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Die Gartenlaube (1885)/Heft 50

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[825]

No. 50.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


Luitpold reichte dem Jäger zu langem und festem Drucke die Hand, nickte ihm mit trübem Lächeln einen stummen Gruß zu und richtete dann die tiefen, ernsten Augen auf den Bauer, welcher hochaufgerichtet stand und die beiden Kinder an sich drückte, als müßte er sie vor dem in Schutz nehmen, der da gekommen.

Mit scheuen Blicken schaute Gidi bald auf seinen Herrn und bald auf Jörg, er suchte die Kinder zu sich heran zu winken, und als ihm das nicht gelingen wollte, verließ er mit einem leisen Seufzer die Stube.

Raschen Schrittes näherte sich Luitpold dem Bauer. Es schien als wollte er sprechen, aber wortlos schlossen sich seine zuckenden Lippen wieder, doch wenn sein Mund auch schwieg, deutlich sprachen seine Augen, als er Jörg mit stummer flehender Bitte die Hand entgegenbot.

Jörg übersah diese Hand. Ein unheimliches Feuer brannte in seinen Augen, und rauh und heiser lösten sich die Worte von seinem Munde. „Was will der Herr von mir?“

„Seht Ihr es nicht? Meine Hand will ich Euch bieten, und die Eure, Jörg, die Eure möchte ich drücken.“

„Daß ich net lach’! Und z’wegen so ’was hat der Herr den weiten Weg g’macht von der Münchnerstadt bis ’raus zu uns? Schad’ um den weiten Weg – recht schad’! Oder – ah ja – jetzt merk’ ich’s erst! So a sauberer Herr! Und hat a Hütl – kein Federl drauf und net a gotzigs Bleaml! Ah ja – der Herr will ’leicht a Bleaml haben aus’m Finkenhof! Da – da – droben im Herrgottswinkel steckt a Rosen! Hab’s erst am letzten Sonntag heim’bracht von meiner Hanni ihrem Grab.“

Luitpold ließ die ausgestreckte Rechte sinken und schaute mit einem Blicke voll unsäglicher Wehmuth in die von Gram und Leidenschaft verzerrten Züge des Bauern. „Ihr seid bitter, Jörg! Aber ich höre nicht Eure Worte, ich höre nur Euren Schmerz – und der, Jörg, der redet eine Sprache zu meinem Herzen, die ich besser zu verstehen weiß, als Ihr glauben mögt! Wie sollten Schmerz und Schmerz sich nicht verstehen! Sie gleichen alles aus –“

„Ah ja! No g’wiß! Da is ja gar nix z’reden! Da is ja Alles gleich auf gleich!“ fuhr Jörg mit wildem Lachen auf. „An schönern Ausgleich kann’s ja gar net geben! Auf meiner Seit’ a ’brochenes G’müth, Herzleid und Schand’, a Häuferl Aschen draußt am Freithof und – und mein Ferdl dazu, mein armer – und – und auf der andern Seit’ a Ritzerl in der noblen Haut –“ die Stimme zu heiserem Kreischen steigernd, schlug Jörg sich die beiden

Zwei Mütterchen.0 Nach dem Oelgemälde von Hugo Oehmichen.

[826] Fäuste wider die Stirn, „ja dummer Bauernkerl, verstehst es denn net, das is ja gleich auf gleich!“

„Vaterl, Vaterl!“ schluchzte das kleine Liesei und streckte mit ängstlicher Gebärde die Aermchen zu Jörg empor. Für einen Augenblick drückte Jörg die Fäuste über seine brennenden Lider, dann riß er den Knaben an sich, der mit trutzigen Blicken die Gestalt des Gastes maß, und schlang den zitternden Arm um den Flachskopf des schluchzenden Dirnleins.

„Sei stad, Deanei, mein lieb’s – sei stad und mußt net weinen!“ stammelte er. „A blinder Bruder bin ich g’wesen, aber Dir will ich a Vater sein mit offene Augen!“ Und zu Luitpold sich wendend, fuhr er mit harter Stimme fort. „Ah – ja – eins hab’ ich vergessen – und ich will net ung’recht sein. Der gnädige Herr Graf hat sich ja so viel Müh g’macht, mei’m Ferdl sein’ guten Namen wieder z’ geben – im Augenblick erst hab’ ich’s derfahren! A recht a gute, gnädige Lug’! Freilich, lang g’nug hat’s ’braucht – und wissen kann man auch net, weßwegen eigentlich der Herr Graf so gnädig war! D’ Leut’ halt! Net wahr? D’ Leut’! Die wann sich denken müßten: das hat der Ferdl ’than, der Bruder von dem armen Deandl, wo sich hat ins Wasser stürzen müssen – da konnten sie sich leicht auch denken, es is ’was g’schehen, wo dem Bruder a Recht ’geben hat, daß er d’ Hand aufhebt gegen den, der – der – Und freilich, so was wär’ gar an arger ‚Schmerz‘ für so an nobligen Herrn, wenn d’ Leut’ sich so ’was denken müßten von ihm. Aber no – die Lug’ is g’sagt, und ich muß dem gnädigen Herrn Grafen auch noch danken dafür von ganzem Herzen. ’leicht denkt sich Keiner net, wozu man’s brauchen kann – und – schriftlich hab’ ich s’ ja auch für alle Fäll’!“ Tiefathmend schwieg er und sank erschöpft auf die Holzbank nieder.

Luitpold stand regungslos, mit todtenblassem Gesichte und flammenden Augen.

„Halb nur versteh ich, was Ihr sprecht,“ sagte er, und die Worte lösten sich schwer und stockend von seinen Lippen, „aber was ich verstehe, das ist eine Sprache, die ich nicht länger anhören darf, wenn ich nicht vor mir selbst erröthen will. Meine plötzliche Ankunft, mein unerwarteter Anblick mag Euch so über alles Maß erregt haben. Ihr seid ungerecht! Aber ich zürne Euch nicht – ich sehe nur, daß in dieser Stunde eine Verständigung zwischen uns unmöglich ist. Ihr würdet mir nicht glauben, wenn ich Euch sagen wollte, daß ich erst vor wenigen Tagen von dem entsetzlichen Ende vernommen habe, das der Bruder meiner Johanna gefunden. Ich bin gekommen, weil mein Herz mich zu Euch getrieben hat, um zu trösten und Trost zu empfangen. Was geschehen ist, Jörg, das ist geschehen und unabänderlich. Wen es härter getroffen, Euch oder mich, das mag nur Einer entscheiden, der in unsere Herzen sieht. Aber ich weiß, die Stunde wird nicht ausbleiben, die Euch sagen wird, daß ich mehr Euer Mitgefühl verdiene als Euern Groll.“

Luitpold schwieg, als vermöchte er nicht weiter zu sprechen. Mit feuchten Augen starrte er die beiden Kinder an – dann wieder klang es mit leisen, zitternden Worten von seinen Lippen.

„Ihr, Jörg, Ihr habt nur ein Theil von dem verloren, was Euer Herz besaß – mir ist mit Johanna mein Alles gestorben!“

Es war ein Ton in diesen Worten, von dem sich Jörg in innerster Seele betroffen fühlte, das sah man seinem Gesichte an, auf welchem jählings alle Zeichen des Grolles und der Leidenschaft wie ausgelöscht erschienen. Banges Staunen sprach aus seinen Augen, ein Zucken und Zittern kam in seine Züge – dann plötzlich sprang er auf und streckte, überwältigt von tiefer Bewegung, dem jungen Manne die beiden Hände entgegen.

Luitpold sah es nicht mehr; hastig hatte er sich abgewandt, als hätte er die Thränen verbergen wollen, von denen seine Augen überflossen. Und ehe Jörg ein Wort über die Lippen zu bringen wußte, schloß sich hinter seinem Gaste die Thür.

Gidi hatte seinen Herrn im Hof erwartet, wortlos schritt er mit ihm die Straße dahin. Luitpold mit scheuen besorgten Blicken von der Seite betrachtend, dann fing er schüchtern zu reden an, von den Auerhähnen, die heuer so ein „g’sundes Frühjahr“ gehabt hätten, von einem „Kapitalhirsch“, der nahe bei der Jagdhütte seinen Stand hielte, und von drei „Fetzengamsböck“, die droben auf der Höllenleithe so „g’fangig“ stünden. So redete er zu und wurde immer eifriger und lauter, als hätte er gar kein Auge dafür, daß sein Herr auf seine Worte kaum zu hören schien.

Sie hatten die Straßenkreuzung vor der Kirche erreicht, als Luitpold die Schritte verhielt.

„Geh’ nur, Gidi, geh’!“ sagte er. „Zu Hause treffen wir uns wieder.“

Gidi aber ging nicht. Wie angewurzelt stand er und folgte mit traurigen Blicken seinem jungen Herrn. Er sah ihn den Friedhof betreten, die Reihen der Hügel und Kreuze wie suchend durchwandern und endlich vor einem Grabe stille stehen und das Gesicht in beide Hände bergen.

Als Luitpold die Straße wieder betrat, meinte Gidi, das hätte eine Ewigkeit gedauert. „Müssen’s S’ net harb sein, Herr Graf, daß ich g’wart’t hab’,“ stammelte er, „ich hab’ mir halt ’denkt –“ und da wußte er mit einem Male gar nicht, was er denn eigentlich gedacht hatte.

Luitpold reichte ihm die Hand. „Gidi – wir wollen zu Berge steigen. Ich muß hinauf – hinauf! Die Luft hier unten erdrückt mich!“

Da schnalzte Gidi mit den Fingern und hätte am liebsten einen Juhschrei gethan.

Zwei Stunden später brachen sie auf. Als sie über den Wiesenhang dem Walde zustiegen, sah Gidi über die Straße, die zur Bahnstation führt, eine offene Kutsche dahinrasen, daß der Staub in dicken Wolken hoch empor wirbelte.

„Wo mag denn der jetzt hinfahren?“ frug er sich, als er in der Kutsche den Finkenbauer zu erkennen meinte.


Drei Nächte und zwei Tage war Veverl schon vom Finkenhofe ferne. „Na – so a weite Wallfahrt!“ schmollte das Liesei unablässig, und immer wieder rechnete sie dem Pepperl an den Fingerchen vor, welch’ eine „fürchtig“ lange Zeit verstrichen wäre, seit die Veverlbas den Hof verlassen hatte.

Und diese lange, lange Zeit, wie kurz war sie dem fernen Mädchen selbst erschienen!

In dieser immergleichen, von flackerndem Fackelschein erhellten Nacht, in der sie weilte, hatte Veverl alles Gefühl für die verstreichende Zeit verloren. Draußen über den Felsen brach der dritte Tag schon an, und Veverl wähnte die erste Nacht noch nicht vergangen. Bei Allem, was sie sah und hörte, was sie dachte und fühlte, waren ihr die Stunden wie Minuten verflogen. Sie konnte sich nicht einmal darüber wundern, daß sie so häufig zu essen und zu trinken bekam und immer wieder zu schlafen vermochte, – sie schrieb das kurzweg auf Rechnung der „zaubermaßigen“ Behandlung, in der sie sich mit ihrem kranken Fuße zu befinden wähnte. So mußte sie auch glauben, daß die Besserung, die ihr Fuß in diesen Tagen und Nächten zeigte, der Erfolg von wenigen Stunden wäre. Das erfüllte sie aber durchaus nicht mit irgend welchem staunenden Respekte vor der Heilkunst ihres Alfen, es war dies in ihren Augen nur die selbstverständliche Bestätigung für eine jener wundersamen Anschauungen, die sie von ihrem wunderlichen Vater überkommen und während ihres einsamen, idyllischen und träumerischen Lebens im Waldhause genährt und großgezogen hatte, an die sie glaubte wie an den lieben Herrgott im Himmel droben. Ihre Seele glich dem See im Märchen, um welchen Kobolde, Wichtlein und Zwerge ihre Spiele treiben, in welchem Nixen und Schwanjungfrauen auf- und niedertauchen und goldene und silberne Fischlein schwimmen, um dessen weiße Rosen die luftigen Elfen ihren Reigen schlingen, während hoch darüber hin im Blumenwagen die Feeen schweben, indeß der Himmel mit seinen ewigen Sternen in der Fluth sich spiegelt, die so lauter und keusch ist wie der Quell, der aus Felsen springt – und so liegt der See in seiner geheimnißvollen Stille, bis das bärtige Sonntagskind an seine Ufer tritt, den Zauber bricht und die in den See gebannte Maid gewinnt für ein Leben in Glück und Sonne – „in Glück und Licht“, wie Veverl den Edelweißkönig in ihrem seltsamen Traume hatte sagen hören.

Als sie damals aus dem Schlafe erwacht war, der an den „Traum“ sich angesponnen, hatte sie sich an Alles genau erinnert, was sie geträumt zu haben glaubte – und da hatte sie um ihrer „geträumten Keckheit“ willen kaum den Muth gefunden, ihrem Edelweißkönig ins Gesicht zu schauen. Es war aber auch fast so anzusehen, als hätte der Alf in Wirklichkeit verspürt, was sie ihm in ihrem Traume Liebes erwiesen, ein so freundliches [827] Lächeln und eine so helle Stirn wußte er ihr zu zeigen. Und wie er zu ihr war! Wie er mit ihr plauderte! Wie er Alles und Alles that, was er nur zu thun vermochte, um sie vertraut und gesprächig zu machen! Er trank mit ihr die Milch aus der gleichen Schale, das Wasser aus dem gleichen Kruge; wenn sie aß, aß er mit ihr vom gleichen Teller, und wenn sie die Augen zum Schlafe schloß, legte auch er sich zur Ruhe auf seinen Mantel nieder, der, wie Veverl hätte beschwören können, aus den silbergrauen Blättchen von aberhundert Edelweißpflänzchen kunstvoll gefertigt war, wenngleich er sich ansah, wie eine ganz gewöhnliche graue Lodenkotze. Das war es ja auch, was ihm Veverl’s Zutrauen zumeist gewann, daß er jedem Dinge, welches in den Bereich ihrer Blicke kam, ein so vertrauenerweckend natürliches Ansehen gab, und daß er Alles, was er trieb und that, so einfach und natürlich that, „akrat wie a richtiger Mensch“, und so ganz ohne jedes „schreckhafte“ Zauberwerk. Freilich – eine Probe seiner Zauberfertigkeit hatte er ihr doch gegeben – aber das hatte er ja nur gethan, um ihr eine Freude zu machen. Und welch’ eine Freude! Sie hatte ihm berichten müssen, wie sie denn eigentlich so spät in der Nacht an jene Stelle gekommen wäre, an welcher er sie gefunden; und da hatte sie ihm von dem Wiedersehen mit ihrenn Hansei erzählt, von der Verfolgung des Vogels und dazu des Vogels ganze Geschichte. „So? So is die Sach?“ hatte er darauf gesagt. „Ja – wenn den Vogel gar so viel lieb hast, da muß ich schon ’was Uebrig’s thun!“ Ehe sie noch recht gewußt hatte, was sie zu diesen Worten denken sollte, war er aus der Höhle verschwunden – und dann plötzlich war er wieder vor ihr gestanden, auf der ausgestreckten Hand ihr liebes Hansei tragend, das die Flügel reckte und lustig darauf losschnatterte: „do, do, a do, Echi, a do!“ Geweint und gelacht hatte sie da vor heller Freude, und nicht mehr aus den Händen hatte sie den Vogel gelassen, der bald wieder so vertraut zu ihr wurde, als wäre er nie von ihr getrennt gewesen. Sie wurde nicht müde, mit ihm zu scherzen und ihn zu kosen, wobei sie seiner Zunge manch ein vergessenes Wort in Erinnerung brachte – und jener, dem sie diese Freude dankte, saß dabei zu Füßen ihres Lagers und betrachtete sie mit stillem Lächeln. Unterbrach sie das Spiel, so begann er mit ihr zu plaudern. Und was sie da Alles zu hören bekam! Es machte sie ordentlich stolz, daß er so gar nicht geheim that vor ihr. Als wäre sie seinesgleichen, so erzählte er ihr von seinem Geisterleben, von seinen Geistersorgen, von der unglaublichen Mühe, die ihm die Wartung und Behütung seiner zahllosen Schützlinge bereite, wie überhaupt von Allem, was als Edelweißkönig so seine Pflicht und Schuldigkeit wäre. Dazu erzählte er ihr die merkwürdigsten Geschichten von allerlei Menschenkindern, die durch die Kraft der Königsblume den Weg zu ihm gefunden. Bei all diesem Geplauder umspielte ein so eigenes Lächeln seinen Mund, als hätte er seine Freude an ihrem athemlosen Lauschen und Staunen. Und wie gut ihr dieses Lächeln gefiel! Wenn er so lächelte, konnte sie keinen Blick von seinem Gesichte verwenden – sie trank es ordentlich hinein in ihre Augen. Und dieses Gesicht überhaupt! Freilich – er sah ja auch der Hannibas so ähnlich, die so schön gewesen war. Als er einmal den Verband an ihrem Fuße löste, da hatte er sie lange angeschaut mit einem Blicke, unter dem ihr bald heiß bald kalt geworden war, und hatte gesagt: „Wie lang noch dauert’s, nachher is Dein Fußerl ganz in Ordnung – und nachher – freilich, was hast denn nachher noch zum suchen bei mir? – nachher wirst halt gehn!“ Es hatte ihr einen ganzen Stich im Herzen gegeben bei dem wehmüthig bitteren Klange dieser Worte. Der Gedanke an das Gehen, an die Heimkehr zu den Ihrigen mußte ihr doch Freude machen – und dennoch hätte sie lieber weinen als lachen mögen. Wie von Herzen gut mußte er ihr geworden sein, da ihm der Gedanke an ihr Gehen so bitter wehe that! Wie freundlich war er zu ihr gewesen! Was Alles hatte er für sie gethan! Und da sollte es nun ihr ganzer Dank sein, daß sie ein „Vergelt’s Gott“ sagte und ihn allein ließ, so sterbensallein!

Diese Gedanken ließen nicht mehr von ihr, und über all dem Denken vergaß sie des Redens. Sogar ihr liebes Hansei hatte darunter zu leiden – am meisten aber wohl jener, der das Wort gesprochen, das so jählings ihren traulichen, an der Minute sich genügenden Verkehr zerstört hatte gleich einem bösewirkenden Zauberworte. Er wurde so wortkarg und in sich gekehrt. So stille that er Alles, was er sonst mit freundlichen Worten und unermüdlichem Geplauder begleitet hatte. Jedoch – so stumm auch ihre Lippen geworden waren, eine Sprache war ihnen geblieben.

Wenn er zu Füßen ihres Lagers saß, wenn sie so stille lag und er kein Wort zu finden wußte, um das bedrückende Schweigen zu brechen, dann wußten immer wieder ihre scheuen, bangen Blicke seine traurigen Augen zu finden, und je häufiger sie sich fanden, desto länger hielten sie sich fest in still geheimnißvoller Sprache.

Aus solcher stummen Zwiesprach fuhr er einmal auf mit tiefem Seufzer und schüttelte den Kopf, als wollte er Gedanken von sich wehren, die ihn wider Willen überkamen. Mit bebenden Händen löste er den Verband von Veverl’s Fuß, und seine Worte klangen kurz und rauh, als er sie aufforderte, nun wieder das Gehen zu versuchen. Da wurde sie völlig blaß vor Schreck und fühlte schon eine Schwäche und ein Zittern in allen Gliedern, noch ehe sie auf den Füßen stand. Er brachte ihr die Schuhe, und als sie dieselben angezogen hatte und ihm versicherte, daß sie nicht den geringsten Druck oder Schmerz verspüre, nickte er nur. Dann wunderte sie sich darüber, wie prächtig sich das Gehen machte. Gemachen Schrittes wanderte sie ein um das anderemal in der Höhle auf und nieder, und dabei sah sie ihn unablässig an, als warte sie auf ein Wort von ihm, daß es nun genug wäre.

„No schau – es geht ja ganz sauber,“ sagte er endlich. „Und da könnten wir ja gleich a bißl an größeren Spaziergang machen. Ich muß Dir doch amal mein ganze Behausung zeigen.“

Er faßte ihre Hand und führte sie einer Stelle der Felswand zu. Zögernd folgte sie seiner Leitung, befangen von zitternder Scheu. „A do, a do!“ schnatterte das Hansei und flatterte vom Kopfende des Bettes auf die Schulter des Mädchens, das sich vor eine dunkle, die Steinwand schief durchbrechende Felsenspalte geführt sah. Veverl hatte diese Spalte bisher mit keinem Blicke noch gewahren können, und so dachte sie nicht anders, als daß ihr Alf mit einem stummen Zauberworte „d’ Felsen in aller Mitten auseinander g’rissen“ hätte.

Drei oder vier Schritte gingen sie im Dunkeln, wobei jenes Murmeln und Rauschen sich zu nähern und zu verstärken schien, welches Veverl unaufhörlich vernahm – dann machten sie eine Wendung, und mit einem leisen, staunenden Rufe verhielt das Mädchen den Fuß. Sie stand in einem halbkugelförmigen Höhlenraume. Ein schmaler, feuchter Steingrund lief an der gekrümmten Wand entlang gegen ein enges Felsenthor, durch das ein fahles Zwielicht schimmerte, welches den tiefblauen Dämmerschein nicht störte, der den ganzen Raum erfüllte. Dieses magische Licht schien aus dem kleinen See zu quellen, der dicht vor Veverl’s Füßen lag, jetzt ruhig und so glatt wie ein geschliffener Sapphir von dunkler Farbe, im nächsten Augenblicke aufwallend und Blasen werfend wie kochendes Wasser, und wieder still und ruhig, bis das alte Spiel begann. Dazu ein unablässiges Triefen und Rieseln an den Wänden, ein immerwährendes Klatschen der schillernden Tropfen, die von all den abenteuerlich geformten, bläulich schimmernden Zacken und Buckeln der gewölbten Decke niederfielen in die geheimnißvolle Fluth.

„Der Zauberbrunn’!“ flüsterte Veverl tief aufathmend vor sich hin.

„Ganz recht, der Zauberbrunn’,“ lächelte er, „weißt, aus dem ich’s Wasser trink’, wo ewig jung macht und ewig g’sund. Aber komm, da schau, da kannst Dich a bißl setzen – da sitz’ ich oft selber ganze Stunden lang und schau so ’nein in das blaue Wunder, weil’s mir selber so viel g’fallt.“

Er führte sie zu einer aus groben Felsstücken an der Wand errichteten Bank, über welche ein Brett gelegt war. Lange, lange saßen sie hier, schweigend vertieft in den Anblick des wundersamen Schauspiels.

Da schauerte Veverl fröstelnd zusammen.

„Gelt – a bißl frisch is halt herin! Komm – gehn wir da ’naus, da draußen is a weng wärmer.“

Er erhob sich und führte sie jenem engen Felsenthore zu, durch das sie in einen breiten Höhlenraum gelangten, der ihnen gegenüber eine langgestreckte mannshohe Oeffnung zeigte, die ins Freie führen mußte, denn durch sie erhielt der Raum ein Licht, als läge er im Frühschein eines erdämmernden Morgens. Für Veverl’s Augen schien nach all der langen Nacht, in der sie geweilt hatte, dies graue Licht der helle Tag zu sein. Unter halb geschlossenen Lidern hervor schaute sie umher und sah dann mit einem scheuen, verwunderten Blicke ihren Alfen an.

[828] „Das is mein Werkstatt,“ sagte er, „mein Keller, mein Stadel, mein Schupfen – und da draußen is der Stall. Ja – schier an ganzen Bauernhof hab’ ich da bei’nander!“

Nahe der hellen Oeffnung stand ein kleiner Tisch, der als Schnitzbank zu dienen schien und mit allerlei Werkzeugen und theils vollendeten, theils halb fertigen Schnitzereien bedeckt war. Daneben stand ein plump aus Brettern gefügter Schrank. In Ecken und Nischen waren Vorräthe von Schnitz- und Brennholz aufgespeichert. An einem in der Wand befestigten Zapfen hingen große Stücke frischen Fleisches, und darunter sah man ein blutiges Lammfell wie zum Trocknen über gekreuzte Stäbe gespannt.

Veverl schaute und schaute, und ihr Köpfchen hatte alle Gedanken voll zu thun, um diese ganze Natürlichkeit, die sich ihren Blicken bot, ins Uebernatürliche zu übersetzen. Und mit allem kam sie zurecht – nur mit den dicken Berggrasbüscheln, die in einer Ecke aufgeschichtet lagen, wußte sie nichts anzufangen. Aber die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten, denn vor jener Oeffnung draußen sah sie auf einem von mageren, mattfarbigen Moose bewachsenen Raume eine Ziege liegen.

Meckernd sprang das Thier in die Höhe, als die Beiden zu ihm hinaustraten aus den von dicht in einander geflochtenen dürren Latschenzweigen umhegten Raum. Es war das die Oberfläche einer mächtigen, überhängenden Felsplatte – und da wußte sich Veverl mit einem Male jenes unablässige Murmeln und Rauschen zu erklären. Weißschäumige Wellen rollten ihr zu Füßen rasch vorüber, um weiter abwärts zwischen steil gesenkten Wänden brausend zu verschwinden, als stürzten sie in bodenlose Tiefe. Ein Schauder überflog das Mädchen, während es die Augen über den Lauf der Wellen aufwärts gleiten ließ bis zu einem brodelnden Wasserkessel, in den aus dunkler Höhe rauschende Fluthen sich ergossen. Es war ein finsterer unheimlicher Anblick, der ihren Augen auf diesem Wege sich bot – überall Zeichen einer wilden Zerstörung und Verwüstung, überall verwaschenes, unterwühltes und zerrissenes Gestein, und in allen Fugen und Schrunden ein wirrer Wust von Unrath und zertrümmertem Holze. Und als sie von diesem finsteren Bilde die Augen zur Höhe hob, in unwillkürlicher Sehnsucht den lichten Himmel suchend, versperrten vorspringende Steinplatten und ineinandergreifende Felsgefüge ihren Augen den Ausblick, so daß sie trostlos wieder zurückkehren mußten zu dem unheimlich rauschenden Gewässer.

„Wie grausig, o wie grausig!“ seufzte Veverl schaudernd auf.

Und der an ihrer Seite stand, der nickte mit dem Kopfe und raunte vor sich hin: „Mein – wie halt der Höllbach is!“

Erbleichend taumelte Veverl zurück. „Jesus Maria – das is – der Höllbach?“ stotterte sie mit versagender Stimme und hob die zitternde Hand, um sich zu bekreuzigen.

Sie fühlte kaum, daß er mit kalter, bebender Hand die ihre faßte, daß er sie zurückführte zu ihrem Lager – sie achtete nur darauf, daß jenes grausige Bild aus ihren Blicken schwand, daß jenes Brausen und Tosen ferner klang und wieder zu sachtem Murmeln und Rauschen sich dämpfte.

Zitternd sank sie auf das Lager nieder und starrte mit angstvollen Augen ihren Edelweißkönig an, der ihr zu Füßen auf den Stuhl sich niederließ, die Arme auf die Kniee stützte und wie in tiefen Gedanken die Stirn in die beiden Hände legte.

Als er nach langer, stummer Weile sich wieder emporrichtete, frug er mit zögernden Worten. „Veverl - sag - weßwegen bist denn gar so arg derschrocken vor’m Höllbach?“

„Weil da an Unglück g’schehn is – a fürchtigs Unglück,“ hauchte es von Veverl’s Lippen, „das hat mei’m Jörgenvetter d’Haar’ grau g’macht und hat ei’m ’s Leben kost’, der’s Leben werth wär g’wesen. Du mußt es ja wissen - Du - der Alles weiß!“

„Ah ja! Wer sollt’s dann wissen, wenn ich’s net weiß!“

Veverl hatte kein Ohr für den seltsamen Ton dieser Worte. „Und Du – Du hättst d’ Macht g’habt, das Unglück zu verhüten – es is ja g’schehn in die Berg,“ so stammelte sie weiter in zitternder Hast, „weßwegen net hast es ’than – weßwegen net hast ihn g’rett’?^

„Schau – wann ich g’wußt hätt’, daß er Dich gar so dauert – wer weiß – ’leicht hätt’ ich’s ’than. Und wenn er jetzt leben thät’ – sag, Veverl – wärst ihm a bißl gut g’wesen?“

„Oh g’wiß – von ganzem Herzen gut! An einzigsmal g’rad hab ich ihn g’sehen – aber – in der Nacht halt – und so viel derschrocken bin ich g’wesen – aber allweil hab’ ich an ihn denken müssen. Und Alle, Alle sagen, daß er so brav is g’wesen und so rechtschaffen – und Keiner will’s glauben, daß er so ’was Fürchtig’s ang’stellt haben könnt’ – und daß er –“

„Daß er Menschenblut an seine Finger hat!“

Veverl erschrak bis in die Seele vor dem dumpfen, tonlosen Klange dieser Stimme.

„Gelt? Jetzt verschlagt’s Dir d’ Red?! Aber schau – wenn D’ wissen thätst, wie Alles ’kommen is, leicht thätst von der Sach’ a bißl besser denken als wie ’s G’richt, wo s’ hinter ihm herg’hetzt haben. Freilich – ’s G’richt därf net fragen: warum? – das kann bloß fragen: was? Aber Du – han Veverl, sag’, wer is Dir ’s Liebste g’wesen in Dei’m ganzen Leben?“

„Mein Vaterl selig.“

„Und jetzt denk’ Dir, es wär’ Einer ’kommen, der Dein liebs Vaterl um sein’ Ruh’ ’bracht hätt’, um sein Glück und sein Leben –“

„Ich hätt’s net g’litten,“ fuhr Veverl mit bebenden Worten auf, „na – na – ich hätt’s net g’litten – ich hätt’ ihn ’packt, den wilden Kerl –“

„No schau – und gar viel anders hat’s der Ferdl auch net g’macht. Was Dir Dein Vaterl war, das is dem Ferdl d’ Hanni g’wesen – sein Auf und Nieder, sein Alles! Und so viel g’freut noch hat er sich, wie s’ ihn einb’rufen haben nach München zum Militär, weil d’ Hanni drin war in der Stadt. No – und er hat s’ auch oft g’nug g’sehen – aber allweil schon hat er sich a bißl Sorgen g’macht, weil s’ so viel traurig d’rein g’schaut hat. ’s Heimweh, hat er halt g’meint, ’s Heimweh hätt’ s’ an’packt – mein, auf ’was anders hätt’ er gar kein Denker net g’habt! Und da hat er noch sei’m Brudern g’schrieben, ob’s net g’scheiter wär’, sie thäten d’ Hanni heim – sie selber freilich hat nie nix wissen wollen, wann er davon mit ihr g’redt hat. Ja – und so kriegt er z’ Mittag amal an Brief vom Jörg, daß d’ Mariann’ kommt am andern Tag und d’ Hanni heimholt. Da is er gleich zur Hanni g’laufen und – freilich hat er g’sehen wie s’ derschrocken is, aber er hat sich ’denkt: vor lauter Freud’. Am andern Morgen find’t er auch ganz richtig d’ Mariann’ auf’m Bahnhof – und dene zwei ihr erster Weg, natürlich, is zur Hanni g’wesen. Die Hanni wär’ schon fort’gangen, haben s’ dort derfahren, und hätt’ d’ Richtnug nach dem Ferdl seiner Kasern’ zu g’nommen. Da sind s’ halt jetzt der Hanni nach – und – und wie’s zur Thorwach’ hinkommen, wird dem Ferdl a Brief übergeben – a bildsaubers Fräulein hätt’ ihn da’lassen, hat der Posten g’sagt, und wär’ nachher gegen d’ Isar ’nunter’gangen. Der Ferdl macht den Brief auf und denkt sich noch allweil nix – kaum aber fangt er’s Lesen an, da hat sich Alles ’dreht um ihn und es is ihm g’wesen, als falleten d’ Häuser über ihn her und der Himmel und Alles. Und d’ Mariann’ hat er beim Arm ’packt – ‚komm, um Tausendgotteswill, komm,‘ so hat er g’rad ’nausg’schrieen, ,’leicht is noch net z’ spat, ’leicht holen wir s’ noch ein‘ – und fortg’rennt sind s’ mit einander. Aber lang schon z’ spat is g’wesen! Dann wie s’ ’nunterkommen gegen d’ Isar, da sehen s’ schon a ganz’ a Menge Leut’ bei ’nander stehn und – Veverl, Veverl, wie soll ich Dir sagen, was das für an Anblick war, wie s’ so dag’legen is, die arme, arme Hanni, auf ’m Boden, blaß und stad – und ’s Wasser is von ihr g’ronnen – und kein Rührer nimmer hat s’ Dir ’than!“

Veverl sah die Thränen nicht, die ihrem Alfen aus den starren Augen niederrannen in den Bart, sie saß gebeugt und schluchzte leise in die vorgehaltenen Hände.

„Gelt, Veverl, Du weißt es schon noch, wie Dir selbigsmal g’wesen is, wo Dein Vaterl so dag’legen is vor Dir – und da wirst Dir auch denken können, wie’s dem Ferdl war! Du aber, Du hast weinen können und beten zum lieben Herrgott – dem Ferdl aber hat kein Zährl den Brand in seine Augen kühlt, und nix anders net hat er sich denken können als wie das Einzige: Mein’ Hanni is dahin – und der s’ betrogen hat um ihr Ruh’ und ihr Glück, der s’ ’neinzogen hat in d’ Schand’, ins Wasser und ins ewige Verderben, der lebt – der lebt! Und da is über ihn ’was kommen, wie Feuer ins G’hirn, wie Nesseln ins Blut – an kein’ Mariann’ nimmer hat er ’denkt und an gar nix mehr, g’rad fort’trieben hat’s ihn, hin zu Dem, der d’ Hanni auf sei’m G’wissen hat. Wie’s ihm g’wesen is von dem Augenblick an, wo er d’ Hanni aus ’m Gesicht ’kriegt hat, was er sich ’denkt

[829]

Lorle im Hühnerhofe.
Originalzeichnung von Wilhelm Hasemann.
Aus dem Prachtwerke: „Lorle, die Frau Professorin“. Von Berthold Auerbach.

[830] hat, daß er denn eigentlich möcht’, wie er den Weg zum selbigen g’funden und was er ihm zug’schrieen hat – auf das Alles hätt’ er sich darnach nimmer derinnern können, und wenn’s sein ewigs Leben ’golten hätt’ – erst wie dem Andern ’s helle Blut über’s weiße G’sicht wegg’schossen is, wie er ihn niederstürzen hat sehen vor ihm, da is ihm d’ B’sinnung wieder ’kommen, da is ihm eiskalt ’worden über’m ganzen Leib – und wie er in der eigenen Hand den blanken, blutigen Säbel g’sehen hat, da hat er erst verstanden, was g’schehen war – da hat ihn aber auch schon d’ Angst und ’s Grausen ’packt, daß ’s ihn fort’trieben hat, g’martert von doppelter Verzweiflung – über der Hanni ihr traurigs Sterben und über sein’ eigene Schandthat –“

„Na, na, es war an Unglück,“ schluchzte Veverl auf, „und unser Herrgott wird’s ihm net vergessen haben, daß ihm ’s Herzleid um sein’ liebe Schwester d’ Sinn’ verwirrt hat!“

„Veverl! Das war a freundlichs Wörtl, und tausendmal sag’ ich Dir –“

Betroffen von dem tiefinnigen Ton dieser Worte blickte Veverl auf, und da verstummte er, zog die Hände zurück, die er ihr in überwallender Bewegung entgegengestreckt hatte, und sprach nach kurzem Schweigen mit leiser Stimme weiter:

„Ja – tausendmal hab’ ich mir schon ’denkt, daß der liebe Herrgott Gnad’ für Recht hat ergehen lassen, weil er’s dem Ferdl wenigstens erspart hat, a Menschenleben auf sei’m G’wissen tragen z’ müssen – freilich – es brennt ja Menschenblut schon g’nug – und alles Andere – alles Andere noch dazu. Aber –“ dabei sprang er auf, mit einem Kopfschütteln und einer Armbewegung, als wollte er alle Gedanken und alle Erinnerung an diese trübe Geschichte jählings von sich abwerfen.

Mit irren Blicken schaute Veverl zu ihm auf; sie war wie betäubt von Allem, was sie gesehenn und gehört. Ein Schwindel hatte sie befallen, der all ihr Denken erdrückte und gegen den nur noch die Ueberfülle ihrer Empfindungen die Wagschale hielt. Bald fröstelte sie, bald glühten ihr die Wangen. Dazu war in ihren Ohren ein Sausen, durch das ihr die Stimme des Alfen so seltsam hohl und tief erklang, als er sagte: „Gelt, freust Dich schon, daß jetzt bald wieder ’raus kannst aus der Finstern und heim zu Deine lieben Leut’?“

Sie zuckte zusammen, schwieg und rührte sich nicht.

„Und – han, Veverl – wann nachher daheim bist, wirst auch diemal an mich denken?“

Hastig nickte sie mit dem Köpfchen.

„Aber – aber gelt – das därf ich mir doch net hoffen, daß D’ mich wieder amal b’suchen thätst?“

„Wann ich auch wollt’, das ging’ ja gar net,“ fuhr es über Veverl’s Lippen, „ich hab’ ja mein Königsbleaml verloren.“

„Ah so – ja – jetzt hast Du wieder Recht,“ bestätigte er, „und ich weiß schon, so eins wachst alle Jahr bloß an einzigs in die Berg’. Aber weißt, wann ich amal wem b’sonders gut bin, da is nachher ’s Königsbleaml gar net nöthig – da giebt’s nachher schon andere Sachen auch noch, wo ich ganz gern drauf geh’. Zum Beispiel – wann so um a Zeit, wo d’ Sonn’ untergeht oder aufgeht, allweil am Höllbach in d’ Höh’ steigen thätst, bis – kennst das Platzl? – d’ hohe Platten heißt man’s –“

„D’ hohe Platten! Wo ’s Unglück mit dem Ferdl g’schehen is!“ stammelte Veverl, wobei sie ein Gefühl hatte, wie wenn sich auf ihrem Kopfe die Haare zu rühren begännen.

„Ganz recht – weißt – so a Platzl is halt b’sonders g’schickt für so ’was! Ja – am selbigen Platzl wann an Stein in Höllbach ’nunterwirfst, a bißl a richtigs Trumm, und nachher langsam bis auf Zehne zählst, und wieder wirfst und zählst – und so fünfmal hinter einander, nachher thät’ ich wissen, daß Du droben bist – und auf der Stell’ wär’ ich bei Dir! Aber – mein –“ er seufzte, und gleichsam zum fühlbaren Vorwurf drückte er den Ellbogen sachte an Veverl’s Schulter, „was strapazier’ ich mich denn? Du kommst ja doch nimmer.“

Veverl hatte nicht den Muth, zu schweigen. „Man kann – net – wissen,“ stotterte sie, bebend am ganzen Leibe.

„Man kann net wissen?“ wiederholte er. „Hast schon Recht – das heißt – was ich weiß, weiß ich g’wiß: daß mir arg bang sein wird um Dich, daß ich Dich arg schwer g’rathen kann, und daß ich öfters, als Dir ’leicht träumet, bei Dir sein will mit meine ganzen Gedanken. Du hast mir so liebe Stunden ’reinbracht in mein unguts Leben, Du bist mir g’wesen wie a freundlichs Licht in der Finsterniß – und wann jetzt nachher gehst, wird’s wieder Nacht um mich, und doppelt traurig schaut sich mein Leben für mich an!“

Veverl saß mit tief geneigtem Kopfe, die zitternden Hände im Schoße gefaltet. Sie spürte in sich ein fliegendes Pochen und fühlte auf ihren Schultern Schauer mit Schauer wechseln. Wie sprach er so lieb von ihr – und dennoch war ihr die Brust zusammengeschnürt wie in Furcht und Bangen und Herz und Seele wie von namenloser Angst erfüllt.

Als er verstummte, starrte sie mit scheuen Augen zu ihm empor und erbebte vor der leidenschaftlichen Flamme, die ihr aus seinen Blicken entgegenschlug. Und ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er ihre Hand ergriffen, seinen Arm um ihre Schulter geschlungen, und so zog er sie an seine Brust, unter den bebenden Worten: „Veverl – schau – g’wiß wahr – am liebsten ließ ich Dich gleich gar nimmer fort von mir und thät’ Dich b’halten für Leben und Ewigkeit!“

Da sprang sie empor mit einem markerschütternden Aufschrei und riß sich aus seinen Armen.

„Veverl! Veverl!“ stammelte er und streckte wieder die Hände nach ihr, sie aber taumelte vor ihm zurück – „Jesus Maria! Jesus Maria!“ stöhnte sie unablässig mit blassen Lippen und schlug in Angst und Grauen die Arme über das Gesicht.

Wenige Schritte folgte er ihr, mit gestreckten Händen, mit flehendem Stammeln – dann plötzlich blieb er stehen, wie gewaltsam sich bekämpfend und starrte sie wortlos an, bis er sich langsam wandte, mit den Händen die Schläfen preßte und wankenden Ganges aus der Höhle schritt.

Zitternd und mühsam nach Athem ringend richtete Veverl sich empor. „Fort, fort, fort!“ das war in ihrer Todesangst und ihrem mißverstandenen Empfinden ihr einziger Gedanke. Sie starrte um sich, ihre Augen trafen auf den dunklen Trichter des Felsenganges, trafen auf die flackernde Flamme der Fackel – sie riß dieselbe von der Wand und stürzte mit ihr dem dunklen Schachte zu, auf den Lippen das Stoßgebet: „Heilige Mutter Gottes, dir b’hüt ich mein Seel’!“

Keuchend hastete sie sich empor über Stufen und Geröll. Der Qualm der Fackel benahm ihr fast den Athem; manchmal lehnte sie sich erschöpft an die Steinwand, um gleich wieder aufzufahren, zu Tod erschreckt durch das gespenstige Flattern der „Geisterdrachen“, zu denen in ihren Augen die aus den Felsschrunden aufgescheuchten Fledermäuse wurden. Vorwärts und vorwärts stürzte sie, bei diesem angstvollen Hasten und Fliehen wurden ihr die Minuten zu Tagen – und nun mit einem Male war der Schacht zu Ende, und Veverl fühlte und gewahrte vor sich und zu beiden Seiten nur kaltes regungsloses Gestein. Im gleichen Augenblicke klang hinter ihr einher des Alfen Stimme, die ihren Namen rief und unter dem Widerhall der hohlen Wände dröhnte wie ferner Donner. Die Fackel sank aus Veverl’s schreckgelähmten Händen, sie erlosch – und durch die Finsterniß schimmerte in dünnem Streif ein blendend grelles Licht den Augen des Mädchens entgegen. Den Namen des Erlösers kreischend, stürzte sich Veverl gegen die lichte Stelle, der Stein gab nach, und aufjubelnd wankte sie hinaus in den hellen Tag, fast erblindend vor dem langentbehrten Glanz der Sonne. „Veverl! Veverl!“ tönte es noch mit dumpfer, hohler Stimme aus dem Schachte, dann schloß sich mit polterndem Rollen die steinerne Pforte, und wie ein gehetztes Reh flog Veverl thalwärts durch die schlagenden Zweige der dichten Latschenbüsche. Als sie den Almensteig erreichte, brach sie erschöpft zusammen; sie faltete die Hände und wollte zu beten beginnen, aber ein donnerndes Krachen schreckte sie wieder empor und trieb sie zu neuer Flucht. –

Ganz nahe war ein Schuß gefallen – über’m Höllbach drüben, vor der Jagdhütte.

*               *
*

„An Schuß, Herr Graf,“ hatte Gidi zu seinem Herrn gesagt, „an Schuß sollten S’ doch machen, ehvor wir ’naufsteigen, damit S’ doch wissen, ob auch ’s Büchsl noch richtig hinschießt.“

Schweigend hatte Luitpold das Gewehr aus Gidi’s Händen genommen und an die Wange gehoben. Auf hundertfünfzig „Gänge“ lag zwischen den Bäumen ein faustgroßer, weißer Stein im Moose, als der Schuß krachte, war er verschwunden, zertrümmert.

[831] „Geht schon noch – sauber auch noch!“ schmunzelte Gidi, es war ja das für ihn, seit sie am verwichenen Nachmittag das Schloß verlassen hatten, der erste vergnügte Augenblick.

Und eine recht trübselige Nacht war das gewesen! Drinnen in der Hütte hatten die Beiden vor dem flackernden Feuer bei einander gesessen, und Gidi hatte erzählen müssen – die ganze traurige Geschichte „vom selbigen Tag in der Hahnfalzzeit“.

Der Morgen hatte schon durch die kleinen vergitterten Fenster gegraut, als sie zur Ruhe gegangen waren. Da hatte natürlich von einer „Frühbirsch’“ auf den „Kapitalhirsch“ keine Rede mehr sein können.

Jetzt aber ging es der Höhe zu. Es galt jenen drei „Fetzengamsböcken“, die so „g’fangig“ standen. Mit zuversichtlichen Mienen stieg Gidi, den Hund an der Leine führend, seinem Herrn voran. Er hätte darauf schwören mögen, daß es da droben „duschen“ würde, daß zum mindesten einer der drei Böcke „dran glauben“ müßte. Freilich hieß es „woltern auffisteigen“, um guten Wind zu bekommen, „schnurg’raden Aufwärtswind“; die Sonne stand ja schon hoch über dem Grate der Höllenleithe. „Unter an acht a neun Stund’ wird ans Heimkommen net zum denken sein.“

Das war nun allerdings ein Weg, der des von Gidi erwünschten Erfolges werth gewesen wäre. Und doch – als die beiden Jäger zu dämmernder Abendzeit in die Jagdhütte zurückkehrten, war der dicke „Edelweißbuschen“ auf Gidi’s Hut die ganze Beute. Gidi machte aber auch ein Gesicht wie „neun Tag’ Regenwetter“. Hatte er es doch beim „Anriegeln“ des „Bogens“ von der Schneide der Höllenleithe aus durch das Fernrohr mit angesehen, wie sich der stärkste der drei Böcke vor den „Stand“ des Grafen hingestellt hatte, „schier mit ’m Bergstecken zum derschlagen“; vergebens aber hatte er nach dem mit jedem Augenblick erwarteten „Duscher“ ausgelauscht; die Büchse quer im Schoße und das Haupt in die Hände gestützt, so hatte er den Grafen regungslos sitzen sehen, während das stattliche Wild an ihm vorüberzog, gemächlichen Schrittes, als wüßte es, wie wenig Gefahr ihm drohe von dem so tief in Gedanken und Erinnerung Verlorenen.

„No mein, es is ja alles recht, aber – an Gamsbock, der sich ei’m hinstellt auf a Dutzend Gäng’, den braucht man deßwegen doch net durchlassen!“ so lautete Gidi’s brummig abgegebenes Endurtheil.

Jetzt stand er im Küchenraume der Jagdhütte vor dem Herde und starrte verdrießlich in die Pfanne, in welcher die „Röschnocken“ schmorten – sein und seines Hundes Nachtmahl.

In der Jägerstube saß Luitpold, durch das offene Fenster aufblickend in den dämmernden Himmel. Manchmal nippte er von dem rothen Weine, der vor ihm auf dem Tische stand, und aß dazu ein weißes Brot in winzigen Stückchen.

Als Gidi hereinkam, um die Hänglampe anzuzünden, erhob sich Luitpold, wünschte seinem Jäger mit kurzem Worte eine gute Nacht, lockte den Hund zu sich und zog sich zur Ruhe in sein „Grafenstüberl“ zurück.

Seufzend blickte ihm Gidi nach, und als sich die niedrige Thür schloß, nickte er vor sich hin. „Du lieber Herrgott – den hat’s arg verwischt! Der braucht a Zeit, bis er sich wieder z’sammklaubt! Laßt an Gamsbock durch!“

Er ging in die Küche zurück, um das benützte Geschirr zu spülen und aufzuräumen. Als er damit zu Ende war, trat er ins Freie, schaute nach Wind und Wetter aus, schloß an allen Fenstern die Läden und versperrte, als er in die Hütte zurückkehrte, hinter sich die Thür.

Drinnen in der Stube schob er sich in den Tischwinkel, zündete passend seine Pfeife an und ließ sich den Rest des Weines schmecken. Plötzlich erhob er sich, nahm seinen Hut vom Zapfen, legte ihn vor sich hin und betrachtete mit wägenden Blicken den „Edelweißbuschen“. Dann schüttelte er mit einem kurzen Pfiffe den Kopf, streifte mit dem ausgestreckten Arme den Hut auf die Bank hinunter und machte ein Gesicht, als hätte er eine schwere Versuchung tapfer überstanden. Aber diese Siegesgewißheit währte kaum einen Paffer lang. Da lag der Hut schon wieder auf dem Tische – und mit einem Male saß er auf Gidi’s Kopf.

„Ah was! Ich trag’ ihr den Buschen ’nauf – weil er gar so schön is! Sie braucht sich ja net g’rad z’denken, daß er von mir kommt – a Freud’ hat s’ dengerst d’ran!“

Das hatte er noch nicht ausgedacht, als er schon in der Küche stand. Lautlos zog er den Schlüssel aus dem Schlosse, öffnete die Thür, sperrte sie von außen wieder zu und eilte durch die Nacht dem Almensteig entgegen.

Als er jene Lichtung erreichte, auf welcher er wenige Nächte zuvor mit dem „Schafdieb^ zusammengetroffen war, stockte ihm plötzlich der Fuß. Es war ihm gewesen, als hätte er ein Geränsch gehört, ein Rascheln im Gebüsche. Lange lauschte er in die Nacht hinein. „Werd’ halt a Stückl Wildpret auf’gangen haben!“ dachte er endlich und eilte weiter in der Richtung der Bründlalm.

Im Walde verhallten seine Schritte - und da tauchte aus den Büschen eine dunkle Mannsgestalt empor, die sich über die schräg liegenden Felsplatten lautlos auf den Steig niedergleiten ließ. Scharf hob sich die finstere Kontour des Gesichtes mit dem gedrehten, bis auf die Brust niederhängenden Schnurrbart von den helleren Steinen ab. Mit nickendem Kopfe schaute der Bursche der Richtung zu, in welcher Gidi verschwunden war, und warf die kurze Büchse, die er in der Hand getragen, hinter die Schulter.

„Dich hab’ ich aber g’legen derschaut!“ glitt es mit höhnischen Worten leise von seinen Lippen. „Jetzt will ich Dir den Almtanz danken! Geh nur fensterln, Du – ich zünd’ Dir derweil a Licht an, daß D’ leichter wieder heimfindst!“

Hastigen Laufes folgte er dem Pfade, bis die stille, dunkle Jägerhütte vor ihm lag. Seitwärts von der Thür sah er dicke Reisigbündel, wie sie zum Entzünden des Herdfeuers dienen, hochaufgeschichtet. Eines um das andere dieser Bündel nahm er auf und reihte sie lautlos zu Füßen der Holzwand rings um die Hütte. Schon hatte er den unheimlichen Kranz geschlossen, als er aus dem Innern der Hütte das Knurren und den kurzen Anschlag eines Hundes vernahm.

„Schau – jetzt hat er sein’ Hund daheim ’lassen. No – d’ Jagdhund’ mögen ja ’s Warmhaben gern derleiden.“

Er bückte sich, ein leises Zischen folgte, und durch das dürre Reisig züngelte ein blaues Flämmchen.

Da fuhr der Bursche erschrocken auf. Ein klirrender Laut war an sein Ohr geschlagen, als wäre über ihm in der Höhe der Latschenfelder die eiserne Spitze eines Bergstockes wider einen Stein gestoßen worden.

Der Bursche spähte den Berghang empor, aber seine stechenden Blicke drangen durch die Nacht nicht hinauf bis zu jener Höhe, wo inmitten des dichtesten Latschengebüsches zwei Männer standen, Hand in Hand.

„Und b’hüt Dich Gott jetzt!“ sagte der Eine, der den Bergstock trug und auf dem Rücken die schwer beladene Kraxe. „Ich hol’ nachher schon in einer von die nächsten Nächt’, was ich heut’ net dertragen kann. ’leicht is bis dahin auch a Schreiben von dem Münchner Advokaten da. In der kurzen Stund’, wo ich mich bei ihm hab’ aufhalten können, hat er mir natürlich kein’ richtigen B’scheid net zum sagen g’wußt. Aber – wie auch d’ Antwort ausfallt, die ich Dir bringen kann – in derselbigen Nacht noch mußt mir fort und über d’ Grenz’.“

„Das wird mich was kosten! Jetzt geh’ ich ja doppelt schwer –“

„Es muß aber sein! So geht’s nimmer fort. Es reden ja d’Leut’ schon davon, daß ich so oft in der Nacht net daheim bin! Aber – das is ja kein Platz zum reden net! B’hüt’ Dich Gott – und gelt, sei g’scheit und nimm Dich in Acht, damit net am End’ auf d’Letzt’ noch wer dahinter kommt, wer daheroben haust. B’hüt Dich Gott!“

Mit festem Drucke schüttelten sie sich die Hände, und während der eine sich niederließ auf das Gestein, und den Kopf wie unter trüben Gedanken in die Hände stützte, rückte der andere die Kraxe höher an die Schultern und stieg mit raschen Schritten durch die Büsche nieder.

Als er den Almensteig erreichte, hörte er sich plötzlich angerufen. „Wer is da?“ Fast brachen ihm die Kniee vor Schreck, doch nur einen Augenblick währte die Schwäche, die ihn beim Klange dieser Stimme überkommen hatte, dann raffte er sich auf, sprang hinaus über den Steig und keuchte dem finsteren Walde zu, verfolgt von jenem, der ihn angerufen. Thalwärts ging es in wilder Jagd. Furcht und Verzweiflung schienen dem Fliehenden übermenschliche Kräfte zu geben, so daß er einen beträchtlichen Vorsprung gewann, aber die Last auf seinem Rücken wurde für [832] ihn zu Blei – der Athem begann ihm zu versagen – von Schritt zu Schritt verminderte sich die Hast seines Laufes – aus dem Walde vermochte er noch hinauszuwanken auf eine lichtere Rodung, dann versagten ihm die Kräfte. Da stand auch schon der Verfolger vor ihm und Aug’ in Auge starrten sich die Beiden an.

„Finkenbauer! Du!“

„Ja, Gidi – ich bin’s – ich – aber – mußt Dir net denken – um Tausendgottswillen bitt’ ich Dich – komm – komm morgen zu mir – und laß – laß mit Dir reden –“

„Der Finkenbauer auf Schleicherweg’? Na – das hätt’ ich mir nie net ’denkt! Und da brauch’ ich auch weiters nix z’wissen. Das geht ja kein Jaager nix an – das schlagt ja ins Steuerfach!“

Die Achseln zuckend, wandte er sich von Jörg und schritt, auf die leisen, flehenden Rufe des Bauern nicht hörend, dem Saume des Waldes zu. Er suchte den Steig nicht wieder zu gewinnen, quer über den waldigen Berghang nahm er die Richtung nach der Jagdhütte.

Manchmal blieb er stehen, um seinen erregten Athem zur Ruhe kommen zu lassen, und dann immer murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin „Na, na, was man derleben kann! Der Finkenbauer auf Schleicherweg’!“

So stand er wieder einmal stille und da war es ihm, als vernähme er zwischen den Bäumen leise Tritte, die sich ihm zu nähern schienen.

„Ja Himmel! Is denn heut’ der ganze Berg lebendig?“ flüsterte er vor sich hin und lauschte wieder auf jene Schritte.

Jetzt sah er eine dunkle Gestalt unfern an ihm vorüberschreiten. Heiß schoß ihm das Blut zu Kopfe, als er über die Schultern jener Gestalt den schwarzen Lauf einer Büchse aufragen sah – und im gleichen Augenblicke gewahrte er auch die scharfe Linie des Gesichtes mit dem lang niederhängenden Schnurrbarte.

„Meiner Seel’! Der Valtl!“ fuhr es ihm durch die Zähne, und da sprang er auch schon mit mächtigem Satze auf den Burschen los und schlug ihm die Fäuste ins Genick. „Hab’ ich Dich amal, Du Lump, Du gottvergessener!“

„Für heut noch net!“ zischte Valtl auf und riß, unter Gidi's Fäusten sich duckend, das Gewehr von der Schulter.

Gidi erkannte die Gefahr und fuhr mit beiden Händen nach der Büchse – zu spät.

Ein Blitz und ein Knall – und „Jesus Maria!“ konnte Gidi noch stöhnen, dann stürzte er zusammen, und Moos und Farren tranken sein rinnendes Blut.

(Fortsetzung folgt.)

Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Unterseeische Schiffe.

Der Mensch ist doch ein jämmerliches Geschöpf, meinte kürzlich ein pessimistisch angehauchter Freund. Bei aller Kunstfertigkeit, trotz seiner vielgerühmten Erfindungsgabe, hat er es in den Jahrtausenden noch nicht einmal so weit gebracht, wie der erste beste Vogel, der, kaum befiedert, sich frei in die Lüfte schwingt, wie der Fisch, welchem es ebenfalls von Natur gegeben ist, sich nicht bloß horizontal, sondern auch auf- und abwärts zu bewegen. Weit überlegener seien dem Menschen noch die Ente, der Schwan, überhaupt das zahlreiche Geschlecht der Wasservögel, denen ja drei Elemente zu Gebote stehen: die Luft, das Land und das Wasser, während er schwerfällig auf dem Erdboden dahin kriecht und nicht einmal wie die meisten Landthiere instinktmäßig schwimmen kann. Mit seiner Ansicht steht besagter Freund offenbar nicht vereinzelt da, und so erklärt es sich, weßhalb sich seit Ikarus’ Zeiten unzählige Sterbliche mit dem Problem des Fliegens und der Luftschifffahrt vergeblich abgequält, weßhalb es auch immer Leute giebt, die den Wahn eines sich fischartig in den tiefsten Meeresgründen bewegenden Fahrzeuges mit einer Ausdauer verfolgen, die eines besseren Lohnes würdig wäre.

Nordenfelt’s Unterseeboot von einem Dampfer bugsiert.

Ist dieses Ziel überhaupt erreichbar? Ist einige Aussicht vorhanden, daß der Mensch dereinst, den Wogen und ihren Gefahren entrückt, die Meeresfluthen in der Tiefe durchfurchen werde, daß das Problem eines dauernd unter Wasser dahinschwimmenden Schiffs jemals seine Lösung finde? In absehbarer Zeit ist unseres Erachtens nur wenig Aussicht vorhanden.

Warum? frägt vielleicht der geneigte Leser. Nun, die Antwort fällt nicht schwer. Wir wollen von nebensächlichen Hindernissen absehen, wie z. B. von dem ungeheuren Druck, den das Wasser schon in einer geringen Tiefe auf die Wände eines unterseeischen Schiffs ausübt, sowie von der Schwierigkeit der Beleuchtung der unterseeischen Fahrstraße, und einzig und allein die beiden Hauptbedingungen ins Auge fassen, welche von einem solchen Fahrzeuge zu erfüllen sind.

Die erste Bedingung ist die der Triebkraft. Dem Menschen stehen augenblicklich zur Erzeugung von mechanischen Bewegungen, abgesehen von seiner eigenen Körperstärke und von der Kraft der Thiere, nur drei Mittel zu Gebote: der Wind, ein Wassergefälle und die Dampfmaschine, nebst ihren Abarten. Wind weht aber unter dem Wasser nicht, und es ist hier an Wassergefälle nicht zu denken. Folglich bleibt nur die Dampfmaschine übrig, welche aber die Verbrennung von Kohle bedingt. Verbrennung hat jedoch eine ununterbroche Luftzufuhr zur ersten Bedingung, welche unter Wasser ebenfalls unmöglich ist. Hieraus folgt, daß ein unterseeisches Fahrzeug sich nicht oder nur kurze Zeit fortbewegen kann, es sei denn, daß die Mannschaft sich selbst ins Zeug legt und die Schraube dreht. Lange möchte sie es aber nicht aushalten.

Nordenfelt’s Unterseeboot unter Wasser.

Wo bleibt aber das Allerweltsmittel Elektricität? Nun, auch dieses Mittel versagt hier den Dienst, einfach weil wir zur Erzeugung des elektrischen Stromes immer noch der Dampfmaschine, beziehungsweise des Feuers bedürfen, es sei denn, daß man zu galvanischen Elementen oder zu Akkumulatoren greift, die aber in dem besonderen Falle aus vielen Gründen nahezu unbrauchbar sind. Erst wenn wir etwa gelernt haben, Elektricität direkt aus dem Wasser zu gewinnen, und zwar ohne Anwendung von Brennstoffen, werden wir eine Kraft besitzen, die ein Unterseeschiff fortzubewegen vermag und es zu weiten Reisen tauglich macht, weil es seinen Kraftvorrath stets aus der Umgebung ergänzen kann. Die Lösung einer solchen Aufgabe ist indessen nicht einmal angebahnt, und es versteigen sich augenblicklich auch die kühnsten Forscher nur zu der Hoffnung, der Mensch werde es lernen, Elektricität aus der Kohle, und zwar durch Verbrennung derselben, direkt zu gewinnen.


Die zweite, allerdings bei Weitem nicht so heikle Bedingung ist die der Erneuerung der Luft im Inneren eines Unterseeschiffs. Die Frage werden indessen die Herren Chemiker schon lösen. Sie haben es im Kleinen schon vielfach gethan und überhaupt ganz andere Kunststücke schon fertig gebracht.

Vorerst ist es also mit dem echten fischähnlichen Unterseefahrzeug nichts, und die Seekrankheit behält ihr Recht.

[833] Ein ganz anderes Gesicht bekommt jedoch die Sache, sobald sich der Mensch damit begnügt, besonders zu Kriegszwecken, irgend ein Fahrzeug auf kurze Zeit durch Untertauchen dem Späherauge des Feindes zu entrücken und den Angriff dieses Fahrzeuges auf diese Weise zu erleichtern. Streng genommen war die Frage an dem Tage gelöst, wo der erste Fischtorpedo seinen verderbenbringenden Weg dicht unter der Wasseroberfläche verfolgte, und wenn die Technik trotzdem eine weitere Ausbildung der unterseeischen Angriffswaffe anstrebt, so liegt es wohl nur daran, daß Torpedos nicht mit voller Sicherheit lenkbar sind und das Ziel daher oft verfehlen.

Es sind demnach Fahrzeuge vorhanden, die kurze Zeit unter Wasser bleiben und sich in dem nassen Element vorwärts bewegen können. Wir erinnern zunächst an das seiner Zeit in der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1863, S. 554) ausführlich besprochene Boot des Ingenieurs Bauer, welcher indessen damit nicht durchdringen konnte. Mehrfache Verbesserungen weisen, wie man sich denken kann, die neueren derartigen Boote auf, von welchen wir nur drei erwähnen wollen. Diese Boote verdanken wir dem schwedischen Kapitän Nordenfelt, L. Klein in Charlottenburg und Hotchkiß in Paris.

Unsere Abbildungen veranschaulichen das zuerst genannte Nordenfelt’sche Unterseeboot. Dasselbe ist aus dem besten schwedischen Stahl gearbeitet und bei cigarrenförmiger Gestalt 94 Fuß lang und in der Mitte 9 Fuß breit. Der oben hervorragende Thurm ist mit einer Glaskuppe versehen und dient dem Kapitän als Beobachtungsposten. Die Vorwärtsbewegung des Bootes unter Wasser wird durch eine gewöhnliche Schraube bewirkt, die neben dem auf unserer Abbildung rechts sichtbaren Steuerruder angebracht ist. Wie taucht aber das Fahrzeug unter die Wasserfläche? Zu diesem Zwecke finden wir an den beiden Seiten desselben je einen Radkasten mit horizontal gestellten Schiffsschrauben, deren Bewegung das Boot nach unten drängt. So lange das Fahrzeug über dem Wasser schwimmt, wird seine Dampfmaschine mit Kohlen geheizt, soll es aber untertauchen, so wird der nöthige Dampf durch aufgespeicherte Wärme erzeugt. An der vorderen Spitze des Bootes ist schließlich in einer Röhre seine furchtbare Waffe, der Torpedo, befestigt. Nach den bis jetzt vorgenommenen Versuchen kann dieses Boot die Tiefe von 16 Fuß erreichen und sechs Stunden unter dem Wasser verbleiben, ohne daß seine Besatzung durch Luftmangel u. dergl. belästigt wird.

Weitere Reisen braucht das Boot selbst nicht zu unternehmen, es wird zu diesem Zweck von einem andern Fahrzeug, wie dies auf unserer ersten Abbildung ersichtlich, ins Schlepptau genommen, um erst im gegebenen Fall in Thätigkeit zu treten.

Sehr ähnlich ist das Klein’sche Torpedoboot. Nur daß es eine Vorrichtung zur Erneuerung der Kraft im Innern enthält und vorne drei Saugnäpfe hat, mit deren Hilfe sich das Fahrzeug wie ein Polyp an das feindliche Schiff festsaugt, worauf Taucher dem Thurm entsteigen und einen mitgeführten Torpedo an den Leib des Gegners befestigen.

Was endlich das Unterseeboot von Hotchkiß anbelangt, so zeichnet es sich vor Allem durch seitlich angebrachte Korkschwimmer aus, welche die Rolle der Nordenfelt’schen Seitenschrauben spielen. Werden sie von innen hochgehoben, so sinkt das Fahrzeug so weit, daß nur noch der Thurm und die Schwimmer aus dem Wasser ragen. Eine Beschädigung dieser Schwimmer durch das Feuer des Feindes soll ohne Belang sein. Das Boot von Hotchkiß enthält Behälter mit Pressluft für die Mannschaft. Es wird, wie das Klein’sche, durch Dampf getrieben.

Im Augenblicke, wo wir Obiges niederschreiben, gelangt die Kunde von der Erfindung zweier neuer Unterseeboote durch die Amerikaner Zalinski und Tachs zu uns. Ersteres wird durch eine Petroleunmmaschine getrieben und schleudert aus einer riesigen Windbüchse mit 100 bis 150 Kilogramm Sprenggelatine gefüllte Geschosse gegen den Feind. Das Tachs’sche Boot aber steht insofern mehr auf der Höhe der Zeit als die vorgenannten Boote, da die Betriebskraft hier Elektricitäts-Akkumulatoren entnommen wird. Dadurch entfällt die Feuerung mit allen ihren Uebelständen, wogegen der Nachtheil mit in den Kauf zu nehmen ist, daß die Elektricitätsquelle nur zu einer Fahrt von 100 Seemeilen ausreicht. Dies dürfte indessen in den meisten Fällen genügen. G. van Muyden.     


Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.
(Fortsetzung.)


Bianca konnte sich nicht besinnen, wie sie aus dem Fiaker, wie sie in den Eisenbahnwagen gekommen war, durch dessen Fenster jetzt ein schwüler Windstoß ihr ins Gesicht blies.

Ein bleiernes Grau wälzte sich über den weiten Himmel herauf und schien immer näher und tiefer zu rücken und zu drücken, als solle die ganze Welt in einen Sack gesteckt werden. Mit eigenthümlich hell klingendem Rasseln und Keuchen hasteten Lokomotive und Zug diesem fahlen farblosen Zwielicht entgegen. Bianca, die doch oft genug auf Eisenbahn gefahren war, meinte nur in bangem Traume je solche garstigen Töne gehört zu haben. Der Waggon stieß hin und her auf den schütternden Geleisen. Jeder Baum, jeder Strauch am Wege, daran sie vorüberflogen, schüttelte und krümmte sich, als jammerte er ihnen zu: Nehmt mich mit, ich fürchte mich hier, denn es giebt ein Unglück! Die Steine auf dem Schotter neben den Schienen waren bei der Schnelligkeit des Zuges nicht mehr wahrzunehmen, sie sahen sich an, wie eine zerfließende graue Masse, wie ein schwindender Boden, den unsichtbare Gewalt den Menschen unter den Füßen wegzieht. Ueber Allem ein schwüler Hauch, der menschliches Empfinden niederdrückte. Und doch war Einem bei dem stoßweisen Anhauche schaurig zu Muth, als frör’ es Einen in den Haarwurzeln. Eine unaussprechliche Angst löste auf Minuten die Empfindung des Ekels in Bianca’s Bewußtsein ab. Sie sah dann Pater Otto in der anderen Wagenecke auf derselben Reihe sitzen. Er hatte den schwarzen Arm in die Wandhalfter gehenkt, die wie eine Schleife der Bequemlichkeit oberhalb des Sitzpolsters angebracht war, und er las ruhig in seinem Brevier, dem kleinen schwarz eingebundenen rothbeschnittenen Büchlein, das er nach mönchischer Weise immer und überall bei sich trug.

Ihr starres Anblicken mocht’ ihn auf einmal im Lesen stören. Er sah auf und sah sie an und sah durch das Fenster hinter ihr.

„Es wird regnen!“ sprach er, „der schöne Tag klingt wild und trübselig aus!“

Es gab Bianca einen Stich, daß der Vetter diesen Tag einen schönen nannte. Stumm brütete sie weiter vor sich hin.

„Otto!“ rief sie plötzlich.

„Was willst Du?“

„Bring’ mich jetzt nicht zum Vater heim! Hörst? Ich könnt’s nicht ertragen. Bring’ mich zur Tant’ nach Gumpoltskirchen. Sie erwartet mich ohnehin!“

Pater Otto sah die Redende mit großen Augen an. „Das hast Du mir ja schon gesagt. Wir fahren ja bereits auf der Südbahn. Was hast Du?“

Bianca lief ein Schaudern über den Rücken. Was ging mit ihr vor? Sie war nicht ohnmächtig gewesen, sie hatte nicht geschlafen, und doch erinnerte sie sich an nichts mehr, weder an das, was in den letzten Stunden mit ihr geschehen war, noch an das, was sie selbst gesprochen hatte. Sie sah nur immer noch das braune Häuschen im Grünen und davor Edgar, der sich tief verbeugt vor dem im Halbkreis wendenden Wagen, dann sah sie nichts mehr als ihre rinnenden Thränen, und jetzt den bleigrauen erdrückenden Himmel und auf dem Gewitterwolkengrunde einen schwarzen Mann mit einem schwarzen Buch in der Hand.

Sie merkte erst jetzt, daß es später Abend sein mußte. Was von Tageslicht noch übrig war, drohte die graue Fläche, die zwischen Himmel und Erde niederwuchs, in der nächsten Minute einzuschlucken.

Da zog ein jäher Blitzstrahl eine rothe Furche quer durch den öden Himmel, und als der Donnerschlag, der ihm folgte, verhallt war, warf es etliche klatschende Tropfen an die geschlossene Fensterscheibe des Wagens, dann noch eine derbere Handvoll, und endlich prasselte der Regen in Strömen gegen das triefende Glas. In das immer gleichmäßig fort sich wiederholende Fauchen der Lokomotive und das Schüttern und Klirren der Schienen dröhnte bald jetzt, bald später, bald mit grauenhaften Schlägen, bald mit dumpfem Rollen die Musik des Orkans. Mit Riesenschritten von den Fackeln der Blitze geleitet, vom pfeifenden Sturm gefolgt, kam die Nacht herauf.

Sie fuhren das Gewitter mitten hindurch und in einen gleichmäßig fadendicht schüttenden Landregen hinein, der alle Weinberge dieses gesegneten Landstriches unter Wasser zu setzen drohte.

Bianca hatte sich schlecht versorgt für solchen Wetterumschlag. Ein dünnes Mäntelchen, das sie vom Handkoffer abschnallte, gewährte nur zum Spott Schutz gegen solchen Wind und Regen. Und es war kaum zu hoffen, daß sich der Himmel aufhellen werde, ehe sie das Ziel ihrer Fahrt erreichten.

Es war doch just so schwül hier innen gewesen. Jetzt fror sie’s auf einmal, wie wenn ein eiskalter Wind durch die Wände pfiff. Durch ein Nebenfenster, das schlecht geschlossen worden, sprühte jäh der Regen über sie hin, und Pater Otto hatte Mühe, weiteren Schaden durch rasches Zugreifen zu verhindern.

Unwillkürlich sah sie, die Regentropfen aus Haar und Gewand streifend, sich nach der guten Wagendecke um, die Edgar zur Vorsicht in seinen Fiaker gelegt hatte. Ach so, die war weit weg! …

Für einen Augenblick trat da ein holdes Bildchen vor ihre Seele. In einem wohlverschlossenen behaglichen Koupé erster [834] Klasse fuhren zwei verliebte Leutchen in die blitzdurchsprühte Nacht hinaus. Der Regen klatschte wohl an die Fenster, der Wind rüttelte wohl an den Thüren, aber drinnen hatten Liebe und Vertrauen alles wohl bereitet. Zwei gute Menschen hielten sich bei den Händen, versprachen sich ewige Treue, und die sich fürs Leben gefunden hatten, gingen nun vereint ihr Glück zu suchen in die weite Welt . . .

So wär’ es gekommen und wie anders war es!

Bianca fror, sie starrte hinaus in die Regennacht und zerrte mit blutlosen Fingern an dem Mäntelchen, das ihr nothdürftig den Rücken deckte.

Ihre Hoffnungen, ihre Träume, ihre einst so stolzen Gedanken sahen aus wie die Gärten an den Stationshäusern, darin jetzt die Beete in schmutzigen Wasserlachen schwammen und alle Blumen geknickt die Köpfe hängen ließen, als wären sie erwürgt.

Wieder schnob und pfiff und klingelte es, und Pater Otto stand auf, mahnte Bianca zur Vorsicht beim Aussteigen und ergriff ihr bischen Habseligkeit.

Also bei stockfinsterer Nacht und strömendem Regen suchten sie lange das Haus der Tante und fanden es endlich, nachdem sie naß bis auf die Knochen mit klebenden Kleidern und triefendem Schuhzeug einem Nachtwächter im Dienst begegnet waren, der sie nach einigen Mißverständnissen auf den rechten Weg ein paar Kilometer weit vor den Flecken hinaus brachte.

Die alte Frau war wegen des verspätete Eintreffens der erwarteten Nichte zwar nicht besorgt gewesen, denn es war nicht das erste Mal, daß sich eine von den Latschenbergerischen Mädeln angekündigt hatte und dann doch ausgeblieben war, als sie aber Bianca nun dennoch mitten in der Nacht und in so durchweichtem Zustand ankommen sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen, jammerte, daß es im Hause schallte, und war nur durch das ernsthafte Zureden des verwandten Priesters dazu zu bringen, mit ihrer Nichte, die sich bei dem schändlichen Wetter leicht eine böse Erkältung zugezogen haben mochte, nicht zu zanken, sondern für heute lieber rücksichtsvoll zu schweigen und sie so eilig als möglich zu Bette zu schicken.

Die Tante, die trotz ihres argen Mundwerks eigentlich doch eine gute Frau war, blies selber noch einmal Feuer an und braute warmen Wein. Bianca mußte ihn im Bette schlürfen, derweilen der Vetter ihn noch in seinen nassen Kleidern trank.

Endlich fand auch dieser in irgend einem Kämmerlein des Hauses eine trockene Lagerstatt, während alles, was er am Leibe gehabt, am Küchenherde trocknen mußte, wenn es bis morgen in menschenmöglichen Zustand gebracht werden sollte.

Draußen schüttete sich der Regen in Strömen nieder, fernab zuckten immer schwächer und schwächer die falbgewordenen Blitze.

So endete der ereignißreichste Tag im Leben der schönen Bianca Scandrini.


„Du verlangst nicht, daß ich mich bei Dir bedanke, obwohl ich zu schätzen weiß, was Du für mich gethan hast. Aber mir ist nach Deiner Rettung so jämmerlich zu Muthe wie nie vorher. Ich glaub’, ich werde recht krank,“ sagte Bianca, da sie am anderen Mittag im Freien stand und all die Strömchen und Flüßchen übersah, die im Weingarten der Tante hastig durch alle Furchen und Erdrisse sich schlängelten und Pater Otto ihr wie zum Troste mit der flachen Hand über den blonden welligen Scheitel fuhr.

Die Sonne stand im Mittag, der Himmel war blau und weiß, und über die frisch gewaschenen Weinberge kam die geläuterte Luft wonnig und erquickend gestrichen.

Aber Bianca sah nicht erquickt, nicht erquicklich aus. Der wohlmeinende Priester selber konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß ihr düsteres Wort Recht behalten und der Sturm, der über ihr Gemüthsleben fegte, nicht ohne schmerzliche Nachwehen werde zu überwinden sein.

Manchmal that es ihm leid, sie aus ihrem seligen Traume gestört zu haben. Dann aber, sagte er sich, wäre das Erwachen einst noch viel verderblicher geworden, wenn er sie hätte ziehen lassen wie eine Nachtwandlerin, die über einen Abgrund zu tänzeln sich anschickt!

Ja, sie that ihm herzlich leid, und er sagte es ihr, und daß er keinen Dank verlange, und daß ja doch noch Alles gut werden könne, wenn anders Master Edgar sie wirklich und mit ganzem, mit redlichem Herzen geliebt hätte.

Es zuckte häßlich über ihre Züge, da er jenen Namen nannte, und sie kehrte sich ab, wie Jemand, der davon nichts mehr hören will. Er folgte der Unwilligen, die, in ein altes Shawltuch ihrer Tante eingewickelt, dem Hause zuschritt.

„Bianca!“ rief er, „willst Du mir nicht die Hand zum Abschied geben? Ich kann Dich so bald nicht wieder heimsuchen, und Du mußt mir doch in die Hand versprechen, keine Dummheiten weiter zu machen!“

Sie zog die Brauen hoch, legte ihre Fingerspitzen in seine dunklere Rechte und sagte achselzuckend: „Was sind Dummheiten!“

„Versprich mir, auf Dich zu achten, auf Deine Mädchenwürde wie auf Deine Gesundheit! Versprich mir, Dich nicht selber fallen zu lassen und am Boden hinzulottern, wie eine verhagelte Rebe, die keine Stütze mehr hat! Versprich mir, nichts zu thun, was Dir Schaden bringt, und nichts zu unterlassen, was Dich aufrichten, was Dich kräftigen kann!“

Sie sah ihn aus redlichen blauen Augen herzergreifend an. „Otto,“ sagte sie, „ich glaub’, ich hab schon was weg. Die schauderhafte Aufregung, von der Du Dir wohl keinen Begriff machst, dann das Gewitter, die Nässe, die Kälte bis auf die Knochen – ich halte sonst schon einen guten Puff aus, aber das war zu viel auf einmal. Mir ist, als wär’ mir etwas in der Kehle. Da! Ich glaub’, ich könnte keinen lauten Ton hervorbringen. Und ich mag’s auch gar nicht versuchen, aus Angst, es könnte so sein, wie ich fürchte. Dabei schüttelt mich der Frost alle drei Minuten.“

„Du fieberst ein wenig. Das ist natürlich nach dem Erlebniß,“ sagte Pater Otto.

Und sie fuhr fort: „Doch empfind’ ich’s wie ein Glück, daß ich, wenn es schon sein muß, hier auf dem Lande krank werde. Nicht in der Florianigasse, wo mich Alles an ihn erinnert, wo mir der Vater, wo mir die Schwestern keinen Vorwurf ersparen. Hier werd’ ich mit Gottes Hilfe auch rascher wieder genesen. Drum sag’ ihnen nichts, denen in der Stadt, ich bitt’ Dich darum, sonst holen sie mich noch hinein. Und schau Dich nach mir um, sobald Du kannst. Und ... Nein, das nicht! Und behüt’ Dich Gott!“

Sie wollte sagen: erkundige Dich auch darnach, wie es ihm geht! Aber sie bracht’ es nicht über die Lippen. Sie wollt’ es nicht sagen, wollt’ es nicht ahnen lassen, daß sie das noch hatte denken können. Sie sah dem Vetter, der ihr freundlich zunickte, mit starren Augen ins Gesicht, bis er sich wandte, und blieb an derselben Stelle stehen, bis er aus ihrer Sehweite war.

„Es wird schon wieder gut werden!“ war das letzte Wort bei seinem Adschiednehmen gewesen. Sie dachte nicht darüber nach, was er meinte, sie war zu müde dazu. Was war aus dem Alles entzückenden Kobold geworden! Das blendende, schon vor dem Auftreten auf der Bühne berühmte Wunderkind Scandrini, das Jedem in der einzigen Kaiserstadt den Kopf verdrehte, wenn es wollte, stand ein armes, fröstelndes, in ein Bauerntuch gehülltes Mamsellerl Latschenberger in einem verregneten Weingarten im Gebirge und wünschte nichts mehr als von einer Krankheit zu genesen, die, wie gestern das Gewitter über die Gegend, so bleiern, so drückend, so beängstigend über das arme Geschöpf heraufzog.

Sie war wirklich krank, recht krank, obgleich sie wenig das Bett hütete und meist auf der Bank vor dem Hause schweigend an der Wand lehnte und sich von der Sonne wärmen ließ. Und sie litt am meisten an dem Theil ihres Körpers, der ihr der kostbarste war, in ihrer Kehle.

Als sie, nach Tagen des Schmerzes und der Sorge wieder einigermaßen erholt, in der würzigen Luft zwischen den Rebstöcken endlich wieder einmal mit einem klingenden Schrei ihre Brust erleichtern wollte, da kannte sie ihre Stimme nicht wieder. Es tönte wohl so hin, hell und laut, aber der Schmelz und der Zauber war weg, mit dem sie sonst alle Herzen im Nu erobert und lachen und weinen gemacht hatte, wie ihr selber ums Herz gewesen war. Die Nachtigallen waren verflogen und verscheucht, die sonst aus ihrer Brust geschluchzt und geschmettert hatten. Kahl, rauh und brüchig klang die Stimme, wie wenn der Schlag, der ihr durchs Herz gegangen, das Gefäß verwundet hätte, das Wohllaut getönt, wann immer man daran gerührt hatte, und das jetzt Zeugniß gab von nichtverwundenem Leide.

[835] Sie suchte schweigend ganz zu genesen. Aber als nach einiger Zeit Pater Otto wieder einmal in den umgeackerten Weingarten nach Gumpoldskirchen kam, sagte Bianca zu ihm: „Denk Dir, ich hab’ meine Stimme verloren! Das ist ein großes Unglück! Ich hab’ meine Dummheiten, meine Landpartie theuer bezahlt! Mit dem Kapital meines ganzen Lebens.“

Pater Otto sagte zwar, sie sollte sich doch so etwas nicht in den Kopf setzen. Das werde sich Alles wieder geben und die Stimme werde sicher und gewiß in alter Schönheit wiederkommen, wenn sie sich nur erst vollends erholt haben werde. Allein in Wahrheit war er doch auf den Tod erschrocken, und Bianca merkte es wohl.

Hätt’ er sie jetzt mit irgend einem schweren Opfer, das in seiner Macht stünde, nach Italien an Edgar’s Seite versetzen können, aber mit der Pracht und Fülle der ihr sonst eigenen Stimme, wer weiß, ob er nicht unbedenklich seine Rettung ungeschehen gemacht hätte.

Aber er sagte wohlweislich nichts davon, mahnte sie nur, ja die Stimme nicht vor der Zeit zu forciren, und nahm sich die Geschichte sehr zu Herzen, weßhalb er ihr nicht nur bald wiederzukommen versprach, sondern dies Versprechen auch, so oft es anging, treulich erfüllte, ihr auch allerhand von Büchern, Noten, Naschwerk und Stadtklatsch aufs Land hinaustrug, damit ihr die Zeit nicht gar zu öde verging, bis das Weinlaub roth ward und man die Trauben las, der kältere Herbstwind übers Gelände pfiff, der Regen gar nicht mehr aufhörte und von den Städtern keiner, der es nicht mußte, länger draußen blieb.

Diese Witterung bei ländlicher Unterkunft und Winzergewohnheiten konnte auch Bianca’s Stimme nicht nützen.

Und so zog sie eines Tages zwischen Herbst und Winter mit ziemlich rothen Wangen und klaren Augen wieder in der Florianigasse ein, die sie seit dem denkwürdigen Verlassen im August nicht wieder betreten hatte.

Das Engagement in Königsberg war bereits versäumt. Eine minder begabte Mitschülerin, deren Nebenbuhlerschaft sie früher niemals ernst genommen hatte, war hingegangen sie zu ersetzen und mußte nach den Berichten in Zeitungen über Erwarten gefallen haben. Bianca lächelte bitter, als sie das las. Was hätte das gute Publikum erst mit ihr angegeben, wenn sie ihre alten Pläne ausgeführt und ihre Stimme vor ihm hätte ertönen lassen! ... Du lieber Gott, wo waren ihre alten Pläne hin! Und ach, wo war ihre Stimme hin!

Von Zeit zu Zeit meinte sie zwar, alle Nachtigallen wären wiedergekehrt, mit alter Kraft und Frische quöllen die Töne aus ihrer Kehle. Dem war auch so. Die Schwestern bekräftigten ihr diese Wahrnehmung, und Pater Otto desgleichen. Und nicht etwa bloß aus Mitleid! Nein! Sie war sich selber ja die strengste Richterin. Glaubte es zu sein.

Aber Kraft und Frische ihrer Stimme hielten nicht mehr vor. Sie konnte nicht wie sonst über sie gebieten. Sie versagten gerade da, wo sie ihrer bedurfte.

In der ersten Freude wiedergewonnener Fähigkeiten war sie feurigen Muthes zu dem Theateragenten gefahren, und dieser hatte ihr, eingedenk des gewaltigen Rufes, der ihr aus der Opernschule voraufgegangen, gleich ein anderes und besseres Engagement angetragen, trotzdem er ein wenig mit ihr schmollte, weil sie das Königsberger Debüt, wie er sagte, hochmüthig ausgeschlagen habe.

Als es aber zum Probesingen kam, merkte Bianca selber gleich nach den ersten Takten, daß ihre Kehle ihren Absichten nicht mehr wie vordem gehorchte, und daß eine solche Stimme, wie sie sie jetzt besaß, den Ansprüchen jener, die sie beurtheilten, nicht genügte.

Geschäftsleute sind nicht allzu rücksichtsvoll, wenn sie sich in hochgespannten Erwartungen auffallend enttäuscht finden. Bianca verschwor sich, nie wieder diesen Mann aufzusuchen, der sich jetzt vielleicht in der Stille beglückwünschte, daß sie sich für Königsberg zu gut gehalten hatte.

Still und betrübt kehrte sie heim und wunderte sich doch, daß sie nicht noch betrübter war über den Zusammenbruch ihrer stolzen künstlerischen Hoffnungen. Aber sie hatte sie nicht erst heute zusammenbrechen sehen, sondern an jenem bösen Tage, da nicht nur diese Hoffnungen in Trümmer gegangen waren. Und ihre liebe Seele war schon so voll von Kümmerniß, daß diese Enttäuschung mehr sie nicht noch viel unglücklicher machen konnte, als sie sich ohnehin schon fühlte.

Manchmal wunderte sie sich zwar darüber und schaute lange forschend in ihr Herz hinein. Hatte sie denn diesen Edgar so sehr geliebt?

Es mußte wohl so sein! Es hatte so leise, hatte so unmerklich begonnen, wie eine kleine Schwäche für den arg verliebten, treu anhänglichen Menschen; mehr aus Eitelkeit und Gutmüthigkeit, aus Modesucht, weil eine bedeutende Sängerin, wie der Komet einen Schweif, eine wimmelnde Bande von schwärmenden Verehrern hinter sich haben mußte. Aber nie hätte sie gezweifelt, daß sie nach Laune, nach Belieben, dies Gefolge, Sperber voran, ablegen und beiseite werfen könnte wie eine Theaterschleppe, die sie im nächsten Akte nicht mehr brauchte, ohne bei dieser Trennung viel mehr zu empfinden, als etwas Dankbarkeit oder höchstens etwas Mitleid mit so einem armen abgedankten Cavalierchen.

Und nun der eine sie verlassen, sie enttäuscht und verlassen hatte, gerade der, an den sich ihr Herz gewöhnt hatte, war sie tief unglücklich, und die Gedanken an ihn verließen sie weder bei Tage noch bei Nacht. Sie verzehrte sich in verschwiegener Leidenschaft, und wie es in ihrem Inneren aussah, das sollte Niemand erfahren!

Eine Zeitlang, draußen auf dem Lande, hatte sie sich eingebildet, er würde doch wiederkommen eines Tages, früher oder später, er würde hören, daß es ihr übel erging, und da würde es ihn treiben nach ihr zu sehen, und sie würden sich aussprechen und wieder verstehen und wieder lieb haben, wie vordem, ach, und noch ein gut Theil mehr!

Er hatte sie ja so innig lieb gehabt. Konnte solche Liebe verrauschen und, eh’ man’s denkt, verblaßt, verflüchtigt sein, wie ein ausgetobtes Gewitter vor dem Wind am Morgen? Er mußte ja nicht weniger nach ihr bangen als sie nach ihm! ... Aber er kam doch nicht und ließ nichts von sich hören. Und er war noch in Wien und machte genug von sich reden. Ja wohl, und es klang nicht gut!

Manchmal dachte sie, wenn sie nun doch eine große Sängerin würde, und ihr gefeierter Name stünde in allen Zeitungen, und die Leute drängten sich, sie zu hören und zu sehen, dann käme wohl auch Edgar ins Theater, und wenn er sie wieder hörte, wieder sähe, dann wolle sie’s ihm schon wieder anthun in seinem Herzen. Das wußte sie gewiß ... Aber die Aussicht, einmal als eine große Sängerin vor allem horchenden Volk zu glänzen, war so kläglich zu Schanden geworden, daß sie selbst die Hoffnung auf Besserung ihres innewohnenden Instruments in eine fernere Zukunft hinausschob, in der sich mit Sperber soviel ereignet haben mochte, daß eine Wiederkehr zu ihr nicht mehr möglich, vielleicht nicht einmal mehr wünschenswerth erschien.

Er trieb’s toll. Sie fragte Niemand nach ihm. Sie schämte sich, und sie wollte ihre närrische Liebe nicht verrathen. Aber man trug ihr auch ungefragt genug zu. Der freilich, der gewiß am meisten von ihm wußte, schwieg. Pater Otto wollt’ ihr nicht wehe thun. Aber dafür fanden beide Schwestern eine eigenthümliche Genugthuung darin, ihr jedes Hörensagen, jede wahre oder falsche Anekdote, die man sich von dem reichen Hamburger Patrizierssohn erzählte, brühheiß vorzusetzen, unverzüglich, sowie sie sie aus den Mäulern der Leute bekommen hatten. Und wie sie sich über alles Böse freuten, was sie wußten oder auch hinzuthaten aus eigener anmuthiger Erfindung!

War das Alles wahr, was die Leute sich erzählten?

Edgar sollte schon vor Monaten, also wohl gleich nach dem Bruch mit Bianca, sich an eine alte Freundin angeschlossen haben, an eine gewisse Philomena, eine sehr auffallende Dame, die keineswegs im allerbesten Rufe stand. Und das intime Verhältniß mit diesem tollen Persönchen, das er rücksichtslos zur Schau stellte, trug nicht dazu bei, ihren oder auch seinen Ruf in besseres Licht zu setzen.

Alle Welt war seiner Streiche voll, und man nannte gewaltige Summen Geldes, die er in kurzer Zeit mit Hilfe seiner neuen alten Freundin anmuthig und brutal zum Fenster hinauswarf.

Bianca weinte bitterlich, so oft ihr derlei zu Ohren kam. Wie lange sollte denn dieser unsinnige Hexensabbat dauern? Edgar war von Haus aus doch eine so vornehme, so saubere Natur. Sie konnte sich diesen wohlerzogenen feinen Menschen, [836] der immer zu ihr wie mit gebundenen Händen, fromm und hingebend, wie zu einem Heiligenbild aufgeblickt hatte, in solcher Gesellschaft nicht vorstellen.

Er hielt es auch nicht lang in dieser Gesellschaft aus. Aber wozu er sich nachher gesellte, war nicht viel mehr Werth. Es war nur ein Wechsel im Gleichen. Er schaffte sich bald diese, bald jene Geliebte an, lauter Leutchen, die ziemlich sichtbar im Vordergrund des öffentlichen Lebens standen. Es war, als könnt’ er mit einer gar nicht soviel verschwenden, als er Willens war, draufgehen zu lassen, und müßte sich ein paar neue Hände zu Hilfe nehmen, wenn die anderen müde wurden, sein Geld auszugeben. Gefallen und Behagen schien er bei Keiner zu finden. Aber zu Bianca kehrte er nicht zurück.

Selbst den lieben Wienern, die es gerne sehen, wenn ein reicher Mann sein Geld mit vollen Händen ausgiebt, und das für standesgemäß erachten, war diese Weise doch zu toll.

Bianca weinte sich aus in der Nacht, wenn sie am Tage widerspruchslos diese Dinge mitangehört hatte, die ihr im Innersten weh thaten. Und doch war bei allem, was sie beklagte, ein Etwas, das ihr zu sagen schien, wo immer Edgar Geld und Zeit und vielleicht Gefühl verzettelte, es sei doch nur auf dem Umwege zu ihr zurück.

Als aber einmal Papa Latschenberger, wie immer zwischen Suppe und Käse, das Neueste auftischte, was sich ganz Wien erzählte, daß nämlich der gewisse Herr von Sperber sich mit einer jungen Opernsängerin zusammengethan habe, die Bianca von ihrer Gesangsschule her gut kannte, ein unreifes keckes Ding, das wenig Talent und wenig Kunstsinn, aber um so mehr das Bedürfniß empfand, auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege übers Theater zum Geld anderer Leute zu gelangen, da warf Bianca von heftiger Bewegung übermannt doch den Stuhl um, auf welchem sie bei Tisch gesessen, und lief in ihre Stube, wo der Flügel offen stand, an dem er so oft gelehnt und ihr gehorcht hatte, und sie ließ ihre Thränen rinnen.

Daß er ihr das anthat, mit einer Bekannten von ihr anzubinden, die nicht werth war, ihr die Stiefeletten auszuziehen, und die nun doch jeden Augenblick sich über sie lustig machen konnte, o, das war schlecht! Daß er mit einer Sängerin, mit einer so untergeordneten Sängerin anzubinden übers Herz gebracht, wo jeder Ton, jedes Gespräch ihn an die erinnern mußte, die er verloren, das ging gegen Zartgefühl und Ehre, das hätte sie nimmer von ihm geglaubt.

Nun kam der Vater ihr nach in seiner breitspurigen Weise, um das Versehen wieder wettzumachen, mit dem er seine Jüngste vom Mittagessen vertrieben. Aber darauf verstand er sich schlecht. Und er wußte nichts Besseres zu sagen, als daß er früher als Andere erkannt habe, was für ein Windbeutel dieser Baron Sperber sei, und daß ihn wenig im Leben mit so hoher Zufriedenheit erfülle, als daß er diesem Kerl die Thür gewiesen zur rechten Zeit.

Bianca dachte ganz anders über diese Leistung väterlichen Scharfsinns und hätte ihn über Wirkungen derselben aufklären können, die nahezu verwirklicht worden wären, wenn nicht der gute Hausgeist Pater Otto –

Aber ehe sich das abgehärmte Mädchen hinreißen ließ, dem Alten Dinge zu sagen, die ihn zur Wuth gebracht hätten, kam zum Glück Pater Otto in leibhaftiger Person zu Besuch und schlichtete den Streit zwischen Vater und Kind, noch ehe dieser zu Wort gediehen war.

Er bat den Onkel, ihm die Mühe zu überlassen, Bianca’s blondes Köpfchen zurecht zu setzen. Mit etlichen Kernsprüchen über die Narrheit der jüngeren Generation und dem gewöhnlichen Fluch über das für die Ausbildung einer so unsicheren Stimme, wie die seiner Bianca geworden, umsonst ausgegebene Geld trollte sich Papa Latschenberger zur verlassenen Mahlzeit zurück und ließ sich schmecken, was er Anderen verleidet hatte.

Bianca, aus Rand und Band, hielt sich heute nicht zurück. Sie sagte mit sprudelnden heißen Worten Alles, was sie von Sperber’s jetzigem Leben gehört hatte und was sie von seiner neuesten Verirrung dachte.

Otto hielt wieder wie sonst, wenn er aufmerksam horchte, das Kinn in der Hand, und als sie fertig war, nickte er nur mit dem Haupt ein wenig und sagte nichts als: „Ja, ja, er muß Dich wahnsinnig lieb haben. Denn die ganze Hatz beweist doch nichts, als daß er Dich über Keiner und ganz und gar nicht vergessen kann. Er betäubt sich wie ein Narr und thut sich selber so weh, als er nur vermag, und weher, als Du verstehst.“

Bianca verstand ihn wirklich nicht gleich. Sie wollte nicht glauben, was sie so gern geglaubt hätte, sie wollte es unter so häßlichen Umständen nicht glauben. Nachdem sie den klugen Priester aber ein Weilchen stumm angeblickt, fragte sie leise: „Hast Du je wieder mit ihm gesprochen?“

„Nein!“ antwortete Pater Otto. „Und es würde das auch weder sich ziemen, noch würd’ es anitzt was helfen. Ein scheu gewordenes Roß, das durchgeht mit solcher Gewalt wie der da, das rennt Dich übern Haufen, wenn Du’s aufhalten willst. Es muß sich überkollern oder zusammengerissen werden, sonst kommt’s nicht zur Ruh. Gott helf, daß es nicht zu viel Schaden dabei nimmt und nachher noch so viel Werth ist wie zuvor … Das kann man vorher nicht wissen. Aber mir scheint, es kommt der Tag noch, da ich mit ihm reden werde. Wart’s ab in Geduld, und tröst’ Dich Gott dabei!“

Der liebe Gott hatte bei Bianca viel zu thun mit Trösten, denn das arme Mädel grämte sich halb zu Schanden, und das Abwarten dauerte lange, lange!

Eines Tages im anderen Jahr brachte der geistliche Herr ihr eine Nachricht, die ihn selbst sehr überrascht, als er sie gehört, obschon er sich etwas dergleichen hatte vorausdenken können. Die Familie in Hamburg mußte denn doch nachgerade finden, daß ein Gebahren, wie das ihres Edgar’s, auch dem tiefsten Faß den Boden auszuschlagen drohte. Es war ganz in der Ordnung, daß ein Erbe James Edward Sperber’s in der Fremde freigebig, ja großartig auftrat, allein zu viel ist überall vom Uebel, und die sich als Narren gebärden, läßt man nicht länger frei in der Welt herumlaufen, wenn sie ihre schöne Zukunft und das stolze Vermögen ihres Hauses ernstlich gefährden. Man bat Edgar in der bestimmtesten Weise, sich unverzüglich in den Schatten des väterlichen Daches zurückziehen zu wollen, und unterstützte seinen guten Willen mit der gemeinverständlichen Maßregel, ihm jede Geldzufuhr abzusperren.

Es hätte solcher Strenge gar nicht bedurft, denn Edgar selber hatte dies Leben satt bis an den Hals und wartete nur irgend eines Anstoßes, der ihn abberiefe von Wien, das ihm unter solchen Umständen durchaus verleidet war.

Er packte sogleich seine Koffer, gab seinen guten Freunden und seiner schlechten Gesellschaft ein Abschiedsdiner und fuhr davon.

Wie es in einer Großstadt Gepflogenheit, redete man acht Tage noch ziemlich viel von ihm, vierzehn Tage noch dann und wann, und einen Monat nachher mußten sich die kundigsten Leute immer erst ein wenig besinnen, wie denn der lebenslustige Hamburger geheißen, der eine Zeit lang mit der Dings und dann mit der Chose und nachher mit der Jsö ziemlich viel habe draufgehen lassen und eine fidele Haut gewesen sei, ja ja.

Nur drei Menschen in Wien bewahrten ihm ein treues Gedenken und redeten viel von ihm: ein unnumerirter Fiaker, ein regulirter Chorherr und ein kleines Mädel, das einen Theil seiner Stimme und sein ganzes Herz verloren hatte.

Daheim ward weder von seiner Rückkunft noch von deren Veranlassung viel Aufhebens gemacht. Es war ja gerade nichts Außerordentliches, daß ein Haussohn ein paar Jahr in der Fremde etwas mehr Geld ausgab, als recht war. Demgemäß ward er auch weniger mit Vorwürfen als mit einer würdevollen Freundlichkeit empfangen. Und da ihn selber davor ekelte, den fruchtlosen Versuch, sich die alte Liebe zu Bianca Scandrini aus dem Sinn zu jagen, in der eben schlecht erprobten Manier auch in der Vaterstadt fortzusetzen, so versuchte er sich in entgegengesetzter Art zu trösten und fing an, sich emsig um die Geschäfte seines Hauses zu bekümmern und sein Leben so streng und ernsthaft zu führen, daß sich James Edward Sperber seinetwegen nicht weiter im Grabe umzudrehen brauchte.

Edgar’s wegen allerdings nicht. Ob aber der Leichnam des gewaltigen Handelsherrn in dieser selben Zeit gerade sehr ruhig gelegen, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist leider, daß gerade damals an der großen Schöpfung, die jener ins Leben gerufen und zum Ruhme seines Namens hinterlassen hatte, schwere Wunden aufbrachen. Es war keineswegs die Schuld seiner allzeit ehrgeizigen und gewissenhaften Nachfolger in der Leitung des

[837]

Der Escorial.
Nach dem Gemälde von Ernst Koerner.

[838] Welthauses, sondern der natürlichen Umstände, der Veränderungen der Weltlage und der allmählichen Entwickelung neuer Handelsbeziehungen, daß sein Königthum in der Südsee bedenklich ins Wanken gerieth und alles, was er gegründet und geschaffen, den Wohlstand und die Bedeutung des alten Hamburger Hauses dazu, mit sich zu Grunde zu richten drohte.

Ein Halbsahr nach seiner Heimkehr hatte der verlorene Sohn ganz andere und tausend Mal größere Sorgen, als er je Einem der Seinen durch seine Wienerischen Abenteuer bereitet hatte.

Kurzlebig sind die Größen in der Handelswelt. Eine glückliche Woge wirft sie in königliche Höhen, ein einziger Sturm versenkt sie in unrettbare Tiefe.

Man versuchte dies, man versuchte das, es wurden gewaltige Anstrengungen gemacht, um ein solches Haus nicht fallen zu lassen, es vergingen weitere neun Monate voll Aufregung, Hoffnung und Enttäuschung, und dann war es Edgar doch kaum mehr zweifelhaft, daß das Verlorene nicht wieder zu gewinnen war.

Sie waren gesunken mit allen Ehren, aber sie waren von einer gewaltigen Höhe sehr empfindlich herabgesunken. Sie waren noch immer sehr anständige, leidlich wohlhabende Handelsleute, aber das Prädikat der königlichen Kaufherren war verwirkt. Was galten diese emsig wieder aufgebürstete Ehrbarkeit und diese fadenscheinige Wohlhabenheit, die jeden in seinen Ausgaben zu peinlicher Sorgfalt verpflichtete, gegen jene fürstliche Macht ihres einstigen Vermögens und den Stolz ihres altbegründeten Bürgerthums, vor welchen jeder echte Sohn Hammonias sich freiwillig beugte, welche die Flaggen ihrer Schiffe über alle Meere wehen ließen und ihnen jeden Wunsch erfüllten, ohne sie viel fragen zu lassen, ob seine Kosten auch zu erschwingen wären.

Es war ein Sommer und Winter ganz anderer Art, den Edgar jetzt im heimathlichen Hamburg durchmachte, als jener, den er im lustigen Wien geliebt und gelebt hatte, recht und schlecht.

Er pflag unter diesen Umständen wenig des Verkehrs. Aus der Kaste der Reichsten geschieden, hatte er diejenige Gesellschaftsabstufung, für welche er nach seinen jetzigen Verhältnissen geeignet erschien, noch nicht gefunden oder sich nicht in sie finden wollen. War ihm doch die Zeit vordem nur allzu gesellig vergangen. Jetzt bedurft’ er der Ruhe, der Einsamkeit, des stillen Gewöhnens an ein neues Leben.

Und weiter bedurft’ er nichts?

Ach, wie so oft saß er im abgeschlossenen Komptoir über den mächtigen Büchern und über Haufen von Briefen aus allen Himmelsgegenden und vergrub das Gesicht in beide flachen Hände und sah nichts von Buchstaben, nichts von Ziffern, sondern nur ein fernes Stübchen in der Florianigasse, darin ein wunderbares blondes Mädchen wohnte, ein Mädchen, das sang und weinte und seiner nicht mehr achtete.

Wie oft sagte er sich da, daß er der Liebe bedurfte, mehr denn je, der echten heiligen Liebe eines braven holdseligen Weibes, das Kummer und Sorgen mit ihm trug, jeden Hoffnungsschimmer auf sein bedrücktes Haupt lenkte und ihm das Herz leichter machte, mit gutem Wort und frohem Lied und süßem Kuß.

Er hätte es haben können, noch im letzten Augenblick, aber der Trotz des Mannes, der Stolz des königlichen Kaufherrn, der Argwohn, verrathen und überlistet zu sein, wo er vertraut und vergöttert hatte, ließen ihn seinem Glück den Rücken kehren und es hinterher verlästern und es in sündhaftem, aberwitzigem Gebahren kränken und sich jeder Rückkehr unwürdig erweisen.

Nun war’s geschehen, und er war weit weg und er saß, ein einsamer, trostbedürftiger, liebesarmer Mann da und suchte seine Thorheiten und den rastlosen Schmerz um den Verlust der Geliebten zu verwinden. Und wenn er die Hände wieder von den Augen nahm und wieder Ziffern und Buchstaben vor sich sah, suchte er auch wieder emsig zu retten, was noch zu retten war, und aus den verkümmerten Bruchtheilen der eingestürzten Herrlichkeit sich mit aller Anstrengung ein bescheidenes Dasein zu zimmern darüber der alte Name, zwar nicht mehr in alter Bedeutung, aber doch ohne Schande sichtbar werden durfte.

Das letztere Bestreben gelang ihm besser als jenes. Denn auch, nachdem die großen Verluste verwunden waren und er sich in sein neues Dasein, in seine reducirte Stellung eingelebt hatte, dachte er in stillen Feierabendstunden mit sehnender Seele an Bianca Scandrini und an das verscherzte Glück in der Josefstadt.

(Fortsetzung folgt.)

Die Nekropolis der spanischen Könige.

Von Schmidt-Weißenfels.

Seit einem halben Jahrhundert wurde kein Sarg über die Schwelle der unterirdischen Gruft getragen, in welcher die Herrscher Spaniens im ewigen Schlafe ruhen. Nun wird sich wiederum die Pforte des düsteren Grabgewölbes öffnen, um den jugendlichen Monarchen Alfons XII., der in der Blüthe seiner Jahre dahinsank, aufzunehmen. Die Hoffnungen, die sich für Spanien an seine Regierung knüpften, sind mit ihm geschwunden nur der Ruhm eines edlen Strebens überlebt ihn, nur die Sympathien, die weit über den Grenzen seines Vaterlandes für ihn gehegt wurden und denen auch wir seinerzeit Ausdruck gaben[1], lassen uns sein Schicksal betrauern und drängen uns zu einer Wanderung an seine letzte Ruhestätte.

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Im 16. Jahrhundert war die „sehr edle, rechtliche und berühmte“ Stadt Madrid, wie sie in den spanischen Chroniken bezeichnet wird, noch eine kleine Festung auf einem Hügel am Manzanares. An Stelle des jetzigen prächtigen Königsschlosses am steilen Abhang dieses Hügels nach dem Flusse ragte der alte, plumpe Burgbau empor, gegen den noch die maurischen Heerscharen ihre Angriffe gerichtet. Statt der öden, wüstenartig kahlen Hochebene, die sich heute von da ringsnm den Blicken bietet, dehnte sich nach dem zackigen Walle des Guadarramagebirges hinauf wenigstens noch weiter, wilder Wald.

In dieser Waldwildniß hoch am Gebirge, zehn Stunden von Madrid, hatte Karl V. eine Stelle bezeichnet, wo er ein Kloster für seine letzten Tage und das Grab für sich und seine Nachkommen aus dem spanischen Throne haben wollte. Er war lebensmüde und sehnte sich, aller Herrlichkeit seiner Weltherrschaft satt, nach stiller, beschaulicher Abgeschiedenheit. Dort sollte sie ihm, wünschte er, werden und el Escorial, die Einöde, sollte die Endstation seines thaten- und lärmvollen Lebens hetzen. Im Jahre 1556 dankte er als König von Spanien und auch als Kaiser von Deutschland ab, und nachdem er seinem Sohn und Nachfolger Philipp II. den Bau der Klostergruft von Escorial ans Herz gelegt, zog er sich zunächst nach San Yuste in Estremadura zurück. Schon nach zwei Jahren starb er daselbst, erst 58 Jahre alt, eben, als man die Baustelle für den Escorial herrichtete.

Philipp hatte in dem ungemessenen Hochmuth und Ehrgeiz, die ihn beseelten, einen großartigen Bau beschlossen. Er sollte seine Residenz bilden, von wo er in unnahbarer Verborgenheit seine Länder regierte; wo er in einsamer, düsterer Majestät, menschenfeindlich und scheu, unsichtbar allen seinen Böllern, ihnen desto furchtbarer erschiene. Inmitten einer Todtenruhe sein Thron, das war ihm das Ideal seiner Herrschaft. Der finstere Tyrann mit dem Sinne eines fanatischen Mönchs hatte den Plan zu diesem Herrschersitze entworfen. Am 10. August 1557 hatten seine Truppen über die Franzosen bei St. Quentin gesiegt. Es war am Festtage des heiligen Laurentius gewesen. So gelobte er, diesem zu Ehren ein Kloster zu bauen, um so mehr, als die spanischen Kanonen eine diesem Heiligen in St. Quentin geweihte Kirche bombardirt hatten. Mit diesem Kloster beschloß er seine Residenz zu verbinden. Der Bau sollte Burg und Kirche, Kloster und Königsgruft werden und in kolossaler Massigkeit und unzerstörbarer Starrheit für Mit- und Nachwelt zum Ausdruck bringen, wie die habsburgisch-spanische Macht und Majestät sich auf dem Fels der Religion erhoben. Das Gebäude sollte seines Gleichen in der Christenheit nicht haben, nicht einmal in der Form. Philipp befahl, ihm die eines Rostes zu geben, weil der Sage nach der fromme Diakonus Laurentius auf einem solchen seinen Märtyrertod in Feuersgluth gefunden.

Jm Jahre 1563 begann der eigentliche Bau, und eifrig wurde er nun betrieben. Ungeheure Summen gab der König dafür her; von den eroberten Ländern in Amerika flossen ja noch die Goldmassen nach Spanien; freilich, um hier in maßloser Verschwendung schnell zu zerrinnen und dann wie eine erstarrende Lava im ganzen Lande nur Wüstenei, Armuth und Noth hervorzubringen. Je höher die Riesenmauern des Escorial sich aus dem Fundamente erhoben, desto lebhafter verfolgte Philipp die Arbeiten daran. Man zeigt noch einen Felsensitz auf dem Gebirge unter dem Schatten von Kastanien, eine Stunde ab vom Gebäude, von wo der König stundenlang auf dasselbe niederschaute. Er wohnte schon darin, ehe es noch im Rohen fertig war. Einundzwanzig Jahre brauchte man dazu; acht Millionen Dukaten waren hier in Granit und Marmor, Bronze und Holz verwandelt worden, und gerade als man die Arbeit für vorläufig beendigt hielt, schlug der Blitz in die Kuppel, schmolz die Glocken und Bleidächer und zerstörte einen Theil der Kirche. Es wurde als die Feuertaufe des Himmels gedeutet, gleichwie Laurentius im Feuer für seinen Glauben gezeugt.

Der Escorial ist ein mächtiges Rechteck, jede Seite 250 Schritte lang; 811 Meter im Umfang, mit 15 Thoren. Auf jeder Ecke erhebt sich ein [839] großer viereckiger Thurm mit spitzem Dache, und diese stellen die vier Füße des umgekehrten Rostes vor. Die Kirche und der königliche Palast bilden auf einer Seite den Griff; die inneren Gebäude, welche in 17 Abtheilungen die beiden längeren Seiten verbinden, sollen die Querstangen der Zarge sein. Davor liegen hier ein paar große Höfe zwischen den hohen Mauern, dort die Gärten.

Der Haupteingang führt unter einer imposanten Vorhalle in die Kirche; die Decke dieser Halle ist flach und ungemein ausgedehnt; man meint, sie müsse ohne Mittelstütze einstürzen. Als man nach ihrer Vollendung den König dahin geleitete, war er erstaunt, hier einen Pfeiler mitten darin zu finden. Er störe den Eindruck, schalt er. Sofort stieß der Baumeister Herrera, der nach Juan Batists von Toledo das Riesenwerk beendigt hatte, mit seinem Fuß den Pfeiler um, der nur als eine Täuschung hingestellt worden war und aus Pappe bestand. Jetzt bewunderte Philipp die frei schwebende Decke über den sechs riesigen dorischen Säulen aus Granit, an deren Sockeln die übergroßen Figuren angebracht sind, die Josaphat, Ezechiel, David, Salomon, Josua und Manasse bedeuten.

Ein hohes, schweres Eisengitter trennt die Halle von der Kirche, welche nach dem ursprünglichen Bramante’schen Plan der Peterskirche in Rom in Form eines griechischen Kreuzes mit einer Mittelkuppel gebaut ist. Die ungeheuren Verhältnisse machen einen feierlichen Eindruck; das Halbdunkel in den drei Flügeln stimmt schwermüthig. Die Fresken Luca Giordano’s an der Decke sind so hoch angebracht, daß man sie nicht betrachten kann. Alles in diesem Raum von fünfzig Metern im Geviert ist schwerfällig, starr, kalt und fröstelt Einen an. Vier Granitpfeiler, schmucklos viereckig, gewaltige Massen, von acht Meter Ausdehnung jede Seite, tragen die Kuppel, die allein hier Licht hinein wirft. Es ist nur ein trübes Licht, ein unheimlich bleiches, welches um diesen grauen Granit schimmert, über die großen grauen und weißen Marmorfelder des Fußbodens schleicht. Todtenstille dabei, durch welche das Flüstern der Besucher wie Geisterrufen hallt, und winzig klein die Menschen, die sich in dieser Riesenhalle bewegen, als sollten sie ihrer irdischen Nichtigkeit sich hier so recht bewußt werden.

Gegenüber dem Eingangsgitter ist der Hochaltar voller Schnitzwerk und Goldzier um das Mittelgemälde und Statuen an den Seiten. Rechts und links von ihm prangen hoch oben zwischen den Säulen der königlichen Oratorien zwei knieende Menschengruppen von Erz in funkelnder Goldhülle. Die eine stellt Karl V. mit der Kaiserin Isabella, seinen Schwestern und Töchtern dar; die andere Philipp II. mit drei seiner Frauen, deren er vier gehabt. Ueber dem Thor der Kirche erhebt sich der Chor mit zwei Reihen schwerer, einfacher Stühle, 124 zusammen, mit einem Betpult in der Mitte des Hintergrundes und zwei der größten Orgeln, die in Spanien existiren. In einer Ecke, ganz abseits, steht der Stuhl Philipp’s II. neben einer Thür, durch welche er wichtige Nachrichten und Briefe empfing, ohne daß die im Chor singenden Priester es bemerkten. Von hier aus konnte er den Kirchenraum mit seinen 24 Altären übersehen. Unweit davon ist ein weißes Marmorkreuz von der Hand Cellini’s. Auf Gestellen liegen die mächtigen, schweren Meßbücher, die den Text der Gesänge enthalten, Folianten von drei Fuß Höhe, deren Pergamentblätter mit großer und bunter Schrift bedeckt sind. Es existiren 218 solcher Bücher hier. Alles ist großartig, in gigantischen Verhältnissen; aber zwischen diesen Granitmassen, in dieser Grabesstille, mischt sich die Bewunderung mit Unbehagen und bedrückt das Gemüth. Es giebt nur eine Stelle in der Kirche, wo die Erkältung des Herzens aufhört und ein wärmerer Pulsschlag es wieder bewegt: in jener Nische nahe dem Hochaltar, wo der junge König, um den jetzt Spanien trauert, sein geliebtes Weib Mercedes in weiß marmornen Sarkophag gebettet hat. Auch hier Grab und Tod; aber sie haben nichts Düsteres. Zeichen der Liebe sind der in ihrer Jugendfülle hinweggerafften Königin geweiht; ein prächtiger Kranz der Königin Victoria von England hängt vor ihrer Gruft unter Glas und Rahmen. In schönem, verklärtem Andenken lebt sie noch fort.

In Verbindung mit der Kirche steht die Sakristei. Sie ist das Prächtigste derselben, ein langer, gewölbter Saal, dessen eine Wand mit feingeschnitzten Holzschränken bekleidet ist, welche die Masse der Meßgewänder und heiligen golddurchwirkten Ornate enthalten. Die andere Wand schmücken Gemälde von Ribera, Giordano, Zurbaran, Tintoretto und anderen bedeutenden Künstlern. Im Hintergrunde erhebt sich der berühmte Santa-Forma-Altar mit dem Wunderwerk von Coello’s Pinsel. Das Bild stellt in lebensgroßen Figuren die Procession dar, welche die Santa-Forma genannte Hostie in diese Sakristei brachte. Man meint, diese Personen leben und werden im Augenblick sich bewegen; dieser Prior, der mit dem Kelche kniet, werde aufstehen, dieser Mönch davon schreiten; der geistesschwache König Karl II., der an der Feierlichkeit theilnahm, das gesenkte Haupt aufrichten. Das Innere der Sakristei ist dabei in so täuschender Weise gemalt, als setze sie sich noch einmal in ihrer ganzen Länge fort. An Jubiläumstagen wird diese kostbare Leinwand aufgehoben und die dahinter befindliche Kapelle mit dem Bronzetempel und der herrlichen Monstranz gezeigt, die übersät ist von zehntausend in Strahlen geordneten Edelsteinen und die heilige Hostie enthält.

Kirche, Sakristei und alle die weitläufigen Nebenräume und Gänge, die dazu gehören, bilden nur ein kleines Mittelstück des grenzenlosen Baues. Er hat Platz für alles Mögliche außerdem. Da ist eine weithin laufende Bildergallerie mit Gemälden aller Schulen; da ist eine der prächtigsten Bibliotheken, deren Schränke mit den seltensten hebräischen, arabischen, lateinischen und griechischen Handschriften, mit den bewunderungswürdigsten Luxuseinbänden alter Folianten, mit fünfzigtausend Büchern der Wissenschaft gefüllt sind und deren Wände den Schmuck von Bildern und Allegorien tragen. Philipp II. gründete sie und schenkte selber ihr viertausend Schriften. Sein Portrait hängt in der Mitte der einen Saalwand in Lebensgröße, eine kleine, feine Gestalt mit einem bleichen Gesicht, aus dem es scheu und krankhaft, finster und brütend, hartsinnig und mißtrauisch blickt. Man steht nachsinnend davor. Man denkt an seinen Don Carlos, den er im Gefängniß sich zu Tode toben ließ; an seinen Henkergeneral Alba, der sich rühmte, 18000 Ketzer in den Niederlanden hingerichtet zu haben; an das Autodafe von Valladolid, dem er selber beiwohnte und wo er den um Gnade Bittenden abweisend antwortete: er trüge eigenhändig Holz herbei, um seinen Sohn zu verbrennen, wäre dieser ein Ketzer. – Diese Steine, diese Mauern, diese endlosen Gemächer des Escorial sprechen immerfort zu dem Besucher von ihm und von seinem Geist, und diese Sprache erregt Grauen.

Dann das Hieronymitenkloster mit seinen vier langen Gewölbehallen wie unterirdische Gänge, leer wie Alles, mit ein paar hundert Zellen, die einst von Mönchen belebt waren und in denen jetzt Todesschweigen wie überall herrscht. Die Schritte widerhallen auf dem Fußboden von Stein. Diese Klosterräume stoßen auf einen der vier Thürme, in dem eine pompöse Treppe mit Fresken an den Wänden und der Decke hinunter in die feuchten, kalten Höfe führt. Immer wieder dieses Großartige einer hochmüthigen Schöpfung, deren Berechtigung sich frohstimmend nicht geltend macht. Je mehr man in sie vordringt, desto mehr verwirren die labyrinthischen Wege durch Korridore, Säle, Gewölbe, Höfe die Uebersicht. Man durchschreitet die Gemächer des Schloßtheils, der ein Viertel des ganzen Escorial bildet. Die Könige haben hier manche Herbstzeit zugebracht und man sieht noch in verschiedenen Zimmern die schöne und reiche Ausstattung, die sie ihnen gegeben. Die Wände sind mit Malereien versehen, welche spanisches Volksleben in allerlei Aeußerungen behandeln: die Stierkämpfe, Tänze, Ferias, Feste, oder Schlachten aus der Araberzeit. Es sieht aus, als habe man die ermüdende Ausdehnung dieser Zimmer- und Säleflucht durch Bemalung der Wände erträglicher, freundlicher und anmuthender gestalten wollen.

Was am meisten Interesse in diesem Theil des Gebäudes erweckt, ist wieder der Raum, in dem Philipp II. gewohnt hat. Im unteren Geschoß liegt ein viereckiges Gemach von geringer Ausdehnung mit nur einem der 1110 Fenster, die der Escorial hat. Die Wände sind weiß, ohne jeglichen Schmuck; einige Holzsessel, die der König benutzt hat; ein Schemel, worauf er sein gichtkrankes Bein legte; ein alter Schreibtisch, ein Krucifix, ein Globus, ein Gebetbuch befinden sich darin, und ein Stück von dem Teppich, mit dem der Fußboden von rothem Ziegelstein belegt war. Es ist eine kahle, ärmliche Mönchszelle, und in ihr hat Philipp zumeist die letzten Jahre seines Lebens zugebracht, einsam, betend und brütend. Er hatte keinen Freund; er wollte und konnte keinen haben, da er in seiner Anmaßung nur gefürchtet zu sein verlangte.

Niemand war um ihn, durfte es sein; wenn Jemand die Erlaubniß erhielt ihm zu nahen, so mußte er auf den Knien zu ihm sprechen; er selber aber ließ nur abgerissene Worte aus seinem Munde fallen, aus denen man seine Befehle errathen mochte Hier zwischen diesen schlichten vier Wänden vertiefte er sich in den Wahn, der größte Monarch der Welt zu sein und bei seinen Völkern in blinder Unterwürfigkeit das freche Denken zum Stillstand gebracht zu haben, während er in ungeheure Schulden gerathen war, von seinen Feinden verachtet wurde und nach zweiundvierzigjähriger Regierung nichts als Fehlschläge und Niederlagen aufzuweisen hatte – ein elender, fluchwürdiger König, der sein Vaterland auf Jahrhunderte in finstere Nacht, in Armuth und Verwilderung gestoßen. Und bei dieser Zelle sind zwei dunkle Alkoven, in deren einem sein Bett stand. Von ihm aus konnte er auf den Hochaltar blicken, welcher dicht nebenan sich befand und wohin eine Thür führte, die beim Messelesen geöffnet wurde. Hier lag er an der Gicht darnieder, und in der furchtbaren Krankheit, die ihn mit unheilbaren Geschwüren voller Würmer heimsuchte; hier, in diesem finsteren Loch, brach endlich am 13. September 1598 das blöde Auge des Siebzigjährigen, der diesen Escorial als ein Wunderwerk der Welt für sich und sein Geschlecht erbaut hatte.

Unten, in den unterirdischen Gewölben ruhen sie Alle, die von diesem Geschlecht gelebt, und ebenso die Mitglieder der nachgefolgten bourbonischen Dynastie, der auch Alfons XII., der jüngst verstorbene König, entstammte. Eine lange Reihe von Kammern, in welche hell das Licht des Tages hineinfällt, birgt in den riesigen Mauern die Gebeine von Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen der zwei Königshäuser, die seit Karl V. auf dem spanischen Thron gesessen, und ihre weißmarmornen Sarkophage, zuweilen mit bildnerischem Schmuck versehen, stehen leer vor ihren Grüften. Eine Granittreppe führt in die Tiefe voller Finsterniß zu einer ehernen Pforte, über welcher in goldener Schrift spanisch zu lesen ist:

 „Allmächtiger, großer Gott!
Dieser Ort ist von der Frömmigkeit der österreichischen Dynastie bestimmt worden, die sterblichen Hüllen der katholischen Könige aufzunehmen, die den ersehnten Tag unter dem Hochaltar erwarten, welcher dem Erlöser der Menschheit geweiht wurde.

Karl V., der durchlauchtigste Kaiser, bezeichnete diesen Platz als letzte Ruhestätte für sich und sein Geschlecht; Philipp II., der weiseste der Könige, erwählte ihn; Philipp III., jener wahrhaft mildthätige Monarch, begann die Arbeiten; der durch seine Herzensgüte, Ausdauer und Gottseligkeit große Philipp IV. erweiterte, verschönerte und beendete das Werk im Jahre des Herrn 1654.“

Es ist das Pantheon, die Königsgruft im Escorial, die wie ein gigantisches Mausoleum nach Art der ägyptischen Pharaonenpyramiden erscheint. Sie befindet sich genau unter dem Hochaltar der Kirche und macht den Eindruck eines unterirdischen Tempels. Der achteckige Raum ist aus dunklem Marmor, in der Mitte der hinteren Wand ist ein Altar mit einer ewigen Lampe; kein Strahl des Lichts dringt sonst dahinein. Wen man dort hingeleitet, dem trägt man eine Fackel voran. Sie wirft ihren Schein auf die goldverzierte Decke, auf die Bronze und Reliefs an den glatten Wänden, auf die Särge von schwarzem Porphyr, die in niedrigen Nischen, vier Reihen über einander, sechs Seiten dieser feierlichen Halle füllen. An jedem dieser Särge steht auf goldener Platte der Name dessen, der darin ruht. Wie sie sich auf dem Thron in der Ordnung gefolgt sind, so sind sie nach einander von oben nach unten in jeder Nischenreihe gebettet. Sie liegen vom Eingang aus zur Linken, während zur Rechten sich die Särge mit denjenigen Königinnen befinden, die Mütter [840] von Thronerben gewesen sind. Zusammen sind hier 26 Särge wie in den Fächern eines mächtigen Schreines aufgestellt, aber rechts wie links giebt es noch einige, die ihres Inhalts warten. – Gewiß war es ein denkwürdiger Moment, als am 4. Dezember 1883 in dieser Gruft der junge König Alfons mit seinem Freunde Fritz von Hohenzollern, dem Kronprinzen des Deutschen Reiches und Preußens, stand. Umgeben von seinem Gefolge ließen sie lange schweigend ihre Blicke über diese Särge mit den Inschriften der spanischen Könige schweifen. Ihr Erbe würdigte es wohl, welche traurige Bedeutung die meisten seiner dort ruhenden Vorfahren für Spanien gehabt und daß ihm die schwierige Aufgabe zugefallen, ihre Sünden wieder gut zu machen. Und wie hätte der deutsche Fürstensohn nicht daran denken sollen, daß einst der Ahnherr dieser Todten, Karl V., auch über Deutschland als dessen Kaiser geherrscht, und daß dieses das Glück seiner Zukunft von ihm, dem Erben der neuen Kaiserwürde, erwarte?

Die Steine sprechen, und die Gräber reden.

Aber was in diesem Escorial spricht und redet, ruft Beklemmung und Unruhe hervor. Ein berühmter Reisender sagte einmal: Wer je einen Tag im Escorial zugebracht hat, muß sich allein bei dem Gedanken, daß er noch zwischen jenen Mauern sein könnte, es aber nicht mehr ist, für das ganze Leben glücklich fühlen. Es ist ein furchtbarer Bau, wie ein Gefängniß für den Geist. Nutzlos steht er da in seiner Massigkeit, welche für die Ewigkeit bestimmt war. Der Blitz hat ihn schon sechs- oder siebenmal als Beute gepackt, Wenn er an der kahlen Gebirgslehne und über die Wüste davor gierig umherzüngelte; immer wieder hat man neu gemacht, was er in Schlag und Flammen zerstörte. Der Könnig Amadeo hat seine Millionen dafür hingegeben; der König Alfons mußte dem Blitz auch seinen Tribut entrichten. Für die Spanier ist der Escorial einmal ein Nationalheiligthum; sie sind stolz auf dieses Werk, das sie das achte Wunder der Welt getauft haben und das ihnen ein König hinterlassen hat, den sie groß nennen, weil er in seiner Zeit dem fanatischen und stolzen Geist des spanischen Volkes einen imposanten Ausdruck verlieh. In seiner Einsamkeit ist der Escorial ein Denkmal dafür.

Gruft Karl’s V. im Escorial.

Die kleine Stadt, die sich im Laufe der Zeit zu seinen Füßen aufgebaut und nach ihm den Namen hat, ist ohne Leben und eine stille Eisenbahnstation. Sie fristet ihr Dasein durch die Versorgung, deren die Besucher des Klosters bedürfen, und durch die Beamten, Geistlichen und Schüler, die dort leben. Denn König Alfons XII. hat dort aus Dankbarkeit für die Erziehung, die er im Wiener Theresianum während der Jahre des Exils seiner Dynastie genossen, eine Anstalt ähnlicher Art auf seine Kosten gegründet. Ihre Zöglinge werden Karabiniers, die Zollwächter Spaniens, Leute, auf deren Treue und Rechtlichkeit man sich besonders will verlassen können. Der Escorial hat einige Lehrsäle für sie hergegeben, während sie in einem besonderen Hause dabei ihre Wohnung haben. Auch von der Gärtnerei für das öde Klosterschloß leben die Bewohner des Orts. Die Gärten desselben sind sehr einfach und durch ihren vornehmen Charakter in Uebereinstimmung mit dem Gebäude. Die umhegten Vierecke stellen in der feinen Zeichnung ihrer Buchsanlagen königliche Wappen vor und gleichenn bestickten Sammtteppichen, auf weißen Sand gelegt. Springbrunnen stehen mitten zwischenn ihnen. Sonst keine Bäume, keine Blumen, keine Lauben darin. Aber wenn man sie nach der stundenlangen Wanderung durch das Labyrinth des Grannitkolosses betritt, begrüßt man sie, wie der Gefangene nach langer Kerkernacht die Freiheit. Gottes Sonne scheint doch vom reinen Himmelsblau hernieder, und ist es auch nichts als kahle Wüstenei, was der Blick weithin über die kastilische Hochebene umfaßt, so fliegt er doch in die Ferne, um sich zu sättigen in seinem Heißhunger nach Licht und Leben, und über die schneebedeckten Höhen des Guadarramagebirgs, um an der träumerischen Einsamkeit der Natur sich zu erquicken.


Blätter und Blüthen.

Lorle. (Mit Illustration S. 829) „Lorle, die Frau Professorin“ gehört bekanntlich zu den schönsten und ergreifendsten Erzählungen Berthold Auerbach’s, und es ist darum ein Verdienst der J. G. Cotta’sche Buchhandlung in Stuttgart, daß sie zum nahen Weihnachtsfeste gerade diese Schöpfung des großen Dorfgeschichtenschreibers in festlichem Gewande hat erscheinen lassen. Nicht weniger als 72 Illustrationen schmücken den stattlichen Band, und daß wir es gleich betonen: solche Illustrationen, die von Meisterhand entworfen sind. Wilhelm Hasemann ist ein Künstler, der dem Erzähler in erfreulichster Weise ebenbürtig ist. Unser Bild auf Seite 829 ist dafür ein Beweis. Lorle tritt, die Schürze voll Gerste, in den Hühnerhof, und die „Fresserle“ – Enten und Hühner – können’s nicht erwarten, bis das „Kröpfle“ voll ist. Nur Einer ist nicht bei der Schaar und beeilt sich auch nicht sonderlich, zu ihr zu kommen, kräht vielmehr erst noch mahnend in die Welt hinein und kommt dann würdevoll langsam näher, „grad wie die Mannsleut, die auch immer auf sich warten lassen, wenn’s Essen auf dem Tisch steht.“ Frisch und lebendig giebt der Künstler diese Hofscene im Bilde. Und dieses Bild ist keine Ausnahme. Möge der Leser sich selbst von dem echt künstlerischen Werthe des Buches überzeugen. Wo der Weihnachtsmann es bescheert, wird es sicher mit Freuden aufgenommen werden. D. Th.     

„Schulröschen“, die fesselnde Erzählung von Rudolf von Gottschall, ist im Verlag von Trewendt in Breslau bereits in zweiter Auflage erschienen. Die Novelle behandelt denselben Stoff, den der Dichter auch zu seinem gleichnamigen Lustspiel verwendet hat.

Der Weihnachtsbüchertisch für die Jugend (vergl. Nr. 49 der „Gartenlaube“) ist noch um einige Gaben reicher geworden. Namentlich zwei Neuheiten aus Theo. Stroefer’s Kunstverlag in München verdienen noch warme Empfehlung: „Ein Jahr in Märchen“ von Emma Laddey, mit 12 Farbendruckkbildern von Heinrich Braun, und „Wer weiß, wie ich heiß?“ von Ferd. Haas, mit 145 Illustrationen von Braun, v. Kramer, Thumann u. A. In dem erstgenannten Buche sind die 12 Monate als Prinzen gedacht, von denen jeder ein entsprechendes Märchen erzählt, wie z. B. der März von der Veilchensee, der November von Nebelgeistern etc. Die Kinderpoesien des zweiten sind ohne Ueberschrift, und der Jugend fällt die fesselnde Aufgabe zu, nach dem alphabetisch geordneten Inhaltsverzeichniß die richtige Ueberschrift herauszufinden.

Für das Uebergangsalter in erster Linie, aber auch für viele Erwachsene nützlich wird ein elegant ausgestattetes Buch von Marie Calm werden: „Die Sitten der guten Gesellschaft“ (Verlag von J. Engelhorn, Stuttgart). Das von Arthur Langhammer trefflich illustrirte Werkchen bietet einen anregenden Führer ins Leben, welcher die zahlreichen „Rathgeber“ für guten Ton und gute Gesellschaft hoch übertrifft. –

Die Sommermärchen von Rudolf Baumbach (Leipzig, A. G. Liebeskind), diese köstlichen Märchendichtungen des Sängers der Spielmannslieder, mit ebenso köstlichen Illustrationen vom Meister Paul Mohn, bilden eines der schönsten Geschenke! Sie sind die hervorragendsten Märchendichtungen, welche seit langen Jahren erschienen sind, und werth, sich einzubürgern in jedes Haus und Herz, bei Jung und Alt!



Inhalt: Edelweißkönig. Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 825. – Zwei Mütterchen. Illustration. S. 825. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Unterseeische Schiffe. Von G. van Muyden. Mit Abbildungen. S. 832. – Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen (Fortsetzung). S. 833. – Die Nekropolis der spanischen Könige. Von Schmidt-Weißenfels. S. 838. Mit Illustrationen S. 837 und 840. – Blätter und Blüthen: Lorle. S. 840. Mit Illustration S. 829. – „Schulröschen“. – Der Weihnachtsbüchertisch für die Jugend. – Für das Uebergangsalter. – Die „Sommermärchen“. S. 840.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Vergl. den Artikels „Der Gastgeber unseres Kronprinzen und sein Heim“ (Jahrg. 1883, S. 779), in dem eine ausführliche Biographie des verstorbenen Königs gegeben wird.