselben versammelt, der wohl seit dieser Zeit nimmer ein so fröhliches Gewimmel gefaßt hat. Die kleinen Gäste fühlten sich außerordentlich wohl daselbst, und es gelang ihnen sogar, das Oberhaupt des heiligen römischen Reiches deutscher Nation in Verlegenheit zu bringen; als der Kaiser, hocherfreut über die muntere Schar, „dieser artigen und unschuldigen Menge der Leutchen“ außer Wein und Bier auch Lebkuchen reichen ließ, entwickelten dieselben in der Vertilgung eine solche außerordentliche Thätigkeit, daß die Vorräthe nicht hinreichten und mancher Wunsch unbefriedigt blieb. An Verzagtheit litt also schon damals die Nürnberger Jugend nicht! Als besonderer Schmuck war den Lebkuchen das Bildniß des hohen Wirthes aufgedruckt; man nannte deßhalb von damals an die zur Vertheilung gekommene Art Lebkuchen die „Kaiserlein“.

Der Schmuck und die Verzierungen, welche unsere Vorfahren jedem ihrer alltäglichen Gebrauchsgegenstände zu verleihen wußten, erstreckte sich also auch auf die Leckereien, an denen sie sich ergötzten. Während wir uns heute mit ganz glatten Lebkuchen, die höchstens durch einen Stern von Mandeln oder Citronat geschmückt sind, begnügen müssen, hatte man in früheren Zeiten das Vergnügen, zugleich die schönsten und interessantesten Darstellungen, wie das Urtheil des Paris, David mit der Harfe, die Geburt Jesu, Maria mit dem Kinde, das eigene oder das Wappen anderer Familien, prächtig geputzte Frauen und Männer in der Tracht ihrer Zeit, zu Fuß und zu Pferde, Schlittenfahrten (Fig. 7) etc., kurzum den ganzen Bilderkreis mitverschlucken zu dürfen, den die Holzschnitte und Stiche jener Zeiten aufweisen. Die frommen Beichtkinder des Pfarrers Joh. Ditelmair zu St. Jakob in Nürnberg druckten 1631 sogar das Bildniß des beliebten Geistlichen auf ihre Lebkuchen – sie hatten ihn also zum Fressen gern. Das fabelhafte Ungeheuer, das uns auf Fig. 5 so drohend anblickt, gehört noch dem 15. Jahrhundert an und dürfte wohl demnächst seinen 400jährigen Geburtstag feiern. 100 Jahre jünger ist der stolze Reitersmann (Fig. 3), dessen Pferd etwas kurz ausgefallen ist. Die reichgeschmückte vornehme Dame (Fig. 4) entzückte, ebenso wie der bewaffnete Herr (Fig. 1) im 17. Jahrhundert die Kinder, während wir in der anderen (Fig. 2) eine mit der Brautkrone geschmückte bürgerliche Dame erkennen, die bei fröhlichem Hochzeitsmahle die Tafel zierte.

Fig. 4. Dame in der Tracht des 17. Jahrh.

Die ältesten professionsmäßigen Verfertiger der Lebkuchen waren die Bäcker; sie theilten sich später in Schwarz- und Weißbäcker, von letzteren sonderten sich dann mit der Zeit die Zuckerbäcker und Lebküchner, auch Lebzelter und Pfefferküchler genannt, ab. In Nürnberg z. B. gehörten die Lebküchner bis zum Jahre 1643 zu den Weiß- oder Losbäckern und bildeten erst von da an eine besondere Innung mit eigener Ordnung, die sich aber bald zu der angesehensten der deutschen Lebküchnerzünfte aufschwang. Der Altdorfer Professor Wagenseil (geb. 1633, gest. 1705) spendet in einem seiner Werke vom Jahre 1697 deren Erzeugnissen großes Lob: „Die rechten guten Nürnberger Lebküchlein oder Pfefferkuchen, welche angenehm von Geschmack und eine rechte Magenstärkung, auch angenehm beim Trunk sein, haben noch niemals, wie sehr man sich auch darum bemühet, anderwärts können nachgemacht werden, ob man gleich Nürnberger Lebküchner und alle ihre Zuthat und Werkzeug darzu gebrauchen und verschrieben hat.“

Fig. 2. Braut des 17. Jahrh.

Aber auch die Lebkuchen anderer Städte erfreuten und erfreuen sich theilweise noch heute eines ausgezeichneten Rufes, so die von Basel, Braunschweig, Bremen, Breslau, Danzig, Pulsnitz, Thorn u. s. w. Von ganz besonderer Güte müssen auch die Ulmer Lebkuchen gewesen sein; soll doch nach einer Anekdote in Christoph Weigel’s Abbildung der „Gemein-Nützlichen Haupt-Stände“ (1698) ein Graf von Werdenberg seine Grafschaft Albeck „mehrentheils in Ulmischen Lebkuchen verschlucket“ und bei dieser angenehmen Beschäftigung immer gerufen haben: „Wie schmecken sie so gut! Mehr her! Mehr her!“

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts trat der Lebkuchenfabrikation ein gewaltiger Feind entgegen; unähnlich seinem lebkuchenfreundlichen Vorfahren Friedrich III. hob Kaiser Josef II. in seinen Erblanden die Lebküchnerzünfte gänzlich auf und verbot zu gleicher Zeit die Einfuhr fremder Leb- oder Pfefferkuchen. Hatte der große Kaiser eine Ahnung, daß die Lebkuchen ihren Ursprung in den von ihm gleichfalls aufgehobenen Klöstern genommen hatten, und trat er nur deßhalb so feindlich gegen die Lebkuchen auf? Oder wollte er in seiner allumfassenden Fürsorge nur seine Unterthanen vor verdorbenen Mägen und leeren Geldbeuteln bewahren? Jedenfalls war der Kaiser mit der Annahme der Alten, durch welche sich diese wohl nur selbst täuschen und das Lebkuchenessen entschuldigen wollten, daß die Lebkuchen eine „rechte Magenstärkung“ seien, nicht einverstanden. Noch weniger hätte ihm die von Christoph Weigel gegebene Ableitung des Wortes Lebkuchen [821] gepaßt; sie sagt nämlich, „weil das Honig, sowohl innerlich als äußerlich gebraucht, ein zur Lebensunterhaltung sehr seltsames Mittel ist und viele hundert Jahre bewährt befunden worden, daß mancher dadurch sein Leben sehr hoch gebracht und nächst Gottes Beihilf ein hohes Alter erlanget, so mag der von Honig bereitete Kuchen hiervon den Namen Lebkuchen bekommen haben, als welcher das Leben gleichsam stärke und mit neuer Kraft begabe.“ Mehr hätten dem Kaiser wohl die damit nicht übereinstimmenden Worte des Arztes Gualtherus Rivius oder Ryff entsprochen, der in seinem im 16. Jahrhundert erschienenen „Spiegel der Gesundheit“ schrieb: „Die Lebkuchen oder Lebzelten mit Honig und Mehl gebacken sind harter, schwerer Däuung (Verdauung)“. Mag dem nun sein, wie ihm wolle, schön war es von Josef II., zu dessen Verehrern wir sonst gehören, nicht, daß er die Kinder seines Reiches mit einem Federstriche dieses Leckerbissens beraubte, die der Ansicht huldigten, daß Leckkuchen ein viel richtigerer und treffenderer Name für dieses Gebäck sei als Lebkuchen.

Ueber die Verhältnisse des Lebküchnergewerbes zu Anfang unseres Jahrhunderts berichtet der Schweinfurter Oberpfarrer J. P. Voit in seiner „Faßlichen Beschreibung der gemeinnützlichsten Künste und Handwerker“ vom Jahre 1805: Indessen nimmt die Anzahl der Lebküchner im Reiche immer mehr ab und sie wenden sich lieber zur Kaufmannschaft, weil sie von der Lebküchnerei allein sich nicht ernähren können. Selbst in Nürnberg ist die Anzahl der Lebküchner sehr vermindert worden, und der weltberühmte Nürnberger Leb- oder Pfefferkuchen hat den Verfall dieser Profession nicht verhüten können.“

Fig. 5. Fabelhaftes Ungeheuer (Drache, Greif) vom Ende des 15. Jahrhunderts.

Sollte dieser Rückgang vielleicht eine Nachwirkung der Gegnerschaft des Kaisers Joseph sein? Heute ist von diesem Verfalle in Nürnberg nichts mehr zu verspüren; die Lebkuchen-Industrie steht vielmehr daselbst in der Gegenwart in höherer Blüthe als je. Nur ein Theil der Nürnberger Lebkuchen wird jedoch jetzt noch innerhalb der alten Mauern in den engen, krummen, malerischen Straßen und Gäßchen der Stadt gefertigt; die hervorragendsten Firmen haben sich vielmehr außerhalb der Mauern in den Vorstädten großartige Fabriklokale gebaut, in welchen sie mit allen Hilfsmitteln, wie sie die fortgeschrittene Technik der Neuzeit und ein im großen kaufmännischen Stile betriebenes Geschäft bietet, ihre süßen, jeder Konkurrenz die Spitze bietenden würzigen Lebkuchen anfertigen, die am Christfest allüberall hochwillkommene Gäste sind und unter keinem deutschen Weihnachtsbaume fehlen. Wahrer denn je sind die im Jahre 1683 von Schuppius geschriebenen Worte: „Die Kinder halten einen Lebkuchen höher als Gold und Silber.“

Es wäre aber irrig, hieraus den Schluß zu ziehen, daß sie deswegen die übrigen Bäckereien, speciell das Marzipan, etwa mit Verachtung strafen! In ihrem kleinen Magen haben sie auch noch einen Vorzugsplatz für diese Leckereien refervirt und zwar nicht erst in der Gegenwart, sondern schon seit Hunderten von Jahren. Im 16. Jahrhundert hatte das Marzipan sich bereits das Bürgerrecht in den deutschen Landen erworben; es stammt aber aus Wälschland, wie sein Name, der wahrscheinlich aus pane, Brot, und dem lateinischen maza, Mehlbrei, Milchmus, zusammengesezt ist, verräth, und ist jedenfalls durch den Handelsverkehr mit Italien, aus welchem Lande Deutschland ja so viele Süßigkeiten zugekommen sind, im 15. Jahrhundert auch im Norden bekannt geworden. In Lübeck, woselbst man vorzügliches Marzipan herzustellen versteht, erzählt man sich über den Ursprung des Marzipans, zugleich eine Deutung des Namens versuchend, daß einstmals alle Früchte verdarben und eine so große Hungersnoth entstand, daß die Menschen Heu und Gras essen mußten und der Bissen Brot, wie eine wälsche Nuß groß, in Sachsen drei Pfennige kostete. Zum Andenken an diese betrübte Zeit backte man in der Folge am Markustage reich gewürzte Brötchen in dieser Größe, welche man das Markusbrot, Marci panis nannte.

Fig. 6 Grosser Reichsadler von 1650, mit den Initialen Ferdinand’s III.

Bei den Festen der Fürsten, des Adels und der reichen Bürger spielte das Marzipan und anderes Zuckerwerk eine große Rolle; es war „gemeiniglich auf den fürstlichen oder dergleichen Tafeln“ in großen Massen zu finden, namentlich mit Rücksicht auf die anwesende Frauenwelt, „dann dieses ein Ding ist, das insonderheit dem liebreichen Frauenzimmer lieb und annehmlich ist.“ Der große schöne Doppeladler Fig. 6 unserer Abbildungen mit der Jahreszahl 1650 und den Chiffern F. III., dessen Original über einen Fuß im Durchmesser hat, prangte unzweifelhaft auf einer Tafel des Kaisers Ferdinand III. zu Regensburg. Das kleine Wappen mit den gekreuzten Schlüsseln über dem Adler ist das der Stadt Regensburg; von dort ist auch der Model nebst einer Reihe anderer sehr hübscher in das Germanische Nationalmuseum gelangt, in dessen Sammlungen die Driginalmodel unserer heutigen Abbildungen sich befinden.

Auch die reichen Patricier in den deutschen Reichsstädten trieben einen großen Luxus mit den Süßigkeiten. Die durch ihre außerordentliche Prachtliebe bekannte Gesellschaft Limburg zu Frankfurt am Main geleitete bei den Hochzeitsfesten ihrer Mitglieder zum Schlusse Bräutigam und Braut zum Beilager nach Hause, woselbst noch allerhand Schleckwerk köstlich von Zucker, Marzipan, Kuchen, Gebacknes gereicht wurde, welches allerhand Geschöpfe von Thieren und Vögeln, auch allerhand Heirathsfiguren darstellte. Es ist nicht zu verwundern, daß man zu jener Zeit, in der man mit Schaustücken und Schau-Essen, welche manchmal von den in ihnen versteckten Thieren die Tafel entlang gezogen wurden, eine so große Verschwendung trieb, auch das Marzipan sich mancherlei Ausschreitungen gefallen lassen mußte. Als Meister in der Erfindung solcher Schau-Essen wird der Nürnberger Zuckerbäcker Hans Schneider genannt, der um 1595 seine Thätigkeit begann und bei festlichen Tafeln ein willkommener Mitarbeiter war. Vielleicht gab seine Thätigkeit den Anstoß, daß der Nürnberger Rath in seiner Hochzeitsordnung vom Jahre 1603 nachstehendes Verbot erließ:

„Nachdem auch eine zeithero diese Neuerung aufkommen, daß die Marzipan, so man bisweilen bei den Hochzeiten und Handschlägen aufzusetzen pflegt, mit allerlei köstlicher und doch unnothwendiger Zierd, einem Schauessen gleich, zugerichtet und aufgetragen worden, welche Zierd, ungeachtet deren Niemand geniessen können, oftmals mehr als die Marzipan selbst gekostet: Als will ein Ehrnvester Rath solche Zierd der Marzipan, als einen unnützen Ueberfluß, hiermit gänzlich abgestellt haben, bei Straf 5 Gulden, also daß, wer hinfüro der Marzipan sich gebrauchen will, dieselbe ohne einige fernere Zierd auftragen lassen soll.“

Wie noch heute, scheinen auch schon damals die Aufwärter unter den Vorräthen gewaltthätig gewirthschaftet zu haben, denn in derselben Ordnung wird ihnen geboten, „nichts weiteres von essenden Sachen, Marzipan oder anderen,“ weg zu thun und ihren Kindern mitzubringen. In Leipzig sah sich der Rath 100 Jahre später – 1701 – veranlaßt, ein Verbot gegen den Luxus zu erlassen, der mit dem Marzipan bei den Taufen getrieben wurde; er ordnete an, daß ein jeder die Wahl habe, einen Marzipan oder Kuchen zum Gevatterstücke zu geben, jedoch, daß bei denen Vornehmsten kein Marzipan über zwei Reichsthaler und kein Kuchen über einen Thaler koste; Handwerks- und gemeinen Leuten aber sollen zu Gevatterstücken Marzipan durchaus verboten, auch sonsten insgemein alle Marzipane, welche bishero bei Austheilung der Pfannkuchen von Etlichen mit beigelegt worden … abgeschafft sein.“ Nach Leipziger Marzipan war auch der General Tilly einmal lüstern; am Abend vor der Schlacht [822] bei Leipzig (1631) forderte er von dem Rathe noch eine große Menge von Lebensmitteln, darunter auch mancherlei Konfekt und 80 Pfund Marzipan. Die Schläge, die er von Gustav Adolf des anderen Tages bekam, verdarben ihm jedoch den Appetit gründlich. Da, wer den Schaden hat, für den Spott nicht zu sorgen braucht, ließen seine Gegner eine ganze Reihe mit Kupfern gezierter Spottblätter gegen ihn los, welche die anzüglichen Titel „Sächsisch Confekt“, „Neu gedeckte Confekt-Tafel“ und ähnliche führten.

Es gab verschiedene Sorten von Marzipan. Das zu Frankfurt am Main 1587 erschienene Kochbuch des Churmainzischen Hofkoches Marx Rumpolt führt weißen und grünen Marzipan, von Mandeln, welschen Nüssen, rothen Haselnüssen und Zirbelnußkernen, sowie Marzipankräpflein auf. Das Basler Kochbuch der Anna Weckerin von 1609 enthält auch ein Recept für Quitten-Marzipan. Die „eröffnete Akademie der Kaufleute“ (1767) meldet, daß man auch Pistazien, Aprikosen- und Pfirsichkerne zur Bereitung des Marzipans verwendet. Es wurde eben in den verschiedenen Städten und zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise bereitet, und sein Name ist in einzelnen Gegenden auf manche Bäckerei übergegangen, die grundverschieden von dem köstlichen, in der Hauptsache aus Mandeln, Zucker und Eiern bereiteten Marzipan Norddeutschlands ist. So wird z. B. in der Nürnberger Gegend eine ganz geringwerthige Sorte Zuckerbäckerei als Marzipan bezeichnet, die auch noch den anzüglichen, aber ganz richtigen Namen „Wasserzucker“ führt.

Fig. 7. Schlittenfahrt im 17.–18. Jahrhundert.

Die alten Model, mit welchen das Marzipan ausgedrückt wurde und die von den Lebkuchenmodeln nur schwer zu unterscheiden sind, haben sich in ziemlich großer Anzahl erhalten und gehören gerade nicht zu den Seltenheiten; sie haben sich in den Geschäften vom Vater auf den Sohn, im Haushalte von der Mutter auf die Tochter und Enkelin vererbt. Noch gegen Anfang unseres Jahrhunderts bildete sich der tüchtige Nürnberger Lebküchner auch in der Kunst Formen zu stechen aus; er war stolz auf die selbst gefertigten Model, in denen er seiner Phantasie, seinem Geschmacke und seiner Geschicklichkeit Ausdruck gegeben hatte. Die feine Sitte, das Marzipan durch einen bildlichen Schmuck zu verschönern, hat sich bis auf die Gegenwart erhalten, und Darstellungen nach hervorragenden modernen Künstlern, wie Defregger, Meyerheim u. A. blicken uns auf manchem norddeutschen Marzipan entgegen, ebenso wie auch große Schaustücke gefertigt werden, die den alten Luxusgesetzen, würden sie heute noch in Kraft sein, zum Opfer fallen müßten. Nicht verhehlen dürfen wir jedoch, daß Forscher auf dem Gebiete der germanischen Mythologie geneigt sind, den Zuckerfiguren und Bildern, an welchen wir uns während des höchsten Festes der Christenheit erfreuen, einen altheidnischen Ursprung zuzuschreiben und in ihnen die Nachfolger der Opfer zu erblicken, welche die alten Germanen in der heiligen Zeit der Wintersonnenwende ihren Göttern darbrachten. Wir hoffen, daß sich durch diese Annahme keiner unserer Leser veranlaßt fühlt, mit Rücksicht auf sein Seelenheil auf das Lebkuchen- und Marzipanessen zu verzichten; bei unseren kleinen Leckermäulchen brauchen wir uns deßwegen ohnehin keine Sorge zu machen, sie halten heute noch wie vor 200 Jahren einen Lebkuchen und das Marzipan höher als Gold und Silber! Hans Boesch.     


Aus den „Memoiren des Generals U. S. Grant“.[2]

Wenige Tage vor seinem am 23. Juli d. J. erfolgten Tode hat der berühmte Feldherr im amerikanischen Secessionskriege und zweimalige Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika seine Memoiren beendet. Jenseit des Oceans sah man der Publikation dieser Aufzeichnungen wie einem seltenen Ereigniß entgegen, und noch vor Ausgabe des Buches wurden auf Grund vorläufiger Anzeigen bei dem glücklichen Verleger gegen 300000 Exemplare bestellt. Wenn diese Zeilen in die Hände unserer Leser gelangen, wird gerade der erste Band dieser Memoiren erschienen sein und die Kritik sich darüber entscheiden können, ob das Gebotene wirklich den hohen Erwartungen entsprochen. Die inneren politischen Kämpfe der Bürger unter dem Sternenbanner und die Schlachtenschilderungen aus dem großen Bürgerkriege liegen uns ziemlich fern, und darum vermögen wir an dieses Werk nicht den sensationellen Maßstab zu legen, mit dem es im Vaterlande Grant’s gemessen wird. Trotzdem wird auch der deutsche Leser diese Memoiren schwerlich ohne Interesse verfolgen. Was ihn in denselben fesseln muß, das ist nicht allein der Lebensgang des großen Mannes, der aus eigener Kraft zu den höchsten Staffeln des Ruhmes emporsteigt und dann unter schweren Schicksalsschlägen und eigenen Fehlern zu leiden hat. Mehr noch als Grant selbst packt uns in den Memoiren der eigenartige Hintergrund, von dem sich seine Gestalt abhebt, das eigenartige amerikanische Leben, das mit allen seinen Mängeln und Vorzügen vor unseren Augen in unverblümter Wahrheit sich abwickelt. Erst wenn wir dieses Leben, das wie ein breiter ungedämmter Strom dahinfluthet, kennen gelernt haben, werden wir auch das Werden und Wachsen Grant’s begreifen. Der Autobiograph mag noch so geschickt sein und noch so beharrlich die Absicht verfolgen, die Welt, für die er schreibt, nicht zu tief in sein Innerstes schauen zu lassen – hier und dort, hingerissen durch die Macht des Gefühls und den Eindruck scheinbar nebensächlicher Ereignisse, verräth er, indem er den Charakter Anderer schildert, seine eigenen Vorzüge und Schwächen. – –

Grant war ein geborener Soldat, aber kein Geschäftsmann; das beweist das Endschicksal seines Lebens, und der Mangel der kühlen geschäftlichen Berechnung spiegelt sich in vielen kleineren und größeren Begebenheiten wieder, über die er in der unterhaltendsten Weise in seinen Memoiren plaudert.

In der Jugendzeit spielen bei ihm Pferdegeschichten eine hervorragende Rolle. Schon als achtjähriger Knabe war Grant auf den Pferdehandel gegangen und benahm sich dabei nichts weniger als schlau. „Wenige Meilen von unserem Dorfe,“ berichtet er, „lebte ein Herr Ralston, der ein Hengstfüllen besaß, welches ich sehr gern gehabt hätte und für das mein Vater 20 Dollars geboten hatte, während Ralston 25 verlangte. Ich war so begierig, das Füllen zu bekommen, daß ich nach dem Weggange des Besitzers meinen Vater bat, mir zu gestatten, daß ich es für den verlangten Preis kaufe. Mein Vater erlaubte es mir, bemerkte aber, das Pferd sei nicht mehr als 20 Dollars werth, und beauftragte mich, diese nochmals zu bieten; würde das Gebot nicht angenommen, sollte ich 22½ Dollars, und erst, wenn ich das Füllen dafür nicht erhielte, 25 Dollars geben. Ich stieg sofort zu Pferde und ritt zu dem Besitzer des Füllens. Als ich zu Herrn Ralston kam, sagte ich zu ihm: ‚Papa meint, ich solle Ihnen 20 Dollars für das Hengstfüllen bieten; wenn Sie aber damit nicht zufrieden seien, solle ich Ihnen 22½ Dollars bieten, und wenn Sie auch diesen Preis nicht annehmen würden, 25 Dollars geben.‘

Man braucht nicht gerade aus Connecticut gebürtig zu sein, um den schließlich vereinbarten Preis zu errathen. Dieser Handel hat mir vielen Herzenskummer bereitet, denn die Geschichte wurde unter den Knaben des Dorfes bekannt, und es dauerte lange, bis ich sie zum letzten Male hörte. Knaben freuen sich über den Kummer ihrer Gefährten, wenigstens pflegten die Knaben im Dorfe es damals zu thun, und im späteren Leben habe ich gefunden, daß die Erwachsenen ebenfalls nicht frei von dieser Eigenthümlichkeit sind.“ –

„Ich war kein Kommis und besaß auch nicht die Fähigkeit, einer zu werden,“ schreibt er an einer andern Stelle. „Der einzige Platz, welchen ich in meinem Leben ausfindig gemacht habe, wo ich ein Papier so hinlegen konnte, daß ich es wiederzufinden vermochte, war entweder die Seitentasche meines Rockes oder die Hand eines Schreibers oder Sekretärs, der achtsamer war als ich.“

Einmal im Leben, und zwar in einem hochwichtigen Augenblicke, hatte Grant die Folgen einer ähnlichen Nachlässigkeit, die Andere gegen ihn verschuldet haben, tragen müssen.

Am 24. Mai 1861 richtete er beim Ausbruche des Secessionskrieges einen Brief an den Generaladjutanten der Vereinigten Staaten-Armee, in dem er der Regierung bis zum Schlusse des Krieges seine Dienste anbot. Dieser Brief desjenigen Mannes, der später die Heere der Nordstaaten zum endgültigen Siege führte, hatte sonderbare Schicksale. Grant erhielt vom Generaladjutanten keine Antwort!

„Ich nehme an,“ fügt er beim Erwähnen dieser Thatsache hinzu, „daß er das Schreiben kaum gelesen hat; höheren Orts kann es sicherlich nicht vorgelegt worden sein. Nach dem Kriege wandte sich General Badeau, der von dem Briefe gehört hatte, an das Kriegsministerium und bat um eine Abschrift desselben. Das Schreiben konnte nicht aufgefunden werden, und Niemand erinnerte sich, es je gesehen zu haben. Ich selbst hatte keine Kopie von demselben genommen. Lange Zeit nach dem bezüglichen Gesuch des Generals Badeau fand der zum Generaladjutant der Armee ernannte General Townsend den Brief beim Zusammenpacken von Papieren vor der Räumung seines Bureaus an einer abgelegenen Stelle wieder. Er war nicht vernichtet, aber auch nicht in regelmäßiger Weise aufbewahrt worden.“

Grant wurde bekanntlich später vom Gouverneur Yates zum Obersten des 21. Illinois-Regimentes ernannt.

Charakteristisch für Grant sind einige Bemerkungen, die er an geringfügige Erlebnisse während des mexikanischen Feldzuges knüpft:

Auf einem Ausfluge, den Grant, ein gewisser Benjamin und Augur nach Austin unternommen hatten, erkrankte Letzterer und blieb in der Ortschaft Goliad zurück, während Grant und sein anderer Gefährte die Reise fortsetzten:

„Am ersten Abend, nachdem wir Goliad verlassen hatten,“ erzählt der Verfasser, „hörten wir gerade vor uns das unheimliche Geheul von Wölfen. Das Prairiegras war so hoch, daß wir die Bestien nicht sehen konnten, allein der Schall deutete an, daß sie ganz in der Nähe seien. Meinem Ohr kam es so vor, als seien sie in so großer Zahl da, daß sie unsere [823] ganze Gesellschaft, Pferde und alles, bei einer einzigen Mahlzeit hätten verschlingen können. Derjenige Theil von Ohio, in welchem ich geboren bin, war zwar nicht dicht bevölkert, allein die Wölfe waren schon lange vor meiner Abreise vollständig vertrieben worden. Benjamin stammte aus dem noch dünner bevölkerten Indiana, wo der Wolf noch über die Prairien schweift. Er kannte die Natur dieser Thiere und ihre Fähigkeit, in geringer Zahl den Menschen glauben zu machen, daß ihrer sehr viele sind. Er ritt unentwegt in der Richtung, aus welcher das Geheul kam, weiter, und ich folgte ihm auf dem Fuße nach, da es mir an moralischem Muthe fehlte, umzukehren und mich zu unserm kranken Gefährten zurückzubegeben. Wenn Benjamin vorgeschlagen hätte, wieder nach Goliad zurückzukehren, würde ich ohne Zweifel nicht nur ‚den Antrag unterstützt‘, sondern auch meine Meinung dahin ausgesprochen haben, daß es eigentlich sehr hartherzig von uns sei, Augur schon an dem ersten Orte im Stich zu lassen, allein Benjamin schlug die Umkehr nicht vor. Und als er sprach, geschah es nur, um die Frage an mich zu richten: ‚Grant, wie viel Wölfe, glauben Sie, sind in jener Bande?‘ Da mir bekannt war, in welcher Gegend er zu Hause war, und er wahrscheinlich meinte, daß ich die Zahl überschätzen würde, so beschloß ich, ihm meine Bekanntschaft mit dem Thiere dadurch zu beweisen, daß ich die Zahl, weit geringer als möglicher Weise richtig war, angab, und antwortete in gleichgültigem Tone: ‚O, etwa zwanzig!‘ Er lächelte und ritt weiter; eine Minute später waren wir ihnen ganz nahe, noch ehe sie uns erblickt hatten. Es waren ihrer gerade zwei, die, auf den Hinterbeinen sitzend und die Mäuler dicht zusammen steckend, all das fürchterliche Geheul ausgestoßen hatten, das wir während der letzten zehn Minuten gehört hatten. Ich habe später oft an diesen Vorfall gedacht, wenn ich den Lärm einiger enttäuschter Politiker gehört habe, welche ihre Genossen verlassen hatten. Ihre Zahl wird immer für größer gehalten, als sie in Wirklichkeit ist, wenn man sie zählt.“

Gelegentlich eines Duells, das in der Nähe des Lagers zwischen „ein paar Herren“ stattgefunden, giebt der amerikanische General folgende Erklärung ab: „Ich glaube nicht, daß ich je den Muth haben würde, ein Duell zu bestehen. Sollte mir Jemand ein solches Unrecht zufügen, daß ich gewillt wäre, ihn zu tödten, dann würde ich doch nicht geneigt sein, ihm die Wahl der Waffen, womit dies geschehen soll, der Zeit, des Ortes und der Entfernung, aus der ich ihn ums Leben bringen will, zu überlassen. Sollte ich dagegen Jemand so schwer beleidigen, daß er berechtigt wäre, mich zu tödten, dann würde ich, falls ich von meinem Unrecht überzeugt wäre, jede vernünftige und in meiner Macht stehende Buße thun. Ich bekämpfe das Duell aus edlern Gründen, als den hier angegebenen. Ohne Zweifel würde ein großer Theil der ausgefochtenen Duelle nicht zum Austrage gebracht worden sein, wenn es den Betheiligten nicht an moralischem Muthe gefehlt hätte, den Zweikampf abzulehnen.“

Wie nicht anders zu erwarten war, bietet der erste Band der Memoiren, der die militärische Laufbahn Grant’s umfaßt, vorzugsweise überraschende Einblicke in das Armeewesen der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ernste und heitere Bemerkungen und Auseinandersetzungen wechseln in großer Fülle ab. Zu den trefflichsten Charakteristiken gehören ohne Zweifel diejenigen der Generale Scott und Taylor, der Vorgesetzten Grant’s im mexikanischen Feldzuge. In Betreff des letzteren finden wir folgende humoristische Episode:

„General Taylor hat nie großen Pomp oder Prunk entwickelt, sowohl was Uniform, als auch was Gefolge betrifft. Bezüglich der Kleidung war er vielleicht gar zu einfach, indem er im Felde selten etwas trug, was seinen Rang zeigte oder ihn auch nur als Officier erkennen ließ, und dennoch war er von jedem Soldaten seiner Armee gekannt und von allen geachtet. Ich erinnere mich nur eines Falles, bei welchem ich ihn in Uniform gesehen habe, und von einem zweiten habe ich erzählen hören. Bei beiden Gelegenheiten war er unglücklich. Der erste Fall ereignete sich in Corpus-Christi, wo er vor dem Aufbruch der Armee eine Parade über dieselbe abzunehmen beschlossen und die diesbezüglichen Befehle ertheilt hatte. Oberst Twiggs war damals bei der Armee der Zweithöchste im Range, ihm wurde daher der Oberbefehl bei der Parade übertragen. Ihm am nächsten im Range stand Oberst und Titular-Brigadegeneral Worth, der bezüglich des Tragens der Uniform ganz andere Ansichten hatte als General Taylor und der kraft seines Titularranges die Superiorität über Oberst Twiggs beanspruchte, wo der Dienst es mit sich brachte, daß der Eine oder der Andere den Befehl führte. Worth weigerte sich, als Untergebener von Twiggs bei der Parade zu erscheinen, bis die Frage an höchster Stelle entschieden worden sei. In Folge dessen fand die Parade nicht statt, und die Angelegenheit wurde nach Washington zur endgültigen Erledigung berichtet. – –

Die zweite Gelegenheit, bei welcher General Taylor seine Uniform getragen haben soll, war ein Besuch, den der Flaggenofficier des vor der Mündung des Rio Grande liegenden Geschwaders ihm abzustatten beabsichtigte. Als die Armee an dem genannten Flusse stand, ließ der Flaggenofficier dem General sagen, daß er ihm an einem bestimmten Tage seine Aufwartung machen würde. General Taylor, dem es bekannt war, daß die Marine-Officiere bei allen feierlichen Gelegenheiten die vom Gesetze gestattete Parade-Uniform zu tragen pflegten, hielt es für nicht mehr als höflich, seinen Gast in derselben Weise zu empfangen. Er ließ deßhalb seine Uniform auspacken und reinigen und bekleidete sich mit derselben, ehe der Besuch eintraf. Nun kannte der Flaggenofficier aber die Abneigung des Generals Taylor gegen das Tragen der Uniform, und da er glaubte, daß Letzterer es als eine Höflichkeit auffassen würde, wenn er in Civilkleidung erschiene, so war er bei dieser Gelegenheit nicht in Uniform gekommen. Die Zusammenkunft soll in Folge dessen beiderseits große Verlegenheit bereitet und die Unterhaltung größtentheils aus Entschuldigungen bestanden haben.“

Schon aus diesen Citaten werden unsere Leser den Charakter der Memoiren erkennen. Sie sind weder trocken noch langweilig. Grant berührt in denselben vielfach wichtige politische Fragen, weiß aber auch aus der Fülle seiner Erinnerungen zu schöpfen, um in interessanten Erlebnissen das Bild des Zeitalters, in dem er wirkte und lebte, wiederzuspiegeln. Und darin hat er das Rechte getroffen. Aktenstücke über Staatsaktionen verwahrt man in den Archiven; in den Memoiren sucht man den vollen Menschen, wie er leibte und lebte – und wir finden ihn in der That in den Memoiren des Generals U. S. Grant.


Blätter und Blüthen.

Weihnachtsbüchertisch für die Jugend. Auf einen rechten Weihnachtstisch für die Jugend gehört auch ein gutes Buch, für den Pausback sowohl, der eben erst mit dem ABC sich abgemüht hat, wie für den schon Herangewachsenen, der bald an der Grenze des Jugendalters angekommen ist. Jede Altersstufe ist auch in diesem Jahre auf das Reichste bedacht. Fragen Sie uns, und wir sind mit Vergnügen bereit, Ihnen für jeden Ihrer Lieblinge etwas Passendes zu nennen.

Für einen sechsjährigen Buben zunächst? Wohl, aber wir möchten das Alter nicht so bestimmt abgrenzen. Zählt der Bube ein Jahr weniger, so möchte er auch schon Nutzen da[v]on haben, und zählt er eines oder zwei mehr, so muß er gleichfalls mit lachendem Gesicht sich in die Bilder und Verse und Geschichten vertiefen können. Und haben Sie keinen Buben, der zu bedenken ist, so geben Sie’s getrost dem Mädchen, das in diesem Alter steht. Hier soll ein Unterschied noch nicht zur Geltung kommen.

Also „Kinderstubengeschichten“, so betiteln sich zuerst dreißig kleine Erzählungen von R. Niedergesäß (Stuttgart, Gebr. Kröner), die wir gern auf jeden Festtisch zaubern möchten, der hübschen Geschichten wegen und dann auch um der reizenden Bilder willen, mit denen Fritz Bergen dieses Buch geschmückt hat. Ein zweites schönes Geschenk ist die „Glückliche Kinderzeit“ von G. Chr. Dieffenbach (Bremen, M. Heinsius), illustrirt von Meister Fedor Flinzer, dem wir so manche humorvolle, dem kindlichen Auge und Gemüth angepaßte Zeichnung verdanken und der sich auch in seinen Bildern zu den herzlichen Kinderliedern Dieffenbach’s wieder aufs Beste bewährt hat. Luise Pichler’sMärchengarten“ und „Märchenpracht und Fabelscherz“ (Stuttgart, W. Nitzschke) erschienen in ausgezeichnet ausgestatteten neuen Auflagen, so daß sie des Erfolges im Voraus sicher sind. Victor Blüthgen und Professor C. Offterdinger vereinigten sich zur Herausgabe eines Buches „Goldne Kindertage“ (Stuttgart, W. Effenberger), von dessen hervorragendem Werthe man sich schon bei flüchtigem Durchblättern überzeugt. Johannes Trojan und Rudolf Geißler erfreuen gleichfalls mit einem reizenden Kinderbuche, dem sie den Titel „Goldne Jahre“ (Nürnberg, L. Amersdorffer) gegeben haben. Die in sehr gutem Farbendruck ausgeführten Bilder R. Geißler’s haben noch den besonderen Reiz, daß sie nicht der Phantasie des Künstlers entsprungen, son[d]ern als malerische Ansichten aus der Stadt der Meistersinger, dem alterthümlichen Nürnberg, dem wirklichen Leben entnommen sind. „So zwitschern die Jungen“ von D. Duncker (Berlin, Alexander Duncker), illustrirt von E. Elias, möchten wir ebenso warm empfehlen, wie die Neuigkeiten von Julius Lohmeyer. D. Duncker’s Buch enthält so ansprechend geschriebene Märchen und Erzählungen, daß es kaum der gelungenen Bilder bedurft hätte, damit sie sich einen weiten Freundeskreis gewännen, während sie mit denselben freilich um so sicherer zum Ziele gelangen. Und Julius Lohmeyer, der altbekannte Jugendfreund? Er hat dieses Mal, thatkräftig unterstützt von Johannes Trojan und Frida Schanz, ein ganzes Füllhorn über unsere Lieblinge ausgeschüttet und in „Kater Murr’s Tagebuch“, „Unser Hausglück“, „Fragemäulchen“, „Kinderhumor“ (Leipzig, Meißner u. Buch), sowie in den „Lustigen Kobold-Geschichten“ (Glogau, C. Flemming) Gaben für den Weihnachtstisch gespendet, denen allen man den Preis zuerkennen möchte und von denen namentlich das köstliche Tagebuch des Hausfreundes Murr in keinem Hause fehlen sollte, in welchem sich zwei Kinderarme verlangend nach einem hübschen Buche ausstrecken. Man sehe sich die prächtigen Farbendruckbilder an, lese ein paar Verse, und mindestens eines der Bücher wird sicher mit nach Hause wandern. – Fast ist Ihnen die Auswahl für die Kleinsten schon zu groß? So wollen wir schließen. Aber unser Bericht würde eine empfindliche Lücke aufweisen, wenn wir nicht wenigstens noch eines Geschenkes gedenken wollten, das an keinen Geringeren erinnert, als an den alten Kinderklassiker Wilhelm Hey. Kennen Sie Elisabeth Ebeling? Die Dame hat bereits eine Reihe guter Kinderschriften herausgegeben, ihre beste aber in diesem Jahre: „Vier und Zwanzig Fabeln“ (Leipzig, E. Twietmeyer), illustrirt von J. Bungartz. Es wird nicht lange dauern, dann werden diese Fabeln neben denen von Hey in allen Lesebüchern zu finden sein. Ja, die Verse sind so frisch, so einfach, so anschaulich und zum Herzen redend, daß sie als das Beste bezeichnet werden müssen, was seit Jahren auf diesem Gebiete erschienen ist.

Die „Märchen und Erzählungen für Kinder“ von Zacharias Topelius (Gotha, Fr. Andr. Perthes), sowie die prächtigen „Wintermärchen“ von Heinrich Seidel (Glogau, C. Flemming) gehören schon für ein reiferes Alter, und ebenso die unter dem Titel „Lebensfrühling“ vereinigten Erzählungen von unserem geschätzten Mitarbeiter Victor Blüthgen (Stuttgart, Gebr. Kröner). Knaben und Mädchen im Alter von 9 bis 12 Jahren werden sich an diesen Erzählungen auf das Herzlichste [824] erfreuen. Aber auch der Vater und die Mutter dürften sich mit Interesse in dieselben vertiefen, und das ist ja der beste Prüfstein für ein Jugendbuch, wenn sich an seinem Gehalte auch Erwachsene zu erbauen vermögen. „Die alte Freundin“ von Ottilie Wildermuth (ebenda) bedarf der besonderen Empfehlung wohl kaum. Die Verfasserin selbst ist eben „die alte Freundin“, welche in diesem Buche noch einmal zu der Kinderwelt tritt, die ihren Geschichten stets so gerne gelauscht hat. Als ein werthes Vermächtniß der heimgegangenen, unvergeßlichen Dichterin haben die Töchter derselben diese Erzählungen, die früher in einzelnen Blättern verstreut erschienen waren, gesammelt, und nun werden sie für den Weihnachtstisch angeboten, ohne Zweifel eine der gediegensten und begehrtesten Gaben.

Zwei Bücher von Oskar Höcker sind vorwiegend für die reifere Knabenwelt bestimmt: „Die Erfindung der Buchdruckkunst“ (Stuttgart, E. Hänselmann), eine fesselnde kulturgeschichtliche Erzählung aus dem Mainzer Stadtleben im 15. Jahrhundert, und „Die Brüder der Hansa“ (Leipzig, Hirt u. Sohn). Diese letztere Erzählung aus der Blüthezcit des norddeutschen Kaufmannsbundes behandelt zum ersten Male eines der interessantesten Gebiete der deutschen Geschichte in übersichtlicher, fesselnder, auch der Jugend verständlicher Darstellung, und ist um so wärmerer Empfehlung würdig, als der Verfasser sehr gewissenhaft gearbeitet und die Mühe nicht gescheut hat, das umfangreiche Material sorgfältig nach den besten Quellen zu sichten und aus dem Interessanten noch das Packendste und am meisten Charakteristische auszuwählen. Gleichfalls eine originelle Arbeit ist Hermann Jahncke’s Erzählung „Kurbrandenburg in Afrika“ (Breslau, Max Woywod), in welcher die Schicksale der unter dem Großen Kurfürsten begründeten kurbrandenburgisch-preußischen See- und Kolonialunternchmungen in der dem Verfasser eigenen anziehenden Weise geschildert werden. Hermann Hirschfeld bietet unter dem Titel „Die feindlichen Brüder“ (Leipzig, Otto Spamer) eine Erzählung aus Bayerns Geschichte im 15. Jahrhundert, während der verdiente Jugendschriftsteller Ferdinand Schmidt mit einer Erzählung „Königgrätz“ (Düsseldorf, Felix Bagel) vertreten ist. Ein werthvolles Buch ist ferner „Prinz Eugen der edle Ritter und sein allzeit bereiter Wachtmeister“ (Leipzig, Otto Spamer), welches Wilhelm und J. Wägner auf den Weihnachtstisch legten. Die Verfasser schildern lebendig, der Verleger sorgte für meist gute Abbildungen, die das Verständniß noch unterstützen. Hans Blum’s „Ueberläufer“ (Leipzig, J. M. Gebhardt) ist eine spannende, tüchtige Erzählung aus der Geschichte des nordamerikanischen Befreiungskampfes unter George Washington.

Auch für das reifere Mädchenalter sind einige neue Schriften vorzugsweise geeignet. Obenanstellen möchten wir einen Kranz historischer Erzählungen der ebenso bewährten als bekannten Jugendschriftstellerin Luise Pichler: „Diademe und Myrten“ (Stuttgart, Gebr. Kröner). Sodann schenkt Brigitte Augusti der Jngend eine neue kulturgeschichtliche Erzählung „Im Banne der freien Reichsstadt“ (Leipzig, Hirt und Sohn). Diese beiden Bücher bilden wirkliche Bereicherungen der Litteratur für das reifere Mädchenalter, die allen süßlichen Backfisch-Erzählungen mit Goldschnitt hundertmal vorzuziehen sind. – Nicht vergessen wollen wir zwei gute Werke aus dem Verlage von E. Hänselmann in Stuttgart: „Aus junger Tage Freud und Leid“ von G. Friedrich, eine Sammlung passender Gedichte, und „Der Mutter Trost“, Erzählung von Ottilie Ruchmann, beides Werke, die sich viele Freunde gewinnen werden.

Ein recht gereiftes Verständniß erfordert das interessante Lebensbild des großen Entdeckers und Missionars „David Livingstone“, nach den Quellen dargestellt von Dr. Gustav Plieninger (Stuttgart, Gebr. Kröner). Das gediegene Werk ist mit zahlreichen Jllustrationen versehen und dürfte nicht nur von der Jugend, sondern von der gesammten deutschen Lesewelt bewillkommt werden. Aehnlich die Biographie des großen Kinderfreundes und Fabeldichters „Wilhelm Hey“ von J. Bonnet, welche eben bei Fr. Andr. Perthes, dem Verleger der bekannten Fabeln, erschienen ist. – Für den gediegenen Inhalt der germanischen Götter- und Heldensagen, welche Felix und Therese Dahn unter dem Titel „Walhall“ (Kreuznach, R. Voigtländer) herausgegeben haben, bieten schon die Namen der Erzähler hinreichende Bürgschaft.

Aus der Menge der jährlich wiederkehrenden Festgaben möchten wir nur zwei herausgreifen, die beide ernster Empfehlung werth sind. „Der Jugendgarten“ (Stuttgart, Gebrüder Kröner) ist bekanntlich begründet von Ottilie Wildermuth und wird fortgesetzt von deren Töchtern. Der vorliegende 10. Jahrgang, geschmückt mit 8 farbigen und 10 Tondruckbildern, ist ebenso geschmackvoll wie reichhaltig. Aehnliche Anerkennung verdienen nur die bekannten „Jugendblätter“ von Jsabella Braun (München, Braun u. Schneider), von denen bereits – ein gutes Zeichen! – der 31. Jahrgang vorliegt.

Sind Sie zufrieden? Die Wahl ist groß genug. Doch möchten wir Ihnen zum Schluß noch ein Unternehmen so recht ans Herz legen, das für die Jugend von immenser Bedeutung geworden ist. Kennen Sie die „Universalbibliothek für die Jugend“, welche im Verlage von Gebr. Kröner in Stuttgart erscheint und bereits bis zum 190. Bändchen vorgeschritten ist? Sie finden darin die besten älteren und neueren Jugendschriften in gediegensten Ausgaben, und wenn Sie um einen geringen Betrag äußerlich stattliche, inhaltlich werthvolle Bücher erstehen, wenn Sie eine Hausbibliothek für Ihre Kinder anlegen, eine Schul- oder Ortsbibliothek gründen oder vervollständigen wollen: greifen Sie zur Universalbibliothek, und Sie dürften alle Ihre Wünsche befriedigt finden! Dietrich Theden.     


In der Plättstube. (Mit Illustration S. 817.) Wo finden wir heute ein Plättstübchen, in dem über Allem ein so poetischer Hauch schwebt, wie in dem Zimmer, das uns Meister Ludwig von Kramer aus altdeutscher Zeit vorgezaubert hat? In unseren häuslichen Einrichtungen sind wir leider so nüchtern und in unseren modernen Trachten so langweilig geworden, daß es kaum ein Wunder ist, wenn die Kunst so oft aus der romantischeren alten Zeit ihre Motive herausgreift. Derselbe Gedanke leitete auch Ludwig von Kramer während der Schöpfung der dreißig Kompositionen, die unter dem Titel „Das Lob des tugendsamen Weibes“ im Verlag von Theo. Ströser in München erschienen sind. Ein Werk, einzig in seiner Art, ist es durch die innige Schönheit, die darüber ausgegossen ist, anheimelnd, wie die alten deutschen Holzschnitte, aus der besten Zeit unserer Kunst, da die scheidende Gothik noch herüber spielte in die neu aufgehende Renaissance. In 22 Tondruckbildern und 8 Heliogravüren, die bewunderungswürdig durchgeführt sind, zieht uns der Künstler hinein in die schönsten Bilder des deutschen Familienlebens, zeigt uns in den großen Blättern die Frau in ihrem Berufe, diesen gegenüber, kleiner gehalten, reizende Kindergruppen. Der Zauber dieser Bilder wächst bei jeder neuen Betrachtung, so reich sind sie an geistiger Vertiefung und so klar und treu in Entwurf und Linienführung. Ludwig von Kramer – geboren 1840 in Augsburg – stellt sich mit diesen Arbeiten neben die Ersten unserer Zeit. Dem Werke sind zwei geistvoll geschriebene Vorworte, von Karl Gerok für die protestantische, von F. W. Weber (Verfasser von „Dreizehnlinden“) für die katholische Ausgabe, vorangestellt. Druck und alle sonstige Ausstattung ist tadellos. Allen Kreisen muß das Werk gleich zugänglich und herzerfreuend sein.


Kleiner Briefkasten.

Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.

Amalie M. in R. Das Büchlein Gedichte, welches Sie meinen, ist von Pauline Schanz herausgegeben. Die Verfasserin dieser amuthigen Poesien lebt in Dresden.

F. G. in Wien, C. S. in Halberstadt, J. L. in Ratibor, O. M. in St. Louis, O. H. in Altona, Wolfstreu, A. E. in L., Rich. M. in Breslau. Nicht geeignet.


Inhalt: Edelweißkönig. Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 805. – Adolph Menzel. Von Bruno Meyer. S. 811. Mit Portrait S. 805 und Illustration S. 809. – Römische Cäsaren. Von Johannes Scherr. I. Tiberius (Schluß). S. 812. – Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen (Fortsetzung). S. 815. – Lebkuchen und Marzipan. Von Hans Boesch. S. 820. Mit Illustrationen S. 802-822. – Aus den „Memoiren des Generals U. S. Grant“. S. 822. – Blätter und Blüthen: Weihnachtsbüchertisch für die Jugend. Von Dietrich Theden. S. 823. – In der Plättstube. S. 824. Mit Illustration S. 817. – Kleiner Briefkasten. S. 824.



Als ein kleines, aber hübsches und nützliches Weihnachtsgeschenk für Gartenlaube-Leser und Leserinnen
empfehlen wir unseren reich illustrirten, elegant ausgestatteten

Gartenlaube-Kalender für das Jahr 1886.

Oktav-Format. In rothem Leinwandband mit Bronze- und Golddruck, Preis Mk. 1. 50.

Inhalt: Kalendarium, statistische Nachweise, Tabellen etc. etc. – Schloß Grimnitz. Eine Erzählung aus alter Zeit von M. Eichler. Mit Illustrationen von K. Weigand. – Orientalische Sprüche. Uebersetzt von S. Sommer. – Großmütterchen. Von W. Heimburg. Mit Illustrationen von Alexander Zick. – Leiden eines Kellners. Schilderungen aus dem Leben einer Großstadt. Von Hermann Heiberg. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Papa muß sitzen. Humoreske von Emil Peschkau. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Die Schwestern. Ein Bild aus engem Rahmen von M. Lenz. – Der Straßenräuber. Eine wahre Geschichte von Karl Braun-Wiesbaden. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Sprüche von Emil Rittershaus. – Gedichte in deutschen Mundarten: Steirisch von P. K. Rosegger. Wienerisch von V. Chiavacci. Schweizerisch von Arnold Halder. Oberbayerisch von Karl von Leistner. Pfälzisch von M. Barack. Elsässisch von Ludwig Schneegans. Schwäbisch von A. Grimminger. Frankfurterisch von Friedrich Stoltze. Plattdeutsch von Klaus Groth und von Adolf Hinrichsen. Koburgisch von Fritz Hofmann. Sächsisch von Edwin Bormann. Voigtländisch von Gottfried Doehler. Schlesisch von Olga Seiffert. – Blätter und Blüthen.Trost bei allen schweren körperlichen Leiden. Von Geheimrath von Nußbaum in München. – Wetter und Wetterprognosen. Von Dr. H. F. Klein. – Der Bürger und Geschäftsmann vor Gericht.Ein Kapitel für den deutschen Staatsbürger.Das Versicherungswesen der Neuzeit. Von Dr. W. Gallus. – Vom Büchermarkt. Von Rudolf von Gottschall. – Umschau auf dem Gebiete der Technik. Von G. van Muyden. – Deutsche Thätigkeit auf dem Gebiete der Kolonisation und Entdeckung. Von Dr. Emil Jung. – Rückblick auf die Tagesgeschichte (mit Illustrationen). Von Arnold Perls. – Todtenschau (mit Portraits). – Herzblättchen. Illustration von Br. Piglhein. – Jägers Rast. Illustration von Eduard Grützner. – Der kleine Rubens. Illustration. – Mädel ruck! Illustration von Ad. Lüben etc. etc.

Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Sämmtliche Abbildungen zu diesem Artikel sind nach Thonabdrücken der alten Model des Germanischen Museums zu Nürnberg angefertigt.
  2. „Memoiren des Generals U. S. Grant“. Aus dem Englischen von H. von Wobeser. Erster Band. Leipzig, F. A. Brockhaus 1886.