Die Gartenlaube (1885)/Heft 52

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 52.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Schluß.)

Als Luitpold und Ferdl aus dem Walde auf die Almenlichtung traten, sahen sie schon die blinkenden Fenster der Hütte und hörten schon die Leute reden, welche die hell erleuchtete Thür umstanden, Sennerinnen der nächsten Almen, Kühwehrer und Schafhüter. Je näher sie der aufgeregten Gruppe kamen, desto deutlicher hörten sie eine Stimme aus all den andern heraus. „Der Dori!“ flüsterte Ferdl und lauschte wieder den Worten des Burschen. „Ja – und so hat jetzt d’ Enzi dem Gidi ’s Leben g’rett’,“ hörte er ihn sagen. „Die is zum neiden! So a Glück hat halt an andrer net – und wann er sich auch d’ Augen drum ausschaut. Und wann er ’s Glück haben könnt’ – nachher verschlaft er’s!“

Schon wurden die Leute auf die Beiden aufmerksam, die sich ihnen näherten. Da reichte Luitpold seinem Gefährten schweigend die Hand zu langem und festem Drucke. Sie verstanden sich auch ohne Worte.

Während Luitpold der Thür zuschritt, huschte Ferdl hinter eine Mauer hochaufgeschichteten Brennholzes. Als er die Hütte umgehen wollte, kam er an einem offenen, erleuchteten Fensterchen vorüber und verhielt die Schritte. Da drinnen sah er auf dem Kreister der Sennerin den Jäger liegen; das blutleere Gesicht zeigte in der Umrahmung des dichten, schwarzen Bartes eine erschreckende Blässe; doch war es nicht entstellt von irgend einem Ausdruck des Schmerzes, es lag vielmehr ein still glückseliges Lächeln über diese Züge gebreitet, während die matt glänzenden Augen mit regungslosen Blicken auf das Gesicht der Dirne gerichtet waren, die mit zitternden Händen ein feuchtes, dickgefaltetes Tuch über die entblößte Schulter des Jägers breitete.

„Wie das wohl thut, Enzi, wie das wohl thut!“ glitt es mit müden, zitternden Worten von Gidi’s Lippen.

„Geh, geh, thu mir nur g’rad net reden! Ich bitt’ Dich, halt’ Dich doch stad!“

„No ja – aber gelt – – jetzt hast mich halt dengerst ’reing’holt in Dein’ Hütten – so oder so!“

„Na, na!“ fuhr Enzi schluchzend auf. „Jetzt is er halbert hin – und kann von so ’was reden!“

„Aber geh’ – das bißl Blut! Ich muß ja schier dem Valtl noch a Vergeltsgott sagen – ’leicht hätt’ ich sonst – gar z’lang – auf Dich warten müssen. Aber – was ich sagen will – is Keiner net da, der ’nüberspringt zu mir in d’ Hütten? Mein junger Herr Graf, der könnt’ sich ja sorgen um mich – wann er derwacht und – und ich bin net da bei ihm.“

„Jesus Maria! Dein Graf – war – war in der Hütten!“ hörte Ferdl die Dirne stammeln, während sie mit aschfahlem Gesichte zurücktaumelte vom Lager. Doch sah er mit dem gleichen Blicke, wie Luitpold über der Schwelle des Stübchens erschien, und da wandte er sich vom Fenster und eilte mit lautlosen Schritten

Nach dem Gottesdienste. Originalzeichnung von E. Ravel.

[866] hinaus in die Nacht. Er erreichte die Pforte seiner traurigen Behausung und hob schon die Hand, um den Stein beiseite zu rollen. Doch ließ er kopfschüttelnd den Arm wieder sinken. „Na, na, – jetzt kann ich net ’nein! Luft – Luft muß ich haben – und Stern’ muß ich sehen!“ Er streckte sich nieder auf das Gestein, verschlang die Hände unter dem Nacken und starrte empor zu den funkelnden Augen des nächtigen Himmels. Noch einmal zogen in seiner Erinnerung die letzten Tage, die letzten Stunden an ihm vorüber. Bangen und Hoffen kämpften in seinem Herzen.

Stunde um Stunde verrann. Zwischen den Kuppen der östlichen Berge tauchte schon, die Sterne löschend, eine fahle Blässe über den Himmel empor, und drunten im Thale schieden sich schon die regungslos von Berg zu Berg gelagerten Nebel in mattem Grau von dem tiefen Dunkel der steil gebauten Wälder.

Da erhob sich Ferdl – denn nun begann ja seine Nacht. Schon streckte er die Hand nach der steinernen Pforte, da war es ihm, als hätte er über den Latschen draußen auf dem Gerölle das Geräusch von Tritten gehört. Mit lautloser Vorsicht huschte er durch das Gezweig, erreichte die offene Platte und hätte fast vor jäher Freude laut aufgeschrieen, als er die dunkle Mädchengestalt gewahrte, die sich mühsam emporarbeitete über den rauhen Grund.

Sie – sie kam wieder zu ihm, die vor ihm geflohen in Furcht und Grausen! Er wagte kaum seinen Blicken zu trauen. Regungslos verhielt er sich am Rande des Gebüsches, und da sah er das Mädchen mit gefalteten Händen stille stehen und hörte es schluchzen: „O lieber Herrgott! G’rad noch a bißl Kraft! G’rad noch a bißl!“ Und wieder sah er, wie das Mädchen sich weiter aufwärts mühte über das Geröll, wie es sich gegen einen Felsblock lehnte, jetzt einen Stein von der Erde las und ihn hinauswarf über den Rand des Höllbachgrabens.

Da vermochte sich Ferdl nicht länger zu halten „Veverl! Veverl!“ jubelte er auf. „Du – Du kommst wieder zu mir!“ Und mit ausgestreckten Armen eilte er auf das Mädchen zu.

„Jesus Maria – jetzt is er schon da!“ stammelte Veverl, vor Schreck und Bangen in die Kniee brechend.

„Du – Du kommst zu mir!“ war Ferdl’s einzige Rede, während er Veverl emporzog und die Zitternde niedergleiten ließ auf einen moosigen Stein. „Na! So a Freud’! Wie soll ich Dir das vergelten, Du liebs, liebs Deandel Du?“

„Na, so net, so mußt net reden zu mir – net so gut und freundlich!“ sprudelte es mit Schluchzen von ihren Lippen. „Du hast mir bloß Liebs und Guts erwiesen, und ich bin fort von Dir ohne Wort und Vergeltsgott. Ja – ja – straf’ mich, wie sich’s g’hört! Laß mich’s entgelten, wie D’ willst! Aber ihn mußt es net büßen lassen, für den ich bitten komm’. Was liegt an wir – und wenn’s um mein Leben geht! Fang’ mit mir an, was D’ willst! B’halt’ mich bei Dir im Berg, wann D’ magst! Ich will net derschrecken, und gern will ich’s leiden. Aber sein Unschuld mußt derweisen, daß er wieder heimgehen kann zu sei’m verlass’nen Weib und zu seinen armen lieben Hascherln, die sich jetzt d’ Augen ausweinen um ihren guten, braven Vatern!“ Veverl schlug die Hände vor das Gesicht, und ihre Worte erstickten in bitterlichem Schluchzen.

„Ja um Gotteswillen!“ stotterte Ferdl. „Jetzt weiß ich gar net – – Veverl, han, was – aber so red' doch – was is denn passirt! Es wird doch mit’m Jörg nix g’schehen sein!“

„Ja, ja, mein’ Jörgenvetter haben s’ fort. Auf der Straß’ draußt haben d’ Schandarm ihn ’troffen in der Nacht und haben g’sagt, sie hätten mit ihm z’ reden, und sind mit ihm bis ’rein in Finkenhof. Na – wie die arme Mariann’ derschrocken is! Und jetzt nachher hat der Kommandant zum reden ang’fangt – so ganz scheinheilig, wie wenn er dem Jörgenvetter sein bester Freund wär’ und da hat er was g’sagt von ei’m G’red unter die Leut’, von annanyme Zuschriften und vom Leithnervaltl, der auf d’ Schandarm’ allweil spötteln thät’, ob s’ denn net wüßten, wo der Finkenbauer schlaft, wann er net daheim is in der Nacht – ja und da hat er g’sagt, der Kommandant, daß er auf all das G’red nix gäb’, weil er den Jörgenvetter kennen thät’, aber er müßt’ seiner Stellnug z’lieb amal was thun, um d’ Leut’ zum Schweigen z’bringen – ja – und weil er halt jetzt g’rad den Jörgenvetter vom Berg her kommen hätt’ sehen – mit der g’ladenen Kraxen, so möcht’ er halt grad amal der Form wegen fragen, wo der Jörgenvetter herkäm’ und was denn eigentlich d’rin wär in der Kraxen –“

„Jesses na!“ fiel Ferdl mit stammelnden Worten dem Mädchen in die sprudelnde, schluchzende Rede.

„Wie ihn der Jörgenvetter so reden hört, da wird er käsweiß über und über – natürlich, so a Schand’, das kann ein’ wurmen! – und schier ’packt hat er den Schandarm, der sich schon herg’macht hat über d’ Kraxen. Und wie die Kraxen auf’bunden wird, sind lauter Schnitzersachen drin – ja g’rad die schönsten Sachen. Da hat sich der Kommandant jetzt g’stellt, wie wann er selber ganz derschrocken wär’, und hat g’sagt: wann der Jörgenvetter sich net ausweisen könnt’, nachher müßt’ man glauben, daß die Sachen von Tirol ’rein g’schmuggelt sind, und da könnt’ er ihm nachher net helfen, und er müßt’ ihn fortführen aufs Amt. ‚So führts mich fort!‘ das war dem Jörgenvetter sein Red’ – aber d’ Mariann’ hat ’s Jammern ang’fangt, hat sich hing’hängt an ihn und g’rad ’naus g’schrieen hat s’: ‚Jörg, Jörg, denk’ an Deine Kinder! Jetzt mußt reden – jetzt mußt reden!‘ Aber ‚Mariann’!‘ hat er g’sagt und sonst kein Wörtl net, und ang’schaut hat er s’ mit zwei Augen, daß d’ Mariann’ g’rad ’zittert hat am ganzen Leib – und net a Silben mehr hat s’ g’redt – und ’naus is aus der Stuben und hat ihm d’ Kinder g’holt – in die Hemderln hat s’ ihm s’ ’bracht und – und den Augenblick vergiß ich nie net in mein Leben, wie s’ ihn fortg’führt haben! Und er hat doch g’wiß nix Unrecht’s net verübt – und unschuldig is er, so g’wiß, so g’wiß – Du mußt es ja wissen! Und Du kannst es derweisen. Und helfen mußt ihm – helfen –“

„Ja, Veverl, ja! G’holfen muß ihm werden!“ brach es in bebenden Worten von Ferdl’s Lippen. „Und wer könnt’ besser helfen, als wie ich! Und – sag’ – weiß d’ Mariann’, daß zu mir ’rauf bist?“

„Na, na, um Gotteswillen, na!“ fuhr Veverl aus ihrer stummen, zitternden Freude ganz erschrocken auf. „Ich weiß ja doch, daß bei so ’was ’s Mitwissen von ei’m Zweiten den guten Ausgang vom Anfang an verdirbt. Und – und es hat ja auch kein’ Menschenseel’ derfahren, daß ich schon amal – da heroben g’wesen bin. Dein’ Macht hat’s ja so g’fügt, daß alle ’glaubt haben, ich wär’ auf der Wallfahrt g’wesen. Freilich – angesehen muß man mir’s schon haben, daß ich ’was recht Seltsams derlebt hab’, denn d’ Mariann’ hat mich allweil gar so g’spaßig ang’schaut, und allweil hat s’ mich ’drängt, ich sollt’ ihr doch ’was verzählen von meiner Wallfahrt. Aber kein Sterbenswörtl hab’ ich g’redt – ich weiß ja, daß man von so ’was net reden soll, wenn man ’s derlebt hat, denn sonst is aus und gar und nie nimmer kann man – –“ Erschauernd deckte Veverl das Gesicht mit beiden Händen.

Schweigend stand Ferdl vor ihr, und trotz der tiefen Sorge, die ihn um den Bruder erfüllte, umspielte ein leises, inniges Lächeln seine Lippen.

„Daß mich aber mein Weg so bald wieder da ’rauf führt, das hätt’ ich mir freilich nie net ’denkt,“ sprach Veverl nach einer Weile mit zitternder Stimme weiter. „Aber – wie s’ den Jörgenvetter so fortg’führt haben, und wie der Mariann’ schier ’s Herz ’brochen is vor Prast und Gram, und wie die armen Kinderln so z’sammg’schrien haben um ihren Vatern – da hat mich mein erster Gedanken da ’rauf verwiesen, und zur Mariann’ hab’ ich g’sagt: ‚Mariann’ thu’ Dich trösten, denn ich weiß ein’, der wo helfen kann – und sollt’s mich mein eigens Leben kosten, ich ruf ihn an!‘ Und fort bin ich, fort – und ,Jesus Maria! Veverl, Veverl!‘ hab’ ich d’ Mariann’ ganz derschrocken noch schreien hören – aber ich hab’ mich nimmer halten lassen, und fort bin ich, mitten in der Nacht!“

Zitternd am ganzen Leibe, mit gefalteten Händen, mit angstvoll starrenden Augen, aus denen die Thränen niederperlten über ihre blassen Wangen, so stand sie vor ihm im falben Dämmerschein des ergrauenden Morgens. Da schlang er die eine Hand um ihre Finger, zog sie zu sich heran, sah ihr mit einem tiefen, leuchtenden Blicke in die schimmernden Augen und strich ihr sachte mit der anderen Hand die braunen Kraushärchen aus der weißen Stirn. Sie duldete es und rührte sich nicht.

Ein stockender Seufzer schwellte seine Brust. „Geh Veverl,“ sagte er, „setz Dich nur g’rad a bißl nieder – ich bin gleich wieder da!“ Zögernd gab er ihre Hände frei, wandte sich und eilte den dichten Büschen zu.

Sie sah ihn verschwinden und starrte regungslos auf die schwankenden Zweige. Als er nach einer Weile wieder erschien, [867] führte er die Ziege an der Hand und hatte das Hansei auf der Schulter sitzen. „Da, Veverl, schau, den bring’ ich Dir!“ sagte er und reichte ihr den Vogel, nach dem sie unter stammelndem Danke mit beiden Händen griff. Dann schob er mit sanftem Drängen die Ziege von sich: „Geh’, Zottin, geh’ – kennst dich ja aus daheroben – wirst den Platz schon wieder finden, von wo ich dich g’holt hab’, und leicht auch wieder a bessers Leben, als bei mir hast haben können.“ Er schaute mit feuchten Augen dem Thiere nach, das ihm durch lange Monate Geselle seiner bangen Einsamkeit gewesen. Dann kehrte er sich hastig zu dem Mädchen zurück. „Komm, Veverl, komm – jetzt laß uns gehn!“ Er faßte nach ihrer Hand, die sie ihm willig reichte, während sie mit der anderen ihr Hansei an der Brust gefangen hielt – und so schritten sie thalwärts, dem Ufer des rauschenden Höllbachs folgend.

Das goldige Frühlicht der erwachten Sonne lag schon über den Almengehängen der jenseitigen Berge, als die Beiden aus dem Walde auf die von dünnem Nebel überzogenen Wiesen traten. An einer Stelle, an welcher der Pfad sich theilte, hielt Ferdl inne. Erschrocken blickte Veverl zu ihm auf und ein so seltsam drückendes Gefühl beschlich ihr Herz, als sie in seine ernsten, sorgenvollen Augen schaute.

„Von jetzt an, Veverl, gehen unsere Weg’ auseinander,“ sagte er, und seine Stimme zitterte, „der Deinige geht heim ins Ort, der meinige geht ’naus ins Thal – und führen soll er mich, wohin mei’m lieben Herrgott recht is. Aber – eh’ noch a Tag vergeht, soll der Jörg wieder daheim sein bei seiner Mariann’ und seine Kinder. Leicht dankst mir nachher mit ei’m guten Gedanken – und – wann derfahren solltst, daß Geister Menschen werden, so mußt mir fein net z’ arg derschrecken. Jetzt – b’hüt’ Dich Gott!“

Mit beiden Händen hielt er ihre Hand gefaßt und schüttelte sie unablässig, während ihm die Thränen in die Augen sprangen.

Nun wandte er sich hastig von ihr, taumelte Schritt um Schritt dahin – dann plötzlich wieder kehrte er sich zu ihr zurück. „Vevi, Vevi!“ brach es schluchzend aus ihm hervor, mit ausgestreckten Armen eilte er ihr entgegen und riß sie an seine Brust, mit stammelndem Munde ihre Lippen suchend.

Sie wußte nicht, wie ihr geschah, wußte nicht, daß sie den eigenen Arm mit zärtlichem Drucke um seinen Nacken geschlungen hielt – sie hatte die Augen geschlossen und trank unter Schauer und Zittern die heiße Gluth dieses Kusses in ihre Seele.

Wer weiß, wie lange sie so an einander würden gehangen haben, hätte nicht das Hansei, das zwischen Brust und Brust in drückende Gefangenschaft gerathen war, mit zornigem Krächzen den Zauber dieses Augenblicks gebrochen. Da löste Ferdl seine Arme, nahm Veverl’s Haupt in beide Hände und schaute sie an mit trunkenen Blicken. „Jetzt, Vevi, jetzt kann kommen, was mag!“ jauchzte er, drückte noch einen herzhaften Kuß auf ihre Lippen und stürzte davon, im grauen Nebel verschwimmend und verschwindend.

Veverl stand und starrte ihm nach. Es lag über ihr wie Rausch und Betäubung. Alles Denken war in ihr erloschen – Gefühl war Alles, was in ihr bebte und zitterte – Gefühl des Glückes und der Freude. Der Freude? Worüber? Doch wohl darüber nur, daß jetzt der Jörgenvetter wieder heimkehren sollte zu Weib und Kind? Das war ja beschworen – er hatte es ja versprochen – er, er! Und da fing sie nun doch schon wieder zu grübeln an. Ob es ihm leicht, ob es ihm schwer werden würde, des Jörgenvetters Unschuld an den Tag zu bringen? Und welch ein Wort nur war das gewesen, das er gesprochen hatte? Vom Menschwerden! Aber wie einfach und selbstverständlich war der Sinn dieses Wortes! Unter all den Häschern und Herren vom Gerichte hatte doch Keiner die Königsblume gefunden – und so mußte doch der Alf aus freien Stücken menschliche Gestalt annehmen, wenn er diesen Leuten haarklein auseinandersetzen wollte, wie die Sache mit dem Jörgenvetter stünde. Und nichts, nichts, gar nichts hatte er von ihr zum Danke dafür begehrt. Er hatte sie im Gegentheile noch mit ihrem lieben, lieben Hansei beschenkt und – und hatte – hatte –

Da schrak sie zusammen und fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen floß. Er hatte sie geküßt! Und das wußte sie: ein Geisterkuß tödtet noch in der Stunde, in der man ihn empfangen. Sterben! Sterben! Und sie war so jung! Und die Welt so schön – die Berge, das Thal, der Wald, die Wiesen! Und sterben! Aber – als sie so mitten in der Nacht davongestürzt war, dem Jörgenvetter zuliebe, hatte sie da nicht gleich gedacht, daß – daß – – Umsonst ist der Tod! Und nun gab sie ihr Leben für das, was sie vor einem Augenblick noch umsonst erreicht zu haben meinte. Aber was lag an ihr! Der Jörgenvetter war gerettet! Und – der Tod, der ihr bevorstand, konnte kein schwerer und schmerzhafter sein, das fühlte sie jetzt schon in ihrem Inneren – es war ihr so – so – sie wußte nicht wie! Doch bevor er käme, dieser gute, leichte, süße Tod, sollte doch die Mariann’ noch ihren Trost haben, und sollte erfahren – –

Da fing sie schon zu laufen an, daß ihre Zöpfe sich lösten, daß ihre Röcke flogen und flatterten. Als sie den Finkenhof erreichte, kamen ihr die Kinder entgegengestürmt; um ihren Händen und Fragen sich zu entwinden, überließ sie ihnen das Hansei. In der Stube traf sie die Mariann’; kopfschüttelnd, mit gerungenen Händen kam ihr die Bäuerin entgegen.

„Mariann’, Mariann’!“ jauchzte und schluchzte Veverl. „Mußt nimmer weinen! Mußt nimmer jammern! Ich bin bei ei’m g’wesen, der helfen kann! Und es is auch schon g’holfcn – und der Jörgenvetter kommt wieder heim – morgen, morgen schon – ’leicht heut’ noch am Abend!“

Weßhalb denn fuhr sich die Mariann’ nicht mit den Händen in das Gesicht, um ihre Thränen zu trocknen? Weßhalb denn lachte sie nicht? Weßhalb nicht schlang sie in Dank und Freude die Arme um Veverl’s Hand?

„Mein Gott, mein Gott, Veverl, was hast denn da jetzt ang’stellt!“ jammerte die Bäuerin. „Na, na, was wird mein Jörg dazu sagen! Jetzt is alles, alles umsonst g’schehen – alles für nix und wider nix!“

„Na, net umsonst, Mariann’, net umsonst!“ stotterte Veverl.

„Einer hat ja g’schworen, daß er helfen will – und der hat nie an Schwur noch ’brochen. Du kannst ja net wissen – Du kannst Dir ja net denken, wo ich g’wesen bin!“

„Freilich weiß ich’s, freilich kann ich’s denken! Wo anders wirst denn g’wesen sein, als droben am Berg, im Höllbachg’höhl, beim Jörg sei’m Brudern – beim Ferdl droben!“

Mit leichenblassem Gesichte, wie zu Stein verwandelt, stand das Mädchen und starrte mit entsetzten, gläsernen Augen auf die Bäuerin, die des Jammerns kein Ende fand: „Und jetzt is alles umsonst – das Wunder, wo ihn g’rett’ hat aus ’m Höllbach, das ganze, lange, traurige Leben im G’höhl, alles, alles, was mein Jörg um seinetwegen durchg’macht hat – alles, alles umsonst – und wenn s’ ihn erst haben, den armen Ferdl, nachher b’halten s’ ihn auch und sperren ihn wo ’nein, wer weiß, wie lang – daß er ’s Heimkommen nimmer derlebt! Na, na, was wird mein Jörg – – Veverl, um Gotteswillen, was is Dir denn?“

Veverl’s Lippen gaben keine Antwort mehr. Sie stand, die Hände wider die Brust gepreßt, mit aschfahlen Zügen, mit gebrochenen Augen – jetzt kam ein Zittern und Schwanken über ihren Körper, und ehe Mariann’ mit den Armen die Ohnmächtige aufzufangen vermochte, stürzte sie mit dumpfem Schlage nieder auf die Dielen.

*  *  *

Der Gidi vom Valtl durch die Brust geschossen! Die Jagdhütte niedergebrannt, vom Valtl natürlich! Der Finkenbauer als Schmuggler verhaftet, sicher nur auf die gehässigen Verdächtigungen des Knechtes hin, den der Bauer einst mit Schand und Spott vom Hof gejagt! Das ging wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus. Das ganze Dorf war in Aufruhr und Erregung. Und dieser Aufruhr kulminirte im Kopfe des Brennerwastls. Der Bursche schrie sich vor Zorn und Entrüstung die Kehle heiser. Als sich dann das Gerücht verbreitete, daß ein Bauernknecht bei grauendem Morgen durch die Wiesengärten einen Menschen hätte schleichen sehen, der „akrat wie der Valtl ausg’schaut“ hätte, war es für den Wastl eine ausgemachte Sache, daß sich der Valtl im Dorfe verborgen hielte. Er rannte nach dem Stationshause, um seinen Verdacht dem Kommandanten mitzutheilen; der aber hatte sich sofort nach seiner Rückkehr vom Amte mit den beiden Gendarmen zu einer Streife im Gebirge aufgemacht. Nun fing der Wastl ein Hetzen und Schüren an, führte als zweites Wort die allgemeine Sicherheit im Mund, und so gelang es ihm wirklich, eine Schaar von Burschen aufzubringen, die sich nicht übel aufgelegt zeigten, einen Akt der Volksjustiz zu üben. Sie zogen vor [868] den Leithnerhof, umzingelten das Haus und durchsuchten es bis auf den letzten Winkel – erfolglos freilich. Jetzt war es wieder der Brennerwastl, der den Verdacht aussprach, ob sich nicht etwa der Valtl gerade dort verborgen haben könnte, wo man ihn am wenigsten vermuthen möchte – im Finkenhof, an welchem ja der ehemalige Knecht jeden Schlupf und Winkel kennen müßte, wie seine Tasche. Mit dieser Weisheit aber kam der Wastl übel an, der ganze Dank, den er erntete, war ein schallendes Gelächter. Der erste Mißerfolg hatte die Gemüther ziemlich abgekühlt, und so wurde einstimmig ein gar friedlicher Vorschlag angenommen: man zog unter Singen und Johlen ins Wirthshaus. Wastl wüthete und stürmte in seinem zornigen Trotze ganz allein dem Finkenhofe zu, wo er dem Knecht und dem Schmiede so lange in den Ohren lag, bis ihm die Beiden den Gefallen thaten und mit ihm alle Bodenräume des Gesindehauses, alle Ställe, Scheunen und Schupfen durchstöberten. Als er aber auch das Wohnhaus mit seiner geschäftigen Sicherheitssorge bedenken wollte, vertraten ihm die Beiden den Weg, da sie sich nicht zu denken wußten, wie Valtl in das Haus hätte kommen können. Vielleicht hätte er seinen Willen doch noch durchgesetzt, wenn nicht ein Menschenauflauf auf der Straße seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte. Da draußen brachten sie gerade den Gidi von der Bründlalm, um ihn nach dem Schlosse zu tragen. Enzi schritt an der Seite der Bahre und hielt des Jägers Hand gefaßt. Den Trägern folgte Luitpold mit dem Doktor – und mehr noch als den Verwundeten starrten die Leute den jungen Grafen an, der in dem grauen, rupfigen Wettermantel und unter dem grobfilzigen Bauernhute allerdings ein seltsames Bild gewährte.

Vor Abend noch fuhr Luitpold zum Dorfe hinaus, nachdem er vom Arzte erfahren hatte, daß Gidi’s Verwundung zwar eine immerhin bedenkliche wäre, daß aber bei der eisernen Gesundheit des Jägers und bei der trefflichen Pflege, die ihm in sicherer Aussicht zu stehen scheine, das Beste zu hoffen wäre.

Um Gebetläuten kam dann die Enzi in den Finkenhof. Zuerst mußte sie erzählen, was sie zu erzählen wußte. „Gelt, Finkenbäuerin,“ sagte sie dann, „das siehst schon ein, daß mich mein Gidi im Jaagerhäusl jetzt nöthiger braucht, als wie der Finkenbauer auf der Bründlalm. Und da wär’ ich Dir schon recht viel dankbar, wann mich a paar Wochen verurlauben thätst und thätst derweil die alte Waben in mein Hütten ’naufschicken.“

Mit einem Worte war das zugestanden, und so wackelte am anderen Morgen die Waben über den Bergsteig empor zur Bründlalm.

Als Dori, der unter der Hüttenthüre stand, die Alte über das Almfeld „daherknotschen“ sah, fuhr er sich mit beiden Händen hinter die Ohren: „J ... jeh! die alte Waben! Jetzt is g’recht! So ’was muß mir auch noch passiren! Ein Unglück ums andere!“

„Schöne Sachen! Schöne Sachen g’schehen daheroben!“ pfiff es durch die Zahnlücken der Alten, als sie vor der Hüttenthüre verschnaufend stille hielt.

„Ah was! Drunten muß auch net alles bei Verstand sein, sonst hätten s’ mir Dich net da ’rauf g’chickt!“ knurrte Dori und verschwand in der Hütte.

Keifend folgte ihm die Alte, aber als sie dem Dori in das vergrämte Gesicht schaute, frug sie doch mit besorgten Worten, was ihm fehle. „Nix!“ war die kurze Antwort, die sie erhielt. Nun erkundigte sie sich noch nach dem Befinden der Kühe, dann begann sie zu erzählen: von dem Unglück, das den Finkenbauer betroffen hätte, wie von der „g’spaßigen“ Krankheit, von der das Veverl befallen worden wäre.

„Ja – gestern in aller Fruh, da muß das Deandl wo g’wesem sein, und bald drauf, wie ’s heim’kommen is, hab’ ich d’ Finkenbäuerin in der Stuben drin schreien hören: Waben, Waben, Waben! Und wie ich ’neinkomm’, liegt ’s Deandl auf’m Stubenboden, völlig damisch – ja – und schier a Stund lang hat s’ Dir ’braucht, bis wieder d’ Augen aufg’macht hat. Und seit der Zeit is ’s Deandl wie verwendt. Mit gar kei’m redt’s kein Wörtl net, und allweil steht ihr ’s Wasser in die Augen. A böse Sach’ – a böse Sach’!“

Wortlos hatte Dori zugehört. Jetzt sprang auf, holte vom Heuboden die Kraxe herunter und begann sie in zitternder Hast mit dem Almgewinn der letzten Tage zu beladen.

„Ja, was is denn jetzt auf amal?“ staunte die alte Waben.

„Abtragen muß ich!“ erwiderte Dori, und weiter sprach er kein Wort mehr bis zu dem „B’hüt Dich!“ mit dem er die Hütte verließ.

Je weiter er sich von der Alm entfernte, desto hastiger wurden seine Schritte. Und als er aus dem Walde auf die Wiesen trat, tropfte der Schweiß von ihm, und keuchend ging sein Athem.

Schon näherte er sich der Höllbachmühle, an welcher sein Weg vorüberführte, da stutzte er plötzlich. Hastig warf er den Bergstock bei Seite, stellte die Kraxe nieder und schlich in geduckter Stellung dem Bache zu. Hinter einem der Erlenbüsche, mit denen das Ufer bewachsen war, verbarg er sich. Ein Fuchs, der die zum Opfer ausersehene Henne belauscht, kann keine gieriger lauernden Augen machen, als Dori sie machte, während er durch die Lücken des Buschwerkes die Bewegungen des sechsjährigen Müllersöhnchens verfolgte, das mit übermüthiger Keckheit über den schwankenden Balken hin und her spazierte, der unterhalb des Mühlausflusses den schäumenden Bach überspannte. So oft das Bürschlein ins Wanken gerieth, zuckte die helle Freude in Dori’s Zügen auf, die sich wieder verfinsterten, sobald der kleine Uebermuth mit schlagenden Armen das Gleichgewicht zu gewinnen wußte. So zwischen Hoffnung und Enttäuschung hin und her geworfen, spähte und lauerte er, bis ihm ein ganz unerwarteter Gedanke sagte, was er denn eigentlich that. Da erschrak er vor sich selbst und stammelte. „Na, na, ich bin Einer! Kann da sitzen und drauf passen, ob dem armen Schluckerl an Unglück g’schieht! Jetzt gehst mir aber gleich weiter!“ Ingrimmig fuhr er auf und schoß mit einem langen Schritte aus dem Buschwerk. Das Büblein aus dem Balken aber hörte die Büsche rascheln, sah über das Laub ein bleiches, grinsendes Gesicht auftauchen, erschrak, gerieth ins Wanken und stürzte mit einem kreischenden Schrei vom Balken in die schäumenden Wellen.

„Gottlob! Jetzt hat’s ihn dengerst g’rissen!“ jubelte Dori und sprang mit einem mächtigen Satze dem Knaben nach in den Bach. Glücklich erwischte er ihn beim Kittelchen, zerrte ihn ans Ufer, herzte und küßte ihn, daß dem Knaben Hören und Sehen verging, dann ließ er ihn stehen, wie er stand, und rannte davon über die Wiese. Als er die Stelle erreichte, wo seine Kraxe stand, warf er sich der ganzen Länge nach ins Gras, wälzte sich wie ein Pudel und stammelte und schluchzte in überquellender Freude: „Ich hab’ ei’m Menschen ’s Leben g’rett’! Ich hab’ ei’m Menschen ’s Leben g’rett’! Jetzt darf ich selber wieder leben! Mein’ Sünd’ is gut g’macht und vergessen! Ich hab’ mein Leben wieder g’wonnen – mein Leben – mein Leben – mein Leben!“ Und kaum versiegen wollten die Thränen seiner Freude. Als er sich endlich dennoch erhob, schaute er mit einem vergnüglich lächelnden Blicke an seinem triefenden Gewande nieder. „So kann ich doch net gut ins Ort nein geh’n! Da muß ich mich schon z’erst a bißl trocknen.“ Er nahm die Kraxe auf und lief dem Waldsaume zu. Hier hängte er seine Joppe über einen Fichtenbusch und streckte sich an einem Plätzchen ins Moos, auf welches die Sonne ihre ganze, brennende Mittagshitze niedergoß. Trunkene Freude füllte sein Herz, fröhliche Bilder gaukelten vor seinen Augen, eine rieselnde Wärme begann in seinem Körper zu erwachen und das that ihm so wohl, daß er vor Behagen die Lider schloß. Als er endlich auffuhr aus dem Schlafe, der ihn wider Wissen überkommen hatte, lag schon die tiefe Dämmerung über Berg und Thal. Unter sprudelnden Selbstvorwürfen schlüpfte er in die Joppe, raffte die Kraxe auf und rannte dem Dorfe zu.

Er erreichte den Finkenhof und sah durch die erleuchteten Fenster des Dienstbotenhauses die Ehhalten bei der Schüssel sitzen. Auch die Stubenfenster des Wohnhauses waren erleuchtet, die Thüre aber fand er verschlossen. Er pochte, und die Bäuerin öffnete ihm. Sein erstes Wort war eine Frage, wie die Sache mit dem Finkenbauer stünde – hoffentlich gut, wie er meinte.

„Ah ja – mußt Dich net sorgen! Es wird sich schon Alles wieder machen!“ gab die Bäuerin kleinlaut zur Antwort.

„Und han – wo is denn ’s Veverl?“

„Sie is schon droben in der Kammer.“

„So! Aber – sag’ Bäuerin – was ich von der Waben g’hört hab’, wär’ ’s Veverl derkrankt?“

„Ah na! Gar kein’ Schein net! Jetzt das is amal an alte Ratschen! Aber – mach weiter! Jetzt is doch kein Zeit net zu ei’m Diskurs im Hausgang. Geh’, lad’ Dein’ Kraxen ab und trag’s in Keller ’nunter. Da geh’ her, da is a Licht.“ Sie schritt ihm voraus in die Küche, entzündete ein Kerzenlicht und

[869]

Die Einladung des „steinernen Gastes“. Scene aus „Don Juan“.
Nach dem Oelgemälde von J. F. Hennings.

[870] reichte es ihm. Dann kehrte sie in die Stube zurück, während Dori die Kellertreppe hinunterstieg. Als er drunten die Kraxe auf die Fliesen gestellt hatte, lauschte er nach dem Hausflur empor, nickte befriedigt vor sich hin und brachte aus der Kraxe ein zierliches Sträußchen von Edelweißblüthen zum Vorschein. „Ich steck’s ihr hinter d’ Thürschnallen ’nein, nachher findt sie’s gleich in aller Früh,“ flüsterte er mit listiger Freude vor sich hin, streifte die Schuhe von den Füßen, huschte lautlos hinauf in den Hausflur und der Treppe zu, die nach dem oberen Stocke führte. Inmitten der Treppe hielt er erschrocken inne – er sah an Veverl’s Kammer die Thür offen und drinnen auf der Kommode den Leuchter mit der brennenden Kerze stehen. Schon wollte er geräuschlos den Rückzug antreten, da hörte er über sich aus einer Ecke des Ganges eine leise zischelnde Stimme: „Und ich rath’ Dir’s im Guten, daß kein Muckser net thust, ehvor ich net draußen bin aus’m Haus!“ Das Blut wollte ihm gerinnen beim wohlbekannten Klange dieser Stimme. Er starrte durch die Geländerstäbe der Richtung zu, aus der er sie gehört – sah Veverl zitternd in eine Ecke gedrückt und vor ihr die dunkle Gestalt des Burschen, den er an der Stimme erkannt hatte, noch eh’ er in dem halb gebrochenen Dunkel die scharfen Züge und den lang niederhängenden Schnurrbart gewahrte. „Lump – Lump – is noch net g’nug am Gidi – willst auch noch der Veverl ’was anhaben?“ so fuhr er mit gellenden Schreien auf und stürzte die Treppe empor. Doch eh’ er noch die oberste Stufe erreichte, warf sich Valtl schon über ihn her – dem Dori brachen unter der Wucht dieses Anpralles die Kniee, im Stürzen aber riß er den Burschen mit sich nieder, und so rollten sie über einander hin mit dröhnendem Gepolter die Treppe hinunter bis auf die Steinplatten des Hausflurs. Unter kreischenden Hilferufen eilte Veverl der Treppe zu, hörte einen stöhnenden Aufschrei, den nur Dori ausgestoßen haben konnte, und sah, wie Valtl sich in die Höhe zerrte, die Hausthüre aufriß, und wie ihm, bevor er noch das Freie gewinnen konnte, Dori mit beiden Händen schon wieder am Halse hing.

Da flog die Stubenthüre auf, und Mariann’ erschien mit einem Lichte in der Hand auf der Schwelle. „Ja um Gotteswillen, was is denn? Was is denn –“

„Der Dori und der Valtl –“ stammelte Veverl, während sie über die Treppe niederwankte, „und – in mei’m Kammerl bin ich g’wesen, und da hab’ ich gleich schon g’meint, ich hätt’ an Schritt g’hört über mir am Boden droben – und nachher is mir’s g’wesen, als ging’ wer ’runter über d’ Bodenstieg’ – und so will ich nachschaun – und wie ich d’ Thür’ aufmach’, steht der Valtl vor mir da und halt’ mir ’s Messer hin –“

„O Jesus, Jesus, Jesus –“ stotterte die Bäuerin, eilte zur Hausthüre hinaus, sah einen dunklen Knäul über den Hof hin der Straße sich zuwälzen, hörte Dori’s röchelnde Schreie: „Du willst der Veverl ’was anhaben – Du – Du – Du willst der Veverl ’was anhaben!“ – und zitternd vor Angst und Sorge schrie sie in die Nacht hinaus: „Leut’! Leut’! Um Gotteswillen! Leut’! Leut’!“

Da stürzten sie auch schon herbei, aus dem Gesindehause, aus allen Nachbarhöfen, mit Stöcken, mit Lichtern – alle rannten sie der Straße zu, geleitet von Dori’s gellenden Worten – und da fanden sie den Valtl ausgestreckt im Staube, das blutige Messer in der seitwärts gestreckten, zuckenden Faust, am Halse gewürgt von Dori’s Händen, der über ihm lag mit dem ganzen Gewicht seines Körpers. Die Weiber kreischten und schrieen, während die Männer und Bursche sich über die Beiden warfen – die einen rissen das Messer aus Valtl’s Fingern, die andern suchten den Dori emporzuzerren – der aber hing wie angewachsen mit seinen Händen an Valtl’s Kehle, und unablässig schrillte es von seinen Lippen: „Du willst der Veverl ’was anhaben – Du – Du –“ und diese seine Schreie verstummten auch nicht, als es den Männern endlich gelang, ihn emporzureißen und fortzuzerren gegen den Straßenrain. Da stürzte sich nun ein Theil der Bursche über Valtl hin, um ihn dingfest zu machen; erschrocken aber fuhren sie zurück, als er keinen Finger zur Abwehr regte. Leblos lag er zu ihren Füßen – – erdrosselt von Dori’s Händen.

Und jetzt erloschen auch Dori’s Worte in gurgelndem Stammeln, über den wirren Lärm hörte man eine Frauenstimme aufkreischen: „Jesus Maria – es reißt ihn um!“ – und einer der Männer schrie: „No freilich – no freilich – so schauts nur g’rad her – es rinnt ja ’s Blut von ihm in helle Bacherln!“

„Holts den Pfarrer! Laufts um an Dokter! Tragts ihn ’nein ins Haus! Reißts ihm doch ’s G’wand auf!“ schrie und kreischte es in schauerlichem Wechsel aus der Gruppe der Leute, die den Todwunden umstanden.

„Mich laßts durch – mich laßts durch!“ schrie der Schmied vom Finkenhofe, drängte sich durch den Kreis, schlang die Arme um Dori’s Körper, hob ihn von der Erde und trug ihn hastigen Laufes hinein in die Gesindestube. Hier legte er ihn auf die Kissen und Kotzen nieder, die aus der Mägdekammer herbeigeschleppt und über die Dielen gebreitet wurden.

Die Bäuerin rannte in das Wohnhaus hinüber, um Tücher und Wasser herbeizuschaffen. Aber Veverl kniete an Dori’s Seite, zitternd und weinend, und hielt seine Hand umschlungen mit beiden Händen.

Ein mattes Lächeln lag auf Dori’s Lippen, und ein schimmernder Glanz war in den Augen, mit denen er an Veverl’s schreckensbleichen Zügen hing.

„Mußt net weinen, Veverl,“ klang es mit mattem Stammeln von seinem Munde, „Mußt net weinen – es is Dir ja nix g’schehen, Veverl – is Dir ja nix g’schehen!“

„Dori, Dori, mein lieber Dori!“ schluchzte das Mädchen auf.

„Ah mein – geh’ – mußt Dich net sorgen, Veverl, net sorgen um mich! Das macht sich schon wieder! Ich därf ja jetzt leben – ich hab’ mir mein’ Leben ja wieder g’wonnen! Heut’ erst, Veverl – heut! Denn daß ich Dir’s sag’ – ja – weißt –“ und Dori’s Stimme dämpfte sich zu tonlosem Flüstern, „weißt – selbigsmal in der Nacht – eh’ d’Hann’ heim’bracht worden is – da hab’ ich an Streit g’habt – mit ’m Valtl, weißt – und nach ’m Beten, wie ich – nimmer da dran ’denkt hab’ – da – da bin ich zur Stuben, ’naus – und da hat er mir – aufpaßt g’habt und is mir nach – ja – derwischt aber hat er mich net – weißt – auf an Baum bin ich ’nauf – ja – drent’ beim Haus – und – in der Hanni ihrem – ihrem Stüberl – da hab’ ich Dich g’sehen – ja – und ang’rufen hab’ ich Dich – ganz stad – und wie das Schüsserl nachher zum Fenster g’stellt hast – und den Wecken – da – da hab’ ich g’meint – es g’hört’ für mich – und – und –“

In einem Röcheln erstickten seine Worte, schwer hob sich seine Brust, ein schmerzvolles Zucken flog über sein Gesicht, und tief drückte er den Kopf in das Kissen, so daß die kalkweiß abstehenden Ohren fast die blutleeren Wangen berührten.

Mit starrem Entsetzen hingen Veverl’s Blicke an Dori’s brechenden Augen, an seinen erschlaffenden Zügen und an seinen bläulichen Lippen, die nun wieder unter flüsternden Worten müde sich bewegten.

„Sorg’ Dich net, Veverl, – sorg’ Dich net – ich weiß schon – es war a Sünd’, a fürchtige Sünd’ – es war ja – an Armeseelenmahl – aber – aber mein’ Sünd’ is ’büßt und ich därf wieder leben – und därf net sterben – und – d’rum kann ’s mir nix schaden – na – gar kein bißl net! Ich hab ja an Menschen vom Tod derrett’ – ja, Veverl – heut’ erst – heut’ um Mittag – da hab’ ich ’s Müllerbüberl – aus ’m Wasser ’zogen – und so hab’, ich mir wieder mein Leben g’wonnen – und muß net sterben – na – na – jetzt – jetzt – jetzt därf ich leben – leben – –“ Müder und leiser von Wort zu Wort war seine Stimme geworden, um in gurgelndem Stöhnen zu erlöschen, ein Zittern überrann seinen Körper, die Hände griffen nach dem Herzen, der schwere Kopf schien zwischen seinen Schultern zu versinken – so lag er wenige Sekunden regungslos – nun streckte er sich mit einem ächzenden Seufzer – „leben – leben –“ hauchte es noch von seinem Munde, dann blieben seine Lippen regungslos, und über seine Augen legte sich die Starre des Todes.

„Dori! Dori! Armer Dori!“ schrie Veverl schluchzend auf, indeß die Anderen, die den Todten umstanden, mit murmelnden Stimmen zu beten begannen.

Als dann der Arzt erschien, den man gerufen, blieb ihm nichts Anderes zu thun mehr übrig, als die Todesursache festzustellen. Er fand in Dori’s Brust und Schultern sieben Stiche.

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Zwei Tage vergingen, Dori wurde zu Grab getragen, und das war ein Leichenzug, als würde der reichste Bauer des Thales zur ewigen Ruh’ gebracht, nicht der ärmste Hüterbub’ des Dorfes.

[871] Dann wieder kehrte Tag um Tag im Finkenhof ein, doch keiner brachte den Jörg. Gleich am dritten Tage nach seiner Verhaftung war eine Botschaft an die Mariann’ gekommen: seine Sache wäre in Ordnung – um welchen Preis! – aber sie sollte ihn nicht erwarten. Die Ungewißheit über Ferdl’s Schicksal ließe ihm keine Ruhe, und so wollte er nach München gehen und dort verbleiben, bis in Ferdl’s Sache etwas entschieden wäre. Weiter war nicht die geringste Nachricht mehr gekommen!

Fast wußten die Leute im Dorfe mehr von Jörg und Ferdl, als im Finkenhofe die Mariann’ und noch eine Andere, die niemals die Lippe zu einer Frage öffnete, allmorgendlich aber mit einem bangen, flehenden Blicke ihrer traurigen Augen an dem Gesichte der Bäuerin hing. Aus den „Münchener Blatt’ln“ hatten die Leute die erste Nachricht von Ferdl’s Auferstehung und Rettung gelesen und hatten dabei erfahren, daß jener böse Verdacht, in dem er gestanden, durch eine Aussage des jungen Herrn Grafen völlig von ihm genommen wäre, so daß nun Ferdl einzig noch dem Spruche des Militärgerichtes unterstand, von dem ihm die Leute freilich wenig Gutes prophezeiten. In allen Stuben und auf allen Straßen wurde die Sache mit unermüdlichem Eifer verhandelt.

Bei diesen Plauderstündchen war Veverl nur selten zugegen. Fast die ganzen Tage saß sie in ihrem Kämmerchen mit einer Näharbeit beschäftigt – und ach, wie viele Seufzer und Thränen stichelte sie da hinein! Das änderte sich freilich mit dem Morgen, an welchem Mariann’ von Jörg einen Brief erhielt – einen Brief voll Jubel und Freude. Alles, alles wäre gut, das Militärgericht hätte seinen Spruch gethan, in Rücksicht auf Ferdl’s frühere glänzende Führung, auf seine im Kriege bewiesene Tapferkeit, auf den Umstand, daß seine Dienstzeit ohnehin zwei Tage später zu Ende gewesen wäre, und in Erwägung der Thatsache, daß er sich selbst wieder gestellt hätte, wäre seine Flucht nicht als Desertion aufgefaßt worden, sondern nur als „willkürliche Absentirung vom Regimente, begangen im Zustande hochgradiger Aufregung über den plötzlichen Tod einer nahen Anverwandten“. Und der Brief schloß mit den Worten: „Ja, und darum hat er kein’ andere Straf’ net ’kriegt, als wie fünf Tag’ Mittelarrest. Nachher muß er seine zwei letzten Tag’ noch ausdienen. Und mich laßt’s net fort aus der Stadt, ich muß d’rauf warten, bis er frei is, damit wir mitanander heim können.“

Vor Freude und Vergnügen glänzte das Gesicht der Bäuerin, als sie diesen Brief in Veverl’s Hände legte. In Furcht und Bangen begann dos Mädchen zu lesen – aber es war mit dem Briefe noch nicht zu Ende, da schlug es schluchzend schon die Hände mitsammt dem Blatte vor das Gesicht.

„Aber Veverl, Veverl, geh’, mußt doch auslesen,“ lachte Mariann’, „da schau, ganz unten am Brief steht noch ’was dran g’schrieben.“ Und da blickte Veverl unter fließenden Thränen wieder auf das Blatt und las: „Gelt’, Mariann’, schau fein Deine Kästen nach, ich mein’, es wird bald Hochzeit geben im Finkenhof.“ Mit scheuen Augen schaute Veverl auf, und als sie den lachenden, zwickernden Blicken der Mariann’ begegnete, färbten sich ihre Wangen mit glühendem Roth, und unter seligen Zähren barg sie das Gesicht an der Brust der Bäuerin.

Von dieser Stunde an blühte sie auf wie eine Rose unter der Junisonne. Mit all ihrem Denken und Empfinden hing sie an diesem einen wonnesamen Gute, das sie für ihr Herz gefunden und erworben, während jene ganze traumhafte Welt, in der sie bislang gelebt und geathmet, jählings in Trümmer brach. Die Königsblume ohne Macht und Wirkung! Kein Edelweißkönig! Kein Alfenreich! Nicht Wunder noch Zauber! Alles, alles die natürlichste Wirklichkeit! Und der Dori dahin, trotz der Sühne, die er der um ihr Mahl verkürzten armen Seele geleistet! Jedes dieser Worte, jeder dieser Gedanken hatte eine klaffende Bresche in die Schutzwehr ihrer Geisterwelt gerissen – und endlich waren sie ausgetrieben, die Alfen und Wichte, die Feen und Waldweiblein, und wo sie sonst gehaust mit sicherem Behagen, da herrschte jetzt der irdische Tag mit seinem hellen, lachenden Himmel. Nur Liebe noch und Sehnsucht war Veverl’s ganzes Denken und Fühlen. Und wie glücklich war sie bei äll diesem Bangen und Harren, ob manchmal auch das traurige Erinnern an den guten Burschen, der nun draußen lag in kühler Erde, ihr Glück zu trüben kam, sowie ein Wolkenschatten dahinhuscht über sonnige Wiesen.

Dann war es eines Abends – Veverl saß in der Stube bei den Kindern – da stürzte die Mariann’ herein: „Veverl! Sie kommen! Sie kommen!“ – flog wieder hinaus in den Hof, und hinter ihr einher die beiden Kinder. Veverl fuhr in die Höhe, stand regungslos, blaß und zitternd, hörte die näherkommenden Tritte und Stimmen – und jetzt erschienen sie unter der Thüre, der Jörgenvetter und die Marian’, und ihnen voran ein schmucker, strammer Soldat mit blühendem Gesichte, mit lachendem Munnde und glänzenden Augen. Er stand und streckte dem Mädchen die beiden Hände entgegen, und als ihn Veverl noch immer anstarrte ohne Laut und Bewegung, da frug er: „Ja, Veverl! – han – hast denn für mich jetzt gar kein bißl a Grüß Gott!?“

Da rann ein Zittern über ihre Schultern, da warf sie die Arme auf, flog ihm entgegen und hing mit Weinen und Stammeln an seinem Halse.

Mit glückseligen Augen schaute Jörg auf die Beiden, dann winkte er die Mariann’ zu sich, nahm die Kinder bei der Hand und verschwand mit ihnen in der Kammer. Dort beschwichtigte er die drängenden Fragen der beiden Kleinen und begann der Mariann’ zu erzählen, alles, was er nur zu erzählen wußte, und Luitpolds Name klang dabei wohl hundertmal von seinen Lippen.

Als Jörg sich endlich erhob und unter die Stubenthür trat, sah er den Ferdl am Tische sitzen und Veverl an seiner Seite, das Köpfchen an seine Brust gelehnt. Mit leuchtenden Augen schaute sie zu ihm empor, unter den zitternden Worten: „Na! na! Schier kann ich ’s net glauben! Is denn alles auch wahr? Bist denn auch g’wiß a Mensch – a richtiger Mensch?“

„No – schau – man kann ja net wissen,“ lächelte Ferdl zu ihr nieder, „’leicht bin ich dengerst a Geist – und – was meinst? Soll ich verschwinden?“

„Na, na, um Gotteswillen net!“ fuhr Veverl auf in stammelndem Schreck, und wie in ängstlicher Sorge schlug sie die beiden Arme um den Hals des Geliebten – –

Vier Monate später wurde im Dorfe zu einer Doppelhochzeit gerüstet: für Ferdl und Veverl – für Gidi und Emmerenz. Am Morgen der Hochzeit strömten die Leute aus dem ganzen Thale zusammen, so daß die Kirche kaum die Menge zu fassen wußte. Als die beiden jungen Ehepaare unter schmetternden Klängen aus dem Kirchenportale über den Friedhof zogen, stockte plötzlich der Zug – Ferdl und Veverl standen vor Dori’s Grab. Neugierig drängten die Leute näher, reckten die Köpfe und sahen wie Veverl den bräutlichen Rosmarinstrauß, den sie am Mieder trug, mit zitternden Fingern löste und von der ausgestreckten Hand niedergleiten ließ auf den mit welkenden Blumen bedeckten Hügel. Dann schaute sie zu dem Gesichte ihres Mannes auf, als wollte sie ihn mit Blicken fragen, ob sie auch recht gethan – Ferdl nickte ihr zu mit innigem Lächeln und feuchten Augen – und wieder setzte sich der Zug in Bewegung. Und während die Böller krachten, daß die Berge widerhallten, thaten die Musikanten ihr Bestes, bis das mit Fahnen und Tannenkränzen geschmückte Wirthshaus erreicht war, in welchem das Mahl bereitet stand.

Von all den geladenen Gästen waren nur zwei nicht erschienen. Der eine war Herr Simon Wimmer. Der Aufenthalt in dem Dorfe hatte für ihn, wie man so sagt, einen Haken bekommen; er hatte um seine Versetzung nach einem anderen Posten nachgesucht, aie war ihm gewährt worden, und da hatte er seine Abreise gerade auf den Hochzeitsmorgen festgesetzt, ein „Rache-Akt“, durch den er die allgemeine Festesstimmung wesentlich erhöhte.

Aber auch ein Anderer war fern geblieben, den man sehnlichst erwartet hatte und schmerzlich vermißte – Luitpold. Er hatte dem Gidi die herzlichsten Glückwünsche gesandt, und dazu den „gräflichen Förster“ mit entsprechender Gehaltserhöhung. Dem Ferdl hatte er geschrieben, wie gern er gekommen wäre, wenn er nicht gefürchtet hätte, durch die trübe Stimmung, die der Anblick all des vielen Glückes in ihm erwecken müßte, die Freude und den Frohsinn der Anderen zu stören.

Diesem Briefe war ein Brautgeschenk für Veverl beigelegt: der Schmuck, den sie am Halse trug – sechs kleine, blitzende Topase, im Kreis umringt von spitziggeflammten, aus mattweiß schimmernden Perlen gebildeten Zacken – ein Edelweiß mit dreißig Strahlen!


[872]

In der Silvesternacht.

Wie eine einsame Warte steht mitten im blanken Felde mein Wohnhaus. Dort in dem hohen Erker des oberen Geschosses liegt mein trauliches Arbeitszimmer, von dessen Eckfenstern ich in zwei Welten blicke. Vor dem einen breitet sich die endlose Ebene aus, die nur von Chaussée-Alleen in schnurgeraden Linien durchschnitten wird und aus der einige Dörfer wie einsame Jnseln auftauchen. Von dem andern Fenster schaue ich zurück zu dem steinernen Häusermeer der Großstadt. Wie auf ein ehernes Kommando festgebannte Bataillone behaupten die wettergrauen Häuser der Altstadt mit ihren Kirchthürmen die Mitte; wie aufmarschirende Flügelkolonnen scheinen der südliche und nördliche Theil immer weiter das Terrain zu gewinnen, und wie muthige Schützenlinien schwärmen vor der langen Front die bunten Villen und Vororte aus. Seit mehr als einem Menscheualter beobachtete ich den Krieg, den die Stadt mit dem Blachfelde führte, und war ein theilnehmender Zeuge ihrer Siege.

Heute stieg die Sonne zum letzten Male in diesem Jahre spät und müde über meinem Panorama auf.

Die Stadt war längst aus ihrem Schlummer erwacht und ging an ihr Tagwerk, gehüllt in den breiten Rauchmantel, den die ersten Sonnenstrahlen mit Violett und Purpur färbten – die Ebene schlief, in die glänzend weiße Schneedecke gebettet. Ich kenne längst diese Gegensätze – welche mir alljährlich die Bilder des Lebens und des Todes – der starren Vergangenheit und der dahinrauschenden Gegenwart vor die Seele rufen.

Aus dem Schneegefilde ragen heute auffälliger als sonst einige dunkle Tannen in die Höhe und schützen mit ihren wie Arme ausgestreckten Aesten ein einfaches Denkmal aus Stein. Auf diesem Platze stand einst der Despot, der das wilde Pferd der Revolution zu zügeln wußte und wie eine Gottesgeißel die Länder Europas mit den Schrecken des Krieges überzog. Von jenem Hügel aus blickte er auf das Hin- und Herwogen der dreitägigen Völkerschlacht und sah, wie in diesem Ringen die Sonne seiner Macht langsam dahinsank.

Als vor Jahren in einer Silvesternacht der Mond über dieses Blachfeld aufgegangen war und über den Schneewehen Wolkenschatten heimlich wie Gespenster dahinhuschten, erschien mir jener Hügel wie von Geistergestalten belebt. Ich sah den Kaiser im grauen Mantel, sah den glänzenden Stab der Generäle, sah das bleiche Antlitz zu Tod getroffener Krieger und einen stolzen Fahnenwald, über dessen Kronen goldene Kaiseradler schwebten. War das die große Wachtparade, die er, wie die Dichter singen, von Zeit zu Zeit abhalten soll? Horch, da dröhnte ein Böllerschuß, donnernd folgte ihm ein zweiter, und wie der dritte durch die stille Nacht langsam dahin rollte, verschwand mein Phantasiegebild. Glockengeläute und gedämpfter Jubel jauchzender Menschenstimmen drangen an mein Ohr. Dort in der Ferne in der lichterbesäeten Stadt jubelte und frohlockte das Volk, denn ein großes Jahr ward glücklich vollendet und ein glorreiches ward geboren!

Es waren die Jahre 1870 und 1871, die mit leuchtenden Lettern am Himmel der Weltgeschichte wie neue Sternbilder aufflammten – es war die große Wende im Leben der Völker, das Doppeljahr der Geburt der deutschen Einheit...

Jahre sind seit jener Silvesternacht ins Land gegangen; der laute Jubel ist verklungen, und was damals im Sturm erobert wurde, muß jetzt in zäher Ausdauer erhalten werden. Auf die Zeiten des Krieges folgte die Zeit der Arbeit – und die Arbeit ist auch ein Kampf mit Siegen und Niederlagen. In ihrem stehenden Heere muß jeder Einzelne, der Schwache wie der Starke, dienen, und wehe Dem, der an ihr fahnenflüchtig wird!

*  *  *

Und wieder breitet die Nacht ihre Schatten über meine Landschaft; der märchenhaft gläuzende Winterhimmel schaut mit Millionen flimmernder Augensterne zur Erde hernieder … zum letzten Male in diesem Jahre beschreiben sie ihre Bahnen in dem Weltenraume ...

Welch ein verwegener Gedanke, mit Erdenmaß das Weltall zu messen, von Jahren im Angesicht der Ewigkeit zu reden! Die Aeonen spotten der kurzen Spanne Zeit, die zwischen dem ersten und letzten Athemzuge des Sterblichen liegt, die im Vergleich zu ihnen leicht und winzig erscheint wie ein Tropfen gegenüber dem Weltmeer. Und doch wagt der Mensch den Kampf mit der Ewigkeit, aus der unendlichen Zeit reißt er Stücke heraus, nennt sie Jahrtausende, Jahrhunderte und Jahre und läßt sein Wirken in diesen engen Grenzen dahinfluthen. Diese engen Grenzen sind sein Werk, er rundet die Zeit der Sonnenbahnen ab, nicht länger und nicht kürzer, als er will, darf ein Jahr dauern, und doch sieht er dem Ende des ablaufenden mit innerer Feier entgegen und erwartet mit banger Furcht das kommende! Seltsames Räthsel der letzten Jahresstunde, in welcher die Vergänglichkeit und Ewigkeit in der menschlichen Brust um die Siegespalme ringen!

Man muß auf meiner stillen Warte, fern vom Getümmel der Welt zum gestirnten Himmel emporschauen, um auf solche Gedanken zu kommen. Ein tiefes Sehnen erfaßt mich plötzlich und lockt mich, nach der Stadt, nach Menschen auszuschauen.

Durch das offene Fenster dringen die gedämpften Laute ihres Lebens, ihres Wirkens und Schaffens an mein Ohr. Dort unten auf der Straße zieht beflügelten Schrittes ein Mädchentrupp; halb Kinder noch, halb Jungfrauen, eilen sie nach dem Heimathsdorfe. Aus ihrem fröhlichen Geplauder sind mir nur einzelne abgerissene Worte verständlich – sie sprechen vom Schuhwerfen und Bleigießen. Wie das besorgt ist um den künftigen Schatz! Glückliche Jugend, die nach den Freuden des Lebens dürstet: Wartet nur, wenn der wahre Lebensfrühling kommt und die Herzen wie Blüthenknospen springen, dann wird auch euch die Liebe mit all ihrem Zauber erscheinen und in der nächsten Silvesternacht der Schuh vor der Thür stets richtig fallen und zu lauter brennenden Herzen das flüssige Blei erstarren. Aber was darauf folgt – Glück? Unglück? – daran denkt ihr nicht, und ich mag euch darum nicht schelten.

Träumt nur weiter, ihr kindlichen Seelen, die ihr mit feucht glänzenden Augen halbverklungenen Märchen lauscht und die Welt mit Zaubermächten so gern bevölkert sehen möchtet. Nimmer kehren für euch im reifen Alter die Zeiten des Schwärmens und Dichtens wieder, wie die alten Bräuche nimmermehr aufleben, die an des Jahres Neige vor Jahrhunderten in diesem Lande unverbrüchlich eingehalten wurden.

Nichts, was rund war, durfte sich einst in den heiligen zwölf Nächten bewegen, kein Rad durfte gehen, kein Spinnrad schnurrte in der Kammer. Und heute! Seht ihr die schwachen Lichter, die dort am Horizont auftauchen – eins im Süden und im Norden ein zweites? Sie eilen mit Sturmesschnelle der Stadt zu – zwei donnernde Kourierzüge, die noch in diesem Jahre ihr Ziel erreichen, vielleicht noch auf ein neues losstürmen müssen. Keine Macht, weder geheiligte Sitte, noch Sehnsucht nach Ruhe, wird sie aufhalten. Seht ihr die langen Schienenstränge? Das sind die eisernen Adern, welche die Erde durchkreuzen und Säfte und Kräfte zwischen Völkern und Ländern austauschen. Jetzt saust der Zug in meiner Nähe vorüber; in seinem Tosen glaube ich den donnernden Pulsschlag meines Jahrhunderts zu hören. Stürme vorwärts, du geflügelter Bote der Neuzeit, bringe Glück, streue aus ihren Segen! Mögen die tausend Neujahrswünsche, die du aus fernen Landen der Stadt zuführst, in frohe Erfüllung gehen!

*  *  *

Als ob sich der Sternenhimmel in einem trüben Gewässer wiederspiegelte, scheinen mir die Lichter der erleuchteten Stadt entgegen, aber aus ihrem fahlen Glanze strömt Wärme und Leben. Sie reden mit mir wie alte Bekannte.

In jenem Bürgerhause ist die ganze Familie um die dampfende Punschbowle versammelt, selbst die älteste Tochter, die in diesem Jahre dem Manne ihrer Wahl die Hand gereicht und das Haus verlassen, ist mit dem jungen Gatten gekommen, um die Neujahrsnacht im Vaterhause zu verbringen. In den hell erleuchteten Räumen des daneben stehenden Palastes wogt eine elegante Gesellschaft und dreht sich im Tanze. Jeder sucht nach seiner Art das Neue Jahr zu begrüßen, selbst der Komiker in dem kleinen Vaudeville-Theater wird nicht müde die Possen zu singen, und findet gut aufgelegte Zuhörer.

Dunkel ist dagegen das Stockwerk, in dem einst mein Freund wohnte, der mir vor Monaten die Hand gedrückt hatte, als er, dem Wanderzuge folgend, über den fernen Ocean nach den tropischen Inseln eilte, auf welchen die deutsche Flagge weht. Längst vor ihm hat sein Bruder den Wanderstab ergriffen, um unter dem Sternenbanner „jenseit des großen Teiches“ sein Glück zu suchen.

Unter den mächtigen Douglastannen des „fernen Westens“ und unter den Palmen der Tropen leben und wirken die Söhne Deutschlands und denken heute an die Silvesternacht daheim, und die Verwandten und Freunde im Lande senden ihnen im Geiste Herzensgrüße und Herzenswünsche. Wie viel geistige Boten schwirren heute durch die stille Nacht von Land zu Land, von Welttheil zu Welttheil!

In der Dachkammer eines alten fast baufälligen Hauses brennt trübe die Lampe und erhellt mit mattem Glänze das einsame Mansardenfenster. Ich kenne das bleiche Mädchenantlitz, das jetzt die müden Augen über den Nähtisch schweifen läßt. Pflichten und Noth zwingen es zur Arbeit. Der Jahresschluß und der Miethzins … und dazu das schwache Mütterlein … O wie gut, daß das Schnurren der Nähmaschine sie nicht stört, daß es der Alten längst zu einem Wiegenlied geworden! In der weiten Ferne tauchen aus dem Häusermeer hier und dort mehrere solcher mattglänzenden Mansardenfenster hervor. Wer kümmert sich heute um die, welche hinter ihnen ums dürftige Dasein kämpfen! Die sentimentale Mansardengeschichte ist in der Litteratur längst aus der Mode gekommen, nur die Noth will in der Welt nicht schwinden und wird nicht älter und nicht schwächer mit den Jahren.

Aber auch die Hoffnung will nicht schwinden aus der Welt. Auch sie läßt sich nicht aus dem Felde schlagen, und wie oft hat sie es schon behauptet! So hoffet denn auch ihr, die ihr in harter Arbeit das alte Jahr beschließet und mit Pflichterfüllung das neue beginnt, ihr verdient den Glückwunsch der Engel und den Segen eurer Thaten.

Behaltet Muth, und ihr werdet siegen!

Ein Thor, der da wähnt, daß Unglück mächtiger ist als Glück auf Erden! Einst sah ich noch die Stadt vor mir, wie sie klein und schwach war, niedergebeugt von den Schlägen der Kriegsjahre, und wie blühte sie auf in Arbeit und Fleiß, wie reckte sie ihren Riesenleib und streckte weit hinaus ihre nervigen Arme, wie schmückte sie ihre breite Stirn mit einem blühenden Kranz von Gärten! Die Jahre des Unglücks sind für sie Lehrjahre geworden und nicht anders sollte der Einzelne handeln.

So fahr denn wohl, du altes Jahr! Die Erinnerung an deine Freuden möge noch lange in unsrer Brust nachzittern, aber an deinen Dornen soll kein Herz verbluten!

Und du sei gegrüßt, Neues Jahr, so reich für Jeden an Hoffnungen! Gieb uns die Kraft der Jugend und die Weisheit des Alters, damit wir siegreich den Stürmen des Schicksals trotzen können. Werde das für uns Alle, was Millionen Menschen hoffend jetzt in die weite Welt hinausrufen:

Ein glückliches Neues Jahr!“

[873]

Der Battenberger.

Von Karl Braun-Wiesbaden.

Während weit da hinten in der Türkei die Völker auf einander schlagen, während England für und Rußland gegen die Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien Partei ergreift, während der bulgarische Fürst Alexander von den Russen getadelt und von den Engländern begönnert wird, während Oesterreich dem König Milan von Serbien ein gewisses Wohlwollen entgegenträgt und zu seinen Gunsten zu vermitteln sucht, während alles Dessen vermögen wir auf die Frage: „Was thut bei Alledem Deutschland?“ keine bestimmte und unzweideutige Antwort zu geben.

Das deutsche Volk hat im Anfang die September-Ereignisse auf der Balkan-Halbinsel mit einer fast philosophischen Ruhe betrachtet. „Was ist uns Hekuba?“ hörte man äußern, und manches Andere erinnerte an die Redensart von dem Bischen Herzegowina „1875er“ Angedenkens. Diese anfängliche Haltung hat jedoch eine plötzliche Aenderung erfahren seit den siegreichen Waffenthaten des jungen Fürsten von Bulgarien, des vormaligen Prinzen Battenberg. Kein Wunder! Denn jede muthige energische That eines Deutschen findet ein Echo im Herzen des deutschen Volkes.

Der am 29. April 1879 durch einstimmige Wahl der bulgarischen Nationalversammlung auf den Thron des bulgarischen Landes, wie solches aus den Verhandlungen und den Beschlüssen des Berliner Kongresses von 1878 hervorgegangen, berufene Fürst Alexander I. ist ein deutscher Prinz und ein deutscher Officier. Und das allein reichte schon hin, ihm die Sympathieen des deutschen Volks zu gewinnen. Dazu kamen aber noch folgende Umstände:

Er hatte eine außerordentlich schwierige Stellung auf dem neu geschaffenen Thron der Donau-Bulgaren; allein er wußte dieselbe zu überwinden. Er war kein selbständiger Herrscher, sondern nur eine Art von Vasall. Das Fürstenthum blieb dem Sultan tributpflichtig. Freilich wurde der Tribut nicht pünktlich bezahlt, und die türkische Oberherrlichkeit wurde vorerst noch nicht drückend empfunden. Schlimmer war die Abhängigkeit von Rußland, das den Zoll der Dankbarkeit forderte für die unbestrittener Maßen geleisteten Dienste, aber auch nicht weniger verlangte, als daß in Bulgarien nicht der Fürst Alexander herrsche und nicht die Bulgaren, sondern die Russen, und daß die ganze Civilverwaltung und das ganze Kriegswesen sich in den Händen russischer Beamten und Officicre befinde. Dazu kam noch jener Zustand der Unfertigkeit und der Unbefriedigung, der daraus erwuchs, daß man nur einem Theil des bulgarischen Volkes, nämlich dem auf dem nördlichen Abhang des Balkan, zwischen der Höhe des Gebirgszuges und der parallel mit ihm laufenden Donau, eine gewisse staatliche Autonomie gewährt hatte, nicht aber auch denjenigen Bulgaren, welche das auf dem Südabhange des Balkan gelegene Land, das rumelische Mittelgebirge (Srjadna Gora) und das Land östlich der Rhodope bewohnen.

Alexander I., Fürst von Bulgarien.

Das letztgedachte Land war dem Sultan verblieben. Es sollte nach wie vor eine türkische Provinz bleiben, genannt „Ostrumelien“, jedoch einen christlichen Gouverneur und gewisse äutonomische Rechte besitzen. So wollte es der Berliner Friede voin 13. Juli 1878. Rußland hatte es anders gewollt. Nach dem Präliminarfrieden von San Stefano vom 3. März 1878 sollte das Fürstenthum Bulgarien nicht nur die Donau-Bulgaren, sondern auch die in Thracien und Macedonien umfassen, ja sogar solche Gebiete, welche die Hellenen für ihr Königreich Griechenland, und die Serben für das soeben unter Milan Obrenowitsch konstituirte Königreich Serbien in Anspruch nahmen. Damals wurde die Vereinigung von Nord- und Südbulgarien von den Russen eben so beharrlich (wenngleich vergeblich) begehrt, wie sie solche gegenwärtig eben so beharrlich (und vielleicht auch eben so vergeblich?) verweigern. Endlich hatte der russische Generalgouverneur Fürst Dondukow dem neu geschaffenen Tributärstaate Bulgarien eine Verfassung gegeben, welche vielleicht für einen kleinen Schweizer-Kanton, der sich des Schutzes einer von ganz Europa anerkannten Neutralität und himmelhoher unwegsamer Gebirge erfreut, recht brauchbar gewesen wäre, nicht aber für ein mitten in der gährenden und unfertigen politischen Gestaltung der Balkan-Halbinsel, wo es galt, seine financiellen und militärischen Kräfte zusammenzufassen und jeden Augenblick bereit zu stehen, um seine Existenz zu vertheidigen und zu stärken. Um es kurz zu sagen: das kleine Land wurde erschüttert durch die Zuckungen des nach Vereinigung strebenden großbulgarischen Volksstammes, bedroht von seinen slavischen und hellenischen Nachbarn, vernachlässigt von seinem nominellen Schirmherrn, dem Sultan, der für sich selbst keine Mäuse fangen konnte, geschweige denn für Andere Ratten, und zwar beschützt von seinem faktischen Schutzherrn, nämlich von Rußland, aber auf eine höchst eigenthümliche Weise, welche beeinflußt war von dem Gedanken: „Es soll ein russisches Großbulgarien sein, aber wenn es nicht russisch sein will, dann soll es überhaupt nicht sein. Sit, ut volo, aut non sit!“

Das sind die Umstände, unter welchen der damals 22 Jahre alte deutsche Prinz auf den Thron von Donau-Bulgarien gelangte. In der That ist wohl niemals einem jungen Prinzen, welcher weder auf dem Thron noch für den Thron geboren war, eine so schwierige Aufgabe gestellt worden, welche er lösen sollte in einem ihm bis dahin ziemlich fremden, armen, kleinen, durch innere Unruhen, Räuberbanden, Bürgerkrieg, wirklichen Krieg und Gräuel aller Art – man erinnere sich an die „Bulgarian horrors“, deren Herr Gladstone die Türken beschuldigte, die aber auch von anderen Seiten ausgeübt wurden – zerrütteten und niedergetretenen Lande.

Der Prinz Alexander Joseph von Battenberg hatte eine vortreffliche Erziehung und Ausbildung erhalten, allein auf eine solche Aufgabe war er nicht vorbereitet. Sein Vater, „Prinz Alexander von Hessen und bei Rhein“, ist der Oheim des gegenwärtig regierenden Großherzogs von Hessen, Ludwig’s IV., und der dritte Sohn des Großherzogs Ludwig’s II. Er hat nie Gelegenheit gehabt, die erste Rolle zu spielen, wohl aber öfters die zweite. Schon im Alter von 17 Jahren trat er 1840 in die russische Armee, in welcher er sich auszeichnete durch seine Unerschrockenheit im Kaukasischen Kriege; aber schon 1851 verließ er ganz plötzlich den russischen Militärdienst, indem er fast gleichzeitig die Gräfin Julie Hauke, die er in St. Petersburg kennen und lieben gelernt hatte, heirathete, natürlich in morganatischer Ehe; denn anders ist dies bei den Ebenbürtigkeits-Gesetzen, welche ausnahmsweise in Deutschland bestehen, während sie anderwärts längst abgeschafft sind oder nie bestanden haben, für einen deutschen Prinzen nicht möglich. Einzelne deutsche und ausländische Blätter haben über die Komtesse Hauke und ihre früheren Schicksale sensationelle Nachrichten verbreitet.

Diese Nachrichten sind erdichtet. Sie ist die Tochter des vormaligen polnischen Kriegsministers und Artillerie-Generals Grafen und Wojwoden Moriz von Hauke. Sie ist deutscher Abkunft und eine eben so vornehme als hoch gebildete Dame. Sie zog die Hand des deutschen Prinzen einer ihr in St. Petersburg gebotenen weit glänzenderen, aber weniger befriedigenden Stellung vor; und es war wohl eine Folge der dadurch hervorgerufenen Spannung, daß der Prinz Alexander dem Zar seinen Abschied einreichte und Rußland verließ. Der Großherzog von Hessen beeilte sich, sie in den hessischen Grafenstand zu erheben, mit der Bestimmung, daß ihre Nachkommen die Bezeichnung von „Prinzen und Prinzessinnen von Battenberg“ zu führen haben. Da ich fast täglich gefragt werde, „wo dieses Battenberg denn eigentlich liege?“ oder ob es ein Phantasiename sei, so will ich bemerken: Battenberg ist ein hübsches kleines altes Nest mit einem Schlosse, ein Landstädtchcn von etwa tausend Einwohnern, und liegt im Kreis Biedenkopf, der früher zum Großherzogthum Hessen gehörte, jetzt aber preußisch ist in Folge der Ereignisse von 1866. Es gab ehemals Grafen von Battenberg, auf der benachbarten Kellerburg sitzend. Dies Geschlecht ist jedoch ausgestorben, und die Burg liegt in Trümmern.

Prinz Alexander von Battenberg, der jetzige Bulgarenfürst, ist am 5. April 1857 geboren. Sein älterer Bruder, Prinz Ludwig Battenberg ist bekanntlich in England und Schwiegersohn der Königin Victoria. Sein jüngerer Bruder, Franz Joseph Battenberg kämpft an der Seite seines [874] Bruders Alexander und hat, um dies zu können, aus der preußischen Armee seinen Abschied genommen.

Prinz Alexander hat seine erste Ausbildung in der bekannten Erziehungsanstalt in Schnepfenthal (bei Gotha) erhalten. Bezeichnend für ihn und für seine Eltern! Seine damaligen (1869 bis 1873) Mitschüler, deren ich Einen noch dieser Tage sprach, rühmen seine Wißbegierde und sein entschiedenes und dabei doch völlig anspruchsloses Wesen. „Ei ja“, sagte mein Freund, „er war ein grundgescheiter und ein herzlieber Junge – gar nicht so, wie die Anderen – denn die nicht ganz Vollbürtigen und die Neugebackenen, das sind ja sonst gewöhnlich gerade die Schlimmsten.“

Er hat das Kadettenhaus in Dresden besucht und ist dann Lieutenant in Darmstadt und später in Berlin bei der Garde geworden. Im Jahre 1877 und 1878 hat er den russischen Krieg im Orient mitgemacht, und dann ist er 1879 Fürst von Bulgarien geworden. Gleichzeitig mit ihm vorgeschlagen war der Prinz Waldemar von Dänemark, und es heißt jetzt, Rußland wolle, wenn die Absetzung des Fürsten Alexander gelinge, auf den damaligen Konkurrenten und Thronprätendenten Waldemar zurückgreifen und sich mit Oesterreich dahin verständigen, daß dieses die Schutzherrschaft über den Westen und Rußland die über den Osten der Balkan-Halbinsel erhalte. So sei es beschlossen in Kremsier. Allein der orthodoxe Türke pflegt bei solchen Gelegenheiten mit Recht zu sagen: „So erzählen die Leute, aber Gott (Allah) weiß es besser!“

Jedenfalls pflegt die Suppe nicht so heiß gegessen zu werden, wie sie gekocht wird.

Was die Vereinigung von Nord- und Südbulgarien anlangt, so läßt sich dieselbe auf die Dauer nicht hintertreiben. Beide gehören zusammen, wie die zwei Seiten eines bilateralen Geschöpfes. Die Zolllinie zwischen Beiden ist ein Unsinn. Getrennt ist Jedes leistungsunfähig. Vereinigt bilden sie schon ein ganz hübsches Land und wären vielleicht sogar im Stand, den versprochenen Tribut pünktlich zu zahlen, ein Umstand, der bei dem Sultan und seinen Leuten schon ziemlich schwer ins Gewicht fällt.

Vor Allem aber: im Kriege wider die Serben haben die Nord- und Südbulgaren Schulter an Schulter gekämpft und gemeinsam die Bluttaufe erhalten. Blut ist ein ganz besonderer Saft. Seine Bindekraft ist stärker als die Scheidekraft der Kongreßbeschlüsse.

Den Fürsten Alexander abzutakeln, ist so leicht nicht, wie man sich das wohl hin und wider in Rußland vorstellt.

Alexander hat sich bewährt als klug und als tapfer. Er ist den Bulgaren ans Herz gewachsen. Fortuna juvat audacem, das Glück hilft dem Tapfern.


Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.
(Schluß.)

Das Engagement war in einer schönen Stadt abgeschlossen, in der es viele, viele Mönche giebt und wo der Einfluß geistlicher Würdenträger sich manchmal auch auf die Anstalten weltlicher Kunstübung erstreckt. Es mag übrigens dahingestellt bleiben, ob der findige rührige Pater Otto irgend welche Beziehungen, die ihm geläufig waren, in dieser Richtung zu Gunsten seiner Muhme habe spielen lassen. Thatsache ist, daß er kurz vorher in Angelegenheiten der Klosterbibliothek in eben jener Stadt wieder einmal gewesen war und daß er mit der Nachricht, jenes berühmte Hoftheater erkläre sich zu einem Probegastspiel Bianca’s bereit, diese in größte Freude versetzte.

Flugs ging es an ein Vorbereiten und Zurüsten. Bianca ließ es an sich nicht fehlen, setzte dabei aber die Feder Pater Otto’s und die Nadeln ihrer beiden Schwestern in tüchtige Bewegung. Der lustige Geist vergangener Tage mit seiner Kühnheit, seiner göttlichen Zuversicht schien wieder über das Mädchen gekommen zu sein. Nur manchmal mahnten die gerötheten Augendeckel an still und verborgen geweinte Thränen, und die nervöse Hast, die ihre Bewegung manchmal mehr hemmte als förderte, ließ doch auch auf innere Unruhe und gewaltsam niedergedrückte Sorge schließen.

Wenn Bianca denn doch inmitten all der freudigen Vorbereitungen Zweifel am Gelingen ihres Planes packten und sie im Glauben an ihre künstlerische Zukunft erlahmen wollte: dann dachte sie daran, daß Edgar ein armer Mann geworden sei, daß er vordem in seinem Bürgerstolz ein Mädchen, das der Kunst ihr Leben weihte, für unwürdig erachtet habe, seine Gattin zu werden, und daß sie nun berufen sei, ihn eines Besseren zu belehren durch die That. Sie wollte berühmt durch die Kunst und durch den Ruhm reich und durch den Reichthum glücklich werden und ihn wieder glücklich machen!

Pater Otto stand daneben und sah all dem aufgeregten und aufregenden Treiben zu. Er dachte sich: Wie’s nun ausgehen mag, sie hat doch ihren Willen gebüßt und ihrem Herzen ein Opfer auferlegt, und ist’s vorüber, wird’s zum Guten, sie wird im Glück nicht stolz und im Unglück nicht untröstlich sein, denn sie liebt!

Und weil er besten sicher war, daß die Liebe sie beseelte und zu ihrem Thun begeisterte, so hatte er auch, nicht allzulange Zeit nach jener Begegnung in der Minoritenkirche, sich mit Edgar von Sperber in briefliche Beziehungen gesetzt. Es waren anfangs nur geschäftliche Angelegenheiten, die er im Auftrag und Interesse seines Klosters dem Hamburger Hause zu besorgen auftrug. Wenn auch gerade keine großartigen Geschäfte, doch solche, die der Mühe werth waren. Und ihre Bedeutung wuchs allmählich. Bald handelte es sich darum, jenseit des Oceans gefährdete Kapitalien sicher zu stellen, bald galt es, Ordensbrüdern, welche weite, oft auch gefährliche Reisen in überseeische Länder unternahmen, mit Rath, Empfehlung oder Unterstützung an die Hand zu gehen. Das Vertrauen, welches Edgar also zu rechtfertigen beflissen war, trug ihm aber nach und nach allerlei Beziehungen ein, die er sich ohne Pater Otto’s zuvorkommenden Einfluß nie hätte träumen lassen. Unter den Briefen, die Edgar nunmehr empfing, befanden sich manchmal bischöfliche und sogar erzbischöfliche Anfragen und Antworten. Manche recht diskreter Natur, manche von hoher Wichtigkeit. Das Hamburger Haus besorgte das Alles, dank seiner alten weitreichenden Beziehungen und wegen des Interesses, das einer der jungen Chefs an dem besonderen Auftraggeber nahm, so gewissenhaft und gut, daß der Erfolg nie ausblieb, die geistliche Clientel sehr zufrieden war und die Gelegenheit zu neuem Briefwechsel für Pater Otto nicht ausblieb.

Nun es mit dem Sommer zu Ende ging und die Abreise Bianca’s immer näher rückte, schrieb Pater Otto einmal als Nachtrag zu einem trockenen Geschäftsbrief an Edgar von Sperber: „Ich wollte, daß es Ihnen Ihre Zeit erlaubte, Anfang Oktober nach der Stadt der Mönche zu kommen, wär’s auch nur auf wenige Tage. Wir könnten uns da wieder einmal mündlich aussprechen, was mir sehr angenehm wäre. Und dann würd’ es Ihnen vielleicht nicht gleichgültig sein, Fräulein Scandrini’s erstem Auftreten auf einer Opernbühne beizuwohnen. Sie singt auf Engagement. Die Bedingungen sind vortrefflich. Ihre erste Rolle wird wahrscheinlich ,Margarethe‘ sein. Sie weiß nicht, daß ich Ihnen davon etwas mittheile. Sie könnten’s ja ebenso gut aus dem ersten besten Blatte lesen. Aber ich thu’ es, um Sie zu bitten, falls Sie sich zu der Reise entschließen, sich keinesfalls vor der Vorstellung bemerklich zu machen. Es wird der Aufregung vorher auch so schon genug sein. Künstlerköpfe sind unberechenbar. Und nicht nur ihre Köpfe. Ihre Kehlen erst recht! Man kann nicht wissen, wie eine Ueberraschung wirken möchte. Doch hoff’ ich und wünsch’ ich das Beste. Wo Sie mich dort finden werden, wissen Sie u. s. w.“


Als Edgar über hundert anderen Angelegenheiten diesen Brief empfing, ward es ihm doch nicht leicht, mit seinem Denken ausschließlich in trockenen Geschäftsfragen befangen zu bleiben. Wie einem geplagten Schulknaben, dem plötzlich die goldene Ferienzeit in unerwartet nächste Nähe gerückt wird, stand all sein Sinnen ins Weite. Sein Hoffen hatte ihn nicht betrogen. Pater Otto hatte ihm Wort gehalten, obschon dieser ihm nie ein Wort gegeben. Aber die Beiden hatten sich doch auch ohne Worte verstanden. Und wenn der kluge Mönch ihm jetzt also schrieb, so hieß das: hoffe getrost, denn die Prüfungszeit ist zu Ende! Und wenn er ihm jetzt schrieb: Komme ja, so hieß dies: Du wirst dich nicht nur freuen, sie zu hören; sie wird sich auch freuen, Dich wiederzusehen!

Ob Fräulein Scandrini nun die Bühnenlaufbahn ernstlich betrat oder nicht, das änderte nichts mehr an seinem Hoffen und Begehren. Was lag daran! Er scheute doch selbst vor Arbeiten längst nicht mehr zurück, die man dem Sohn und Enkel königlicher Kaufleute vordem nicht hätte aufbürden dürfen. Der Hochmuth des Reichthums war mit dem Reichthum dahingangen. [875] Und Bettelstolz zu treiben, war er zu klug. Er freute sich wie ein Kind auf die Stunde, da er das liebe Wesen, dem er so oft im Zimmer gelauscht, dessen veränderte Stimme jüngst noch in der Kirche sein Herz ergriffen, nun auch auf dem zauberumflossenen Gerüste der Schaubühne bewundern sollte.

Ob es ihm seine Geschäfte erlanben würden, die Reise zu machen? . . . Zum Teufel auch, wofür arbeitete er denn! Doch nicht bloß für des nackten Lebens Nothdurft; auch für ein menschenwürdiges Dasein und ein bischen Glück! Daß die Stunde des Wiedersehens Glück für ihn sein würde, das wußte er, und er hoffte dazu, daß diese Stunde nicht nur für ihn Glück bringen und ferneres Glück verheißen werde.

So froh, so aufgeräumt, so leutselig hatten ihn die Herren auf seinem Komptoir lange nicht gesehen. „Ja, ja!“ sagten sie untereinander, „es geht wieder in die Höhe mit den Sperbern. Langsam und bedächtig, aber in die Höhe geht’s. Es war eine gute Idee von unserem Baron Edgar, sich mit den Pfaffen in Geschäftsverbindungen zu setzen. Die Schwarzen bringen immer Glück! d. h. wenn sie Einem wohlwollen. Die Welt gehorcht ihnen doch, wissend oder nicht. Und auch in Handel und Wandel rühren sie ihre Hände und kennen ihren und ihrer Freunde Vortheil. Na, uns kann’s ja nur recht sein. Wenn die Principale lachen, brauchen die Commis nicht zu weinen.“

In der That, das, was man auf der Hamburger Börse und auf dem Jungfernstieg einen reichen Mann nennt, war Edgar von Sperber noch lange nicht wieder; aber was man sich in der Josefstadt unter einem armen Teufel vorstellt, war er noch viel weniger, und wenn es nun, da die schlimmsten Monate der rastlosen Anstrengung überstanden waren, ihn gelüstete, eine Woche lang anderswo seinem Herzen eine Freude zu machen, so durfte er sich diesen Luxus bereits gestatten.

Rasch vergingen die letzten Wochen, und eines schönen Oktobertages las man in der Stadt der Mönche einen neuen Namen auf dem Theaterzettel, der die Oper „Faust“ von Gounod ankündigte.

Die Oper hatte eine Weile geruht, weil der geniale Liebling des Publikums, welcher ein Jahrzehnt lang die Rolle der Margarethe verkörpert, der Bühne entsagt hatte und es seitdem für ein Wagstück galt, sich mit Erinnerungen an jenen Stern in einen Wettkampf einzulassen. Und nun kam aus Wien so eine Anfängerin daher, ei, ei, das mußte ein keckes Talent sein! Sie wird einen schweren Stand haben! Freilich, man kann die beliebte Oper nicht ewig ruhen lassen. Aber einen schweren Stand wird sie haben, diese Scandrini oder wie sie sonst heißen mag.

Das riesige Haus war gedrängt voll. Die Erwartungen waren hoch gespannt. Das große Publikam brachte dem Neuling nichts weniger als ein günstiges Vorurtheil entgegen. Bianca hatte im ganzen Zuschauerraum keinen persönlichen Bekannten als ihren Vetter, Edgar von Sperber und mich, welchen Pater Otto als alten Seminarkollegen aufzusuchen für gut befunden. Ihre älteste Schwester, die sie bemutterte, hielt ihr hinter den Koulissen die Daumen. Schon die Proben hatten sie halbtodt geängstigt.

Und drinnen war es, als wehte ein eiskalter Hauch über die vielköpfige Menge, als käme die Kirmeß auf der Bühne nicht in Fluß, als klebten die Füße der Tänzer wie geleimt auf den Brettern, und als hätte unser alter Faust seinen Verjüngungstrank ohne jede Wirkung eingenommen. Ich sah, wie ein paar flotte Gewohnheitsbesucher sich schadenfroh zuzwinkerten, als wollten sie sagen: das ist ja heute die rechte Stimmung, um es dem naseweisen Eindringling zu schmecken zu geben, wie wir unseren alten Lieblingen dankbares Gedächtniß bewahren. Na, paß mal auf! Du sollst was erleben!

Ich kannte die stumme Sprache dieser Edlen. Ich kannte diese Stille, die dem Sturme voraufgeht. Und mir ward bang um Bianca Scandrini.

Als aber dies liebliche Wesen, so recht sittsam und fromm, wie ein deutsches Bürgermädchen einer mittelalterlichen Reichsstadt, aber mit allem natürlichen Geschick einer klugen Wienerin gekleidet und mit diesem himmlischen, blondumschimmerten Gesicht, so ganz, wie man sich Goethe’s Gretchen in glücklichen Träumen ausmalt, auf die Bühne trat, da flogen in fröhlichem Erstaunen ihm alle Herzen zu.

Und als diese wohlgeschulte Stimme, bebend vor Schüchternheit und Erregung, so ganz im Tone des Augenblicks, die Worte gesungen hatte: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn!“ da zuckte eine Freude durch die pochenden Herzen, und die Kenner sahen sich bedeutsam an, und beifällig nickten die kahlen und die struppigen Köpfe.

Noch nicht die Schlacht, aber das Vorpostengefecht war glänzend gewonnen. Das Publikum wußte nun, daß es mit einer Künstlerin zu thun hatte, die ernsthaft genommen werden wollte. Das mißgünstige Vorurtheil, das, aus alten Erinnerungen an frühere Großen und aus landläufigem Argwohn gegen Fremde gewoben, zwischen den Zuhörern und der Bühne brütete, war zerrissen und verjagt. Bianca hatte freie Bahn, zu siegen, wie sie’s aus eigener Kraft vermochte.

In den großen Liebesscenen des folgenden Aktes überraschte Bianca’s Gretchen auch uns Drei, die wir von ihr Anerkennenswerthes erwarteten, aber auf dies süße Feuer in Spiel und Gesang denn doch nicht vorbereitet waren. Kein Mensch im Hause wollte glauben, daß man es mit einer Anfängerin zu thun habe, und meine guten Freunde lachten mir ins Gesicht, als ich versicherte, ganz bestimmt zu wissen, daß dies Mädchen heute zum ersten Mal auf der Bühne stünde.

Jede Bewegung war von einer Sicherheit, von einer Ungezwungenheit, die auf Alle überzeugend wirkte. Solcher Nachahmung der Natur, mit solch künstlerischem Maß gepaart, hielt man einen Neuling nicht für fähig. Der Triumph der Schauspielerin war vollendet.

Aber auch die Sängerin riß das Publikum sammt den Kennern darin zu rauschendem Beifall hin. Der natürliche Wohlklang bewegte Jeden im „König von Thule“ und in den folgenden Scenen, ihrer Geläufigkeit im Schmuckwalzer waren wir ja sicher, aber wenn nun in den folgenden Scenen die Stimme hier und da auch heiliger zitterte, als die Sängerin wollte und die Darstellerin beabsichtigte, wenn sich die Stimme im Duett mit Faust etwas verschleierte und in den Augenblicken hingebenden Entzückens sogar einige Töne selbst von mir nicht mehr gehört wurden, so legten die Leute, die nun einmal im Zuge des Wohlwollens waren, das Eine als Zeichen der Erregung aus, die bei einem ersten Auftreten doch so begreiflich sei, das Andere als Mangel an Kenntniß der akustischen Verhältnisse des großen Hauses, in das man sich erst eingewöhnen müsse. Und der Beifall, mit dem man schon nach den einzelnen Nummern und Scenen nicht gekargt hatte, wuchs nach dem Aktschluß zu einem wahren Sturm. Bianca mußte sechs Mal vor den Lampen erscheinen. Das Publikum freute sich, wieder eine Sängerin zu besitzen, die mon mit Recht lieb haben, verehren und verhätscheln durfte. Und die Loge des Intendanten ward in dem Zwischenakt nicht leer von redlichen Leuten, die ihm zu dieser neuen Erwerbung für unser altes Theater ihre Glückwünsche ausdrückten.

Eigenthümlich berührte mich die Wirkung der Kirchenscene im nächsten Akt. Es schien mir, als wenn Dekoration und Umgebung von ungemeinem Einfluß auf die Scandrini wären. Der Kirchensängerin mochte die Erinnerung an den geweihten Ort, wo sie sich von langem Druck äußerer und innerer Hemmnisse befreit und als Künstlerin wiedergefunden hatte, unerwartete Hilfe geben. Sie war wieder weit mehr Herrin ihrer Mittel, als am Ende des vorigen Aktes. Die Leistung durfte vollkommen genannt werden und sie riß das Publikum hin.

Damit aber war die schon überreizte Kraft erschöpft. In der Kerkerscene des letzten Aufzuges mochte man immerhin die Kunst der Darstellung anerkennen, der Gesang war matt, das Organ schwankte, die hohen Tone gellten, die Mittellage klang gepreßt, der Wohlklang war wie weggewischt, und wer Bianca nicht zum ersten Mal hörte, konnte wohl merken, wie im Entsetzen über das Verlassen der Kraft und in der steigenden Angst davor die ganze Auffassung und Wiedergabe ins Unsichere gerieth und der Mensch immer deutlicher hinter seiner Rolle heraustrat.

Der verliebte Sperber gewahrte davon natürlich nichts. Er saß da wie etwa ein Kind vor einem Weihnachtsbaume, der eine Singstimme gekriegt hätte. Auch im Publikum fehlte es nicht an solchen, welche in den Fehlern Bianca’s nur ein übertriebenes Raffinement der Auffassung sahen. Eine Wahnsinnige sänge eben anders als eine Gesunde. Darüber ließe sich streiten. Die allgemeine Meinung ging dahin, daß die Scandrini, von einigen [876] Unbehilflichkeiten abgesehen, die noch die Anfängerin verriethen, in den vorigen Auftritten selbst jenen alten Stern und Liebling übertroffen habe; den letzten Akt aber singe dieser eben Niemand nach. Das war Erfolgs genug.

Wie sehr sich die Ansichten widersprachen, jedenfalls hatte Bianca bereits den ganzen Abend hindurch so sehr gefallen, daß ihr die Ermattung im letzten Akt wenig oder gar keinen Schaden mehr that. Sie hatte das Publikum bereits so sicher erobert, daß auch der schwächere Theil ihrer Leistung günstig aufgenommen und sie am Schluß der Oper lebhaft gerufen wurde.

Ihre Anstellung konnte schon nach diesem ersten Probegastspiel für entschieden gelten. Und der Intendant, der auf die Bühne kam, ihr seine Freude über den großen Triumph auszusprechen, gab ihr auch ziemlich unverblümt zu verstehen, daß er sie von dieser Leistung ab getrost zu den Seinigen zähle.

Bianca, noch im Gewände der verurtheilten Verbrecherin und mit der schweißdurchfurchtcn Schminke auf den Wangen, verbeugte sich stumm. Sie war zu erregt, zu erschöpft, um zu sprechen.

In der Garderobe angelangt, schob sie hastig den Riegel vor, sank auf den Stuhl und weinte lange bitterlich.

Die Ankleidefrau gab sich endlich Mühe, sie zu beruhigen, obwohl sie den Zustand für einen Weinkrampf hielt und einen solchen nach so heftiger Aufregung und nach der ersten solcher Aufregungen, die fürs Leben entschied, nur allzubegreiflich fand.

Jawohl! Die Summe, welche Bianca jetzt unter Thränen zog, entschied für ihr Leben. Aber anders, als es die gute alte Garderobière glaubte, die eine Reihe von Triumphen, alle mit reichlichen Trinkgeldspenden für sie verziert, vor Augen sah und darum der schönen Debütantin aufrichtigen Herzens das größte Glück und den vollsten Ruhm wünschte.

Pater Otto und ich, die wir die neue Diva vor dem Thor ihres Hotels erwarteten, mußten lang auf der Straße hin- und wiederschildern, bis endlich der Thespiskarren erschien. Edgar durfte nicht der Dritte im Bunde sein. Noch nicht. Der Chorherr hatte schon im letzten Akte Zeichen stummer Aufregung gegeben und mich, wenn die Stimme ihm bedenklich erschienen war, mit geheimen Andeutungen, wie da waren hastige Händedrücke, Stoßen mit dem Beine oder auch nur großer Augenaufschlag, von seiner leidenschaftlichen Theilnahme hinreichend überzeugt. Er machte auch jetzt seine verlorenen Schritte auf dem gasbeleuchteten Straßenpflaster wie einer, der voll Erwartung, Bedenken und Besorgniß ist.

Als wir aber der Sängerin aus dem Wagen halfen und mit ihr uns zum späten Mahle setzten, war jede trübe Stimmung aus seinem Gesichte weggewischt. Er hatte seine Züge vollkommen in Gewalt.

Die ältere Schwester hatte sich sehr ungern und nur auf ein mehrfaches Dixi! Punktum! des Vaters entschlossen, als Opernmutter zu fungiren. Sie fand an all dem unruhigen Treiben und der nothwendig damit verbundenen Aufregung keinerlei Vergnügen. An der Kunst hegte sie kein Interesse und vom glänzenden Schauspiel kriegte sie nur die ranzige Kehrseite zu sehen. Zudem gab es nach ihrer Ueberzeugung außerhalb der Linien Wiens kein menschenwürdiges Dasein; demgemäß verlangte sie überall Wiener Gerichte, Wiener Getränke und Wiener Gebräuche und fand alles am Ort Gebotene, auch das Theater, das Orchester und – sie ahnte nicht, wie schauderhaft sie frevelte – auch das liebe Bier unter aller Kritik.

Im Gasthof vermißte sie die Gemüthlichkeit und schützte gegen jede Zumuthung, aufgeräumt und gesellig zu sein, die heftigsten Kopfschmerzen vor. So hatte dies würdige Kind des „Herrn von Latschenberger“ sich auch heute sofort nach dem Ende der Oper ins Bett begeben, und wir saßen nur zu Dreien um den geselligen runden Tisch; das vierte Gedeck, welches für Bianca’s Schwester aufgelegt worden, blieb leer.

Die ersten Begrüßungen und Beglückwünschungen waren an den Mann oder vielmehr an das Fräulein gebracht. Bianca, die von Anstrengung und Aufregung ganz erschöpft war, bat nur, rasch die Speisen aufzutragen. Sie nippte vom Rheinwein und legte dann doch die Gabel mit dem ersten Bissen wieder unberührt auf den Teller und sagte, das süße Gesicht in die Hand gebeugt: „Weißt Du, Otto, was mir den ganzen Abend in Freud und Leid abgegangen ist und was mich schier wundert, so wenig es zum Verwundern ist?“

„O ja,“ versetzte der Chorherr, ohne sich in der rüstigen Arbeit mit Messer, Gabel und Kinnbacken im Geringsten stören zu lassen, denn auch dieser Vetter hatte den ganzen Tag über vor lauter Aufregung und Erwartung nicht viel Nahrhaftes über die Lippen gebracht und stürzte sich jetzt nach Erleichterung des Gemüths mit klösterlichem Wolfshunger auf das erste Gericht. „Ich kann mir’s denken. Aber ich werde mich wohl hüten, es zu sagen.“

„Ich sag’s! und warum nicht!“ antwortete Bianca, und aus ihren blauen Augen blitzte die Liebe: „Ich hätte darauf geschworen, Edgar müßte heut’ im Theater sein.“

„Er war auch da!“ sagte Pater Otto trocken.

Bianca schrie auf. „Was?! und das sagst Du mir jetzt erst? und wartest erst noch auf meine Fragen?! Geh, schäm’ Dich! Wo, wo ist er?!“

„Bei Deiner nachtragenden Art konnte man nicht wissen, ob Du ihn im Theater sehen wolltest … Jetzt iß etwas vor allen Dingen, und was den armen Kerl, den Edgar betrifft, der zappelt vor Ungeduld nicht weit von hier. Wirst ihn gleich sehen! …“ Er klingelte mit seinem Siegelring am Weinglase und rief: „Kellner, wollen Sie dem Herrn von Nr. 15 sagen, daß wir ihn hier erwarten und daß für ihn bereits gedeckt ist.“

Bianca stand auf und warf die Serviette über den Stuhl. Aber noch ehe sie die Thür erreichte, stand Edgar vor ihr. Er mußte nebenan auf den Ruf geharrt haben.

Die Sängerin streckte dem Freunde beide Hände entgegen. Er versäumte keines dieser Wunderwerke des Schöpfers andächtig und wiederholt zu küssen. Er überschüttete Bianca mit seinem Lob und seiner Begeisterung, aber unter all den berauschten Worten klang ein Grundbaß von Traurigkeit, der nicht erlosch, wenn er auch freudig die Melodien des Entzückens trug.

Edgar kam sich gerade heute nach diesem Triumph seiner Angebeteten so unbedeutend, so unwürdig vor. Was hatte er einer solchen Künstlerin zu bieten! Was für eine Rolle sollte er, der heruntergekommene, sich erst mühsam wieder emporarbeitende Kaufmann, neben diesem strahlenden Mädchen spielen, welches die Bahn des Erfolges mit dem ersten Schritte schon so siegreich betrat!

Er sprach es nicht aus. Aber wer vorhin Pater Otto beobachtete, wie er in widerstreitenden Gefühlen kämpfend unter den Gaslaternen auf- und abmarschirte, der besaß für die unausgesprochenen Gedanken Edgar’s schon Verständniß.

Bianca war ganz in Glück und Freude getaucht. Eine wunderbare Klarheit strahlte aus ihren blauen Augen, aus dem ganzen schönen Gesicht. Sie hatte den schweren Entschluß bereits hinter sich. Jede Trübniß war abgeworfen. Sie sah die Wahrheit der Dinge vor sich, wo wir Anderen noch zweifelten, wähnten und sorgten.

Das Mahl verlief in eifrigen Gesprächen über das jüngst Erlebte. Schüchtern streifte zuerst Edgar die nächste Zukunft. Bianca ließ uns Andere darauf antworten und blickte nur stumm mit ihren großen Augen von dem zu jenem, der gerade das Wort nahm.

Endlich machte sich die Müdigkeit auch bei ihr geltend und wir schieden rasch auf baldiges Wiedersehen. –

Edgar hatte um die Erlaubniß gebeten, ihr gleich am andern Morgen nach dem Frühstück seinen Besuch machen zu dürfen, weil seine Geschäfte kein längeres Fernbleiben von Hause duldeten.

Als er eintrat, fand er Bianca allein. Selbst Pater Otto hatte noch nicht vorgesprochen. Befangen blieb er an der Thür stehen, da ein Zimmerkellner, der gleichzeitig eingetreten war, einen Brief überreichte und Bianca das Siegel erbrechend überrascht ausrief: „Von der Intendanz!“

Sie nöthigte den Freund nach kurzem Gruß zum Niedersetzen und hat um die Erlaubniß, lesen zu dürfen.

Nachdem dies rasch geschehen war, sah sie strahlenden Blickes auf und sagte: „Der Intendant schreibt mir in sehr liebenswürdigen Worten, daß er nach dem gestrigen Erfolg schon heute bereit sei, mit mir abzuschließen. Lesen Sie selbst!’“

Edgar guckte wohl in den Brief, aber es tanzten ihm die Buchstaben einen so häßlichen Reigen vor, daß er es alsbald für Zeitverlust erachtete, hier etwas Anderes anzuschauen als Bianca Scandrini, die er vielleicht heute schon für immer wieder verlieren sollte.

[877]

Die erste Reise.
Nach dem Oelgemälde von B. Nordenberg.

[878] „In dem Briefe steht etwas von fünf Jahren, wenn ich recht lese,“ sprach er. „Werden Sie sich auf so lange hier binden, Fräulein?“

„Ich weiß es noch nicht.“

Kleine Pause, dann hob Edgar wieder an:

„Gefällt es Ihnen hier?“

„Wunderbar!“ Und sie lachte herzlich, da sie merken mußte, wie Sperber kleinlaut vor ihr saß und das rechte Wort nicht fand, an alte Zeiten zu erinnern und an ein Herz zu klopfen, das er besser kennen sollte.

Das übermüthige Lachen, wo ihm so bitterbang zu Muthe war, erregte seinen Zorn. Er sprang vom Stuhl auf und ging mit sich selber ringend in dem kleinen Salon auf und nieder.

Plötzlich blieb er mitten im Zimmer stehen, streckte nach Bianca beide Arme hin und sagte, noch den Groll in seinen Augen und Brauen, aber schon ein Lächeln in seinen Mundwinkeln: „Ich habe einst wie ein Narr an Ihnen gefrevelt, Bianca, ich habe Sie wie ein dummer Junge verloren. Könnten Sie mir wieder so gut werden, wie Sie mir schon einmal gewesen sind? … Mit einem Wort, könnten Sie sich entschließen, vor Gott und den Menschen, meine liebe Frau zu werden?“

Bianca zog die Brauen hoch und sagte: „Sie vergessen die Rücksichten, welche Sie Ihrer Familie schuldig sind, Herr von Sperber. Sie würden sich doch nie entschließen, eine Opernsängerin heimzuführen.“

„Ach, Bianca, rächen Sie sich nicht unedel! Unser Stolz ist klein geworden. Wenn Sie jetzt die Frau eines bescheidenen Kaufmanns werden, so geben Sie mir von Ihrem Glanz und Stolz was ab, nicht ich Ihnen von dem meinigen. Sie sind jetzt die bessere Partie, nicht ich!“

„Wer weiß!“

„Nach dem gestrigen Erfolg?! Kostet es mich doch Ueberwindung, um Sie zu freien, nun, nachdem ich verarmt bin und Sie einer glänzenden Zukunft mit Riesenschritten entgegengehen … Aber ich mag und kann ohne Sie nicht leben und würde um Ihre Hand werben, auch wenn Sie die Patti oder die Tochter des Kaisers von China wären!“

„Auch, wenn ich nichts wäre als ein armes Mädel aus der Josefstadt?“

„Herr Gott im Himmel! wären Sie doch nur das! ich wollte Gott auf den Knieen dafür danken! … Sehen Sie mich nicht so zornig an! Ihr Künstlerthum, Ihren Erfolg, Ihre Zukunft in allen Ehren … aber der Gedanke, daß fortan Sie im Süden, ich im Norden weiterleben werde, daß die ganze Länge Deutschlands mich tagtäglich von Ihnen trennen soll, und daß Sie über Ihrem Beruf und was so damit zusammenhängt, mich recht bald vergessen werden, das könnte mich hier auf dieser Stelle rasend machen.“

„Gott bewahre!“ rief Bianca, und dann winkte sie Sperbern, der wieder auf und nieder zu laufen begann, näher heran und sagte: „Edgar!.. knieen Sie einmal gleich hier nieder!“

„Vor Ihnen ?“

„Nein, vor Gott! Um ihm auf den Knieen, wie Sie gewünscht, zu danken, weil ich nichts bin, als ein armes Mädel aus einer Wiener Vorstadt!“

„Bianca!“ rief Sperber, der schon zu ihren Füßen lag und beide Hände vor Verwunderung und Wonne zusammenschlug, derweilen sie den liebenswürdigen Brief des königlichen Intendanten in vier gleiche Theile zerriß. „Um Gotteswillen, ist das Ihr Ernst?“

„Ja, mein Freund, mein voller Ernst, und ich setze hinzu: mein bitterer Ernst! Denn ich hab’ es anders im Sinn gehabt, stolzer, vielleicht auch schöner. Mit Schmerz entsag’ ich einer Laufbahn, für die ich mein Leben gegeben hätte und auf der ich mich an Ihrem Uebermuth zu rächen hoffen durfte. Aber ich muß ihr entsagen.“

„Was, Sie müssen?“ rief Sperber und sprang heftig auf die Füße. „Nach einem Erfolg wie der gestrige, der ohne Beispiel ist?!“

„Ja! Mag dieser Erfolg für Diejenigen gelten, die mich nicht kannten. Wer das ausgestanden hat, was ich gestern, während das weite Haus vom Beifall erdröhnte, der hat sich erkannt, der hat sich gerichtet. Was ist der äußere Erfolg, wenn der innere im eigenen Busen fehlt! … Während ich gestern die tausend Hände klatschend zu mir aufgehoben sah, fragt ich mit Todesangst, ob ich denn die Kraft haben würde, die Partie zu Ende zu singen? und die Antwort hieß immer: nein! nein! nein! … Als ich in der gemalten Kirche auf den Knieen lag, verzweifelte ich wirklich und nicht nur im Spiel, eine an sich selbst Verzweifelnde rang ich an der Erde, und während ich die Worte des Dichters sang, gelobt’ ich mit ganz anderen Worten meinem Schutzheiligen, daß ich nie wieder eine Bühne betreten würde, wenn er mich diesmal gnädig bis ans Ende führte und nur dies eine Mal mit Ehren bestehen ließe.“

„Sie haben mit Ehren bestanden. Mit kolossalen Ehren!“ rief Sperber, und die Rührung, die er niederkämpfte, brach seine Stimme.

„Gott sei Dank! Und damit genug! Und wenn Sie wollen, Edgar, so will ich allem Prunk und Ruhm der Bühne entsagen … der Bühne, nicht der Kunst! … und mit Ihnen an die Alster ziehen und ein stilles bescheidenes Frauchen werden, mit dem Sie zufrieden sein sollen und das auch dem hohen Hause Sperber keine Schande machen wird.“

„O Bianca, der Stern und Stolz des Hauses werden Sie sein!“ Er konnte nicht weiterreden, denn nun übermannte ihn die Rührung doch, und wieder lag er auf den Knieen, aber dicht an ihres Kleides Falten, und schloß sich selbst den Mund mit ihren Händen.

Derweilen fuhr Bianca fort. „Es wird ja auch bei Euch eine katholische Kirche geben, und Du wirst mir schon erlauben, mein Licht leuchten zu lassen vor dem Herrn in der Gemeinde. Vielleicht trägt die Kunst auch einen Groschen und einen Thaler ein, und, da Schmalhans Küchenmeister bei uns sein wird, darf auch das willkommen sein.“

Edgar von Sperber richtete sich da etwas befremdet auf und sagte halblächelnden Mundes: „Liebe Bianca, so schlimm steht’s denn doch nicht mehr. Es gab eine harte Zeit. Aber sie ist vorbei, und der Sturm ist beschworen. Es geht mit den Sperbern wieder in die Höhe. Langsam, aber es geht. Du wirst nichts entbehren. Und in etlichen Jahren hoff’ ich Dir jeden Vorzug und jede Bequemlichkeit gewähren zu können, die Frauen unseres Hauses zukommen.“

„Was?!“ rief das staunende Mädchen. „Du bist also gar kein armer Mann mehr?! O weh! das ändert die Sache, und die bösen Worte der alten Zeit leben wieder auf. Da möge mir Gott verzeihen, ich breche mein Gelübde ... die Ehre über Alles! … und nehme den Antrag des guten Intendanten an, geh’s wie’s wolle!“

Sie bückte sich nach rechts und nach links, nahm die vier Fetzen des Briefes vom Boden auf und legte sie sorgsam wieder zusammen. Ueber dieser Thätigkeit war Pater Otto eingetreten und sah verwundert auf das Thun seiner Muhme.

Da schritt Edgar auf ihn zu und führte ihn an der Hand vor Bianca hin, indem er sagte: „Laß das Zerrissene zerrissen sein für immer und schäme Dich, nicht mir in mein Haus zu folgen, wenn es auch nicht das Haus eines Bettlers ist. Daß es mit den Sperbern wieder in die Höhe geht, dank’ ich nicht zum kleinsten Theil der freundschaftlichen Sorgfalt und Güte dieses Mannes, der Dein Vetter ist und der mir im Unglück seine freiwillige Hilfe gewährte, nicht zum geringsten wohl aus dem Grunde, weil Du seine Base bist und er wußte, daß ich Dich über Alles in der Welt liebe. Du vergiebst Dir also nichts, wenn Du an einem bescheidenen Wohlstande theil nimmst, der zum Theil das Werk Deines Vetters ist und der mir ohne Dich wohl nie geworden wäre! … Bianca, willst Du?“

Sie antwortete nicht gleich mit Worten. Die Empfindung des Glückes schnürte ihr die Kehle zu. Aber sie sank in seine Arme, sank an seine Brust, und Pater Otto legte segnend seine Hände auf die blonden Häupter seiner beiden Freunde.


Die Zeit vergeht. Sie ist auch über Edgar und Bianca nicht spurlos hingegangen. Aber obwohl ihr Aeltester demnächst sein Abiturientenexamen machen wird, ist seine Mutter noch immer eine schöne Frau. Etwas stattlicher freilich als damals, da sie zur Opernschule ging, aber bei guten Formen. Ihre Stimme klingt noch wunderschön, und alljährlich, wenn mich im Herbst [879] mein Weg über Hamburg nach Helgoland führt, versäume ich es nicht, wenigstens einen Abend im gastlichen Hause Sperber zu verbringen und um die Lieblingslieder zu bitten, die Bianca noch mit der Kunst und Innigkeit ihrer Mädchenjahre dem Freunde gern vorträgt.

Das Haus Sperber behauptet sich auf der Höhe eines festbegründeten Wohlstandes, und wenn seine Söhne auch nicht mit der breiten Bequemlichkeit in die Welt treten werden, mit welcher einst ihr Vater sich in der Kaiserstadt an der Donau eingeführt hat, so werden ihnen nach menschlicher Voraussicht wohl auch die traurigen Zeiten erspart bleiben, die jener später durchzukosten hatte.

Das letzte Mal traf ich dort auch Pater Otto bei Sperber zum Besuch. Seine Tonsur, auf die sich ehrenvoll eine schöne Kirchenwürde niedergesenkt hat, ist etwas breiter geworben, sieht fast wie eine Glatze aus, aber sonst hat er sich kaum merklich mit den Jahren verändert, äußerlich wenig, innerlich gar nicht.

Er kommt gern nach Hamburg und wird dort jedes Mal mit alter Anhänglichkeit empfangen. Auch meine Freude, den einstigen Seminarkollegen wiederzusehen, war groß. Wir speisten mit einander bei Pfordte und gingen mit einander ins Thaliatheater.

Mit seinen „katholischen Amtsbrüdern“ an der Alster hat er wenig Verkehr. Es ärgert ihn, daß sie sich, wie die Lutherischen, „Pastoren“ nennen, und er liebt auf seinen Ausflügen in die Welt mehr Freiheit zu genießen, als jene einem Klostergeistlichen für statthaft erachten möchten. Trotzdem giebt er ihnen an kirchlichem Eifer und streitbarer Überzeugung nichts nach. Als ich darüber dem wunderlichen Heiligen ungescheut meine Verwunderung aussprach, gab er mir mit alten goldenen Worten Antwort und den Schlüssel zu seinem Wesen: „In neccessariis unitas, in dubiis libertas!“ zu deutsch: in Allem, was nothwendig zum Glauben gehört, weiß ich mich eins mit ihnen; aber was ich mindestens ebenso gut verstehe wie jene, darin lass’ ich mir von Niemand was dreinreden.       Amen!


Blätter und Blüthen.


Stanley und Pechuël-Loesche. Vor einiger Zeit ging durch die Tagesblätter die Nachricht, daß Henry M. Stanley in der „Gartenlaube“ eine Antwort auf die in Nr. 43 bis 45 erschienen „Offenen Briefe“ von Dr. Pechuël-Loesche veröffentlichen werde. In der That ist uns Mitte November von dem berühmten Forschungsreisenden das Manuskript der Antwort in Form eines Briefes an den Herausgeber der „Gartenlaube“ zugegangen. Obwohl wir den Abdruck desselben zusagten und auch Herr Dr. Pechuël-Loesche eine öffentliche Erörterung der zwischen ihm und Stanley bestehenden Differenzen gern gesehen hätte, wurde von Herrn Stanley in letzter Stunde, als die betreffende Nummer sich bereits in der Presse befand, seine Antwort zurückgezogen.

Zur Sache selbst möchten wir nur bemerken, daß die volle Wahrheit über den Werth des Kongogebietes für Kolonisation und Handel sowie über die Zustände am Kongo uns nicht lange mehr vorenthalten bleiben wird. Die officiellen Berichte der jüngsten, von der „Regierung des Kongostaates“ unabhängigen centralafrikanischen Expeditionen laufen ein, und jeder Unbefangene muß aus denselben ersehen, daß mindestens ein großer Theil der Ausführungen unseres geschätzten Mitarbeiters Dr. Pechuël-Loesche durchaus gerechtfertigt erscheint. Die Redaktion.     


Die Einladung des steinernen Gastes. (Mit Illustration S. 869.) Die Scene, welche uns Meister J. F. Hennings aus „Don Juan“, Mozart’s höchstem Meisterwerke, in seinem stimmungsvollen Bilde vorführt, gehört ohne Zweifel zu den ergreifendsten Partien der berühmten Oper. Sie ist aber auch geschichtlich interessant, denn sie bildet den Kern jener Fabel, die von so vielen Dichtern bearbeitet wurde und so viel Don Juane den Litteraturen aller Völker verlieh. Wie die andalusischen Chroniken berichten, lebte einst in Sevilla ein junger vornehmer Mann Don Juan Tenorio, der den greisen Komthur Gonzalo de Ulloa erstach, als dieser die gewaltsame Entführung seiner Tochter hindern wollte. Während der Leichnam des Gemordeten im Kloster zu St. Francisco beigesetzt und auf dem Grabmal des Komthurs seine Statue errichtet wurde, ging der Mörder Dank seiner Geburt straflos umher, bis ihn die Mönche in das Kloster lockten und heimlich ermorden ließen. Nach außen wurde inzwischen das Gerücht verbreitet, Don Juan habe die Statue des Komthurs verhöhnt, worauf ihn diese erfaßt und durch die klaffenden Steinplatten in das höllische Feuer gestürzt habe. Mit Zugrundelegung dieses Berichtes hat im Jahre 1634 der Mönch Gabriel Tellez das Schauspiel „Der Verführer von Sevilla oder der steinerne Gast“ geschrieben, welches bald außerhalb Spaniens bekannt wurde und das Original aller Don Juane bildet. Der Inhalt dieses Schauspiels und dessen Beziehung zu der Mozart’schen Oper sind von Fr. Helbig im Jahrgang 1874, S. 322 der „Gartenlaube“ ausführlich dargelegt worden. Schon Gabriel Tellez läßt den übermüthigen Don Juan die Statue des Komthurs zum Abendessen einladen, und auch in Mozart’s Oper finden wir dieselbe Scene wieder.


Geschlossen, natürliche Größe.       Die kalifornische Selaginelle.       Geöffnet, 1/3 natürliche Größe.
Originalzeichnung von C. Gerber.

Die kalifornische Selaginelle, eine sogenannte Auferstehungspflanze. Wer mich besucht, kann, vorausgesetzt, daß er längere Zeit verweile, einen interessanten Vorgang, ein Naturwunder, wie man Derartiges früher zu bezeichnen pflegte, sehen. Ein dürres, hart zusammengetrocknetes Knäuel, von der Größe und Gestalt eines kleinen Apfels, an der unteren Seite mit grauen, trockenen Wurzeln, lege ich in einen flachen Teller voll lauwarmen Wassers und in 12 bis 24 Stunden erschließt sich dasselbe und entfaltet sich zu einer schönen, kräftig grünen Pflanze. Herausgenommen und an einen trockenen Ort gelegt, schrumpft es allmählich wieder zusammen und erscheint in noch kürzerer Frist in der ursprünglichen Gestalt.

Nun werden mir die Leser entgegnen, dies sei ja eine alte Geschichte, denselben Vorgang zeige die Rose von Jericho, welche schon seit altersher zu uns in den Handel gelangte und namentlich von Pilgern aus dem gelobten Land als Wunderpflanze mitgebracht wurde. Dies ist bedingungsweise richtig, aber zwischen beiden, der Selaginelle und der Jerichorose – welche übrigens weder eine Rose ist noch von Jericho herkommt – ergeben sich bedeutsame Unterschiede. Letzteres gleichfalls kugelförmige Gebilde besteht nur in zusammengekrümmten Aesten, die sich bei ausreichender Anfeuchtung allerdings gleichfalls aus einander wickeln und entfalten, aber keineswegs zu solchem vollen, üppigen Grün.

Während sich an jene alte Wunderpflanze allerlei abergläubische Vorstellungen und Gebräuche knüpfen, sehen wir uns die vorliegende Selaginelle mit ganz anderen Augen an. Einige große Handelsgärtnereien und Handlungen mit Aquarien, Terrarien etc. führen auch die Selaginelle zum gelegentlichen Schmuck derartiger Naturanstalten in der Häuslichkeit, und lediglich von diesem Gesichtspunkte aus hat sie für uns Bedeutung.

Die Selaginellen, welche in mehr als zweihundert Arten über die ganze Erde verbreitet sind, bei uns in Deutschland aber nur in zwei [880] Arten wildwachsend vorkommen, sind moosähnliche, ausdauernde Pflänzchen, welche rasenartig auf dem Boden oder an Felsen wachsen und in beträchtlicher Anzahl aus Südeuropa, vornehmlich aber aus Amerika eingeführt und hauptsächlich als Warmhauspflanzen gezogen werden; doch dienen Selaginellen auch in Gärten zur rasenähnlichen Bekleidung von kleinen Plätzen und im Zimmer besonders zur Verzierung von Blumentischen, Ampeln, Felsen in den Aquarien etc.

Von allen diesen Arten ist aber die kalifornische Selaginelle (Selaginella rediviva) ganz verschieden. Sie wächst auf den Felsen der höchsten Gebirge an schattigen Stellen, liegt fast immer trocken da und erschließt sich nur etwa drei- bis viermal im Jahre in Folge andauernden Regens.

Als eine immerhin interessante Naturmerkwürdigkeit verdient sie wohl unsere Beachtung, zumal sie in der Entfaltung und voll erschlossen einen schönen Anblick gewährt. Dr. Karl Ruß.     


Die elektrische Luftbahn. Neu ist zwar der Gedanke nicht, mit Hilfe der Elektricität kleinere Gegenstände auf Telegraphendrähten über Berg und Thal zu befördern. Bereits 1880 ließ sich der geniale Werner Siemens eine derartige Anlage patentiren; er theilte indessen hierin das Los so vieler Erfinder und ließ die Sache anscheinend wieder fallen, weil er keinen Anklang fand. Glücklicher Weise wurde die Idee von einem Engländer, dem kürzlich verstorbenen Edinburger Professor Fleeming-Jenkin, wenn auch in veränderter Gestalt, wieder aufgenommen, und es glückte ihm, im Verein mit den verdienstvollen Elektrikern Ayrton und Perry, alle Schwierigkeiten soweit zu überwinden, daß man an den Bau einer ersten elektrischen Luftbahn – Telpherage nannte sie ihr Urheber – gehen durfte. Leider sollte Jenkin die Eröffnung des Betriebes nicht erleben, aber diese Freude ward der von ihm zur Ausbeutung der Erfindung gegründeten Gesellschaft zu Theil.

Elektrische Luftbahn.

Wie aus nebenstehender Abbildung zu ersehen, ist eine solche elektrische Luftbahn die denkbar einfachste Sache. Paarweise in die Erde eingerammte derbe Telegraphenstangen tragen einen Querbalken, und dieser wiederum zwei zwischen den Stangen gespannte Drähte oder Eisenbarren, deren Stärke dem beabsichtigten Zwecke, das heißt der Schwere der zu befördernden Last entspricht. Ueber die Drähte laufen, ganz selbständig und ohne irgend welche menschliche Hilfe, eine Anzahl mit einander verbundene Kästen, sowie eine kleine, in der Mitte sichtbare elektrische Lokomotive, welche von einer in der Endstation aufgestellten Maschine mit Elektricität versorgt wird. Die Züge sollen auf dieser Bahn ohne Aufsicht laufen, und dies wird durch eine von Ayrton und Perry erfundene Vorrichtung erreicht, die es bewirkt, daß der Zufluß des elektrischen Stromes aufhört, sobald ein Zug die vorschriftsmäßige Geschwindigkeit überschreitet und somit den vorher abgelassenen einholen könnte. Sehr sinnreich ist es auch, daß die Triebkraft sich von selbst verstärkt, wenn eine Steigung zu erklimmen, und sinkt bezw. ganz aufhört, sobald es bergab geht. Daraus folgt eine nicht unwesentliche Kostenersparniß, wie man sich überhaupt kaum eine wohlfeilere Eisenbahn denken kann, als solch eine Luftlinie. – Die hier veranschaulichte Luftbahn liegt oder schwebt vielmehr in der Nähe des Dorfes Glynde (Grafschaft Sussex). Sie ist 1600 Meter lang und soll wöchentlich 150 Tonnen Thonerde nach der nächsten Bahnstation befördern, wo die Züge direkt in die bereitstehenden Eisenbahnwagen entleert werden.

Jenkin hatte besonders den Verkehr in wenig entwickelten Kolonialländern ins Auge gefaßt. Dessen Erfindung kommt also für uns wie gerufen, und wir wollen hoffen, daß elektrische Luftlinien in nicht allzu ferner Zeit die Boden- und Bergbau-Erzeugnisse unserer ausgedehnten überseeischen Besitzungen nach dem Seegestade oder dem nächsten schiffbaren Flusse befördern helfen.G. van Muyden.     


Die erste Reise. (Illustration S. 877.) Vor vierzehn Jahren machten wir unsere Leser mit einem Bilde des schwedischen Genremalers Bengt Nordenberg mittels eines Holzschnittes bekannt (vgl. Jahrg. 1871, S. 709). Es stellt „die letzte Reise“ dar. Der geschmückte Sarg steht bereits auf dem angeschirrten Schlitten, der ihn durch die nordische Winterlandschaft zum Friedhof tragen soll. Die Angehörigen und Nachbarn verrichten nur noch ihr letztes Gebet für den Todten, umstanden von harmlos gaffenden Kindergruppen. Zu diesem im Jahre 1870 vollendeten Oelgemälde schuf der Künstler 1883 das Seitenstück, dessen xylographische Kopie unsere heutige Nummer schmückt: das junge Menschenleben wird zu seiner ersten kirchlichen Weihe gefahren, das ist seine „erste Reise“.

So stehen nun beide Bilder vor uns als eine Verherrlichung des Lebens und des Todes. Aus beiden spricht eine stille Feier, dort der Trauer, hier der Freude, dort des letzten, hier des ersten Segens. Wenn aber auch beide in ihrer Wirkung so verschieden sind wie Tag und Nacht, so bleibt ihnen doch Eines gemeinsam, und zwar besteht dieses Gemeinsame nicht etwa bloß in der Aeußerlichkeit der Scenerie, sondern darin, daß die Hauptpersonen der beiderlei Reisen selbst nichts von derselben wissen und empfinden. Der Todte und das Kind – beiden ist’s einerlei, wohin die Reise geht und ob’s die erste oder die letzte ist. Nur in den Herzen derer, welche diese Reisen auszurüsten haben, geht nicht die hohe stille Feier derselben vor, die das ärmste Haus mit heiliger Weihe erfüllt – sei’s der Trauer, sei’s der Freude. Heute, vor unserem Bilde, nehmen wir herzlich Theil an dem Segen der Freude, mit welchem das Glückauf einem Kinde mit auf den Weg gegeben wird zu seiner ersten Reise. F. H.     


Deutsche Volks- und Kulturgeschichte. Soeben ist ein Buch zum Abschluß gediehen und auf den Markt gebracht worden, welches wir der Aufmerksamkeit unserer Leser bestens und dringend empfehlen möchten. Es ist die „Deutsche Volks- und Kulturgeschichte für Schule und Haus“ von Karl Biedermann (Wiesbaden, J. Fr. Bergmann). In einem einzigen Bande wird hier die ganze Geschichte unseres Volkes von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten (bis 1871) geboten, und zwar nicht bloß die äußere, sog. politische, sondern auch die Geschichte des inneren Volks- und Kulturlebens, der Sitten, Gewohnheiten, der materiellen, geistigen, sittlichen und religiösen Zustände der verschiedenen Zeiten, der Rechtseinrichtungen, der Fortschritte in Gewerbe, Kunst, Wissenschaft etc. Die Form der Darstellung ist, wie man das an dem Verfasser schon von seinen früheren geschichtlichen Werken her kennt, eine allgemein verständliche und angenehm lesbare.


Infolge unseres Preis-Ausschreibens in Nr. 15 dieses Jahrgangs für die beste Komposition eines vierstimmigen Männerchores zu dem

Chorlied der Deutschen in Amerika
von Emil Rittershaus

sind uns 728 Kompositionen zugesandt worden, die wir den Herren Preisrichtern Hof-Kapellmeister Abert-Stuttgart, Kapellmeister Dr. Reinecke-Leipzig und Hof-Kapellmeister Prof. Dr. Wüllner-Köln zur Prüfung vorgelegt haben.

Bei ihrer Entscheidung wurden die Herren Preisrichter einmüthig von der Erwägung geleitet, daß nur eine nicht allein musikalisch werthvolle, sondern auch volksthümliche und trotzdem originelle, endlich aber auch singbare und effektvolle Komposition den Preis davontragen dürfe.

Diesen höchsten Ansprüchen genügte jedoch keine einzige der vorliegenden Kompositionen vollständig, weßhalb man sich dahin einigte,

den ausgesetzten Preis von 500 Mark zu theilen

und die drei, den gestellten Anforderungen zumeist entsprechenden Kompositionen mit gleichen Beträgen zu prämiiren. Bei Eröffnung der betreffenden Kouverts ergaben sich als Verfasser der prämiirten Kompositionen:

Herr Alexis Hollaender in Berlin, Herr Musikdirektor Georg Rauchenecker in Kassel, Herr Dr. Gustav Wolff in Berlin,

unter welche der ausgesetzte Preis vertheilt wurde.

Von einer Veröffentlichung der preisgekrönten Kompositionen in der „Gartenlaube“ müssen wir bei der veränderten Sachlage aus Rücksicht auf den Raum Abstand nehmen.

Die nicht prämiirten Kompositionen senden wir nur auf ausdrückliches Verlangen der betreffenden Verfasser zurück.

 Leipzig, im December 1885.Die Redaktion der „Gartenlaube“.     


Inhalt: Edelweißkönig. Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer (Schluß). S. 865. – Nach dem Gottesdienst. Illustration. S. 865. – In der Silvesternacht. S. 872. – Der Battenberger. Von Karl Braun-Wiesbaden. Mit Portrait. S. 873. – Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen (Schluß). S. 874. – Blätter und Blüthen: Stanley und Pechuël-Loesche. S. 879. – Die Einladung des steinernen Gastes. S. 879. Mit Illustration S. 869. – Die kalifornische Selaginelle, eine sogenannte Auferstehungspflanze. Von Dr. Karl Ruß. Mit Abbildungen. S. 879. – Die elektrische Luftbahn. Von G. van Muyden. Mit Abbildung. S. 880. – Die erste Reise. S. 880. Mit Illustration S. 877. – Deutsche Volks- und Kulturgeschichte. – Erledigung unseres Preisausschreibens in Nr. 15. S. 880.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.
[881]

Glückliches neues Jahr!0 Originalzeichnung von J. R. Wehle.

[882]
☙ An unsere Leser! ❧

Mit dieser Nummer schließt der dreiunddreißigste Jahrgang der „Gartenlaube“, deren Auflage im Laufe des verflossenen Jahres abermals – von 260 000 auf 270 000 – gestiegen ist.

In wie weit dieser Steigerung der Auflageziffer auch gesteigerte Leistungen des Blattes selbst entsprochen haben – diese Frage müssen wir der Beantwortung unserer freundlichen Leser anheimgeben. Das Eine glauben wir aber mit Sicherheit annehmen zu dürfen, daß wenigstens unsere rastlosen Bemühungen zur möglichen Vervollkommnung des textlichen und illustrativen Inhalts der „Gartenlaube“ nirgends ganz unbemerkt geblieben sind. Wir dürfen hieran wohl die Versicherung knüpfen, daß wir uns der hohen Verpflichtungen, welche die Bedeutung der „Gartenlaube“ als verbreitetstes

Deutsches Volks- und Familienblatt

uns auferlegt, auch für die Folge bewußt bleiben, dasß wir keine Mühe, kein Opfer scheuen werden, um ihr diesen Ehrentitel auf die Dauer zu erhalten.

In den Jahrgang 1886 treten wir wohlgerüstet ein. Alte und neue Mitarbeiter haben uns in seltener Fülle mit außergewöhnlich werthvollen Beiträgen bedacht.

Auf erzählendem Gebiete nennen wir in erster Linie das Werk, mit welchem der neue Jahrgang beginnen wird, den neuen großen Roman:

Was will das werden?0 Von 0Friedrich Spielhagen.

Nach einer Reihe von Jahren, während welcher der berühmte Verfasser nur kleinere Romane und Novellen veröffentlichte, erscheint jetzt zum ersten Male wieder ein großer, dreibändiger Roman von ihm in der „Gartenlaube“. Und wahrlich nicht umsonst hat Spielhagen diese lange Pause eintreten lassen, bevor er seinen früheren großen Romanen „Problematische Naturen“ – „In Reih und Glied“ – „Hammer und Ambos“ – „Sturmfluth“ diesen neuesten anreihte. Behandelt derselbe doch die interessantesten Probleme, welche unsre Zeit bewegen, mit so meisterhafter Beherrschung des Stoffs, in so vollendeter, farbenprächtiger Darstellung, wie sie eben nur die Frucht langer, mühevoller Geistesarbeit sein kann. – Wenn uns nicht Alles trügt, wird dieser neue Spielhagen’sche Roman das hervorragendste, wichtigste Werk unsrer gesammten modernen Romanlitteratur werden.

Gleichzeitig mit Spielhagen’s Roman erscheint: Die Andere. 0 Roman von W. Heimburg. Eine neue Schöpfung der liebenswürdigen und allbeliebten Erzählerin darf sicher sein, überall und besonders in Frauenkreisen freundlich aufgenommen zu werden.

Hieran anschließend wird der neue Jahrgang enthalten: Die Loranixe, 0 eine fesselnde Novelle von Stefanie Keyser, welche sich durch ihre in der „Gartenlaube“ erschienenen Novellen „Der Krieg um die Haube“ – „Glockenstimmen“ – „Fanfaro“ rasch den Ruf einer der geistvollsten deutschen Erzählerinnen erworben hat.

Der lange Holländer, 0 eine Novelle von Rudolf Lindau, welche in meisterhafter Weise das tragische Schicksal eines deutschen Kaufmanns in China schildert,


 ferner Romane und Novellen von Theodor Fontane, Maximilian Schmidt, E. Werner etc. etc.

Aus der Fülle der populär-wissenschaftlichen und belehrenden Artikel greifen wir nur einige heraus:
vor Allem theilen wir unsern Lesern mit, daß es uns gelungen ist, aus dem Nachlaß des alten Mitarbeiters der „Gartenlaube“ und berühmten Verfassers von „Brehm’s Thierleben“ die große Sammlung der
„Populären Vorträge von A. E. Brehm“
zu erwerben, die allgemein als die trefflichsten Naturschilderungen der Gegenwart anerkannt werden. Wohl lauschten an vielen Orten Deutschlands Hunderttausende den beredten Worten des großen Forschers und Reisenden. Niemand hat jedoch bis jetzt diese meisterhaften Vorträge in ihrer Gesammtheit vernommen, Niemand sie im Drucke besessen. Zum ersten Mal durch die „Gartenlaube“ veröffentlicht, sollen sie jetzt zum Gemeingut des deutschen Volkes werden.
Aus unserem reichen Vorrath von Artikeln nennen wir ferner:
„Die Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers ,Samoa‘“. Von Dr. O. Finsch,
in welcher der berühmte Forschungsreisende die deutschen neuerdings von ihm bereisten Theile von Neu-Guinea beschreiben wird. Zahlreiche, nach eigenen Skizzen des Verfassers gezeichnete Illustrationen werden diesen fesselnden Berichten noch einen besondern Reiz verleihen.

Ferner: Ein Friedhof ohne Gleichen und vierzig auferstandene Könige. Von Georg Ebers.Allerlei Nahrung. Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Prof. Carl Vogt.Die Morphiumsucht. Von Ober-Med.-Rath Dr. Landenberger.Nervöse Magenleiden. Von Prof. Dr. H. Kisch.Wie erhalten wir dem Kinde einen gesunden Knochenbau? Von San.-Rath Dr. L. Fürst.Bilder ans der deutschen Verbrecherwelt der Gegenwart. Von Dr. Karl Braun-Wiesbaden.Litterarische Begegnungen. Von Wilhelm Goldbaum.Trinker-Behandlung. Von A. Lammers.Bilder aus dem deutschen Böhmerwald. Von Karl Pröll.Meteorologische Hochstationen. Von Dr. Klein.Pflege des Gehörs. Von Dr. J. H. Baas.Die Bewohner unserer westafrikanischen Kolonien. Von Dr. Hugo Zoeller.Wild-, Wald- und Waidmannsbilder. Von Guido Hammer.Thiercharaktere. Von Gebr. Müller.Die Geschichte des Fingerhuts. Von Hans Boesch.Die größte Blüthe der Welt. Von B. Stein.Aus den Zeiten des Brigantaggio. von I. Kurz.Die drei Schrecklichen. Von Schmidt-Weißenfels.Im Kongoland. Von Dr. Pechuël-Loesche.Lord Byron, ein Dichter und ein Mann. Von Joh. Scherr u. s. w.


Wenn wir uns den großen, über Stadt und Land, über alle Theile Deutschlands, ja über alle Welttheile verbreiteten Leserkreis der „Gartenlaube“ vergegenwärtigen, wenn wir bedenken, wie derselbe sich aus allen Altersstufen, aus allen Berufsklassen zusammensetzt, so könnte uns wohl manchmal bange werden bei der Frage, ob wir auch Allen das Rechte, das ihren speciellen Bedürfnissen und Ansprüchen Zusagende bringen?

Was uns dann immer wieder von Neuem frohen Muth giebt, das ist ein Blick auf die stattliche Schaar der [...]en deutschen Schriftsteller und Künstler, welche uns bei unserer schwierigen Arbeit treu zur Seite stehen, vor Allem [abe]r der tröstliche Gedanke, daß von den Alpen bis zur See und über diese hinweg, in fernen Ländern und Zonen [...] unsere Leser, so verschieden sie auch sein mögen, doch Kinder einer und derselben großen Mutter sind – der [Ged]anke, welchem unser alter Freund und Mitarbeiter Emil Rittershaus in seinem Chorliede der Deutsch-Amerikaner so einfachen als beredten Ausdruck gegeben hat mit den Worten:

„Im deutschen Geist und Herzen sind wir eins!“

Und so rufen wir denn unsern Lesern am Schlusse des alten Jahres wiederum getrost zu: Auf Wiedersehen im neuen Jahre!

Leipzig, im December 1885 Die Redaktion und Verlagshandlung der „Gartenlaube“.