Die Gartenlaube (1885)/Heft 51
[841]
No. 51. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Zwei Weihnachten.
Von Otto Sievers.
Nicht wahr, mein Prinz? Das flackert, blinkt!
Hör’, wie er jauchzt! Schau’, wie er winkt
Und reckt und streckt die Händchen klein!“
So spricht, im Auge des Glückes Schein,
Mein Gatte, schließt mich an die Brust,
Die treue Brust, küßt mir den Mund –
O reiner Liebe begnadeter Bund!
Wie anders einst! Da hab’ ich durchwacht
Vier Jahre sind’s, daß ich aufs Grab
Der Weihnacht Fichte gepflanzet hab’,
Daß mir mit seinen hallenden Klagen
Der Schlag der Glocke das Herz zerschlagen,
Auch von der Mutter das Schicksal geschieden.
Wohl tönen heute vom Thurm die Glocken,
Doch klagen sie nicht, sie jauchzen, frohlocken;
Auch heute Lichter, doch fröhlich ihr Schein,
Auch heute Thränen, doch Thränen der Wonne,
Thauperlen durchleuchtet vom Strahle der Sonne;
Einst Nacht am Tage, nun Tag in der Nacht:
Hell wie der Morgen die Freude lacht.
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Edelweißkönig.
Grollend rollte der Hall des Schusses empor über den Berghang
und brach sich mit dumpfem Widerhall an den finster ragenden Felsen.
Da fuhr auch jener einsame Träumer, der immer noch, seitdem ihn Jörg verlassen, regungslos auf dem Steine saß, empor aus seinen tiefen Gedanken.
„A Schuß? Wer kann jetzt g’schossen haben – mitten in der Nacht? Da muß ’s was ’geben haben!“ raunte er vor sich hin und spähte thalwärts über die dunklen Latschen.
Da sah er über den Höllbach her eine grelle Röthe durch die Bäume leuchten und züngelnde Flammen aufschlagen über die schwarzen Lärchenwipfel.
„Ja lieber Herrgott im Himmel, was kann denn das sein? Um Gotteswillen doch net – ja, ja! dem Gidi sein’ Hütten is’s! Da hat’s an Unglück ’geben! Und er is heroben, er – er und der Gidi! O grundgütiger Herrgott! Laß mich nur g’rad jetzt net z’spät kommen!“
Das waren nicht mehr Gedanken, es waren stammelnde Schreie – und der sie ausstieß, stürzte in rasendem Laufe thalwärts, immer entlang dem jäh abstürzenden Ufer des Höllbachgrabens, der Gefahr nicht achtend, die ihm bei jedem Schritte drohte, oft in mächtigem Sprunge hinwegsetzend über Steinblöcke und wirres Buschwerk. Als er den Steig erreichte und hinweg eilte über den schwankenden Balken, der den Höllbach überbrückte, hörte er schon das Krachen des brennenden Gebälks, das Rauschen der lodernden Flammen und zwischenein das Mark und Bein durchdringende Geheul des Hundes.
So grausig diese Laute seinem Ohre klangen, sie gaben ihm Hoffnung, sie sagten ihm, daß in der Hütte das Leben noch nicht zur Unmöglichkeit geworden wäre.
Nun stand er vor dem brennenden Hause, sah, wie der Rauch in dicken Stößen aus den offenen, eng vergitterten Fenstern quoll, und sah die Flammen empor- und niederlecken über die geschlossene Thür. Wie diese Thür öffnen? Mit verzweifelten Blicken starrte er umher. Kein Balken, kein Pfahl, kein Scheit! Aber dort – dort unter einer Lärche stand der schwere Eichenblock, der als Hackstock diente. Auf den stürzte er zu, riß ihn mit Ueberspannnug aller Kräfte empor und schleuderte ihn wider die glimmende Thür! Krachend flogen die Bretter aus einander und während der Block zurückrollte von der Schwelle, sprang schon der Hund mit heiserem Gewinsel durch die eröffnete Lücke, stand mit hängender Zunge und weit geöffnetem Rachen, schüttelte die Funken von seinem Felle und stürzte aufheulend davon, zwischen den Bäumen verschwindend.
Ein Ruck der kräftigen Arme, die den Block geworfen, und die klaffenden Bretter der Thür flogen vollends zur Seite. Ein röthlich beleuchteter Qualm schlug dem Eindringenden entgegen und trieb ihn für Sekunden wieder zurück über die Schwelle. Unter einem tiefen Athemzuge hob sich seine Brust, dann stürzte er wieder vorwärts, hinein in den von aufzuckender und erlöschender Helle und von dichtem Rauch erfüllten Küchenraum. Da stieß sein Fuß wider eine weiche Masse – „O lieber Herrgott!“ schrie er auf, warf sich nieder auf den gepflasterten Boden und fühlte unter seinen Händen einen wie leblos hingestreckten menschlichen Körper. Den riß er empor an seine Brust und wankte mit ihm ins Freie. Aufathmend stand er stille und starrte in die bleichen, regungslosen Züge – in Luitpolds Gesicht. „Er is’ – er!“ brach es mit dumpfen Lauten von seinen Lippen, und seine Augen hingen wie gebannt an dieser weißen, von der breiten Narbe durchzogenen Stirn. „Aber – der Gidi – o mein Gott, der Gidi!“ fuhr er plötzlich auf, ließ die Last seiner Arme niedergleiten in das Moos und wandte sich wieder der brennenden Hütte zu. Schon stand er auf der Schwelle, da stürzte ein qualmender Pfosten vor ihm nieder, und krachend neigte sich die eine Seite des Gebälkes, dessen Klammern das Feuer schon gebrochen hatte. Aufstöhnend taumelte er zurück. „Aus is – da giebt’s kein Retten nimmer! Armer Kerl – unser Herrgott sei Dir gnädig!“ Mit zitternder Hand bekreuzte er sich und starrte mit nassen Augen in den wüsten, glostenden, rauchenden Haufen. Nun schrak er aus seinem Brüten auf, fuhr sich mit den Händen über die Stirn und eilte zu jenem zurück, den er auf seinen Armen aus Rauch und Flammen getragen. Er warf sich zu ihm nieder, riß ihm die Joppe auf, die Weste und das Hemd, griff nach der Stelle des Herzens – und fühlte unter seinen Fingern ein mattes Pochen.
„Leben thut er noch – leben! Und kein Wasser net da, kein Tröpferl Wasser!“
Rathlos starrte er eine lange Weile um sich, dann sprang er in die Höhe, raffte den Körper des Bewußtlosen empor auf seine Arme und eilte mit seiner Last in keuchendem Laufe dem Steige zu.
Als er den Höllbach überschritten hatte, stand er einen Augenblick stille. „Zur Alm hin brauch’ ich a halbete Stund’, wenn’s gut geht,“ stammelte er, „na – na – ich muß ihn zu mir ’nauf tragen!“
Noch hatte er diese Worte nicht ausgesprochen, da stieg er schon vom Pfade hinweg, empor über den steinigen Berghang, wo ihn bald die dichten Büsche verschlangen.
Er sah nicht mehr den zitternden Fackelschein, der sich auf dem Almensteig hastig einherbewegte durch den Wald, und vor dem Rauschen des Höllbach’s hörte er nicht mehr die ängstlich rufende Mädchenstimme, die zwischen den Bäumen erscholl.
„Da bin ich, Dori – da – da!“
„Ja, Enzi, ich sieh Dich schon!“ klang tiefer aus dem Walde die Antwort des Burschen, der in hastigem Laufe der Dirne folgte. „Was is denn?“
Es muß ’was ’geben haben! Ja – weißt – a Stund kann’s her sein, da bin ich auf amal derwacht, und da is mir’s g’wesen, als hätt’ ich Schritt’ g’hört vor der Hütten –“ daß sie Gidi’s Schritte erkannt und gleich darauf den schönen Edelweißbuschen vor ihrem Fenster gefunden hatte, das verschwieg sie, „– und da hab’ ich nimmer einschlafen können – ja – und auf amal, da hab’ ich an Schaß g’hört! Uad gleich hab’ ich mir ’denkt, da muß ’was net in der Ordnung sein – weißt – ’leicht mit’m Jaager! No – angehn thut er mich freilich nix – der Jaager – aber – a Mensch is er ja doch!“
„Freilich, freilich!“ stotterte Dori und schielte, während er mit der Dirne kaum Schritt zu halten vermochte, nach ihrem blassen, von der Fackel grell beleuchteten Gesichte, dessen Lippen zuckten und zitterten, dessen nasse Augen ängstlich ausspähten in die dunkle Nacht.
„Und drum hat’s mir kein’ Ruh’ nimmer g’lassen, drum hab’ ich mich gleich in d’ Höh’ g’macht und –“
Mit einem kreischenden Aufschrei verstummte Enzi. Irgend ein erschreckendes Etwas war dicht an ihren Röcken vorübergefahren. „Was is denn das jetzt g’wesen?“ stammelte sie und neigte die Fackel zur Erde.
„Da – da – dem Gidi sein Hundl is!“ schrie Dori und deutete dem Thiere nach, das mit gesenkter, suchender Nase über den Steig dahinschoß und nun vom Pfade hinweg sprang zwischen die thalwärts ziehenden Büsche.
„O heilige Mutter! Jetzt is g’wiß! Jetzt is ihm ’was g’schehen!“ schluchzte Enzi auf und fing zu laufen an, daß dem folgenden Dori schier die langen Beine zu kurz wurden.
Nun erreichten sie die Höhe einer Bergrippe, über welche der Steig hinwegführte – und da leuchtete ihnen die helle Röthe des Brandes entgegen.
Enzi stand wie gelähmt und brachte kein Wort hervor. Dori aber schrie: „O du mein Gott – da schau – d’Hütten brennt – dem Gidi sein Hütten!“ Dann riß er der Dirne die Fackel aus der Hand und stürzte davon, in athemlosem Laufe dem Steige folgend. Erst als er vor dem glühenden, rauchenden Trümmerhaufen stand, der einst das schmucke freundliche Häuschen gewesen, erinnerte er sich wieder der Dirne, und da sah er sie plötzlich an seiner Seite, mit todtenblassem, verzerrtem Gesichte, mit starren Augen auf die glostenden Trümmer stierend.
„Enzi – was sagst?“ glitt es mit versagender Stimme von den schreckensbleichen Lippen des Burschen.
[843] Da rüttelte ein Schauer die Gestalt der Dirne. „Na, na,“ schrie sie auf, „wie mag ich denn denken – er – er kann ja net d’rin g’wesen sein, sonst hätt’ er ja net –“
Jählings verstummte sie, und mit schwerer, zitternder Hand auf Dori’s Arm sich stützend, lauschte sie der Tiefe zu.
„Dori – hörst es?“ stieß sie in bebendem Flüstern hervor, „hörst es denn net – da drunten –“
Die Worte erstarben ihr auf den offenen Lippen, den fliegenden Athem verhaltend, lauschte sie vorgereckten Kopfes in die Nacht hinaus – und da war es deutlich zu vernehmen, das klägliche Geheul des Hundes, der seinen Herrn gefunden.
Ehe noch Dori den Gedanken auszudenken vermochte, den jene unheimlichen Laute in ihm wachriefen, war Enzi schon zwischen den Bäumen des thalwärts ziehenden Waldes verschwunden. Da raffte er sich auf und rannte mit hocherhobener Fackel der Richtung zu, welche sie genommen. Wohl vernahm er immer und immer vor sich das Rauschen und Brechen der Büsche und Zweige, und dennoch gelang es ihm nicht, die Dirne einzuholen. Näher und näher klang ihm das Geheul des Hundes – und jetzt durchzitterte ein herzzerreißender Schrei die stille Nacht, und durch die finsteren Bäume hallte Enzi’s jammernde Stimme: „Gidi! Gidi! Mein Bua – mein Herzensbua!“
Keuchend erreichte Dori die Unglücksstelle und stand, in wortlosem Schreck an einen Baum sich lehnend. In seinen Händen zitterte die Fackel, die mit zuckender Helle das traurige Bild übergoß: den Jäger, regungslos ausgestreckt auf der Erde, die Dirne, über ihn hingeworfen in verzweifelndem Schmerze, und den Hund, der winselnd seinem Herrn die Hand des ausgestreckten Armes beleckte.
„Enzi! Enzi!“ stammelte Dori endlich und näherte sich schwankenden Ganges. Da fuhr die Dirne auf und schrie unter krampfhaftem Schluchzen zu ihm empor: „Dort – da schau – jetzt haben s’ ihn mir derschossen – mein’ Bua – mein’ Bua!“ Wieder warf sie sich über den Jäger hin, rüttelte in ihren Händen sein blutiges Haupt, hob es in ihren Schoß – und nun mit einem Male kreischte sie auf: „Jesus Maria – d’ Augen hat er offen – und – und reden möcht’ er – Gidi! Gidi! um tausendgottswillen – mach d’ Augen nimmer zu –“ In Thränen erstickten ihre Worte und mit hoffendem Bangen starrte sie in Gidi’s Gesicht, in welchem die Lider schon wieder geschlossen lagen, indeß ein mattes Lächeln den bleichen Mund umspielte.
Nun fuhr sie auf, und während sie mit dem einen Arme das Haupt des Wunden an ihren Busen drückte, mit dem andern über ihre Augen fuhr, sprudelte es von ihren Lippen: „Na! Na! Ich bin die Richtige! Weinen kann ich – nix als weinen, wo’s Helfen g’scheiter wär’! Weiter, Dori, weiter – steck ’s Licht in Boden und her zu mir!“
„Ja, Enzi, ja!“ stammelte der Bursche und stieß die Kienfackel in den moosigen Grund; dann richtete er sich lauschend auf.
„Enzi – mir is, als höret ich Leut’ im Wald!“
„Leut’! Die schickt mir der liebe Herrgott, der dengerst an Einsehn hat!“ Und mit hallender Stimme rief Enzi in den Wald hinein: „Ho! Ho! Leut’! da her! da her!“
„Ho! Ho!“ scholl es von verschiedenen Seiten, und dunkle Gestalten tauchten unter den Bäumen auf. Es waren die Holzknechte, die in der Holzerhütte auf dem Höllbergschlage hausten. Sie hatten den Schuß gehört, die Röthe des Brandes gewahrt, waren herbeigeeilt und hatten die jammernde Stimme der Dirne vernommen. Da wußte nun jeder einen Rath, und es schien ihnen das Klügste, den Jäger hinunter in das Schloß zu tragen.
„Nix da! Nix da!“ fuhr Enzi mit fliegenden Worten auf, während ihr noch immer Thräne um Thräne über die Wangen rollte. „Dritthalb Stund’ ins Ort! Seid’s denn verrückt? Zu mir in mein’ Hütten kommt er ’nauf. Weiter, Dori, da her, Du haltst mir mein armen Buaben. Du Hies, rennst nunter ins Ort um an Doktor! Weiter! Weiter! Du, Sepp, springst ’nauf in mein’ Hütten, kendst a Feuer an, stellst Milli und Wasser dazu – und da hast den Schlüssel zu meiner Truchen, da nimmst Dir a meinig’s Pfaid und schneidst es in handsame Streifen! Mach weiter! Geh! Geh! Und Du und Du – ihr zwei machts aus Stecken a Bahr z’samm! Und Du Lenzei, Du hilfst mir Daxen reißen zum Drauflegen!“
Einen Blick noch warf sie in Gidi’s stilles Gesicht, dann legte sie sein Haupt in Dori’s Arme, sprang auf und eilte auf die nächste Tanne zu, die Hände schon nach einem der buschigen Zweige streckend. Sie zog und zerrte die Aeste nieder, daß es nur so krachte durch den Wald, daß die rauhen Rinden ihr die Hände blutig rissen, und daß ihr der Schweiß in dicken Perlen von der Stirne tropfte. Ihr Muth und Eifer feuerte auch die Männer an. Eine Hand kam der andern zu Hilfe – und ehe noch wenige Minuten vergangen waren, konnten sie schon den Wunden auf die fertige, weiche Bahre legen. Dann hoben sie die Stangen auf ihre Schultern – drei Holzknechte und Enzi. Dori leuchtete ihnen mit der Fackel voran, und ihm zur Seite trippelte der Hund, der immer wieder stehen blieb und winselnd aufblickte zu der stillen Last, die da getragen wurde.
Auf dem Lager, auf welchem eine Nacht zuvor noch Veverl in stillen Träumen geschlummert hatte, lag Luitpold ausgestreckt. Naß klebten ihm die Haare an Stirn und Schläfen, und die entblößte Brust war feucht und dunkel geröthet. Jetzt rann ein Zittern durch seinen Körper, und ein fiebernder Athemzug rührte seine Lippen.
Da richtete sich jener, der vor ihm kniete, hastig empor und warf die nassen Tücher, die er in Händen hielt, zur Erde. „Er darf mich net sehen, wenn er d’ Augen aufmacht – er müßt’ ja z’viel derschrecken,“ flüsterte er, „aber – aber – merken soll er mich!“
Hastig eilte er der Felsennische zu, in welcher das Krucifix angebracht war, und kehrte mit einem zerknitterten Blatte zurück. Das schob er auf den Holzstuhl, darauf ein kleines Medaillon mit einem fadendünnen goldenen Kettchen lag. Und nun verschwand er lautlos aus der Höhle.
Luitpold rührte die Arme, griff mit den Händen nach der schwellenden Brust und öffnete die Augen. Da traf sein erster Blick die flackernde Helle der Fackel. „Feuer – das Feuer!“ stöhnte er unter grausendem Erschauern und fuhr in die Höhe. Doch ehe noch seine Füße den felsigen Boden berührten, gewann er das klare Bewußtsein der gefahrlosen Lage, in der er sich befand. Mit staunenden Augen überflog er seine seltsame Umgebung und starrte in den harmlosen Glanz der stillen Fackelflamme. Und wieder schauerte er in sich zusammen, als bei diesem Leuchten und Flackern die Erinnerung an jene fürchterlichen Minuten in ihm auftauchte. Er fühlte sich wieder erwachen, hörte seine müde Stimme, mit der er den knurrenden Hund zur Ruhe verwiesen, hörte das Knistern, das er im wieder beginnenden Halbschlaf für das Knistern der Herdflamme gehalten, und empfand aufs neue den stechenden Druck auf der Brust, mit dem er plötzlich aus qualvollen Träumen aufgefahren. Wieder hörte er das Winseln und Scharren des Hundes und sah sich aufspringen vom Lager und durch die raucherfüllte Stube der Thür zustürzen. Alles, alles lebte wieder in ihm auf: wie er vergebens nach Gidi rief, wie er den Herd ohne Feuer und doch alle Räume erfüllt sah von stickendem Dunst und Qualm, wie er die fürchterliche Gefahr erkannte und die Thür von außen verschlossen fand, wie er an allen Fenstern die Scheiben aufriß, die Läden aufstieß, zerrte und rüttelte an den starren Eisenstäben der engen Vergitterung, über welche die Flammen schon emporzuzüngeln begannen, wie er, halb schon betäubt von Rauch und Dunst und umkreist von dem angstvoll heulenden Hunde, die Thür zu erbrechen sich mühte und – und –
Und nun – nun! Wer hatte ihn gerettet aus Rauch und Flammen? Wer hatte ihn hierher in diese bewohnte Höhle gebracht? Wer hatte ihn zurückgerufen ins Leben? Wer hatte –
Da traf sein Blick den goldenen Schmuck auf dem Stuhle. Hastig griff er danach, hielt ihn in zitternden Händen und betrachtete das winzige Pastell, dieses schöne, zarte Mädchenantlitz mit den unergründlich tiefen Augen.
Aufathmend starrte er wieder um sich. Wo waren die Hände, die ihm während der Belebungsversuche diesen theuren Schmuck vom Halse genommen? Still und leer der ganze Raum! Seufzend schüttelte Luitpold den Kopf, unwillkürlich kehrten seine Blicke wieder zurück zum Stuhle. Er sah das Blatt, gewahrte die zierlichen und dennoch so festen Schriftzüge, mit denen es bedeckt war, griff danach, führte es näher vor die Augen und fuhr in stammelnden Worten auf: „Dieses – dieses Blatt! Ja seh’ ich denn recht? Ja, ja, es sind ihre Züge! Wie kommt dieses Blatt hierher?“ Mit nickendem Kopfe und fliegenden Augen begann er zu lesen: „Mein lieber, lieber Bruder! Ich weiß, Du hast Deine Johanna lieb, und Du wirst es ihr vergeben, wenn sie Dir Schmerz bereitet. Aber nun muß geschehen, was
[844][845] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [846] seit Tag und Tag schon hätte geschehen sollen. Ich gehe aus dem Leben mit Gedanken und Wünschen der Liebe für jenen, der mein Alles war, dem auch Du von Herzen gut bist. Und nun grüße mir die Marianna, grüße mir meinen Jörg, sag ihm, daß ich ihm danke für all seine Güte und Liebe. Es wird ihn tief in das Herz treffen, ich weiß es, aber ich kann nicht anders! Sag ihm, daß ich glücklich war. Und Dich, mein liebster Bruder, Dich küsse ich tausendmal. Wir alle, alle werden uns wiedersehen, dort, wo alle Menschen gleich sind, wo keine Schranke zwischen Liebe und Liebe steht. Und nun den letzten Gruß Deiner im Tode glücklichen – Johanna!“
Lange, lange schon hatte Luitpold gelesen, und immer noch hingen seine Augen an dem Blatte.
„Das hat sie geschrieben – ihrem jüngeren Bruder – an jenem unglückseligen Morgen!“ glitt es mit leisen, stockenden Worten von seinen Lippen. „Aber dieses Blatt – wie kommt es hierher, so augenscheinlich mit Absicht gerade hierher auf diesen Stuhl? Das sieht sich an – wie eine Mahnung! Von wem aber kann sie kommen? Es kann nur Einer noch von diesem Blatte wissen, da Jener, an den es gerichtet war –“ Vor sich niederstarrend verstummte er, dann wieder fuhr er auf und streifte die zitternde Hand über die Stirn. „Nein, nein! Ich fühl’ es! Ich bin krank! Denn mit gesunden Sinnen denkt man nicht, daß möglich wäre, was unmöglich ist. Die Todten stehen nicht wieder auf –“
Da erstarben ihm die Worte, mit einem gurgelnden Aufschrei sprang er in die Höhe, aber die Kniee wollten ihm brechen, und so sank er wieder zurück auf das Lager, die irren Blicke nach dem blassen Gesichte Dessen gerichtet, der mit einem Male vor ihm stand, regungslos, mit hängenden Armen, mit herb geschlossenen Lippen, mit Attgen, aus denen Scheu und Vorwurf sprachen.
„Du? Du? Du?“ rang es sich endlich mit bebenden Lauten von Luitpold’s Lippen.
„Ja, Luitpold, ich bin’s! Ich, der Ferdl!“
„Und Du – Du lebst!“
„Leben! Ja, leben thu’ ich! Aber wie – da drum frag’ mich lieber net.“
„Darf ich es denn glauben? Haben mich denn Alle, Alle genarrt? Hat mich denn alle Welt betrogen?“
„Keiner, Luitpold, Keiner kann mehr sagen, als er weiß. Außer mei’m Jörgenbruder und der Mariann’ bist Du der erste Mensch, der erfahrt, daß der Ferdl net im Höllbachgraben liegt.“
„Und Du bist es, dem ich mein Leben danke? Du warst es, der mich gerettet?“
„Ja, Luitpold, ich bin’s g’wesen! Und wenn ich das net anders sagen kann, als mit heller Freud’ in jedem Wörtl, so mußt net glauben, daß ich mir ’was einbild’ auf mein Zugreifen im rechten Augenblick. Ah na! Was ich z’wegen ’bracht hab’, das hätt’ jeder Andere g’rad so g’macht, den a Zufall dahin g’führt hätt’, wo a g’schwinde Hand vonnöthen war. Wann ich mit Freuden sag’: ich bin’s g’wesen – so g’schieht’s bloß deßwegen, weil ich in ei’m Schnaufer dazu sagen kann: die heutige Nacht für denselbigen Tag, und so sind wir wett mit anander, Du und ich – wann auch g’rad vor uns Zwei allein und ’leicht auch noch vor unserem Herrgott, wann er’s gelten laßt, daß sich ’s Blut im Feuer wascht.
„Nein, Ferdinand, nein, nein! So rede nicht. Was an jenem unheilvollen Tage von Deiner Hand geschah, darfst Du nicht auf Dein Herz nehmen als eine Schuld –“
Es war a Schuld! A schwere, schwere Schuld!“ fuhr Ferdl mit dumpfen Worten auf. „Wann ich Dir’s aber nur sagen könnt’, Luitpold – wann ich Dir’s nur sagen könnt’, was in mir drin g’wesen is, wie ich mein’ liebe, arme Hanni so daliegen hab’ sehen vor mir –“
„Wem sagst Du das? Wer in der Welt sollte besser verstehen als ich, was jener grausame Anblick in Dir erwecken mußte? Und wer sollte besser wissen, wie werth Johanna der Liebe war, mit welcher Du und Dein Bruder an ihr gehangen? O – es hätte dieses Todes nicht bedurft, um mich erkennen zu lassen, was sie mir galt und was ich an ihr verlor. Wir gehörten uns an vor Gott – und in seliger Hoffnung sah ich schon der Zeit entgegen, in der wir uns auch angehören sollten vor den Menschen. An jenem unheilvollen Morgen war es, da hab’ ich mit meiner Mutter gesprochen, und mit Freuden hat sie mir das Ja gesagt. War ihr doch Johanna längst schon wie eine Tochter, unserem Namen ebenbürtig durch den Adel ihres Herzens und ihrer Seele! Doch als ich Johanna suchte, um ihr die freudige Botschaft zu bringen, hatte sie das Haus verlassen. Eine jähe Angst befiel mich, als ich auf ihrem Pulte einen Brief mit meinem Namen fand. Doch als ich gelesen hatte, war alle Angst und Sorge verschwunden. In Worten von herzberauschender Innigkeit sprach sie zu mir in diesen Zeilen von ihrer tiefen, unverbrüchlichen Liebe. Sie wüßte, welch eine starre Schranke den Edelmann von dem Kinde des Dorfes schiede. Und so wollte sie mir den Kampf zwischen Pflicht und Liebe ersparen. Es stand in diesen Zeilen kein Wort, das nur die leiseste Ahnung ihres fürchterlichen Entschlusses in mir hätte erwecken können. Wohl sprach sie vom Gehen, von einem Abschied für immer und ewig – aber ich dachte dabei nichts Anderes, als daß sie zurückgekehrt wäre in ihre Heimath. In fliegender Eile rüstete ich mich zur Reise, ich wollte ihr folgen und war schon auf der Schwelle meines Zimmers – da standest plötzlich Du vor mir – und als ich Deine wie im Wahnsinn glühenden Augen sah, Deine schmerzverzerrten Züge, da zuckte jählings die entsetzliche Ahnung in mir auf – o, ich war von Deinen Worten schon zu Tode getroffen, noch ehe Deine Hand sich wider meine Stirn hob.“
Erschauernd in Schmerz und Weh bedeckte Luitpold das Gesicht mit beiden Händen. Die Kniee begannen ihm zu zittern, und er drohte niederzustürzen vor Schwäche und Erschöpfung.
„Luitpold! Luitpold!“ schluchzte Ferdl, sprang auf ihn zu und fing ihn auf in seinen Armen.
Lange saßen sie wortlos Seite an Seite auf dem Lager.
„Na! Na! Errathen hätt’ ich’s doch müssen, wie Alles is und war!“ brach Ferdl endlich mit bebenden Worten das bange Schweigen. „Aber wie ich selbigsmal der Hanni ihren Brief g’lesen hab’, da hat mich der Gram völlig blind g’macht. Später ’naus freilich, wie ich hundert und hundertmal den Brief wieder g’lesen hab’, da hab’ ich mir oft denken müssen, alles wär’ anders, als ich g’meint hab! Und wie ich jetzt bei Dir das Kapserl g’funden hab’ – mit der Hanni ihrem lieben Bildl, da hab’ ich mir gleich g’sagt, daß Du kein ungut’s G’wissen haben kannst – sonst thätst doch so a Mahnung an Dein’ Schuld net noch an der Ketten um Dein’ Hals ’rum tragen. Freilich, freilich – da schaut sich mein Schuld jetzt noch hundertmal ärger an. Aber kannst mir’s glauben – woltern hab’ ich ’büßt dafür! Wie ich den fürchtigen Sprung über’n Höllbach gewagt hab’, und wie’s mich niederg’rissen hat über’s gache G’schröff, da hat sich ’s Sterben für mich schier ang’schaut wie an Erlösung. Den ersten Auffall hab’ ich noch g’spürt, und wie’s mich hin und wider wirft von einer Platten zur anderen, nachher is mir d’ B’sinnung g’schwunden, und ich weiß nix mehr von mir bis zu dem Augenblick, wo ich auf amal wieder derwach’ und g’spür, daß ich auf festem Boden lieg’, tropfnaß am ganzen Leib, schier starr vor Kälten, und daß ’s Wasser wegrauscht über meine Füß’. Kaum hab’ ich mich aufheben können, wie derschlagen war Alles in mir, und dengerst hab’ ich nach a paar Stund’ meine Arm’ und Füß’ ganz richtig brauchen können. Und so bin ich dag’sessen, Stund’ um Stund’, unter mir der wilde Höllbach, über mir a G’wänd und G’stein, wo einer fliegen hätt’ können müssen, wann er ’nauf hätt’ mögen in d’ Höh! Schon hab’ ich drüber nachsinniert, wie man sich ’s Derhungern leichter machen könnt’, da vermerk’ ich auf amal, daß an dem Platzl, wo ich g’legen bin, a G’höhl in Berg ’nein geht. Da hab ich mich aufg’macht, hab’ mich weiter’tappt und weiter in der Finstern, von ei’m G’höhl bin ich ins ander’ ’kommen – und ninderst, ninderst hab’ ich an Ausweg g’funden. Und es muß doch einer da sein, hab’ ich mir allweil g’sagt, weil ich überall und überall an frischen Zugluft g’spürt hab’. Und so hab’ ich net aus’lassen mit’m Suchen – aber wer weiß, ob ich ’nausg’funden hätt’, wann ich net in ei’m schmalen Felsengang, grad wie ich schon wieder umkehren hab’ wollen, a Fledermaus hätt’ aufflattern hören. Das Thierl is mein Engel g’wesen! Mit aller G’walt hab’ ich mich durchg’arbeit’ durch’s G’stein – und auf amal, da hab’ ich d’ Lichten schimmern sehen – und nachher bin ich draußen g’standen unter der lieben Sonn’, z’mittelst d’rin in die dicksten Latschen.“
Aufseufzend verstummte er und starrte, in Erinnerung versunken, vor sich nieder.
[847] „In die Latschen hab’ ich d’ Nacht derwart’,“ fuhr er nach einer Weile mit ruhigerer Stimme fort, „nachher bin ich ’nunter ins Ort – und wie ich mei’m Jörgenbruder sein’ Freud’ und sein’ Jubel g’sehn hab’, da is mir mein Leben dengert auch wieder werth worden. Ich hab’ ihm verzählt, wie Alles zu’gangen is, hab’ ihm verzählt von dem fürchtigen G’höhl, das ich im Berg drin g’funden hab’ – und da hat er g’sagt: ,Ferdl! Wo Dich unser Herrgott hing’führt hat, da bleibst! D’Leut’ reden von Dir wie von ei’m Todten, kein Mensch mehr fragt Dir nach – und da kannst jetzt bleiben, so lang’, bis alles verraucht und vergessen is. Was nachher weiter g’schehen soll, das wird sich schon finden mit der Zeit!‘ Und – so bin ich halt ’blieben. Acht Tag’ is der Jörg heroben g’wesen bei mir und hat mir arbeiten g’holfen, den Höhlboden von die Steiner säubern und den Zugang weiter machen, damit man leichter beischaffen könnt’, was nöthig war. Draußt vor’m Ausgang haben wir an mannshohen Steinblock über Walzen g’legt, so daß er mit ei’m leichten Drucker schon auf d’ Seiten ’gangen is – g’rad wie a Thür! Sein’ ganze Sennhütten hat der Jörg nachher ausg’räumt, damit er mir ’s Hausen daherinn a bißl leichter macht – und mit allem hat er mich versorgt, was ich ’braucht hab’ zum Leben und zum Zeitvertreib. Und von da an is der Tag mein’ Nacht g’wesen, und d’ Nacht mein Tag – eh’ net d’ Stern’ am Himmel g’standen sind, hab’ ich mich ja nie net ’rauswagen dürfen aus’m Berg. A paar a drei Wochen hab’ ich’s gern derlitten – aber nachher – nachher is mir mein g’storbenes Leben härter und härter an’kommen mit jedem Tag. Bei all dem Sinnieren in meiner Einschicht’ is mir mein Herz und mein G’wissen so steinschwer ’worden – und wenn ich auch um Deinetwegen, Luitpold, a bißl leichter ’denkt hab’, wie mir’s durch mein’ Jörg bekannt worden is, daß’s besser geht mit Dir, so hat mich doch mein’ andere Schuld, wo ich in der Verzweiflung so mitverübt hab’, ohne dran z’denken, schwerer und schwerer ’druckt in mei’m Stolz und in meiner Ehr’. Ich bin ja Soldat g’wesen mit Leib und Seel’ – und ich hab’s auch bewiesen, wie’s golten hat, drin in Frankreich – und ich, der ich so stolz g’wesen bin auf meine zwei Kreuzln und auf mei’m lieben König sein farbigs Tuch, ich hab’ mein’ Fahn’ verlassen und hab’s selber g’macht wie Einer, vor dem ich amal ausg’spieen hab’ in Abscheu und Verachtung.“
Aufstöhnend drückte Ferdl die zitternden Fäuste über die Augen, aus denen ihm die dicken Thränen niederrollten über die blassen Wangen.
„G’wiß wahr! Hundertmal für einmal hab’ ich mir g’sagt: „Ferdl, geh’ hin, stell’ Dich wieder beim Regiment, thu’s, thu’s und frag’ net, was darnach kommt – aber wann ich mei’m Jörgenbruder in die traurigen Augen g’schaut hab’, war’s wieder aus und gar mit all’ mei’m Muth! Bald aber hat sich ’s Blattl g’wendt. Da hab’ ich am Bleiben halten müssen – und er hat ’trieben, daß ich jetzt bald fort sollt’ über d’ Grenz’! Ich hab’ eben g’merkt, mit was für Gedanken als er sich tragt. Sein’ Finkenhof will er verkaufen – sein’ Finkenhof! wo schon seit hundert und hundert Jahr’ allweil nach’m Vater der Sohn g’haust hat – und mir z’lieb will er’s thun, damit er mit mir und seine Leut’ fortziehen könnt’ – fort ins Amerika. Aber ehnder ich so ’was zulass’, lieber verbring’ ich mein ganz’ Leben daherin im Berg, wenn auch gleich seit die letzten Tag’ was über mich ’kommen is, was mich mit doppelter G’walt ’nauszieht ins Licht und unter d’ Menschen!“
„Und Du wirst zurückkehren zu den Menschen – zu jenen, die Dir lieb sind!“ fiel Luitpold mit bewegten Worten ein. „Eines ist schon geschehen, um Dir diese Rückkehr zu erleichtern. Alle, die Dich um meinetwillen anklagten, glauben heute, daß Dich nur Entsetzen und falsche Furcht zur Flucht getrieben, nicht das Gefühl der Schuld.“
„Ich weiß, was D’ sagen willst. Heut’ in der Nacht noch is der Jörg bei mir g’wesen, und – – aber so ’was därf ich net zulassen –“
„Auch nicht, wenn ich Dein Schweigen fordern würde – bei dem Angedenken an unsere Johanna? Wo kein Kläger ist, Ferdinand, da wird auch kein Richter sein. Hast Du nicht selbst gesagt, daß wir wett sind, wir Beide unter einander? Es wäre ja auch nie so weit gekommen, wär’ ich nicht durch Tage und Wochen schwerkrank darniedergelegen – nicht durch die Wunde auf meiner Stirne – durch die Wunde in meinem Herzen. Und als das Fieber in mir erlosch und die Besserung begann, haben sie mir Deinen vermeintlichen Tod verheimlicht, um meine zögernde Genesung nicht aufs Neue zu gefährden. Da auch Niemand kam, um eine Aussage von mir zu begehren, dachte ich nichts Anderes, als daß wir Beide allein, nur Du und ich, von jener Begegnung auf der Schwelle meines Zimmers wüßten. Man glaubt ja, was man hofft – selbst wenn sich die Hoffnung an die Unmöglichkeit und an den Widersinn klammert. In der trübsinnigen Schwermuth, in der ich in meinem Schmerze um Johanna die Tage auf dem Krankenlager verbrachte, war ich ja auch nicht fähig zu ruhigem und klarem Denken. Dann führte mich meine Mutter auf den Rath der Aerzte nach dem Süden – und erst vor wenigen Tagen bin ich zurückgekehrt. Es drängte mich, Dich aufzusuchen, mich mit Dir auszusprechen – ich ging zu Deinem Regimente, um Deinen jetzigen Aufenthalt zu erfragen – und da starrten sie mich an wie einen Wahnsinnigen – und nun erst hab’ ich erfahren, was Alle, Alle in meinem Hause vor mir verschwiegen. Mein erstes Gefühl bei dieser erschütternden Nachricht hat nur die Worte auf die Zunge getrieben, die Dich frei sprachen von aller um meinetwillen Dir aufgebürdeten Schuld. Und jetzt – und jetzt!“ In überwallender Bewegung faßte er Ferdl’s beide Hände und schaute ihm mit einem freudig glänzenden Blicke in die bangen Augen. „Wie dank’ ich es meinem Herzen, daß es mich hieher getrieben! Jetzt kann Alles, Alles noch gut werden, was noch gut zu machen ist. Was Du als Soldat gethan – freilich – es ist ein Vergehen, und Du wirst die Strafe auf Dich nehmen müssen, die sie Dir zuerkennen Werden, – aber ich hoffe, sie wird nicht eine allzu strenge sein. Ich habe mächtige Freunde, ich will ihren ganzen Einfluß für Dich geltend machen – und – die beste Fürsprache hast Du an der guten, ehrenvollen Erinnerung, in der Du um Deiner früheren Führung willen bei den Officieren Deines Regimentes stehst. Und jetzt –“ vom Lager aufspringend löste er seine Hände aus denen Ferdl’s, um in nachlässiger Hast sein Gewand zu ordnen, „jetzt führe mich, Ferdinand, laß mich gehen, es drängt mich, bald zu thun, was ich zu thun vermag. Und Du versprich mir, nichts zu unternehmen, nicht von hier zu gehen, eh’ ich Dir nicht Nachricht sende oder eh’ ich Dich nicht selbst von hier forthole. Komm’ – komm’ – laß uns gehen! Es drängt mich ja auch, den Gidi, den guten Burschen, von der Sorge zu befreien, die er wohl um mich fühlen mag, da er ja glauben muß –“
„Der Gidi – der Gidi war net in der Hütten?“ schrie Ferdl freudig auf.
„Nein – ich habe sein Lager leer gesehen – und es war auch die Thüre von außen verschlossen. Wohin er gegangen ist –“ ein feines Lächeln spielte um Luitpold’s Lippen, „ich kann es vielleicht vermuthen –“
„Na – na! Da is was net in der Ordnung,“ stieß Ferdl in neu erwachender Sorge hervor, „das muß ich mir sagen, wenn ich an Alles denk’, wenn ich mich auf den Schuß b’sinn, den ich g’hört hab’ –“
„Ein Schuß?“ fuhr Luitpold erschrocken auf. „Der kann nur ihm gegolten haben! Und wir stehen noch hier, während vielleicht der arme Bursche –“
Kaum hörte er noch auf Ferdl’s Worte, der ihm seinen Wettermantel und einen Hut aufzudrängen suchte – und er war schon in der Mündung des Felsenganges verschwunden, ehe noch Ferdl die Fackel von der Wand zu reißen vermochte.
Sie gewannen das Freie und stiegen am Rande des Höllbachgrabens nieder. Von der Stelle, auf welcher die Jagdhütte gestanden, schimmerte ihnen nur noch ein mattes Glosten entgegen. Als sie den Almensteig erreichten, löschte Ferdl die Fackel – sie hörten Stimmen und Tritte näher kommen. Es waren zwei Holzknechte, die zur Holzerhütte zurückkehrten. Von ihnen erfuhren sie Alles, was mit Gidi sich begeben.
„Jetzt liegt er droben in der Bründlhütten – auf der Sennerin ihrem Kreister,“ berichtete der Eine. „Diemal macht er schon d’ Augen auf, fällt aber aus ei’m Taumel in andern. Es is a halber Schuß, den er ’kriegt hat, und er wird d’ran z’beißen haben, wann er’s durchreißen will. Da auf der rechten Brustseiten hat ihn der Lump ’neing’schossen, durch d’ Schulter is d’ Kugel durchaus, und den Hals hat’s auch noch a bißl g’streift Ja – dran z’ beißen wird er haben.“,
In hastigem Gange folgten Luitpold und Ferdl dem Steige.
[848]
Unsere Hausglocke.
Mit Illustrationen von Alexander Zick.
Auch am heiligen Abend hat unser Einer keine Ruhe! Meine Frau zündet vielleicht eben die schlanken Kerzchen des Baumes an, beschaut noch einmal lachend das stereotype Weihnachtsgeschenk, die buntgestickten Morgenschuhe, das sie mir seit dreißig Jahren regelmäßig unter die Weihnachtstanne legt, und will nun die Thürklinke heben, um zu rufen: „So, Alter, jetzt darfst Du kommen!“ Da schrillt die Glocke durchs Haus. – Eine Doktorglocke, wenigstens die unsere, hat einen ganz eigenthümlichen Klang, so gellend bang und so ungemüthlich. Macht es, daß sie mit Angst gezogen wird, mit schreckensvoller Hast, oder ist es das Bewußtsein, du mußt hinaus aus dem traulichen Heim, hinaus in Sturm und Regen an ein Kranken-, vielleicht ein Sterbebette? Ich weiß es nicht, aber meine Frau und ich, wir sind einig, der schrille Ton kann durch Mark und Bein dringen, zumal des Nachts. Am Weihnachtsabend nun, da klingt sie noch ganz besonders, die alte Glocke. An dem Feste des Friedens und der Freude sollte eigentlich kein Mensch krank werden, aber – du lieber Himmel! – was habe ich an den Weihnachtsabenden nicht gerade alles erlebt! Ich habe einen Familienvater sterben, plötzlich aus vollstem Wohlbefinden zum Tode gehen gesehen; ich habe am Bette der jungen Mutter gestanden und ihr das eben Geborene in die Arme gelegt, just a!s der alte Stadtmusikus mit seiner Bande vom Rathhausthurme blies: „Vom Himmel hoch da komm ich her!“ Ich habe den armen Handwerksburschen, der auf der Landstraße in einer Schneewehe verklammt gefunden wurde, die Augen öffnen sehen und ihm ein Glas Weihnachtspunsch kredenzt, habe am Bettchen der maserkranken Kleinen vom Christkindchen erzählen müssen und habe Schuster Blankenfeldt’s hübsche Lore vom Brückengeländer weggezogen, über das sie eben in unser langsam ziehendes Flüßchen springen wollte, weil ihr Schatz ihr just zur Bescheerung die Treue aufgesagt.
Das sind Geschichten, die passiren Einem alle Tage, nicht wahr? Aber am vierundzwanzigsten December sieht man sie mit anderen Augen an, mir geht es wenigstens so. Und wie ich zurück denke an die Weihnachtsabende, die vergangen sind, seitdem ich hier in Oldberg als Arzt thätig bin, heben sich aus den dreißig zwei ganz besonders hell und lebendig hervor. Kein Wunder; ich werde ja täglich daran erinnert.
Unser Städtchen ist klein, es zählt heute fünftausend Einwohner, vor zehn Jahren, von welcher Zeit ich zunächst sprechen will, zählte es noch weniger. Es liegt abseits der großen Heerstraße; auch heute macht die Eisenbahn einen Umweg, als wolle sie vermeiden, sein träumerisches Dasein durch Pfeifen und Rollen zu stören. Der Thurm der einzigen Kirche müßte eigentlich als Berühmtheit angeführt werden, er ist windschief, nicht ganz so schief wie der bekannte Kollege in Pisa, aber annähernd. Sonstiges Sehenswerthe ist absolut nicht vorhanden, wenn man nicht ein paar eiserne Kugeln in der schlichten Rathhausmauer dazu rechnen will, die aus Tillyschen Kanonen stammen. Die alten grasbewachsenen veilchendurchblümten Wälle ziehen sich noch immer um die rothbedachten spitzgiebeligen Häuser; zur Sommerzeit flattert lustig weiße Wäsche dort oben und die Jungen spielen Indianer darauf. – Die Straßen sind menschenleer und haben schlechtes Pflaster, und auf dem Marktplatz steht ein Roland von Stein. Am Ende einer stillen Gasse liegt mein Haus; es ist zweistöckig, hat niedriges Parterre, eine Sandsteinbank vor der Thüre und darüber hängt ein Fliederbaum seine Zweige. Wenn er im Sommer blüht, kommen die alten Frauen aus der Nachbarschaft und bitten meine Line um ein paar Blüthen davon zum Trocknen, sie kuriren hier zu Lande alles Gebreste mit Flieder- oder Kamillentee – ein trauriges Faktum für den Arzt.
Das Haus ist geräumig und still, viel zu groß für uns Einsamgebliebene. In der Mitte ein gewölbter kühler Flur, rechts meine Behausung – Warte- und Arbeitszimmer, links die beiden Zimmer meiner Karoline. Dort sitzt sie am Fenster hinter ihren Blumenstöcken und strickt oder näht, just noch so still anmuthig wie damals, als sie, eben achtzehnjährig, mein Weib wurde. Sie hat hübsche Aussicht dort, uns gegenüber steht kein Haus mehr, die Probsteistraße mündet hier, grad herunter liegt die alte Probstei, sie scheint die Gasse abzusperren. Line kann die hohe spitze Thüre in der Mauer beobachten und sieht die Gipfel der Ulmen in dem Garten schwanken. Im Winter scheint deutlich der dreistöckige schmale Fachwerkbau hinter dem kahlen Gezweig hervor. Es gab einmal eine Zeit, da habe ich nicht gern auf die Thüre geschaut – doch ich spreche ja eben vom Fensterplatz meiner Line. In der Nische hängt ein epheuumsponnenes Bild, ein Mädchenkopf ist es, en miniature auf Elfenbein gemalt. Unsagbar lieblich schaut es aus dem schmalen Goldrähmchen. Von diesem blauschwarzen Lockenkopf wollte ich erzählen.
Vor ungefähr zehn Jahren pflegte ich wöchentlich ein- bis zweimal auf meinen Krankengängen jenes Haus drüben, die Probstei, zu besuchen. In der Nähe sah man recht deutlich, wie es seinem Verfall entgegenging. Seine Besitzer kümmerten sich nicht mehr darum, sie bauten sich auf den angrenzenden Gütern neue schönere Schlösser, höchstens galt es einmal als Absteigequartier, wenn einer der Freiherren genöthigt war, von Amtswegen im Städtchen zu verweilen. Um jene Zeit aber war es bewohnt, d. h. der mittlere Stock, und zwar hauste in den getäfelten finstern Zimmern eine entfernte Verwandte der Familie mit ihren Töchtern; eine Gräfin Seefeld, und ich hatte die Ehre, den Hausarzt spielen zu dürfen.
Sie war eine blasse leidende Frau, die nur die allerbescheidensten Mittel zum Leben besaß, aber das durfte man um himmelswillen nicht bemerken. Es ist ja ein Talent, das der liebe Gott uns Aerzten den nervösen Frauen gegenüber verliehen hat, möglichst auf alle Schrullen eingehen zu können, und so ließ ich mir denn mit wahrer Engelsgeduld immer und immer wieder erzählen, daß sie diese kleine weltferne Stadt nur gewählt habe, weil das laute Treiben der großen Gesellschaft ihren gestörten Nerven nicht zusage, und daß ihr Aufenthalt hier lediglich ihrer Neigung zur Ruhe und Stille entspreche. Ich nickte mit dem Kopfe, gab ihr Recht und sah weder das schadhafte schwarze Seidenkleid, noch das die größte Dürftigkeit verrathende Um und Auf der ganzen Umgebung.
Sie fügte dann noch regelmäßig hinzu: „freilich, wenn die Ilse erwachsen ist, muß ich zurück in die große Welt, eine zeitlang wenigstens.“
„Bis sich das Komteßchen verheirathet –“ pflegte ich zu bemerken.
Und dann blitzten die matten Augen auf. „Ja, lieber Doktor, sie ist sehr schön, sie wird einmal Aufsehen machen, nicht wahr?“
[850] Ja, schön war sie! Als hätte der alte im Erlöschen begriffene Stamm der Seefeld’s noch eine letzte Wunderblüthe getrieben, so hold war das Mädchen. Dabei keine Spur von der kühlen, künstlich anerzogenen Vornehmheit, die sich scheut, dem Mitmenschen eine wunde Stelle zu zeigen; – nein, die Ilse war so frisch wie ein echtes Kind, natürlich wie das Vöglein, welches durch die Ulmen vor ihren Fenstern flatterte. So oft es thunlich war, lief sie zu uns herüber, aus den öden großen Zimmern, aus der Nähe der vornehmen kalten Mutter in das sonnige Stübchen meiner Line, hockte auf der Estrade, machte ihre ersten kleinen Nähversuche, herzte und küßte mein blondes Weib, klimperte auf dem Klavier, lachte wie ein Kobold und ließ, wenn sie wie ein Wirbelwind zur Thür hinaus war, eine Stille zurück, die oft genug Thränen in die Augen meiner Frau trieb. Sie war gar so unglücklich, weil wir keine Kinder hatten.
Um der Ilse willen konnte ich auch gar schlecht vorbeigehen an der spitzbogigen Thüre drüben. Kam ich aber einmal wirklich ein paar Tage nicht, weil ich absolut keine Zeit fand, so erschien gar bald die alte weißköpfige Maruschka und hieß mich im Namen ihrer Gebieterin herüberkommen, denn die Frau Gräfin könne meinen Rath nicht entbehren. Nun, ich ging – wie schon gesagt – um des Kindes willen, denn ein anderer Lohn als ein dankbarer Blick dieser jungen blauen Augen ist mir eigentlich nie geworden, wohl aber manche Geduldsprobe, denn die Gräfin war mit allen Unarten einer nervösen Frau bestens ausgerüstet und verstand es, ihren Arzt auf die denkbarste Weise zu quälen – Himmelsakrament! Mehr als einmal bin ich in hellem Zorn gegangen und habe die Thüre hinter mir zugeschlagen, daß ich meinte, der alte dreistöckige Bau erbebe in seinen Fugen; mehr als einmal habe ich den Brief, der die Bitte enthielt, die Gnädige möge sich nach einem andern Hausarzt umsehen, fertig daliegen gehabt. Wenn dann die Ilse in mein Zimmer huschte, wenn die großen Augen mich angstvoll anschauten, ließ ich mich doch wieder hinüberzerren und mir ein neues Leiden beschreiben, das sich unfehlbar über Nacht erst eingefunden hatte.
Nun, es giebt einmal nervöse Frauen in der Welt. und daß diese nervös geworden, war schließlich kein Wunder. Der Mann ein Wüstling, der Alles verlumpte; der einzige Sohn, der Majoratsherr, auf dessen Schutz und Hilfe die Wittwe mit der jungen Tochter allein angewiesen war, im Duell gefallen – um ein Nichts; die Güter an fremde, nur dem Namen nach bekannte Menschen gekommen, und keine weitere Zuflucht als hier in dem kleinen märkischen Städtchen, aus Gnade und Barmherzigkeit in der verfallenden Probstei, sich durchschlagen zu müssen mit zweihundert Thalern jährlich: nun, es läßt sich entschuldigen, daß die Laune der Dame nicht immer, oder vielmehr niemals, eine rosenfarbene war. Ihre ganze Hoffnung klammerte sich an die aufblühende Schönheit der Tochter. Sie besaß noch Brillanten und hütete sie mit Argusaugen; eher wäre sie gestorben, eh sie einen Stein davon verkauft hätte. Als ich einmal auf Luftveränderung bestand, weil sie allzu elend war, eröffnete sie mir, daß sie wohl in der Lage sei, sich diese zu erlauben, aber daß sie das Kapital behalten müsse für Ilse’s Zukunft. „Eine oder zwei Saisons in Berlin – und Ilse ist versorgt, lieber Doktor!“ Darauf schwur sie. Nichts war ihr schwer, kein Opfer zu groß für das Kind. Und die launische kränkelnde Frau wuchs trotz ihres unleidlichen Hochmuthes zu einer Heldin empor in meinen Augen, wenn ich sah, wie sie mit peinlicher Regelmäßigkeit den Unterricht der Tochter leitete, nie eine Lektion versäumend, nie eine Ermüdung verrathend. Und ach, wie oft sank sie nach stundenlangem Unterrichten zusammen einer Ohnmacht nahe!
„Sie strengen sich zu sehr an, meine Gnädige,“ wagte ich einzuwenden.
Dann richtete sie sich empor. „Ich bin meiner Tochter eine Erziehung schuldig.“
„Jaja! Aber wir haben gute Lehrer hier. Lassen Sie der Komtesse Privatstunden geben,“ stellte ich vor.
„Hier?“ fragte sie. Es war ein Ton, aus Erstaunen, Verachtung und Ueberlegenheit zusammengesetzt, und dabei lag ein Zug um die blassen Lippen, so ironisch, daß ich dachte: lehre Dir meinetwegen die Schwindsucht an den Hals, ich werde nichts wieder sagen! Als ob wir hier sammt und sonders Idioten wären, als ob wir keine Ahnung von dem hätten, was so ein Komteßchen zu lernen braucht, um dermaleinst auf den Heirathsmarkt gebracht zu werden!
Immer freilich gingen die Erziehungsversuche der Mutter nicht glatt durch; dieses lächelnde liebliche Kind hatte einen Charakter. Was die Kleine sich einmal vorgenommen, das führte sie aus, immer und immer wieder kehrte sie zu ihrer Idee zurück, und es war stets ein gesunder Gedanke darin, es war Logik. So z. B. kam eines Sommerabends – die Ilse war ungefähr sieben Jahr alt geworden – Maruschka, die polnische Dienerin, eilig herüber gelaufen, der Herr Doktor möge gleich kommen, die Kleine habe einen Zufall. Nun, ich ging, und die Mutter, die mich empfing, [851] theilte mir folgendes mit: Irgend jemand hatte dem Komteßchen eine Puppe geschenkt, eine etwas derbe Bäuerin in rothem Rock, mit blauen Bändern an dem Mützchen und sonst noch allerlei Farbenpracht. Die Frau Gräfin war aber der Meinung, man dürfe Kindern nichts Geschmackloses zum Spielen geben. Zum Unglück ward diese Puppe der Liebling ihrer kleinen Herrin – Gott weiß warum? Wie Kinder so sind! Und eines Tages war der Liebling fort, nota bene - die Mutter hatte ihn ins Fener gesteckt.
Mit heißen Thränen wurde nun im ganzen Hause gesucht, im Garten, überall, und das Kind regte sich dabei so auf, daß die Gräfin genöthigt war, zu mir zu schicken. Sie führte mich zu der Kleinen, die schluchzend und fiebernd auf dem Sofa lag, und setzte sich zur Seite mit einer neuen wunderschön ausstaffirten Puppe.
„Ich will nicht! Ich will nicht!“ schrie die Kleine, schon völlig heiser und schlug nach dem Spielzeug, „ich will meine liebe Puppe wieder haben!“
Ja, was konnte ich thun? Zureden half nicht. Die Gräfin legte endlich die neue Puppe mit Gewalt in des Kindes Arm. Da sprang es auf, lief zum offnen Fenster und warf die Puppe hinaus. „Ich will keine neue!“ jammerte sie und sah mich an mit den trostlosen Kinderaugen.
Ich winkte der Gräfin, mich allein zu lassen mit Ilse, nahm das zuckende Händchen und ließ mir erzählen. Sie hatte die Puppe so furchtbar lieb, sie wollte keine andere. Ich redete ihr zu, stellte ihr vor, die Puppe sei häßlich gewesen, nicht passend für sie – vergebens. Sie nahm beruhigende Tropfen, sie schlief auch endlich ein, aber Faktum blieb es – sie hat nie wieder mit einer Puppe gespielt.
So war denn allmählich aus dem Kinde ein Mädchen geworden, und ein schönes freundliches Mädchen; im Uebrigen wenig nach dem Herzen der Mutter.
„Welch ungenirte Sprache!“ klagte die Gräfin gegen mich: „Doktor, das hat sie von Ihnen; ich muß Sie bitten, jetzt reservirter zu reden.“
Ich machte ein verwundertes Gesicht. Allerdings, französische Brocken verstand ich gar nicht zu verwenden, war mir aber sonst nichts Böses bewußt. Ich sah in Komtesse Ilse’s lachende Augen und mußte heimlich mitlachen.
Aber leid war es mir doch, daß sie seltener und nur flüchtig in mein Haus kam, daß sie so langsam in dem schleppenden Kleide über die Straße schritt und die Augen nicht mehr aufzuschlagen getraute. Freilich, sobald sie in das Zimmer meiner Line trat, war sie die Alte, da lachte und kicherte sie, da spielte sie einen Walzer auf dem Spinettchen und die kleinen Füße traten den Takt dazu. Zuweilen aber ward es mäuschenstill, dann hockte sie vor dem kleinen Bücherspinde meiner Frau. Ein Bücherschrank war in der Probstei nicht zu finden, wenigstens nicht mit guter deutscher Kost. Die junge Seele hatte eben gedarbt bei den franzosischen Ragouts, welche die Frau Mama schon auswendig gelernt hatte in ihrer Jugend, und die Ilse besaß ein gesundes deutsches Gemüth, schönheitsdurstig und ein bischen ideal. Was thut aber eine Dame von Welt mit Sentiments? Das ist kleinstädtisch, Schneidermamsellenton. – Ja, wer kann dafür, daß es bei Ilse anders war? Ich sehe noch ihr entzücktes Gesicht, die Augen voll Thränen, als ich ihr an einem Sonnabend vor Ostern den Spaziergang aus dem Faust vorlas:
„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche –“
Sie sagte kein Wort, sie weinte nur. Dann wollte sie das Buch haben.
„O nein, kleines Komteßchen, wir sind erst siebzehn, und wenn Mama es erführe? - Später, später!“
„Ich verrathe Mama nichts!“ sagte sie feierlich.
Ich schüttelte lachend den Kopf. „Kommen Sie herüber, Kind, so oft Sie wollen – ich lese Ihnen gern vor. Aber mitnehmen – nimmermehr!“
So kam sie denn öfter wieder, als sonst. Sie durfte auch jetzt vom Lernen ruhen, sie sollte frisch und blühend aussehen, denn nach Weihnacht, vielmehr nach Neujahr ging es, zwar nicht nach Berlin, aber dafür an einen kleinen thüringischen Hof, allwo die junge Schönheit so strahlend wie möglich auftauchen sollte. Die Gräfin unterhandelte mit einem Juwelenhändler und mit verschiedenen Konfektionsgeschäften in der Hauptstadt, und sie schüttete mir ihr sorgenvolles Herz aus, daß das Töchterchen so keinerlei Interesse an diesen Vorgängen verrathe.
„Aber,“ tröstete sie sich selbst, „der Löwe hat noch kein Blut geleckt, bester Doktor, sie wird doch aufathmen in ihrer eigentlichen Lebensluft.“
Es war an einem düstern Oktobertage, als die Dame so geredet. Ilse wußte ich bei meiner Frau, der einzige Verkehr, der dem armen Dinge gestattet war. Ich ging kopfschüttelnd die Treppe hinunter, denn das Experiment der Frau Mama, die Tochter allein nach D. zu schicken, in das Haus eines Vetters, den sie, ebenso wie seine Familie, kaum kannte, nur zu dem Zweck, das junge Kind in die bunte, oft recht bunte Welt zu schleudern und hoffentlich mit glücklichem Wurfe einem reichen Kavalier in die Arme, das machte mich staunen, zweifeln und bangen. Das Mädchen war mir ans Herz gewachsen, so fest, als wär’s mein eigenes Kind. Ja, wenn die Mutter wenigstens mitginge, aber – das Kapital schien nicht zu reichen, oder – Gott weiß es – genug, Ilse sollte allein zum Vetter Kammerherrn nach D.
Noch in tiefen Gedanken trat ich in mein Haus und in das Zimmer meiner Line. Es war schon ein wenig dämmerig, der Flammenschein des Kachelofens spielte deutlich auf dem Fußboden. Meine Frau war nicht in der Stube, aber dafur traf ich eine andere Gesellschaft bei der Ilse. Sie lehnte am Klavier und drehte wie verlegen eine purpurrothe Ranke des wilden Weines zwischen den Fingern. Vor ihr aber, den Rücken mir zuwendend, stand ein Mann im Reise-Ueberzieher, ein großer schlanker Mensch mit braunem Haare.
„Potz tausend – Du bist es, Ernst!“ rief ich und hielt ihn am Herzen.
„Ja Onkel, verzeih die Ueberraschung! Ich bin auch schon furchtbar –“. Er verschluckte das Wort. „Ich denke, Tante sitzt da vor dem Bücherspind, und –“ Das hübsche Männergesicht wurde dunkelroth. „Verzeihen Sie, mein Fräulein!“ wandte er sich an das lächelnde Mädchen.
„Ernst Klauß, königlicher Baumeister!“ stellte ich vor, „Gräfin Isabelle Seefeld!“
Er wurde einen Moment noch rother, verbeugte sich und fügte hinzu. „Ich bin auf der Reise nach B., um dort einen Kirchenbau zu leiten.“
Meine Line aber kam ganz harmlos angebummelt, so ohngefähr nach einer Stunde. Und als ich ihr auf dem Hausflur entgegen trat und ihr ganz gerechtfertigte Vorwürfe über ihr langes Ausbleiben machen wollte, ward die kleine Frau böse und meinte, einen Wintermantel hätte sie kaufen müssen, denn nächstens würde es schneien und man dürfe nicht bis zum letzten Augenblick warten, sie könne doch nicht wissen, daß der Ernst kommen würde. Sie würde gleich das Abendessen besorgen.
Ich wollte als gehorsamer Mann sofort ihrer Weisung folgen, da klingelte es. Eine Frau, ihr hustendes Kind in Tücher gewickelt auf dem Arme, erschien und wollte den Herrn Doktor sprechen. So hielt mich wieder die Pflicht davon ab, an Näherliegendes zu denken, denn - wer weiß - wenn die Frau mit dem Kinde nicht gekommen und hinterher die bleichsüchtige Schneiderin mit dem Magenkrampf, und der Lehrjunge vom Materialgeschäft nebenan mit dem schlimmen Finger, so hätten jene Beiden nicht Zeit gefunden, sich so tief in die Augen - Na freilich, das ist thorhaft, ich hätt’s auch nicht geändert, was sein soll, schickt sich immer.
Wie ich zwei Stunden später hinüber komme, da finde ich die Beiden noch allein in der völlig dämmerigen Stube, aber nicht mehr stumm. Hei, das erzählte und schwatzte, als wären sie jahrelang bekannt!
„Wo ist denn meine Frau?“ - Ja, du lieber Gott! Die steckte in der Küche und briet einen Rehschlegel für den Sohn ihrer Schwester.
Ich zündete die Lampe an, stellte sie auf den Tisch und beobachtete, wie sich die Beiden anschauten bei der plötzlichen Helle, und freute mich über sie. Es giebt für das Auge des Arztes keinen erquickenderen Anblick wie so ein junges blühendes Menschenantlitz. Und diese Beiden waren nicht nur gesund an Leib und Seele, sie waren auch schön! Er ist mein eigner Neffe, aber ich muß es wiederholen, er war in seiner Art so schön, wie die Ilse [852] in ihrer. Groß und schlank und gewachsen wie eine Tanne, die Augen so klar und blitzend, und so frisch das ganze Wesen, so – mit einen Worte – kerngesund.
Ein Prachtjunge! Er war gerade fünfundzwanzig Jahre damals.
Ilse wollte nicht zum Abendessen bleiben. Sie band sich ihr Mäntelchen um und empfahl sich bald. Als wir aber in der Hinterstube beim Rehbraten saßen und die Gläser, mit altem Rothwein gefüllt, sich trafen, da lugte ihr dunkles Köpfchen wieder zur Thür herein.
„Darf ich stören?“ fragte sie in ihrer lieblichen Weise. „Mama hat Kopfschmerzen und liegt zu Bette; ich bin so allein drüben.“
Und nun saß sie zwischen mir und Ernst und hörte geduldig an, wie er von seiner kränklichen Mutter sprach, von seinen Studien, von seiner jetzigen Stellung und von allerhand Familienerlebnissen. Als es zehn Uhr schlug und die Ilse sich zum Aufbruch rüstete und ich sie, wie immer, hinüberbegleitete, schloß er sich an und wir wanderten im blassen Mondenschein durch die einsame Straße nach der Probstei hinüber. An der Thür wandte sie sich noch einmal um, und ihre Augen suchten Ernst; es war ein scheuer glücklicher Blick, ich hab’s so deutlich gesehen und wunderte mich, habe aber nicht weiter darüber nachgedacht. Wenn ich es mir später vergegenwärtigte, so ist mir immer eine Schuppe nach der andern von den Augen gefallen. Aber damals? Ich sah in dem Kinde eben nur die Tochter der vornehmen Frau, eine künftige Gräfin oder Hofdame oder sonst etwas Aehnnliches. Der hübsche Junge erschien mir ebenso ungefährlich, wie er der Gräfin erschien, die en passant durch die Komtesse oder durch mich von meinem Hausbesuch erfuhr. Wer steckt denn aber in solch jungem Volk?
Ilse kam noch öfter während der vierzehn Tage, die er in unserem Hause verlebte, und sie sprachen mit einander, hübsch und nett, über lauter arg vernünftige Sachen. Er schwärmte für Grillparzer und deklamirte ihr hier und da eine Stelle, und sie horchte auf mit leuchtenden Augen und versprach, ganz gewiß die Werke lesen zu wollen. Ob sie sonst noch etwas geredet am brennenden Kachelofen in Line’s traulicher Stube – ich weiß es nicht, mit harmloseren Blicken als ich konnte kein Mensch diese Beiden betrachten.
Dann war er fort. Er hatte mir so sonderbar und lange die Hand geschüttelt und von baldigem Wiedersehen gesprochen. Ilse aber erschien mir, als sei sie gewachsen, als seien ihre Augen glänzender geworden. Sie saß stiller als sonst hinter ihrer Weihnachtsarbeit meiner Frau gegenüber. Wenn sie je früher eine übermüthige kleine Aeußerung gethan hatte, so von der Höhe ihrer Geburt herab, so war sie jetzt mäuschenstill von solchen Dingen, nur einmal sagte sie etwas wie: der Adel liege im Menschen selbst, er käme von innen heraus aus der Seele: das angeerbte Wappen sei noch nicht allemal Bürgschaft für den Adel der Seele.
„Herr Jesus!“ rief Line erschreckt, „Komteßchen Ilse, sagen Sie das nicht der Mama!“
Da schlug sie die Augen auf unnd fragte ernsthaft: „Warum nicht? Ich habe den Muth, ihr noch viel mehr zu sagen.“
„Nun,“ scherzte meine Frau, „in sechs Wochen denken Sie anders, wenn Sie erst einmal mit den jungen Xschen Prinnzen über das Parkett im Schlosse geflogen sind.“
„Wer weiß es !“ erwiderte sie leise.
So kam das liebe fröhliche Weihnachtsfest heran. Am Tag vor dem heiligen Abend sah ich die Maruschka auf der Straße, die unter der Last von zwei mächtigen Kisten seufzte.
„Nun, nun,“ redete ich sie an, „da kommt ja das Christkind sehr reich!“
„Für die Komtesse,“ erwiderte die Alte, „und was schon Alles da ist, eine Ausstattung wie für ’ne Braut, und ein deckenhoher Tannenbaum dazu!“
An der Ecke des Postgebäudes aber kam mir die Komtesse selbst entgegen. Als sie mich erblickte, schien es, als wollte sie in eine Nebengasse biegen, jedenfalls fuhr die kleine Hand blitzschnell mit einem Brief in den grauen Fehmuff, und unter dem Filzhütchen hervor, vom blauen Schleier umweht, schaute ihr liebes Gesicht dunkelroth zu mir herüber. Nun, vor Weihnacht hat Jeder seine Heimlichkeiten. Sie reichte mir auch nur ihre Linke und sah an mir vorbei in ein Schaufenster; ich fühlte, wie die Hand zitterte.
„Ich komme wie immer heute Abend, lieber Herr Doktor, und hole mir das Marzipanherz,“ sagte sie. „Um sechs Uhr bin ich zur Stelle, um acht erst beschert Mama.“
„Da wird’s was geben!“ neckte ich, im Begriff weiter zu schreiten. Aber sie hielt mich fest an der Hand, und als ich sie aufmerksam betrachtend stehen blieb, war es mir, als ob sie sprechen wolle.
„Nun, Komteßchen?“
„Heute Abend!“ stammelte sie und schritt so hastig fort, daß ich ihr kopfschüttelnd nachsah.
Als ich in der Dämmerung heimkehrte von der Praxis, roch es schon süß weihnachtlich im Hause nach frischen Kuchen, Tannengrün und Wachslichtern. In der Küche stannd die Line und schuppte Karpfen zum festlichen Schmause.
„Fertig mit Allem!“ rief sie mir frühlich entgegen, „nur der fatale Schuster läßt mich diesmal sitzen. Na, aber es ist noch eine Viertelstunde bis sechs Uhr. Alter, Du mußt in den Keller, ich hab’ eine Ahnung – glaub’s mir, der Ernst kommt.“
Ich zog den Hausrock an und stieg in den Keller. – Ich kann nicht sagen, wie heimlich mir die Weihnachtsabende immer gewesen sind, und wie traulich sie meine Line zu machen versteht. Ich wußte ja, daß an jedes arme Krankenbette heut ein freundlicher Gruß von ihr getragen war; ich wußte, daß Viele heut unseres Hauses mit dankbaren Herzen gedachten, daß Alles, was uns nahe stand, erfreut wurde, bis auf den Hektor herunter, der sein Bratwürstchen unter dem brennenden Baume finden würde. Ich freute mich auf des Komteßchens blaue Augen, es gab doch immer einen Spaß, und auf die Kiste des Studienfreundes, der ich jedes Jahr einen westfälischen Schinken nebst Pumpernickel entnehmen durfte. Und ich freute mich auf die behagliche Stunde, wo ich neben meiner Line auf dem Sofa sitzen und die Flämmchen des brennenden Baumes sehen und schwatzen konnte von fernen Tagen und von den Weihnachtsabenden des Elternhauses.
Ja, man soll sich nur freuen!
Es schlug sechs und halbsieben Uhr – Ilse kam nicht.
„Sie wird soviel zu schauen haben drüben,“ meinte Line, „ich zünde immer an.“ Sie verschwand in der Weihnachtsstube und klingelte dann. Aber ich stand mit seltsamer Unruhe in dem kerzenhellen Zimmer; ich horchte hinaus, es fehlte mir Etwas.
[853] Auch Line wurde still. Sie bewunderte zwar das so heiß gewünschte schwarzseidene Kleid und ich die Pantoffeln; das Mädchen verschwand strahlend mit ihren Geschenken, und Hektor fraß die Wurst. Dann aber saßen wir alle Drei, die Frau, der Hund und ich und sahen stumm einander an. Ebenso stumm aßen wir zu Abend und löschten die Kerzen des Baumes.
Es war doch unrecht von dem Komteßchen; der letzte Weihnachtsabend, und sie blieb aus!
Da, als wir eben in das Schlafzimmer treten wollten – der gellende Ton der Glocke, Himmelsakrament, was ist das nun wieder?
Wir hörten, wie die Dörte eilig zur Thüre lief, hörten Stimmen, aufgeregte, halb kreischende Stimmen, dann stürzte die alte Maruschka der Gräfin in die Stube.
„Herr Doktor, kommen Sie doch, kommen Sie doch – unser Kind – unser Komteßchen!“
So schnell bin ich noch nie zum Hause hinaus gekommen und die verschneite Straße hinunter, nach der Probstei. Mit zwei - drei Sätzen war ich die alte ächzende Wendeltreppe hinan und durch den Vorflur in Ilse’s Schlafzimmerchen.
Der erste Blick auf das Bette – es war leer, aber dort am Kachelofen lehnte das Mädchen, und bei dem flackernden Schein des Lichtes sah ich fast entstellte Züge.
„Komtesse?“ fragte ich.
„Es ist schon vorüber,“ antwortete sie mit mühsam beherrschter Stimme, „es ist Alles vorüber, lieber Doktor, ich stehe schon wieder auf gleichen Füßen. Geben Sie mir die Hand, – ich bitte Sie, sagen Sie ihm – –“ Weiter kam sie nicht, denn die Mutter erschien auf der Schwelle.
„Was war denn, Frau Gräfin?“
„Sie sprach im Fieber, sie phantasierte,“ erwiderte die blasse Frau, und ihre Augen musterten mich von oben bis unten. „Schreiben Sie eine niederschlagende Limonade auf, da Sie einmal gerufen sind, und schicken Sie den Trotzkopf zu Bette.“
Ilse sah mich an und lächelte wie verächtlich. „Ich danke – ich bin völlig wohl und bei klaren Sinnen,“ sagte sie. „Gute Nacht, Herr Doktor! Um Gotteswillen, gehen Sie!“
Ich wandte mich ärgerlich. Es war klar, es hatte etwas gegeben, aber darum mich erst zu holen und nachher so abfallen zu lassen, wie einen – da hört doch Alles auf! „Gute Nacht!“ sagte ich kurz und ging aus der Thüre. Ich tastete auf dem stockdunkeln Flur umher, ohne den Ausgang finden zu können, ich hörte von drinnen noch ein frostiges „Gute Nacht, Mama!“ – rannte an einen Kleiderständer und wollte schon nach Licht rufen, da fiel ein heller Schein in den dunklen Raum, eine Gestalt huschte daraus hervor, zwei weiche zitternde Mädchenarme schlangen sich um meinen Hals und ein thränenbethautes Gesicht drängte sich an meine Wange. „Grüßen Sie ihn,“ schluchzte sie, „sagen Sie ihm, ich wäre das unglücklichste Geschöpf, das auf Erden lebt! Ich habe ihn lieber, als er glauben wird, als er denken kann!“ Und noch einmal stürmisch ihre Arme um meinen Hals, ihre weichen Lippen in meinen Bart –. „Dank für Alles, Du guter Onkel Doktor, was mir das Leben verschönt hat!“ Dann noch ein Kuß, ein leise geflüsterter Gruß an ihn, und sie war verschwunden.
„Daraus soll ein Anderer klug werden!“ murmelte ich vor mich hin und wischte mir die Thränen des Mädchens aus dem Bart oder meine eigenen? „Ist ja ein schauderhafter Weihnachtsabend!“
Wie ich dann ganz verstört in meiner Frau Stube komme, wen erblicken meine Augen? – den Ernst, blaß wie eine Leiche; und seine zitternden Hände streckten sich mir entgegen, während die Line starr wie ein Wachsbild in der Sophaecke sitzt.
„Was bringst Du, Onkel?“ fragte er hastig.
„Nichts, mein Junge –.“
„Du warst eben bei ihr, Du mußt wissen, wie die Sache abgelaufen ist!“
Ich sah ihn an, halb staunend, halb mitleidig. „Armer Junge, ich hätte Dich für gescheiter gehalten,“ drängte es sich über meine Lippen.
„Sie giebt mich auf?“ fragte er, fast heiser.
„Sie läßt Dich grüßen, wenn Du der ‚Er‘ bist, von dem sie mit Thränen flüsterte.“
„Nichts weiter?“ stieß er hervor.
„Sie sagte zu ihrer Mutter, sie wäre wieder klar bei Sinnen –.“
Er lachte kurz auf und setzte sich auf einen Stuhl, trank hastig einen Pokal heißen Weines und blieb stumm.
„Aber Ernst,“ begann Line jammernd, „wie konntest Du auch denken, daß die Mutter es zugeben würde – sie – –“
Da fuhr er auf, sah nach der Uhr und erhob sich. „Um halb Zwölf geht der Eilwagen; gute Nacht! Verzeiht, daß ich Euch störte!“
Hastig nahm er den Hut vom nächsten Stuhl und ehe wir uns besinnen konnten, schlug die Hausthür, und er war gegangen.
„Weißt Da Näheres?“ fragte ich die weinende Line.
„Das, was er mir mittheilte, als er so plötzlich vor mir stand,“ schluchzte sie. „Sie lieben sich schon seit dem Herbst, sie haben sich geschrieben und heute wollte es Ilse der Mutter sagen und sie zur Erlaubniß bestimmen, den Ernst Klauß heirathen zu dürfen. Vorher waren sie mit einander in der Weihnachtspredigt, da hat Ilse geweint und gebetet. Sie hatte ihm gesagt: ‚Sobald ich Mama’s ‚Ja!‘ habe, komme ich zu Doktor’s, warte dort.‘ Er hat aber vor der Probsteithüre gewartet, da ist nun plötzlich Maruschka vorübergestürmt, dann bist Du mit ihr zurückgekommen, und nun hielt er es nicht länger aus und kam zu mir.“
‚O Jugend, o Leichtsinn!‘ dachte ich., und blitzgeschwind rann mir eine Thräne in den Bart. Ich sah ja noch immer das furchtbar veränderte Gesicht der kleinen Ilse vor mir. „Das ist hoffnungslos!“ sagte ich laut, und Line nickte dazu und barg die weinenden Augen in ihren Händen. „Wie sie mich dauern!“ schluchzte sie.
Richtig! Am andern Morgen fuhr ein schwerfälliger Kutschwagen durch den Schnee der Gasse; ich sah einen Moment einen blauen Schleier wehen, eine kleine Hand an der Glasscheibe – und Komtesse Ilse war fort.
Maruschka begleitete sie bis zu der drei Stunden entfernten Bahnstation. Durch die Post erhielt ich aber am selbigen Tage [854] noch ein Schreiben des Inhaltes, daß sich die ergebenst Unterzeichnete – Gräfin Seefeld – veranlaßt gesehen, einen andern Hausarzt zu wählen, da ich das große Vertrauen, das sie mir allezeit geschenkt, nicht zu rechtfertigen gewußt habe. Eine sehr kleine Summe war hinzugefügt.
Auch gut, Frau Gräfin! – Man wird ja oft unverdienter Weise gekränkt – das hier bringt mich auch nicht um. Ein Arzt bekommt nach und nach eine Art Elefantenhaut, sonst könnte er gar nicht weiter leben. Mir ging nur das blasse Mädchengesicht nicht aus dem Sinn.
Nun, es half nichts. Meine Line aber grämte sich heimlich fast entzwei; ich wußte nicht, galt es mehr dem Neffen, der ihr auf keinen Brief antwortete, oder der kleinen Ilse? Denn sprechen thaten wir nicht mehr darüber.
Und eines Vormittags im April, die Bäume blühten just, brachte der Postbote ein großes Schreiben mit riesigem Wappensiegel darauf und der neunzackigen Krone. Als Line es von außen genug beschaut hatte und nun neben mir stand, neugierig was es sei, ziehe ich aus dem Kouvert eine Karte, und da steht denn deutlich zu lesen:
- „Die Verlobung ihrer einzigen Tochter Jsabella mit Sr. Erlaucht dem Grafen Edwin von Mayenbach-Emmingen zeigt ergebenst an
- Gräfin Olga Seefeld geb. Gräfin Olkowska.“
- „Die Verlobung ihrer einzigen Tochter Jsabella mit Sr. Erlaucht dem Grafen Edwin von Mayenbach-Emmingen zeigt ergebenst an
„Na Line, da ist’s ja denn in Ordnung,“ sagte ich.
Aber Line wollte sich nicht trösten lassen, sie weinte zum Herzbrechen; sie hatte die Ilse anders taxirt. Wie es denn möglich wäre, wie es denn möglich wäre! Und das hätte sie nie geglaubt, daß ein Mädchen so leicht vergessen könne!
Ich kränkte mich nur innerlich, nahm Hut und Stock und ging in die Stadt Hamburg zum Morgenbier –. Na natürlich, alle Welt wußte schon die Neuigkeit und ein junger Gerichtsreferendar gab Auskunft über Se. Erlaucht; er war aus Mayenbach gebürtig. Unmenschlich reich sei der Graf, aber schon bejahrt und keineswegs beliebt, dazu eine stürmische Vergangenheit! So lautete das Nationale.
Arme kleine Ilse!
Wir gratulirten nicht, das konnten wir eben nicht übers Herz bringen. Ich fragte nur einmal die Maruschka, wann die Hochzeit stattfinden werde, und hörte, daß Frau Gräfin sehr ungehalten sei, – die Braut habe sich noch ein ganzes Jahr der Freiheit ausgebeten, die Gnädige hoffe aber doch, den Widerstand des Komteßchens zu besiegen.
„Kommt Gräfin Ilse zurück?“
Maruschka schüttelte das graue Haupt. „Wir gehen nach D. in spätestens zwei Wochen.“
Zum vierten September, meinem Geburtstage, an dem sonst immer eine liebe Gestalt in aller Morgenfrühe mit einem Strauß Monatsrosen über unsere Schwelle getreten war, kam diesmal ein kleines Packet, an mich adressirt; und als ich es, schon gerührt, öffnete, da blickt mir das reizende Mädchengesicht entgegen, gar zierlich auf Elfenbein gemalt. Aber wie ernst und wie verändert! Auf die Rückseite der Platte hatte sie mit Bleistift geschrieben: „Wie man von Todten Gutes spricht, – verdammt mich nicht!“
„Nun schiltst Du mir nicht mehr, Line,“ sagte ich weich, „es ist klar, man hat sie gezwungen zu der Verlobung.“ Da weinte Line nur still und hing das Bild an ihren Fensterplatz.
Das Leben ging dann so seinen ebnen Weg weiter fort, aus Herbst wurde Spätherbst, der Wind wehte die Blätter von den Ulmen und durch das kahle Gezweig schimmerten die mit Läden geschlossenen Fenster des leeren großen Hauses drüben. Der Winter brachte die alten bösen Gäste in die Wohnungen der Menschen, Husten, Fieber und Rheuma. Da hat unser Einer so viel zu denken; mir blieb kaum Zeit mich zu freuen, daß der Ernst nach Italien gereist war, wie seine Mutter uns schrieb.
Line aber machte seit langer Zeit zum ersten Male ein weniger trauriges Gesicht, und am ersten Advent lag, wie jedes Jahr, bunte Wolle auf dem Nähtische neben den angefangenen unvermeidlichen Schlafschuhen, die ich nie sehen sollte und doch so oft sah.
„Ich glaube, Alter,“ meinte sie, „der Ernst wird’s durchholen, – wenn nur Ilse glücklich würde!“
„Das gebe Gott!“ sagte ich mit einem Seufzer.
Und siehe da, mit einem Male wollte es Weihnacht werden; auf dem Markte wurden schon die Buden errichtet, in den Schaufenstern prangten die allerschönsten allerneuesten Sachen, und längs der Straßen reihten sich die Christbäume. Dazu schneite es und fror; köstliche Aussichten auf Schlittschuhlaufen und Schlittenfahrt für die Feiertage.
Da, ungefähr eine Woche vor dem heiligen Abend, kommt mir die Line ganz verstört entgegen mit einem schwarzgeränderten Briefe. „Denke Dir, Wilhelm, Gräfin Seefeld ist ganz plötzlich gestorben!“
„Die arme Frau,“ sagte ich, „nun hat sie doch nicht ihr Kind als ,Erlaucht* gesehen! In Wahrheit, sie dauert mich, es war ihr ganzes Dichten und Trachten, ihr einziger Wunsch gewesen.“
Line aber setzte sich an den Schreibtisch und schrieb an das Komteßchen, so recht wie es ihr um das Herz war; der Brief war fast unleserlich von Thränen. „Eine Mutter hat man einmal nur,“ sagte sie, „und trotz aller Schrullen hat sie die Ilse doch schier närrisch lieb gehabt.“
„So lieb, um sie einem alten Wüstling in die Arme zu treiben,“ bemerkte ich bitter.
„Ja, das verstand sie eben nicht anders, Wilhelm,“ vertheidigte Line.
Nun, ich war zufrieden, und der Brief ging ab.
Und da kam er wirklich, der vierundzwanzigste December, und Alles war wie sonst bei uns beiden Einsamen. Leise, leise schneite es weiter und hier und da wurde ein Fenster hell, als ich, von meinem letzten Krankenbesuche kommend, die Straße hinunter schritt, und daheim hatte Line den Weihnachtsbaum geputzt und wartete nur auf mich mit dem Anzünden. So, nun kann’s losgehen!
Es ging auch los und ging vorüber, die Bescherung und der Karpfen; und die Pantoffeln paßten. Wir saßen dann in der Sofa-Ecke, und sahen die Lichter am Baume, und Hektor lag zu unseren Füßen. Die alte Wanduhr aber erhob ihre Stimme und schlug die zehnte Stunde, grad als wir von der Ilse zu sprechen aufgehört hatten.
„Heute vorm Jahre klingelte es just,“ sagte Line. „Lieber Gott!“
„Nun, heute wird’s jawohl so abgehen,“ wollte ich hinzusetzen, aber das Wort blieb mir im Munde stecken, so angstvoll, schrill und stürmisch gellte die Glocke durchs Haus. Ich war draußen, ich wußte nicht wie, und reiße die Riegel zurück und die Thür auf. Eine schlanke Frauengestalt kommt hastig über die Schwelle, zwei Arme schlingen sich um meinen Hals, aus dem schwarzen Kreppschleier aber taucht ein blasses liebes Mädchenantlitz auf und sieht zu mir herüber bei dem unsicheren Schein der Hauslampe. Aber sie sagte kein Wort, sie hielt mich nur fest und zitterte.
„Komteßchen Ilse!“ schrie Line hinzulaufend, und nun nahmen wir sie und führten sie hinein und – ja, was thut man Alles zuerst mit einer halb Ohnmächtigen?
Sie wollte bei uns bleiben mit der Maruschka – das war Alles, was wir aus ihren abgebrochenen Reden verstehen konnten. Dann sprach sie nicht mehr, sie weinte nur still vor sich hin, den Kopf in die Sofa-Ecke geborgen, und wir ließen sie weinen.
Line schlich sich still davon, das Gaststübchen im oberen Gestock zu rüsten, und ich stieg in den Keller und holte von meinem besten Portwein herauf, und als ich ihr das duftige Glas hinhielt, hob sie die Augen und sah mich an, die Thränen auf den Wangen.
„Ich wußte es ja,“ sagte sie schluchzend, „wäre ich nur schon im vorigen Jahre zu Euch gekommen.“
Dann sank der Kopf wieder zurück, und die Blässe wich glühender Fieberröthe.
Ich faßte das zierliche Handgelenk; nun versteht sich – da hatten wir eine Kranke!
[855] Ich trug sie auf meinen Armen die Treppe hinauf, wie ich sie als Kind getragen hatte. Als Line sie mit Maruschka’s Hilfe ins Bett gelegt, da waren ihre Sinne geschwunden, und ein geängstigtes fieberndes Menschenkind schrie um Hilfe, weil sie sich verfolgt wähnte von etwas namenlos Entsetzlichem.
Maruschka setzte sich still ans Bett.
„Es war auch zu jammervoll, Herr Doktor,“ begann sie nach einer Weile. „Die Frau Gräfin hatten selbst einen Schrecken, als sie den Schwiegersohn erblickten; aber, wissen Sie, die Verwandten sollten nun einmal das Kind unter die Haube bringen, und da haben sie ihr zugesetzt mit Reden und Schmeicheleien, und als Alles nichts half, da sagten sie ihr, um der Mutter willen müsse sie es thun. Ach, Herr Doktor, ich weiß Alles; zuerst hat die Mutter den verzweifelten Bitten der Ilse nachgeben wollen, aber wie sie die Güter sah und das Schloß und den Reichthum, da wollte sie nicht, daß die Verlobung zurückgehe. Sie konnte eisern sein. Nun stirbt sie so plötzlich, Ilschen war gar nicht dabei, war mit der Tante und dem Bräutigam auf einem Hofball; sie hat keine Thräne geweint, als sie es erfuhr, sie hat nur die ganze Nacht bei der Leiche gesessen, wie sie da war in dem Ballkleid mit den Blumen im Haar. –
Was dann nach dem Begräbnisse passirt ist, weiß ich nicht, nur das hörte ich von der Kammerjungfer der Tante, am dritten Weihnachtstage solle Ilse ganz still getraut werden, um gleich hinterher mit ihrem Gemahl nach Italien zu gehen. Ob sie ein Wort darum verloren hat, ich weiß es auch nicht. Sie war schrecklich blaß und still. Gestern Abend trat sie plötzlich in meine Stube, im Hut und Mantel, und sagte: ,Maruschka, komm, und nimm Dir ein warmes Tuch, ich habe einen Weg vor.‘ Ich ging selbstverständlich mit; zuerst auf den Kirchhof an das verschneite Grab, dann auf den Bahnhof; ich lief ihr natürlich nach und stieg auch hinter ihr ein -. Ach, Du großer Gott! Was wird das für einen Spuk geben im Hause des Kammerherrn, auf dem Lande und in der Stadt! Nun wissen sie es schon, daß das Komteßchen – davongelaufen ist!“
Das war ja eine schöne Bescherung! Ich sah auf die Alte, ich sah auf die unruhige Kranke – da war sie doch noch, die kleine muthige, tapfere Ilse! Mir fiel die Geschichte ein von der Puppe, und ich mußte lächeln trotz meiner Angst. Ja, so leicht läßt sich ein solches Herz nicht unterkriegen. Bravo, Ilse!
Um Mitternacht, als die Glocken das heilige Fest einläuteten, öffnete ich im Nebenzimmer ein Fenster, und als die vollen Töne herüberschwebten zum Krankenbette, da war die unaufhörlich Plaudernde ruhiger. „Es ist Weihnacht! Daheim!“ hörte ich sie flüstern, und Maruschka’s zärtliche Stimme: „Schlafen, Kindchen! Schlafen, Komteßchen!“ Und als es still ward, schlich die Alte zu mir herum:
„Wird sie sehr krank werden Herr Doktor?“
„Sie ist es schon, Maruschka; Gott gebe das Beste!“ –
Das sind heute just sechs Jahre her. Ja, die Zeit fliegt! Ich stand vorhin am Fenster und schaute nach der Probstei hinüber. Im Arbeitszimmer vom Ernst brennt noch Licht. Es ist doch die allerhöchste Zeit, meine Herrschaften! Es ist sechs Uhr bereits, und Line wartet nicht gern; die Frau wird immer unruhiger, je älter sie wird.
Jetzt löscht das Licht aus, und jetzt läutet’s schon mit allen Glocken. Da unten geht die Thür auf in der hohen Mauer, ich sehe dunkle Gestalten daraus hervortreten, sind sie’s Alle? – wahrhaftig!
„Line,“ rufe ich, „sie kommen!“
„Ich zünde schon an!“ antwortete Frau Großmama.
Ja, Line ist wirklich noch Großmama geworden, denn Ilse nennt sie „Mutter“, seitdem sie des Herrn Baumeister Ernst Klauß Ehefrau geworden und in unserem Hause Hochzeit gefeiert hat. Ich hätte es freilich nicht geglaubt vor sechs Jahren. Die Ilse war sterbenskrank, aber sie hat Alles überwunden, die Krankheit und den ganzen Spektakel, den ihre Flucht aufrührte. Ein Prachtmädchen! Eine Prachtfrau!
„Ich war nur eine kurze Zeit nicht ich,“ sagte sie damals, als sie meiner Frau unter Thränen die Geschichte ihrer erzwungenen Verlobung berichtete, „aber glauben Sie mir, ich würde noch am Altar ,Nein!‘ gerufen haben, wenn sie mich dahin geschleppt hätten.“
„Weil?“ fragte Line das erregte Mädchen und nahm ihre Hand.
Da wurde sie purpurroth und schlug verwirrt die Augen nieder.
„Ich weiß schon, Ilschen! Es ist die Geschichte von der verschwundenen Puppe.“ Und Line zog das Mädchen an sich und strich ihr sanft über den dunklen Scheitel. „Denkst Du noch immer wie an jenem Weihnachtsabend, Kind?“
Da nickte sie stumm und versteckte das Gesicht in Line’s Schultertuch. Die aber mußte geradesweges hexen können, denn keine achtundvierzig Stunden später zog „Jemand“ an der Klingel; so ganz anders als sonst geläutet wurde – zuerst leise, daß es nur ein schwacher schüchterner Laut ward, aber dann ungeduldig, schier übermüthig.
Wer die Sprache der Glocke versteht, der hätte vielleicht auch – wie ich – gedacht, der Kollekteur schickt die Nachricht, daß wir das große Los gewonnen haben. Es war aber bereits geöffnet, als ich herzukam, und im Flur stand Line ganz solo und sah ihre Stubenthür an. „Könnte ich wohl ein wenig in Dein Zimmer kommen?“ fragte sie, „drüben ist Jemand bei der Ilse.“
„So? Wer denn?“
,O, das wirst Du schon noch erfahren!“ Und sie zog mich mit sich in meine Stube und saß am Fenster und redete kein Wort, bis endlich der „Jemand“ herüber kam, an der Hand das freudenbleiche Mädchen.
Wenn die Weiber nur Ehen stiften können!
„Line, wo hast Du den Jungen denn sogleich hergekriegt? – Komteßchen, Sie wollen wirklich eine simple Frau Klauß werden?“
Und so war es und Beide hatten dazu die größtmögliche Eile. Er hat die Probstei gekauft, und sie als schmuckes Nestchen eingerichtet für seine junge Frau. Natürlich „stilvoll“; darin haben die Herren Baumeister nun ’mal einen kleinen – Pardon! Es sieht ja auch recht hübsch aus, und es sitzt sich gemütlich in dem getäfelten Zimmer am grünen Kachelofen, wenn der Wind an die Butzenscheiben klopft und die alten Ulmen dazu rauschen. [856] Ich gehe oft hinüber und erzähle dann wohl den Kindern von einem kleinen Mädchen, das sich nicht trösten lassen wollte über ihre alte Puppe, obgleich sie eine neue, weit prächtigere bekommen sollte. Dann lacht die Ilse so herzlich, und die Kinder stimmen mit ein.
Horch! da sind sie! „Nur hier herein, gleich wird’s so weit sein.“
„Nun müssen die Kleinen beten,“ sagt die junge Frau ernst, und der Junge und das Mädchen, das eben erst plappern gelernt hat, falten die Händchen und sprechen:
„Das Kind, das heut geboren ist,
Der liebe Heiland Jesus Christ,
Der leitet unsre Herzen gern
Zum rechten Weg aus irrer Fern.“
„Amen, Ihr Kinder!“
Da klingelt’s drüben, jubelnd springen sie voran, die Ilse aber hängt an meinem Arm.
„Weißt Du noch?“ fragt sie, „vor sechs Jahren, da leitete Er auch mein Herz zum rechten Wege.“
„Ja, mein Töchterchen! Mir klingt noch immer der schrille Ton der Glocke in den Ohren.“
Wieder steckt mir das Wort in der Kehle, so ungestüm zieht’s an der Klingel.
„Geht nur hinein, Kinder, ich komme bald nach; aber hab ich’s nicht gesagt? gleich zu Anfang! Nicht einmal am heutigen Abend hat unser Einer Ruhe!“
„Was soll’s denn sein?“
„Wie? Der Wittwe Merkern ihr Sohn, der Soldat, ist auf Urlaub gekommen. Ob es der Kranken schadet, wenn er ans Bette tritt?“
„Gott bewahre! Freude schadet nie, besonders nicht am heiligen Weihnachtsabend. Ich lasse grüßen.“
Ueber des Bergkamms starrenden Tann
Wandelt ein Licht in der Ferne,
Näher und näher wallt es heran
Gleich einem irrenden Sterne;
Ueber die Gründe, verweht und verschneit,
Schwebt es auf silbernen Schwingen,
Bricht in die schweigende Waldeinsamkeit
Mächtig mit Leuchten und Klingen.
Christkindlein zieht durch den Wald in der Nacht,
Himmlische Schaar zum Geleite,
Blitzend aufleuchtet des Eiswaldes Pracht
Ueber dem Zug in die Weite.
Wo in die Gründe hinfluthet ein Strahl
Läuten zur Weihnacht die Glocken,
Lauschen zur Höhe die Rehe im Thal,
Flüchten die Wichtlein erschrocken.
Eisgraue Männlein aus Baumhohl und Spalt,
Uralt’ verwittert’ Gezwerge
Schaut, wie geblendet, den Zug durch den Wald
Nieder sich winden vom Berge.
Waldmännlein küssen des Kindes Gewand,
Knieen anbetend am Pfade,
Christkindlein hebet mit Lächeln die Hand,
Segnet die Kleinen in Gnade.
Christkindlein segnet die Waldkreatur,
Häslein und Rehlein am Wege;
Wo es dahinzog, die goldige Spur
Funkelt noch lang’ durchs Gehege.
Weit in die nächtigen Thäler hinein
Fluthet der himmlische Schimmer –
Drunten im Dorfe der Fensterlein Reih’n
Glüh’n schon im Weihnachtsgeflimmer.
Weit durch die Lande – ein leuchtender Strom –
Wogt es mit Blitzen und Klingen:
„Ehre sei Gott!“ Zu der Sternenwelt Dom
Braust es auf mächtigen Schwingen. – –
Also herab durch den starrenden Tann
Nieder ins Erdengetriebe
Wandelt durch Winter- und Todesbann
Welterlösend die Liebe.
Ein wunderlicher Heiliger.
Zwischen den feierlichen gewaltigen weithinhallenden Schlägen sonntäglichen Glockengeläutes hört man das Zwitschern der Schwalben, die in wonniger Hast über den Minoritenplatz hin und her schießen. Der alterthümlich schöne Platz ist sonst wohl der stillste in der geräuschvollen Altstadt Wiens; aber kurz vor dem Hochamt rollt da eine Herrschaftskutsche nach der anderen herbei, und die Leute drängen sich vor dem prächtigen Ostportal der italienischen Kirche.
Es sieht nun zwar so ziemlich jeden Sonn- und Feiertag hier um diese Zeit also aus; denn erstens gilt es für vornehm,
[857][858] die Messe in der Minoritenkirche zu hören, und zweitens hört man hier die beste Kirchenmusik und in der wunderbarsten sorgfältigsten Ausführung. Allein der Fremde, der gerade hier vorüberkommt, wundert sich doch über das außergewöhnliche Getriebe und wendet sich wohl an einen, der vorübereilt: „Entschuldigen Sie die Frage, was ist denn hier Besonderes los?“
Und der Angeredete, im Vollgefühl seines Besserwissens, antwortet mit der höflichsten Bereitwilligkeit: „Die Scandrini singt das Gloria von Palestrina in der nächsten Messe!“ Er sagt es mit einer Wichtigkeit, als wenn er mitzutheilen hätte, daß der Papst in allerhöchsteigener Person das Hochamt celebriren und der Kaiser von dessen Händen das heilige Abendmahl empfangen würde, denn musikalische Ereignisse gelten in dieser Stadt, wo das Viergestirn Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert gewirkt hat, für höchst wichtig und allgemein beachtenswerth.
Da aber der gute Wiener merkt, daß seine Mittheilung auf den Fremdling gar keinen so tiefen Eindruck hervorbringt, als er erwartet hat, so läßt er den Barbaren stehen, um nicht zu spät zu kommen, denn schon nimmt das Gedränge unter der schönen Wölbung von alten Steinarabesken bedenklich zu, und die Ellenbogen müssen ihre Schuldigkeit thun, wenn die Ohren zu künstlerischem Genuß und das Herz dadurch zu frommer Auferbauung gelangen soll.
Nach zwei Schritten kehrt jener sich aber doch noch einmal um, kurz bevor er in den Menschenknäuel sich einreiht, und sagt zu dem blonden Fremdling, der ihm auf wiegeuden Schritten folgt: „Wenn Sie sie sehen wollen, das ist die Scandrini! . . . Die dort über den Platz herüberkommt, die Blondine neben dem geistlichen Herrn! . . . ? . . . Ja, die!“
Wer Bianca dritthalb Jahre nicht gesehen hatte, der mochte sie wohl verändert finden. Aber wohl schwerlich minder hübsch.
Sie war um eine Fausthöhe noch gewachsen, ihre Miene war etwas länglicher geworden, ihr ganzer Ausdruck ernsthafter, und in Augen und Mund lag etwas wie ein schwärmerischer Schmerz, der ihren Liebreiz nur erhöhte. Aus dem singenden springenden Wildfang, halb Kind, halb musikalisches Ungethüm, war ein sinniges, wunderholdes Frauenzimmer geworden, ihr Gretchenangesicht hatte einen madonnenhaften Zug. Wenn der Wiener jener Zeit die schönsten Mädchen in der Stadt aufzählte, wurde Bianca Scandrini, oder wie sich die Bekannten der Familie ausdrückten, Blanche Latschenberger nicht vergessen.
Auch ihre Stimme hatte sich verändert. Es war nicht mehr jenes umfangreiche phänomenale Instrument, worüber sich Jeder, der es hörte, höchlich erstaunte. Die Wunden, die ihm ein herber Sommerabend und viel Herzeleid geschlagen, waren nicht alle vernarbt, und die Narben gaben ihm keinen schöneren Klang. Aber doch hatte sich die Stimme aus der Krankheit, die sie so sehr geschädigt, zum Theil gerettet. Nicht mehr so umfangreich, ohne Höhe, hatte sie sich in der Mittellage und in der Tiefe eine seltene Innigkeit des Tones bewahrt, und die Geläufigkeit ihres Organs ließ nie die hinreichende Wirkung vermissen.
Dennoch ward Bianca ein Gefühl der Unsicherheit, der Bangigkeit nicht mehr los, wenn sie ihre eigene Stimme klingen hörte. Sie meinte deutliche Zeichen krankhafter Schwäche zu vernehmen, die Andere aus Schonung, aus Höflichkeit nicht hören wollten. Eine Kraft, die ihr einmal und auf so lange Zeit versagt hatte, konnte wieder und im entscheidenden Augenblick versagen. Sie unterschätzte nicht, was ihr geblieben, aber sie fürchtete, es zu überschätzen. Die Tage kühnen sorglosen Vertrauens in sich waren eben vorüber. Kein Mensch hätte sie überreden können, sich mit diesem unsicheren Rest von Klanggewalt in der Kehle auf eine Bühne zu stellen und das Urtheil eines verwöhnten Publikums herauszufordern.
Und doch hätte sie Jahre ihres Lebens hingegeben, wär’ es ihr nur einmal im Leben geglückt, einen vollen Erfolg auf einem großen Theater zu erringen.
Pater Otto, der wohl wußte, was im Gemüthe seiner Muhme vorging, war der Einzige, der in den Tagen tiefster Betrübniß und ehrlicher Verzweiflung am eigenen Können sie aufzurichten suchte und sie wieder auf künstlerische Gedanken, wieder zu künstlerischen Vorsätzen brachte.
Da ihr Sinnen nur auf ernste Dinge gestellt war, lag es ihm, dem musikalisch gebildeten Geistlichen, ja nahe, die Sängerin auf die ungeahnten Schätze kirchlichen Gesanges aufmerksam zu machen. Wie er früher sie in Sprachen, in Litteratur, in Geschichte unterrichtet hatte, so fing er jetzt an, ernsthafte musikgeschichtliche Studien mit ihr zu treiben. Und sie, die im Herzen so verarmt war, wußte es ihm Dank, daß er nicht müde ward, ihre Gedanken zu festigen und in eine herrliche Welt za bannen, für die sie bald packendes Verständniß bewies.
Und nicht bloß Verständniß. Mit allmählicher Genesung stellte sich auch die Lust zu schaffen allmählich wieder ein. Erst brachte Pater Otto sie nur mühsam dazu, daß sie beispielsweise, mit halber Samme, nur um sich selber die Dinge, von denen sie lernend hörte, die musikalischen Thaten der Vorzeit, klar zu machen, vor ihm sang. Aber sicherer und sicherer sich fühlend, an den veränderten Klang ihrer Kehle, der sie erst entsetzt, sich gewöhnend, und endlich hingerissen von der Schönheit unsterblicher hoher Werke, ward sie zum zweiten Mal Sängerin, wenn auch ohne den brennenden Ehrgeiz, in aller Kunstsinnigen Mund zu sein und ihren italienischen Kriegsnamen an allen Straßenecken von den Theaterzetteln zu lesen.
Pater Otto wachte treu über ihr und beobachtete sie mit einer Sorgsamkeit, wie ein Meister sein eigenstes Werk, wie ein uneigennütziger Freund seine liebste Seele. Trübsal und Verzweiflung an innewohnender gottergebener Kraft galten ihm als zwei böse Teufel. Und er wollte diesen Teufeln die Seele Bianca’s nicht lassen.
Er wußte, daß der Ehrgeiz ihr heilsame Arzenei sein werde, drum gab er ihr, als sie soweit erstarkt war, sich zu fassen und zu halten, die Absicht ein, was sie nun gelernt, auch zur Freude eines kunstverständigen und zur Auferbauung eines frommen Publikums, ohne Flitter und Kram der Eitelkeit, ohne Schaustellung der eigenen Person, zu zeigen.
Es kostete einen langen Kampf und bedurfte nimmermüden Zuspruchs, aber an einem hohen Festtage betheiligte sich Bianca denn doch am kirchlichen Gesang, dessen hohe Pflege eines der schönsten Ruhmesblätter im künstlerischen Ehrenkranze der leichtlebigsten Millionenstadt ist.
Erst ließen Bianca’s Versuche sich nur in der Lerchenfelder Vorstadtkirche und ziemlich befangen hören. Aber mit der Aufgabe wuchs ihr der Muth, mit der Wiederholung das Vertrauen, mit dem Beifall solcher, die sie schätzte, die beseligende Freude, doch wieder ein thätiges Glied im fröhlichen Heere der göttlichen Frau Musika zu sein.
Wo es an Kennern wimmelt, sorgen auch die Kenner dafür, daß Können nicht im Verborgenen bleibt, in dieser ersten aller musikalischen Städte der Welt blieben Bianca’s Leistungen auf dem neuen Felde nicht lange unbeachtet. Sie hatte sich in dieser Sphäre einen Namen gemacht, eh’ sie es selber wußte. Ihre eigene Bangigkeit und Pater Otto’s Vorsicht sorgten dafür, daß sie nie zu viel und nie anders sang, als ihrer nunmehrigen Stimmlage durchaus entsprach. Was sie von Glück sich bewahrt hatte, galt ihr selber als so gebrechlich, daß sie es nie mehr auf ein leichtfertiges Spiel setzen wollte. So trat sie nie fehl in der fromm und dankbar betretenen Laufbahn. Die Maßgebenden, auf die ja Pater Otto nicht ohne Einfluß war, freuten sich, über ein Talent zur höheren Ehre Gottes verfügen zu dürfen. Bei allen Denen, die an guter Kirchenmusik, sei’s aus künstlerischem, sei’s aus religiösem Bedürfniß, Antheil nahmen, genoß Bianca einer gewissen kleinen, aber soliden und ungemein ehrenwerthen Berühmtheit. Und wenn sie an der Seite des stattlichen Chorherrn, ihres Vetters, daherkam, ihren verborgenen Platz neben der großen Orgel einzunehmen, da stießen sich die Kirchenbesucher mit den Ellenbogen an und sagten: „Schau, das ist das Mädel mit der herzbewegenden Stimme, und wie bildhübsch sie ist!“
Nicht auf jeden Fremdling aus jenen Gegenden, auf die der Satz angewendet wird: Frisia non cantat, machte freilich die Erscheinung Bianca’s solchen Eindruck wie auf den, welcher unbemerkt in der Menge seine wassergrauen Augen auf sie heftete und blaß und roth und wieder blaß wurde, da er das Bild seiner Träume mit der Wirklichkeit, der noch viel schöneren Wirklichkeit verglich, die jetzt an ihm vorüberschwebte, ohne seiner, ohne irgend Jemands in der Menge zu achten.
Ach, wie unsagbar glücklich hätte er sein können in diesen drei unwiderruflich verlorenen Jahren! Und wer so engelgut, so seelenverklärt aussah, der konnte kein hinterlistig Spiel mit ihm getrieben haben, das einer Dirne zu schlecht gewesen wäre!
[859] Das waren die beiden Gedanken, die sich jetzt immer wieder ablösten, während er von der einen Seite geschoben und von der anderen gepufft wurde, ohne es recht zu merken.
Und als er drinnen stand im hochgewölbten altersgrauen, weihrauchdurchwehten Raume und in der vielköpfigen Menge sich ein Plätzchen suchte, wo er ungestört weilen und horchen durfte, da gesellte sich noch ein dritter Gedanke zu jenen beiden; er fragte sich: hat dein Betragen Schuld an dem traurigen Ernste, welcher jetzt aus diesen schönen Zügen spricht, die ihn früher nicht kannten?
Da klang die Orgel in weithin gellenden Akkorden, und die Menge rückte sich andächtig zurecht. Die Lichter glänzten am Hochaltar, die Glöcklein klangen, die Priester psalmodirten, und der Weihrauch quoll dichter und immer dichter gegen die Bogen des Querschiffes ansteigend.
Mit einer Spannung, die sich wie herzbeklemmende Angst fühlte, wartete Edgar darauf, aus dem Chore der Sänger eine Stimme auftauchen zu hören, die ihn wie keine sonst in der Welt im Innersten zu rühren verstand.
Tenor und Baß wechselten mit ihren Einzelvorträgen ab. Es dauerte lange, bis ein weibliches Organ sich aus den Chören loslöste.
Edgar stand rechter Hand vom Eingang. Er lehnte sich ans Grabmal Metastasio’s, des fruchtbaren Librettisten der alten kaiserlichen italienischen Oper. Als er den Namen des Dichters vom Steine las, wollte er keinen besseren Winkel sich suchen; er meinte so etwas wie: der Mann, der so viele Opern geschrieben, werde ihm ein Protektor sein, wenn er dies Mädchen, das so viele Opern sang, mit sehnendem Herzen belauschte. Er wußte nicht, daß Bianca längst auf eine Bühnenlaufbahn verzichtet hatte, die ihr einst als der Gipfel aller Wünsche gegolten.
Da, horch! da klang eine weibliche, eine Mezzosopranstimme! Die Leute schienen besser auf diese Stimme zu hören als auf die vorigen. Die Hälse reckten sich, die Köpfe drehten sich, und mehr als ein niedergeschlagenes Auge hob sich jetzt vom Gebetbuch aufwärts gegen den Chor, wo doch keine Menschengestalt frei zu sehen war.
Edgar preßte die Hände fest in einander, als wollt’ er sich an sich selber halten. War das Bianca’s Stimme oder war sie es nicht? Und wenn sie es war, was hatte sie so verändert? Es war ihm, als sähe er einen verdünnten, in hunderttausend goldigen Stäubchen glänzenden Sonnenstrahl, einen von denen, aus welchen die Glorien der Heiligen gebildet werden, gegen den höchsten Himmel schweben, und der wäre es, der so klänge, so wundersam und doch so traurig, so gottbegehrend und doch so gottesvoll. Und es war ihm, als würde dies Emporschweben, dies Gegenhimmelleuchten Ton, als hörte er, was er sähe, und sähe, was er hörte.
Aber unfaßbar blieb ihm, von wem diese Stimme herrührte, die ihn, je länger sie klang, desto ängstlicher ums Herz werden ließ. War das Bianca’s Stimme? Nein, sie war es nicht! Er hatte diese Stimme nie gehört, und er meinte doch, den Klang der alten, wie er die Zimmer der Florianigasse durchschallt hatte, so sicher in treuem Gedächtniß bewahrt zu haben.
Seine Unruhe ward peinlich. Er konnte es nicht lassen, den Ersten Besten, der neben ihm am Monumente lehnte, mit leichter Höflichkeit zu fragen, wer das wäre, der jetzt sänge.
Und der Angeredete, seinen Unwillen über die Störung während der großen Arie … oder über die Störung seiner gottesdienstlichen Andacht kaum verhehlend, antwortete kurz, ohne ihn eines Blickes zu würdigen: „Die Scandrini!“
Es war Edgar wie ein Schlag aufs Herz. Also doch sie!
Und seine Augen wurden feucht. Arme liebe Seele, sprach er im Stillen, wie viel mußt du geduldet und geweint haben! Und vielleicht um mich!
Die Arie wär aus. Die Kenner im Volke sahen sich einander an und drückten die Augen halb zu und nickten kaum merklich mit den Köpfen, wie wenn sie eben einen großen Genuß gehabt hätten. Es war eine Art Applaus mit den Augenwimpern, der der Frömmigkeit nicht den geringsten Abbruch that.
Der Einzelgesang war schon verhallt. Die Orgel schmetterte nun durch den Raum, als sollte die Gewalt ihrer Töne das Gewölbe sprengen. Das war so etwas ganz anderes als die menschliche Stimme, es war, als hätte man den Donner singen gelehrt, und diese Töne der Orgel thaten Edgar weh, als schnitten sie ihm mit Messern durch die Ohren.
Da nun die Pfeifen schwiegen und von der anderen Seite her, wo der Weihrauch immer wieder emporquoll, die zitternde näselnde Stimme eines priesterlichen Greises unverständliche Worte nach uralter Melodie halb sagte, halb sang, war’s Edgar, als spräch’ ihm Jemand in einer unverständlichen Sprache ein hartes, wohlverdientes, unwiderrufliches Urtheil.
Er fühlte sich unpaß, er meinte, es käme wohl von der allzu hastigen Reise, die ihn kopfüber in Geschäftsangelegenheiten nach Wien geführt, oder auch von dem Menschengedränge hier, das ihm den Athem beklemmte.
Er wollte hinaus ins Freie, er machte zwei Schritte nach links, aber er kam an dem Monument nicht vorüber. Es war ihm, als sagte Metastasio zu ihm: Verweile nur, dann hörst du sie noch einmal singen. Ach, nur einmal noch im Leben! Aber das ist doch ein bischen Unbehagen und schmerzhafte Noth werth, die du übrigens redlich verdient hast.
Und richtig, da hub im Credo die durchgeistigte Stimme wieder an, und sie schwoll und schwoll zu einem hinreißenden Strom heiliger Ueberzeugung, als gält’ es Welten zu bekehren und einer Hölle Trotz zu bieten mit Gesang.
Ja, ja, das war sie doch, die Stimme, seine Stimme, die ihn empfinden, tief empfinden gelehrt, die ihn bekehrt hatte von der Eitelkeit der Welt zu inniger Verehrung! Und war doch wieder die Stimme nicht. Es war die Stimme eines gehobenen Wesens, das zu ihm sagen würde: hebe dich von hinnen, Versucher, ich kenne dich nicht!
Ein Theil der Leute schien da der Andacht genug gepflogen zu haben. Sie rückten ab und zogen langsam ehrerbietigen Schrittes dem Portale zu, weil sie entweder das Gedränge nach Ende des Hochamtes fürchteten, oder weil die Scandrini heute nicht mehr singen würde. Vielleicht aus beiden Gründen, wo einer nicht stark genug war.
Gleichviel, die Kirche leerte sich um ein gut Theil ihrer Besucher, und wer wollte, konnte nun unbehindert an den Bänken und unter den Seitenschiffen hinauf- oder hinabgehen.
Aber Edgar mochte sich doch nicht rühren, obwohl der Stein hinter ihm sich recht kalt anfühlte und nichts mehr zu ihm sagte. Aber vielleicht sang Bianca doch noch einmal, und wären es nur ein paar Töne, sie verlohnten des Ausharrens. Er fühlte sich im Willen wie gelähmt. Und wie er so dalehnte, richtete er unwillkürlich die Augen auf einen Jeden, der vorüberging.
Da kam Einer, den er schon von Weitem erkannte, am Schritt, an der Haltung des Kopfes, an seinem klugen, so viele Gedanken verbergenden Gesicht. Hatt’ er ihn doch auch kurz vor Beginn des Gottesdienstes wieder gesehen, seinen alten Widersacher und Freund, den erfindungsreichen Pater Odysseus, Otto Fuchs.
War’s frohe Ahnung, die ihn jählings überkam, war’s Nur ein unbezähmbarer Herzenswunsch, der ihn trieb, er konnt’ es nicht unterlassen, sich bemerkbar zu machen und leise mit dem Haupte nickend zu grüßen.
„Alle guten Geister! Baron Sperber! Sind Sie es wirklich?“ rief der Mönch, und es ging dabei ein Leuchten über seine Züge, das keinerlei Unmuth verrieth, wie er seine Hand so mit beiden Händen packte und ihn mit sanfter Gewalt gegen die Thür und hinaus ins Freie drängte, wo sie besser reden konnten als hier im Gewühl des ins Fluthen gerathenen Menschenstromes.
Aber Pater Otto ließ den Baron auch auf dem Minoritenplatze nicht verweilen, wo es, wie er sagte, der vielen Equipagen wegen nicht geheuer zu stehen war. Edgar fühlte wohl, wie ihn Jener gegen die Herrengasse zog, daß er ihn verhindern wollte, Bianca jetzt zu begegnen. Und Edgar wollt’ ihr auch nicht begegnen, jetzt nicht, in dieser Aufregung nicht, nachdem er sie also wieder singen gehört hatte, nicht; … und wer weiß, wer sie auf dem Heimweg begleitete! und diesen Unbekannten, den er haßte, wollt’ er jetzt auch nicht sehen. Er war seiner selbst nicht sicher genug.
So folgt’ er gutwillig einverstanden, wohin der Pater ihn zog, derweil dieser es an ausdrücklicher Freude nicht fehlen ließ, den guten alten Bekannten so unverhoffter Weise auf Wiener Pflaster zu finden.
Da aber in den engen Straßen um diese Sonntagszeit ein solcher Lärm herrschte, daß man sich seinem Nebenmanne nicht [860] leicht verständlich machen und unmöglich ein behagliches Gespräch pflegen konnte, so führte Pater Otto den Hamburger in irgend ein Gasthaus nächst dem Schottenthor, setzte sich ihm gegenüber und sah ihm prüfend ins Gesicht.
Eine Frage gab die andere. Edgar verhehlte gerade nicht, daß er, seit Beide sich zum letzten Mal gesehen, allerhand Wechsel des Schicksals erfahren hatte, doch verweilte er nicht lange bei eigenen Erlebnissen, sondern erkundigte sich lieber um des Paters und auch um Bianca’s Befinden.
Der Chorherr berichtete, ohne irgend Jemand Schuld daran beizumessen, daß seine Verwandte eines gewitterschweren Sommerabends an ihrer Gesundheit Schaden genommen, in Folge dessen an ihrer Stimme merkliche Einbuße erlitten und darum den einst so glänzenden Hoffnungen, auf der Bühne Glück zu machen, entsagt habe. Was sie trotzdem noch als Künstlerin leiste, dessen sei er ja eben gerührter Zeuge gewesen.
Edgar schwieg traurig vor sich hin und mochte wohl mehr auf die Anklagen, die in seinem eigenen Busen dabei laut wurden, als auf den vorsichtigen Priester hören, der, um sein Gegenüber nicht allzu tief in Verlegenheit zu bringen, nun von allerhand gleichgültigen Dingen, die jenen vielleicht früher interessirt hatten, plauderte.
Dabei konnte dieser die Beobachtung nicht unterlassen, daß der einst so elegante Herr nunmehr zwar ein viel gesetzteres, aber auch ein merklich gedrücktes Wesen angenommen habe und daß seine Kleidung zwar ganz anständig, aber weder ganz neu noch nach der letzten Mode sei.
Pater Otto hatte wohl von dem Sinken des Hauses Sperber etwas läuten, aber nicht genau schlagen hören und sich dabei gedacht, wenn die Katzen vom Dach fallen, so fallen sie auf die Füße und laufen wie vordem.
Aber je mehr er Edgar betrachtete, desto deutlicher drängte sich ihm die Wahrnehmung auf, daß eine große Veränderung mit dem Menschen vorgegangen sei, und er sagte das auch in freundschaftlich theilnehmender Weise, die nicht verletzen konnte.
Der Andere bedankte sich für so guten Zuspruch und bestätigte, daß er kein reicher Mann mehr sei, ganz und gar seinen Geschäften lebe und in diesen auch sich jählings zu einer Reise nach Wien entschlossen habe, wo er noch Einiges zu retten hoffe. Er habe sich gern auf diese Reise begeben, fügt’ er hinzu, und allerdings nicht ohne Hoffnung, Fräulein Scandrini wieder zu sehn. Daß er sie gleich heute habe singen hören, sei allerdings nur durch einen unverhofften Zufall geschehen.
„Oder durch Gottes Fürsorge!“ erlaubte sich der Priester zu bemerken.
Das klang Sperbern wie ein Zeichen der Versöhnung, und dadurch rasch ermuthigt, fragte er geradezu: „Glauben Hochwürden, daß Fräulein Bianca, die ich gern wieder einmal in der Nähe sehen möchte, meinen Besuch annehmen würde?“
„Offen gestanden,“. antwortete der Priester, „ich glaub’ es nicht, daß sie Ihren Besuch annehmen würde. Sie hat Sie einst sehr lieb gehabt; aber Sie haben sie schwer gekränkt. Meine Kousine hat das tiefer empfunden als ich es ihr zugetraut hätte. Sehr tief! Ihr Lebenszweck, ihre ganze Lebensanschauung hat sich darnach geändert. Und sie denkt auch über manche Menschen anders, als dazumal.“
„Ja, ja!“ sagte Sperber und sah nachdenklich in sein Glas hinein. Was hätt’ er viel anders sagen sollen in dieser Lage! Da er ein Kaufmann war und einer, der Unglück gehabt hatte noch dazu, dacht’ er vielleicht auch: nicht nur ihr Lebenszweck, sondern auch der meinige hat sich geändert, und da ich keine beneidenswerthe Partie mehr bin, macht der Pfaffe gleich lieber schon von Weitem vor mir die Thür zu.
Pater Otto jedoch überraschte den Argwöhnischen mit dem Vorschlag: „Wissen Sie was, lieber Baron? Ich will mit Bianca reden, ob sie Sie wiedersehen mag. Willigt sie ein, und an mir soll’s nicht liegen, wenn sie es weigert, so send’ ich Ihnen Botschaft in Ihr Hôtel.“
„Heute noch?“
„Ja, heute noch! Verlassen Sie sich darauf, Herr Baron. Wie lange bleiben Sie noch in Wien?“
„Wenn ich keine Nachricht von Ihnen erhalte, Hochwürden, dann denke ich morgen Abend wieder abzureisen.“ –
Nun denn, der gute Herr von Sperber reiste in der That am andern Tage von Wien wieder ab, ohne Bianca wiedergesehen zu haben, denn, so gespannt er auch auf den Boten des Mönches gewartet hatte, es war keiner gekommen. Bianca hatte sich nicht überwinden können, den einst Geliebten wiederzusehen und alte Wunden aufzureißen, die auch im Vernarben noch so heftig schmerzten. Sie war zu stolz und hatte zu viel gelitten, um dem Manne, dem sie zur Frau nicht gut genug gewesen war und der sich über ihren Verlust mit unwürdigen Geschöpfen getröstet hatte, mit offenen Armen und lachenden Lippen entgegenzugehen. Und sie fühlte sich nicht stark genug im Herzen, um ihn, wenn er kam und bat, mit verschränkten Armen und trotzigem Munde wie einen Fremden zu empfangen.
Da ihr Gefühl also entschied, drängte der Pater nicht weiter in sie und ließ Edgar ungegrüßt seiner Wege ziehen, obwohl er kein Hehl daraus machte, daß ihm ein anderer Entschluß lieber gewesen wäre. Denn schon als guter Christ mahnte er, Denen Gutes zu thun, die Einem Uebles gethan hatten.
Sie kamen aber nun des Oefteren als bisher wieder auf den Mann in Hamburg zu sprechen, der sich nun so bald nicht wieder bei ihnen melden würde. Pater Otto brauchte seinen Scharfsinn nicht über die Maßen anzustrengen, um zu merken, daß Bianca in der Stille ihres Herzens noch immer an Edgar hing, wie er an ihr, wenn sie das auch nicht Wort haben wollte. Gerade weil Schmerz und Kränkung ihr noch so nahe gingen, überzeugte sich Pater Otto, daß auch die alte Liebe noch unter der Asche glühte. Wäre dieser Sperber ihr gleichgültig geworden, sie hätte ihn gefaßt empfangen und sich mit dem abgedankten Kourmacher ganz leidlich unterhalten.
Darum dacht’ er, daß noch nicht aller Tage Abend sei, und zog derweilen von dort und da, wie’s eben ging, Erkundigungen über Edgar’s dermalige Lage und dessen Aussichten in die Zukunft ein, was ihm, dem weltläufigen Manne, der mit allerhand Geschäften seines Klosters zu schaffen hatte, nicht schwer wurde.
War es nun, daß ihm die Dinge in Hamburg von Anderen schwieriger geschildert wurden, als sie in der That waren, oder daß er bewußtermaßen übertrieb, er machte seinem Mühmchen, als er wieder einmal gemüthlich bei ihr saß, die Mittheilung, daß sich mit ihrem Sperber nicht nur viel geändert habe, sondern daß er, genau betrachtet, ein armer Mann geworden sei.
„Ein armer Mann!„ Bianca ließ es sich noch einmal wiederholen und spießte dabei scheinbar ganz gelassen eine Stahlperle nach der andern mit ihrer Nähnadel aus einem Schächtelchen und stickte damit an einem Kragen herum, der solchen Werth für sie zu haben schien, daß sie nicht einen Blick nach dem Vetter hinüberwandte, obwohl sich dieser einige Mühe gab, ihr aus einander zu legen, was arm sein für einen Menschen bedeute, der in fürstlichem Ueberfluß geboren sich mit vollem Rechte als der Erbe von Millionen betrachten und als solcher gebärden durfte, und der nun darauf angewiesen sei, als reicher, als verwöhnter Mann ein dürftiges Leben von vorn anzufangen und seines Lebens Unterhalt mühsam und kleinweis zu verdienen wie einer, der nie was Besseres gekannt hat und an die liebe Noth gewöhnt ist von Kindesbeinen an.
Pater Otto redete sich ordentlich in Hitze, denn ihn ärgerte der Gleichmuth, mit welchem seine Base die kleinen Perlen aufzuspießen nicht müde ward. War sie wirklich aus Stolz unversöhnlich? Hatten die Jahre sie kalt und gefühlsarm werden lassen? oder that sie nur so dergleichen?
„Master Edgar hat ja Strafe verdient an Dir!“ rief er laut. „Aber, mein Kind, diese Strafe ist hart. Du kannst es glauben! Und Du hättest Dir nichts vergeben, wenn Du dem armen Kerl, der danach verlangte, auch die Erlaubniß ertheilt hättest, Dich persönlich um Verzeihung des Geschehenen zu bitten!“
„Er hat ja andere Bekannte genug im lustigen Wien!“ warf Bianca über ihre Nadel hin.
„Schäme Dich!“ sagte der Chorherr. „Er hat nur aus Liebe zu Dir gefehlt und weil ihm die Liebe, wie das so gemeiniglich geschieht, den Verstand genommen hatte. Diesmal hat er sich um Niemand von seinen alten Bekannten gekümmert –“
„Weißt Du das so gewiß?“ frage Bianca rasch und sah den Pater endlich und etwas überlegen lächelnd an.
Der aber rief, obwohl ein wenig darüber erröthend, daß er sich verrathen hatte, in aller Stille genauere Erkundigungen über Edgar eingezogen zu haben. „Ja, ich weiß es! Ich hab ihn ein wenig beobachten lassen. Er interessirt mich. Er saß im
[861][862] Hôtel und wartete auf meine Botschaft. Und dann fuhr er betrübt ab, der doch gern geblieben wäre. Mit seinem früheren Leben hat er gebrochen. Aber die Sehnsucht nach Dir leuchtete dem armen Teufel nur so aus den treuen Augen …“
„Jetzt,“ sagte Bianca, das Angesicht tief auf ihre Stickerei beugend, „weil der Teufel arm geworden ist.“
„Na, eben weil er arm geworden ist, hättest Du ihn ohne Bangen empfangen können, da so doch nichts mehr aus Euch werden kann, wenn er kein Geld hat und Du auch keins!“
„Ah!“ sagte Bianca und ihr Blick haftete nun im Gesichte Pater Otto’s, das spöttisch lächelte, weil er dem verschmitzten Mädchen eins gegeben hatte, das traf.
Aber dieses sagte kein Wort weiter, weil sie dem Vetter noch nicht verrathen wollte, was sie dachte, und die Gedanken sich selbst doch wie ein Wirbel in ihrem schönen blonden Köpfchen drehten.
Als der Priester sie allein gelassen, sprang sie jäh vom Sitz auf, warf Nadel und Perlen bei Seite und kniete vor den ersten besten Stuhl am Boden, die Ellenbogen auf den Sitz gestemmt, das schwindelnde Haupt in beiden Händen, und weinte jämmerlich – Thränen des Mitleids und Thränen der Freude in Eins.
Freute sie sich, weil den Geliebten Schaden getroffen hatte? Nicht doch! Das leicht erregbare Künstlerblut spiegelte ihr ein phantastisches Bild naher Zukunft vor, das sie ganz glückselig machte und allen Kummer und Gram der Vergangenheit von ihr zu nehmen versprach.
Wochen und Monate beherrschte fortan ein und derselbe Entschluß ihr Denken, Thun und Lassen.
Wenn sich in letzten Zeiten die deutlichen Beweise mehrten, daß Bianca’s Gesang in der Kirche die Menschen entzückt und erquickt habe, wenn Freunde des Hauses ihr das Lob der andächtigen Hörer zutrugen, wenn sie in Zeitungen ihren Namen ehrenvoll erwähnt fand, dann klopfte jedesmal und immer eindringlicher die Frage bei ihr an: solltest Du’s nicht doch wieder mit dem Theater versuchen?
Im Anfang hörte sie gar nicht auf den sanften Reiz. Als aber einmal selbst ein berufener Kritiker bei Gelegenheit einer ihrer kirchlichen Leistungen sein Bedauern darüber aussprach, daß solch eine schöne und geschulte Stimme nicht für die Oper gewonnen würde, wo man statt dessen so oft mit altgewordenem Material vorlieb nehmen müßte, da hatt’ es schon mehr Noth, die Versuchung zu bekämpfen. Allein ihr Verstand lieh ihr noch tüchtige Wehr und Waffen dagegen.
Sie sagte sich, daß ihre Stimme nicht wieder zur alten Kraft gelangt sei, auch wohl nie wieder zur alten Kraft gelangen werde, daß sie nicht hoffen dürfe, anstrengende Opernrollen glorreich zu Ende zu führen, tadellos vom ersten bis zum letzten Ton, und daß ihre jetzigen Stimmmittel den Geboten fortlaufender Thätigkeit in einem anspruchsvollen Opernrepertoire über kurz oder lang erliegen müßten.
Nach und nach versuchte sie dann in Stunden antreibender Hoffnung wieder jeden dieser Gegengründe sich selbst zu widerlegen, denn die Lust, mit Leib und Seele zur aufgegebenen Bühnenkunst zurückzukehren, wuchs mit jedem neuen Erfolg, mit jedem neuen Sonntag.
Da aber Erkenntniß und Besorgniß doch nicht ganz vor der Lust und Liebe zum Beruf sich ergeben wollten, setzte sie die Entscheidung außer sich und vermaß sich, auf ein Zeichen zu harren, welches ihr das Schicksal geben werde, wenn sie so, wie sie war, den gefährlichen Weg auf die Bretter mit Entschiedenheit betreten sollte.
Nun, meinte sie, war die Entscheidung gefallen, nun war das Zeichen von ihrem Schicksal gegeben worden! Und mit inniger Wonne malte sie sich aus, wie ihr Weg sie in die Höhe tragen werde zu Ruhm und Glück, und wie sie dann zu dem geliebten Manne sagen werde: Ich weiß, daß du bereust, ich weiß, daß du mich noch liebst! Komm und theile mit mir, was Gott und mein Talent mir beschieden haben, denn du nur fehlst mir noch, um ganz glücklich zu sein!
Sie prüfte sich selbst, erst maßvoll, dann in gesteigerter Anstrengung ihrer Stimme. Sie ging wieder zu ihrem alten Lehrer und forderte sein Urtheil heraus. Es war das einstige schwärmerische, verheißende nicht mehr, aber es war immerhin ein gutes, sofern ihre Stimme sich ausdauernd beweisen würde. Doch das sei Sache der Zukunft und müsse erprobt werden. Ihr Herz gab heftig pochend die Versicherung dazu, sie werde die Probe bestehen. Und als sie ganz mit sich im Reinen war, trug sie endlich auch Pater Otto ihren Entschluß vor, den sie bereits einen unabänderlichen nannte.
Wenn es ein unabänderlicher wäre, meinte Pater Otto die Achseln hochziehend, dann wollt’ er sich bei einem so hartköpfigen Frauenzimmer nicht der fruchtlosen Mühe unterziehen, denselben zu erschüttern. Er wünsche ihr Glück dazu und werde in Gottes Namen dazu helfen, soweit es in seinen Kräften liege.
Nun hockten die Zweie wieder oft beisammen und schmiedeten Pläne und brüteten über Anerbietungen, wie solche mit Hilfe eines neuen Agenten, der für Bianca’s Kirchengesang schwärmte, eingingen. Otto machte gute Miene zum bösen Spiel und machte sich auch seine eigenen Gedanken, die er aber nicht alle laut werden ließ.
Er ging manchmal ganz allein zum Agenten und überraschte eines Abends seine Kousine mit einer Nachricht, die er ihr aus Vorsicht nur langsam und wohlvorbereitet beibringen mochte. Es war nämlich ein Antrag eingegangen, der Bianca, wenn sie wollte, die Aussicht eröffnete, an einem der angesehensten Opernhäuser Deutschlands ein Probegastspiel auf Engagement zu absolviren.
Blätter und Blüthen.
Manchester, den 10. December 1885.
Meine liebste Elli!
Du bittest um eine Antwort mit Postwendung, ob Du Lizzy’s Einladung annehmen sollst und unsern lichtstrahlenden deutschen Christbaum vertauschen gegen die immergrüne Weihnachtskrone Alt-Englands? Da hast Du meine Entscheidung: Geh’ auf alle Fälle, aber nimm meinen Rath auf den Weg: hüte Dich vor dem tückischen mistletoe! Ich glaube, ohne diesen gefährlichen mistletoe hätte ich mich nicht eben durch jenen erstickenden schwefelathmenden Nebel zu kämpfen brauchen, den nur das Klima meines neuen Heimathlandes zu solcher Intensität entwickeln kann – das wäre was für Dich gewesen, Du herzige Lachtaube! Keine zwei Schritte vor Augen sehen, sich forttappen mit ausgestreckten Händen, um nicht gegen einen Fremden anzurennen, dessen Gestalt wie ein unheimlicher Schemen silhouettenhaft durch den grauen Dunst Dir entgegenschwebt! Wie auf Wolken gleitest Du ängstlich dahin – denn selbst der Boden ist mit der dicken Atmosphäre wie bedeckt und das
Licht der Gasflammen ist jetzt um die zwölfte Mittagsstunde von diesen schwebenden Dünsten wie verschlungen und erstickt. Jetzt fallen zarte, leichte Schneesternchen sacht zur Erde. Werden wir doch noch eine weiße Weihnacht haben wie im vorigen Jahre, wo Lizzy Brook mich ohne viel Umstände mit sich nach Hause entführte?
Weißt Du noch, Elli? Du Aermste mußtest das schöne Fest ja in der Pension vertrauern, weil Dir die böse Lungenentzündung das Heimreisen noch nicht gestattete, und nicht besser wäre es mir ergangen, hätten sich Lizzy’s Eltern nicht meiner erbarmt und Lizzy’s Bruder Tom (ein Herr, der mir erstaunlich nahe lebt und eben mein Ohrläppchen zwickt, da ich seinen Namen schreibe) uns von Dresden abgeholt. Im Hause meines Vormundes war die Masernepidemie ja noch nicht völlig überwunden, unsere alten Pensionsfräuleins fürchteten die Ansteckung für mich: ergo die mögliche Einschleppung für unser Dresdener Tusculum, und so mußte ich heimathsloses Waisenkind denn in die Welt pilgern, um überhaupt zu wissen, daß es Festtage waren. Und welche Festtage! Ja, dabei fällt mir ein, ich wollte Dich vor dem mistletoe warnen, ich habe ja noch ein halbes Dutzend Schwäger in den verschiedensten Jahrgängen und darf Dich in der Ahnungslosigkoit Deiner 17 Jahre unmöglich gleichen Fährlichkeiten harmlos entgegenziehen lassen, ohne … Tommy kneipt schon wieder; er sagt, ich sei schändlich undankbar gegen den mistletoe, der inzwischen zu einer Brautkrone für mich angewachsen, ich verleumde ihn barbarisch. Gut, ich werde Dir also nur ganz objektiv von den Weihnachtsbräuchen hier zu Lande referiren, und Du magst daraus die Dir nützlichen Schlüsse selber ziehen.
Wir kamen also im vorigen Jahre einen Tag vor Weihnachten glücklich in Lizzy’s Vaterhause an, nebenbei gesagt, eines der prächtigsten [863] komfortabelsten Landhäuser im großen Stil und ausgedehntestem Garten- und Parkkranz. Eine eigentliche Christbescheerung oder specielle Feier des Heiligabends wie bei uns im deutschen Vaterlande kennt man nicht, dafür aber macht sich der Familiensinn und die Familienzusammengehörigkeit bei den Engländern während dieser Zeit weit mehr geltend als bei uns. Von weit und breit kommen sie zugereist, die in irgend näherem Zusammenhang mit dem Stammhause stehen, um in schönster Gemeinsamkeit die Feiertage zu verleben. Es ist ein heiligschönes Familienfest im wahrsten Sinne des Wortes. Christbaum und Weihnachtsgeschenke lernt man leicht verschmerzen, wenn man inmitten einer so fröhlich-harmonischen Weihnachtsversammlung sitzt, die völlig vergessen zu haben scheint, daß es ernste Lebensfragen und Sorgen für den übrigen Theil des Jahres giebt. Die Alten werden wieder jung mit der Jugend, spielen lustig „Blindekuh“, „Such’ den Pantoffel“ und andere drollige Kinderspiele mit uns heiteren Menschen unter 20 Jahren, und kaum weiß ich, wer sich mit vollerem Herzen dem Genusse des Augenblicks hingab: mein steifer wortkarger Schwiegerpapa mit den schneeweißen Bartkoteletten, vor dem ich an Werkeltagen einen so scheuen Respekt habe, oder meine damals siebzehnjährige Wenigkeit. Drei Schwestern von Mrs. Brook mit Männern und Kindern waren ebenfalls gekommen, sechs Söhne des Hauses aus Oxford und Eton rechtzeitig eingetroffen, und mein langbeiniger, etwas ungeschlachter Tom, an dessen Arm ich wie ein „ridicule“ anzuschauen sein muß (au, da kneipt er schon wieder!), hatte den Fabrikschornsteinen Manchesters auf einige Tage ganz den Rücken gekehrt, um hier in Bowden (ein Platz wie Charlottenburg zu unserem heimischen Berlin) die rauchige Geschäftsatmosphäre aus Kopf und Kleidern los zu werden.
Wir waren eine Gesellschaft von sage dreißig Personen. (Es geht hier übrigens alles im großen Stil zu, Mittelklassen existiren eigentlich nicht und man sieht nur ganz reiche oder ganz arme Leute.) Dreißig Personen, die das gastliche Haus der Brook’s umfaßte, und wie viel „fun“ haben wir getrieben! Nun möchtest Du wissen, was dieser urenglische „fun“ heißt, nicht liebe Seele? Das ist Scherz, gute Laune, Vergnüglichkeit und Amusement alles zusammen genommen; das, was man Andern thut, von diesen bekommt, und was von außen hinzutritt, um fröhliche Stimmung zu verschaffen. Wir Jugend strömten in den schneebedeckten Garten und beraubten die immergrünen Büsche. Ueberall wurden die metallisch-leuchtenden, stachligen, dunkelgrünen Blätter, zwischen denen die dunkelrothen Beeren funkelten, als Zierrath und Weihnachtsembleme angebracht, Bilder, Spiegel, Wände, nichts wurde vergessen, und dann hing Lizzy den Mistelbusch, der in keinem echt englischen Hause zu Weihnachten fehlen darf, mitten unter den Kronleuchter. Schwager Charly hat dazu eine Skizze gezeichnet, die ich zu Deiner besseren Orientirung dem Briefe beischließe, und Schwager Bob, unser gelehrtes Familienlexikon, läßt Dir sagen, die Mistel (mistella) sei als Weihnachtsschmuck ein Ueberbleibsel der Druidenzeit, wahrscheinlicher noch eine Verehruug des Gottes Balder, weil derselbe durch einen Mistelstock erschlagen wurde; da er aber wieder auferstand, wurde der Mistelzweig der Liebesgöttin gespendet, woraus der Brauch entstanden – doch ich will meinem Schlußeffekt ja nicht vorgreifen.
Kehren wir also zuerst zu den Weihnachtsgesängen, die den Tag einleiten und von unsern beiden Jüngsten mit engelhaften Stimmen ausgeführt wurden, und zu der Krone des Festes, dem Weihnachtsdiner, zurück, bei dem ein Etwas nie fehlen darf, was uns Deutschen nicht immer mundet, das von englischen Essern aber in unglaublichen Massen vertilgt wird: plumpudding nämlich, um den die bläuliche Flamme des angebrannten Rums züngelt. Der landesübliche plumpudding, ein riesiger gekochter Globus, der mit seinen reichen Bestandtheilen von Mehl, Fett, Rosinen den Magen leicht beschwert, darf Weihnachten weder im Hause des Reichen noch des Armen fehlen; ebenso schmücken die Fest-Nationalgerichte des fetten Puter nebst geräucherter Zunge und des mächtigen Roastbeefs fast ohne Ausnahme jede Tafel der drei Königreiche.
Und nun zu dem, was Dir als warnendes Exempel dienen mag. Wir hatten unsere Selleriestangen zum Chesterkäse geknuspert, die alten Herren saßen noch über ihrem port und claret und Mrs. Brook forderte uns Jugend auf, den Kaffee im drawing room zu nehmen. Tom, der Heimtückische, reichte mir seinen Arm, in Lizzy’s Augen funkelt es schalkisch auf, in denen ihrer Brüder in geheimer Schadenfreude. Tom, der Verräther, führt mich mit steifer Grandezza aus dem Speisesaal hinaus in die Halle unter den Kronleuchter, von dem der riesige mistletoe herabhängt. Dann packt er mich ahnungsloses, toderschrockenes Opferlamm (nun schließe Deine Ohren, Pensionskind, es schickt sich eigentlich gar nicht für Dich, das zu hören, geschieht aber der Abschreckungstheorie halber), umfaßt mich mit seinen riesigen Armen und küßt mich schallend dreimal auf den Mund, ehe ich noch zur Besinnung komme. Erst bin ich versteinert, dann empört und will zornig losbrechen, da lacht es aber im Chorus um mich her. Die Kinder küßten sich unter dem mistletoe, junge Männer suchen mit tausend Künsten ihre Angebeteten unter das mystische Attribut der nordischen Liebesgöttin zu locken, ja das Hausmädchen, das dem jüngsten Sohn des Hauses unter der geheimnißvollen Krone begegnet, fordert mit höflichem Knix ihr dadurch schuldiges Präsent ein.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich mußte mit den Wölfen heulen. Die geheimnißvolle Macht, die der mistletoe zu Weihnachten demjenigen giebt, der den Anderen unter seiner Krone antrifft, hat sich bei uns ein bischen lange fortgesetzt, und der gewaltthätige Tom hat sein Antragsrecht ein bischen über Gebühr ausgedehnt, ja, denke nur, er macht heute noch an die damals verpfändeten Küsse Anspruch, wo der alte mistletoe längst verwelkt und wir den frischen in wenigen Tagen im Elternhause in leuchtendem Grün neu erstehen sehen.
Er behauptet: unsere Liebe welke nie und erfahre ein tägliches Auferstehungsfest. Ueberzeuge Dich selbst von der wunderthätigen Macht dieser mystischen Weihnachtskrone, Du liebe Kleine. Auf Wiedersehen beim englischen Familienfest, beim plumpudding und unter dem mistletoe!
Deine ewiggetreue Freundin
Martha Brook.
Christrose. Wer kennt nicht jene Märchen von wunderbaren Blumen, die mitten im Schnee in der heiligen Nacht ihre Blüthen öffnen und Zauberkräfte besitzen? Allen diesen Sagen liegt etwas Wahres zu Grunde, und wer sich Mühe giebt, kann mit eigenen Augen das Wunder schauen. In milden Wintern beginnt gegen Weihnachten aus schneebedeckten Hängen und in schattigen Waldungen der Gebirge die Weihnachtsblume ihre Blüthen zu öffnen, die anfangs grünlich aussehen, mit der Zeit aber weiß werden, in röthlichen Farben erglühen und uns das sommerliche Bild der wilden Rose vorspiegeln.
Der gelehrte Botaniker nennt diese Pflanze „Schwarze Nießwurzel“ und findet in ihrem griechisch-lateinischen Namen Helleborus die Erklärung der Zauberkraft, welche der Volksglaube den um die Weihnachtszeit blühenden Pflanzen beilegt. „Sie nimmt das Leben, wenn sie genossen wird“, so etwa könnte man ihren Namen verdeutschen, und die märchenhafte Christrose gehört in der That zu den Giftpflanzen. In ihren Wurzeln sowie in denen ihrer Verwandten ist ein starkes Gift, das Helleborin, enthalten, das den ausgesprochensten Herzgiften beigezählt wird – eine Eigenschaft, auf welche wenig die schönen Dichterworte passen:
„Ein holdes Wunder, das sich nie erklärt,
Erblüht im Schnee und im Krystallgefunkel
Christblume, die der Geist der Liebe nährt.“
Freilich wird noch heutzutage hier und dort das Gift von den Aerzten als Heilmittel angewandt.
Die Gärtner haben der Blume längst ihre Aufmerksamkeit geschenkt, und wir sehen sie manchmal aus dem dunkeln Laub winterlicher Grabkränze hervorschimmern. In den Gärten von Balmoral in Schottland ist die Kultur der Christrose oder Weihnachtsblume zur höchsten Vollendung gebracht worden, und unsere Kronprinzessin hat von dort neuerdings die besten Varietäten in die von ihr so schön gepflegten Gärten des Neuen Palais in Potsdam verpflanzt, wo sie trefflich gedeihen. Unser Zeichner, der dort an Ort und Stelle die interessante Blume zeichnete, hat darum zwischen ihren Blättern auch die Abbildung des Neuen Palais in Potsdam eingefügt – die neueste Heimath der Christrose.
Die Weihnachtsfee. (Mit Illustration S. 844 und 845.) „Die fröhliche, selige Weihnachtszeit“, auf welche sich alljährlich so unzählige Kinder und Elternherzen schon Monate lang vorher freuen, ist leider für wohl ebenso viele Kinder und Eltern weder eine fröhliche noch eine selige Zeit. Kein mit Aepfeln, Birnen und vergoldeten Nüssen, mit süßem [864] Backwerk, Flitter und Glaskugeln geschmückter „Christbaum“ strahlt in den Wohnungen der Armen den frierenden und hungernden Kindern, kein Glückesjubel, kein fröhliches Weihnachtslied ertönt da, wo man nur die Noth und Sorge des Lebens, nicht aber seine Freuden kennt.
Bisweilen aber geschieht es wohl, daß – gleich der gütigen Fee des Zaubermärchens – ein Engel in Menschengestalt sich der Hütte der Armuth naht und Trost und Hilfe, Freude und Glück in dieselbe trägt. Solch eine Scene schildert das schöne Bild unseres talentreichen Malers Erdmann Wagner. Die Familie, welche in dem kleinen ärmlichen Stübchen haust, hat offenbar einst bessere Tage gesehen. Aber die lange Krankheit des Ernährers der Familie und sein erst vor Kurzem erfolgter Tod haben nach und nach die Ersparnisse der armen Wittwe aufgezehrt.
Bittere Noth, Mangel und Elend herrschen daher jetzt im Stübchen der Armen, und keine Aussicht auf eine Besserung ihrer entsetzlichen Lage ist vorhanden. Da plötzlich öffnet sich die Thür und die gütige Fee, der Engel in Menschengestalt, die edle junge Gattin des benachbarten Gutsherrn, erscheint mit ihrem etwas scheu auf die ungewohnte Scene blickenden Töchterchen und bringt Trost und Hilfe für die Kranke und ihre Pflegerin, Freude und Glück für die Kinder.
Es ist ein schönes, aus dem Leben gegriffenes Bild, denn – Gott sei Dank! – der Sinn für Wohlthätigkeit und Unterstützung Armer und Hilfsbedürftiger ist unter den deutschen Frauen allgemein verbreitet und gereicht ihnen für alle Zeiten zur schönsten Zierde und Ehre.
Weihnachtsabend in den Alpen. (Mit Illustration S. 861.) Zwischen den flimmernden Lichtern seiner Straßen, zwischen den strahlenden Schauläden des Gewerbfleißes, im Strom der Menschen und im Lärm der Wagen – was weiß der Städter um die Weihnachtszeit von der Natur und ihren Schrecken? Der wirbelnde Schnee zerschmilzt an den Schaufenstern und auf den Gasleuchtern, er vergeht unter Roßhuf und Wagenrad. Ja – in der Großstadt führt das Menschenthum die Herrschaft; nur hoch oben über den Dächern und um die Thürme, da orgelt die wilde Stimme der Natur, der winterliche Sturm.
Wie anders ist’s um diese Zeit im Hochgebirg! Der Winter ist in die Thäler gegangen, eisklirrenden Schritts. Wochenlang hat es geschneit; geschneit ohne Unterlaß, als solle die arme Erde erstickt und erdrückt werden; geschneit, daß die Wälder krachten und die Bäche still standen.
Und dem Schnee folgte der Frost, schneidender, grimmiger Frost, der die Wasser des Gebirgs in funkelnde steinharte Zaubergebilde verwandelt. Der Schnee und der Frost, der heulende Sturm und dazwischen wieder die thauende Mittagsonne schufen eine weiße Wunderwelt: neue Berge und neue Thäler, neue Bäume und neue Blumen, aber alles weiß und todeskalt. Je höher aufwärts im Thal, um so tiefer der Schnee, um so schmaler der Pfad, um so stiller und winterlicher die Welt.
Ganz hoch droben im Thale liegt noch ein Kirchdorf. Keine Straße mehr ist’s, was im Sommer da hinaufführt, nur ein steiniger Saumpfad. Und vom Dorfe weiter aufwärts führt nicht einmal der Saumpfad mehr, sondern nur ein Alpensteig znm letzten einsamen Gehöft und dann zu den Almen und zum schwindelnden Joch. Drei starke Stunden sind hinunter bis zum nächsten größeren Dorfe, wo die Straße beginnt. Drei Stunden zur Sommerszeit, wenn die Wege gut sind. Aber wenn einmal der Winter seine Schneemassen ins Thal geworfen hat, dann sind es sechs Stunden – oder eine Ewigkeit. So heißt es denn ausharren für die wenigen Menschen, die in diesem Hochthal ihr bescheidenes Leben führen: ausharren bis Weihnachten und dann wieder bis Ostern!
Zu schwer, zu gewaltig, zu mörderisch drückt der Winter in die Bergthäler hinein, als daß hier die Weihnachtszeit jenen Frohsinn wecken könnte, der in den Städten die Lichter des Weihnachtsbaums aufblitzen läßt und seine Gaben darunter streut. Die Weihnacht im Hochgebirge ist ernst und still. Aber ganz ohne Feier ist sie nicht. Denn wenn die Mitternachtsstunde herannaht, kommen von den benachbarten Höfen die Leute zum Kirchdorf; mit Laternen und flammender Kienspanleuchte suchen sie sich den Weg, tief vermummte schweigende Gestalten. Und die von den höchsten Höfen tragen Schneereifen an den Füßen und erzählen, wie droben neben ihrem Hause der Hirsch, der Sechszehnender, im Schnee vergraben sei.
Hell klingt die kleine Glocke aus dem Bergkirchlein in die frostklare Mondnacht hinaus. Drinnen feiern sie die Christmette: einen kurzen stillen Gottesdienst. Keines von ihnen weiß mehr davon, daß vor fünfzehnhundert Jahren an derselben Stelle, auf dem gewaltigen Schieferblocke, der jetzt als Kirchenschwelle dient, heidnisches Opferfeuer brannte, das Fest der Wintersonnenwende zu feiern. Der alte heidnische Brauch ist vergangen; aber im Volksgemüth lebt noch dieselbe Stimmung, wie damals: jene leise, unter der kalten Schneelast still athmende Hoffnung vom Wiedererwachen. Und mit dieser Hoffnung im Herzen suchen sie sich wieder den Weg heim durch den Frost und den Schnee.
Die Letzte aus dem Kirchlein ist eine alte Frau. Ihr Austragstübchen ist gleich im nächsten Hause, drum kann sie verweilen. Ihr Auge sucht unter den schlichten schwarzen Holzkreuzen des kleinen Friedhofes eins, das sie seit einem halben Jahrhundert kennt. Und wie sie das Kreuz gefunden hat, hört sie fernher durch die Mitternacht einen Jodler. Ja – so hatte vor fünfzig Jahren auch der gejauchzt, der da unter dem Kreuze liegt. Und es war das Letzte gewesen, das man von ihm gehört hatte, von dem verwegenen Menschen, der es in der Weihnacht wagen wollte, über das verschneite Joch hinüberzuklettern ins Nachbarthal. Manchmal schon war’s ihm geglückt zur Winterszeit; denn kein Gemspfad war ihm zu steil und keine Nacht zu wild. Aber damals hatte es ein schlimmes Ende genommen, und erst nach zwölf Wochen hatten sie den Verlorenen aus dem Schnee gegraben. Daran denkt die alte Frau, wie sie seit fünfzig Jahren daran denkt, sie murmelt noch ein Vaterunser an das Kreuz hin und schwankt heim in ihr Stübchen. Draußen aber funkelt und glitzert die Mitternacht fort, im Mondlicht schimmern die schneeschweren Dächer und der eisstarrende Bach, gespenstig starren die dunklen Fichten darüber hin, und zauberhaft erklingt noch einmal der jauchzende Ruf, langhinhallend, bis er in silbernem Duft sich verliert. M. Haushofer.
Nußknacker. (Mit Illustration auf S. 848.) Da ist er einmal wieder, der alte Freund aus alter Zeit! Er ist selten geworden; das Jahrhundert der Erfindungen zieht praktischere Nußknacker vor. Aber von den lächelnden Kindern unter dem Weihnachtsbaum wird gerade er unter allem Spielzeug mit größter Freude begrüßt. Der Moment ist wichtig und voll Spannung: Nußknacker steht im Begriff, die Probe auf seine Leistungsfähigkeit zu machen, und wir sind überzeugt: die Hebelkraft seines Unterkiefers wird sich bewähren: krick krack – da liegen die Schalen. Vielleicht auch nicht. Es giebt Nüsse, an denen man sich die Zähne ausbeißt. Wer kann’s ändern? V. B.
Inhalt: Zwei Weihnachten. Gedicht von Otto Sievers. Mit Illustration. S. 841. – Edelweißkönig. Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 842. – Unsere Hausglocke. Eine Weihnachtsgeschichte von W. Heimburg. S. 849. Mit Illustrationen S. 849-856. – Christnacht im Walde. Gedicht von Julius Lohmeyer. S. 856. Mit Illustration S. 857. – Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen (Fortsetzung). S. 856. – Blätter und Blüthen: Ein Weihnachtsbrief. Von C. Lionheart. S. 862. – Christrose. Mit Illustration. S. 863. – Die Weihnachtsfee. S. 863. Mit Illustration S. 844 und 8845. – Weihnachtsabend in den Alpen. Von M. Haushofer. S. 864. Mit Illustration S. 861. – Nußknacker. S. 864. Mit Illustration S. 848. – Einbanddecke zur „Gartenlaube“. S. 864.
Nicht zu übersehen!
Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
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Die Verlagshandlung.