Die Gartenlaube (1885)/Heft 9

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[141]

No. 9.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


An dem großen Kleiderschranke, der in Gretens Erinnerung eine so hervorragende Rolle spielte, steckte der Schlüssel, dem ein mächtiges Schlüsselbund anhing. Margarete öffnete die nur angelehnte Thür weiter und sah, daß Tante Sophie verschiedenes Geräth auf das obere Regal gestellt hatte, um es während der Zimmerrenovirung in Sicherheit zu wissen. An den Haken aber hingen die kostbaren Brokatschleppen der Urgroßmütter noch in Reih’ und Glied, wie sie es vor Jahren oft gesehen. Wie aus einem Tulpen- und Hyacinthenbeet flammten da alle starken Farben und dazwischen funkelte Gold- und Silbergewebe und schweres Borden- und Tressenwerk – ein bedeutendes, todtes Kapital, das die Pietät und der Stolz des alten Handelshauses unberührt im Schranke zerbröckeln ließen. Tief in der dunkelsten Ecke schimmerte auch ein Streifen der smaragdfarbenen Schleppe, in welcher sich die schöne Frau Dore hatte malen lassen. Margarete zog das köstliche Fundstück ans Tageslicht. Ja, Tante Sophie hatte Recht, wenn sie behauptete, in alten Zeiten habe man für sein Geld solider gekauft. Das echte Silber der eingewebten Blumen schimmerte, das Grün war vollkommen frisch und unverblichen, und nur in den Falten zeigte sich der dicke, starrende Seidenstoff etwas brüchig.

Es war ein enges, schmales Mieder, an welches das junge Herz der Frau Dore einst geklopft hatte. Margarete meinte, es müsse auch ihr selbst passen – und da hatte plötzlich „der Kindskopf der lustigen Gretel“ die Oberhand. Ganz nahe an der Wand lehnte auch ein hoher Pfeilerspiegel; er stand den Bildern gegenüber. Es schreckte die junge Uebermüthige nicht, daß es just die hohe, stolze Gestalt des Urgroßvaters Justus war, die der Spiegel zurückwarf. Sie löste das lange Kragenband vom Halse und band sich die Lockenfülle hoch über der Stirn zum Toupet. Die sternförmige Brosche und die dazu gehörigen Ohrringe und Manschettenknöpfe von böhmischen Granaten mußten die Rubinensterne vertreten, und für einen ersten flüchtigen Blick täuschten sie auch hinlänglich.

Es war doch wunderlich, daß die Natur noch einmal an Größe und schmächtigem Wuchs genau dieselbe Gestalt geschaffen hatte, wie sie vor fast einem Jahrhundert durch das Lamprecht’sche Haus gewandelt war. Das Mieder schmiegte sich glatt und faltenlos an den Leib des jungen Mädchens, und das silberstoffene Tablier des Rockes berührte gerade ihre Fußspitzen.

Sie erschrak vor sich selber, als sie die letzte Spange des Brustlatzes festgenestelt hatte und noch einmal vor den Spiegel trat. Sie sah auch ein wenig scheu zur Seite, wo neben ihrer Schulter die Augen des Justus Lamprecht aus dem Düster des Ganges glühten und seine beringte Hand so plastisch dort auf dem großen Folianten lag, als werde sie sich im nächsten Augenblicke von der Vermessenen herübergreifen ... Nun, die frevelhafte Maskerade sollte rasch ein Ende haben und in



[142] wenigen Minuten das Kleid unversehrt wieder im Schranke hängen, freilich nicht, ohne daß Tante Sophie die moderne Ahnfrau gesehen habe.

Mit unwillkürlich verlangsamten Schritten und Bewegungen trat sie aus dem Gange. Die Schleppe rauschte mit einem förmlichen Getöse über die rauhen Dielen – in diesem panzerartig klirrenden Staatsgewande wäre der schönen Dore das lautlose Huschen freilich nicht möglich gewesen.

Der Hausknecht kam eben aus dem großen Salon und schritt durch den Flursaal nach dem Ausgange. Bei dem herankommenden Geräusch wandte er arglos den Kopf zurück und schoß gleich darauf entsetzt mit einem grotesken Sprunge zur Thür hinaus, die er rasselnd hinter sich zuschlug.

Margarete lachte über den Effekt und trat über die Schwelle des großen Salons; aber sie wich betreten zurück, denn die Tante war nicht allein, Onkel Herbert stand neben ihr am Fenster.

Gestern Nachmittag um dieselbe Zeit nun wäre es ihr sehr gleichgültig gewesen, ob der Onkel dort gestanden oder nicht. Er hatte ja nie zu Denen daheim gehört, an die sie besonders gern oder gar mit Heimweh gedacht, und auch das erste Wiederbegegnen bei ihrer Heimkehr hatte ihr keinerlei Interesse für ihn geweckt. Seit gestern Abend jedoch, wo sie einige Stunden droben bei den Großeltern mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie ihm gegenüber das seltsame Gefühl eines moralischen Unbehagens. Nicht, daß sie sich durch die enthusiastische Verehrung der Großmama für den wohlgerathenen Herrn Sohn, oder den unverkennbaren Respekt, welchen ihr Vater dem jungen Schwager entgegenbrachte, hätte beeinflussen lassen – sie wußte ja, daß jene Beiden leider nur dem Glücke huldigten, welches sich an seine Fersen zu hängen schien, und einen Auserwählten in ihm sahen, weil Hochgestellte mit ihm wie mit ihres Gleichen verkehrten – das bestach sie nicht; nur der Großpapa, der sonst so gerade, unbestechliche Charakter, hatte sie stutzig gemacht. Es war doch kaum zu glauben, daß er völlig blind sei gegen die Art und Weise, wie sein Sohn Karriere machte, daß er nicht wisse, welche Mächte ihn mühelos über Staffeln hinweghoben, die Andere erst nach jahrelanger Aufbietung aller eigenen Kraft zu erringen vermochten. Und doch hatten dem alten Manne gestern inniges Wohlgefallen und väterlicher Stolz frank und frei aus den Augen gestrahlt. Er hatte wiederholt gegen das moderne Streberthum geeifert, das nie nach der Lauterkeit der Mittel frage, um emporzukommen; Fuchsschwanz und Katzenbuckel und die Tartüffes seien wieder einmal an der Tagesordnung und der rechtschaffene deutsche Sinn müsse sich vor den „Nachbarsleuten“ schämen, die es mit ansähen, wie diese schleichenden und buckligen Figuren auf dem großen Schachbrette Fuß zu fassen suchten.

Fühlte er in verblendeter Vaterliebe den Pfahl im eigenen Fleische nicht, oder verstand es der Herr Landrath, ihm Sand in die Augen zu streuen? Der hatte so gemüthsruhig dabei gesessen, als sei dies Anathema ganz in der Ordnung. Nicht ein einziges Mal war ihm das Roth der Verlegenheit oder der Beschämung in das Gesicht getreten, er hatte seine Cigarre geraucht und die feinen blauen Duftringel nachdenklich mit den Augen verfolgt; wenn er aber gesprochen, dann hatte es stets „Hand und Fuß gehabt“, wie Tante Sophie sich auszudrücken pflegte.

Uebrigens mochte doch der wahre Kern dieses Charakters sein wie er wollte, das focht sie nicht weiter an, es verdroß sie nur, daß er sich im Urtheil über die beiden Kinder seiner verstorbenen Schwester so gleich geblieben war – der exemplarisch fleißige Reinhold von ehedem schien für ihn nichts von seinen Tugenden eingebüßt zu haben, während er offenbar der „wilden Hummel“ auch heute noch nichts Gutes zutraute. Und hatte er nicht Recht? Reinhold ging in seinem Berufe auf, er war der kühle Verstand selbst – und in ihrem Kopfe spukten heute noch tolle Fastnachtsscherze, wie Figura zeigte ... Die Gluth des Aergers im Gesicht, versuchte sie, sich ungesehen zurückzuziehen. Die Beiden dort wendeten ihr den Rücken zu, sie schienen auf dem Fenstersims liegende Gegenstände zu betrachten, und das Rasseln der draußen zugeschlagenen Thür mochte für ihr Ohr das Rauschen der Schleppe übertönt haben. Nun aber war es wieder so still, daß die erste Rückwärtsbewegung des jungen Mädchens die am Fenster Stehenden aufmerksam machte. Tante Sophie wandte sich um und schien einen Moment sprachlos; dann aber schlug sie die Hände zusammen und lachte laut auf.

„Beinahe wär’ Dir’s geglückt, Gretel! Ach ja, gelt, ein Hauptspaß wär’s gewesen, wenn sich die alte Tante auch einmal gegrault hätte? Na, damit war’s nichts; aber es hat mir doch einen Stich durch und durch gegeben.“ Sie drückte unwillkürlich die Rechte auf die Brust. „Laffe Dich nur um Gotteswillen vor Bärbe nicht sehen! ... Nein, wie Du doch der armen Dore ähnlich bist in der Tracht, und hast doch kein Tröpfchen Blut von ihr in den Adern! Hast ja auch sonst ein ganz anderes Gesicht mit Deinem schmalen Näschen und den Grübchen in den Backen –“

„Gewisse Züge um Mund und Augen und die Haltung des Kopfes machen die Aehnlichkeit,“ fiel der Landrath ein. „Die schöne Dorothea hat es in ihrer Oppositionslust kühnlich mit den Vorurtheilen der Welt aufgenommen, wie ihr ungepudertes Toupet und ihre Heirath beweisen. Sie muß Eigenwillen und Uebermuth in hohem Grade besessen haben, und diese Charaktereigenschaften geben einen besonderen Stempel.“

Margarete hob gleichmüthig die Augen nach dem gegenüberhängenden Spiegel, der ihre ganze Gestalt zurückwarf. „Ja, wahr ist’s, es liegt viel kindischer Uebermuth in der dummen Maskerade! Aber Spaß macht sie mir doch, köstlichen Spaß! – Und wenn alle Welt die Nase darüber rümpft, es war doch wonnig, in das Staatskleid unserer „weißen Frau“ zu schlüpfen ... Und wahr ist’s auch, daß ich gern mit den Vorurtheilen der Welt anbinde – ein Staatsverbrechen, das natürlich gesetzten Leuten die Haare zu Berge treiben muß. Und darum hast Du ganz Recht, Onkel Herbert, mir den Text zu lesen, wenn auch in der verblümten Form der Satire.“ ... Sie zupfte die schönen Niederländer Spitzen an Brustlatz und Aermeln so ruhig und sorgsam zurecht, als sei sie vorhin nicht einen Augenblick außer Fassung gewesen, und trat tiefer in das Zimmer herein. „Ich fürchte nur, Du kommst auch jetzt nicht weiter mit mir, als damals, wo meine Schreibhefte und das Hersagen der französischen Vokabeln Dir die Nerven irritirten,“ fuhr sie achselzuckend fort. „Ich schreibe nämlich heute noch wie mit dem Zaunpfahl, und vor Pariser Ohren lasse ich mein Bischen Thüringisch-Französisch aus guten Gründen nie laut werden.“

„Geh, übertreib’s nicht! So schlimm wird’s nicht sein!“ sagte Tante Sophie lachend. „Da komm’ einmal her und sieh Dir den Schaden an!“

Sie nahm die Scherben einer antiken Vase vom Fenstersims und legte sie auf den großen Tisch inmitten des Zimmers.

„Ich behüte die Sachen hier oben mit Augen und Händen und hab’ auch bis jetzt noch kein Unglück gehabt mit dem zerbrechlichen Zeug, und nun macht mir der dumme Mensch, der Friedrich, den Streich und wirft die Vase da vom Spiegeltisch ... Und ich konnte nicht einmal zanken; dem armen Tapps klapperten die Zähne an einander vor Schreck, und es war fast zum Lachen, wie er seine paar Groschen aus der Tasche holte, um den Schaden zu bezahlen. Ich weiß nicht mehr, wie viel Dukaten die paar Thonscherben da gekostet haben sollen – ein unsinniges Geld war’s, das ist gewiß. Vetter Gotthelf, Dein Großvater, Gretel, hat die Vase aus Italien mitgebracht.“

Margarete war an den Tisch getreten. „Imitation, und noch dazu schlechte!“ sagte sie bestimmt nach kurzer Prüfung. „Der Großpapa hat sich betrügen lassen. Wirf die Scherben getrost in den Schutt, Tante! Bärbe’s geliebter Kaffeetopf ist von ähnlicher Abkunft.“

„Das klingt ja so entschieden, als spräche Onkel Theobald selbst,“ sagte der Landrath vom Fenster her. „Nun begreife ich, daß er seine Mitarbeiterin bereits schmerzlich vermißt –“

„Mitarbeiterin?!“ Sie lachte amüsirt auf. „Seinen dienstbaren Geist, einen Erdgnomen, willst Du sagen! So eine Art Wichtelmännchen, das geräuschlos den Ofen in der Bibliothek besorgt, was kein Dienstbote kann; das dann und wann eine Tasse starken Kaffees kocht und unbemerkt hinschiebt, wenn der große Forscher angestrengt arbeitet, und ab und zu eidechsenhaft still die Treppenleiter der Bibliothek hinauf und hinabgleitet, um ihm mit der pünktlichen Bücherzufuhr die ‚Quellenstudien‘ zu erleichtern – solch ein Wichtelmännchen, ja, das bin ich! ... Und wenn hier und da etwas an mir hängen bleibt von dem Geist und dem Wissen, das man dort gleichsam mit der Luft athmet, so ist das kein Wunder. Systematisch geordnet und wirklich brauchbar aber ist das kunterbunte Chaos hier nicht“ – [143] sie tippte mit dem Finger gegen die Stirn. „Wer verlangt das aber auch von einem Mädchenkopf, gell, Onkel?“

Lächelnd warf sie das Vasenbruchstück auf den Tisch. „Woher aber weißt Du, daß Onkel Theobald meine kleinen Dienste vermißt?“ fragte sie plötzlich lebhaft aufblickend.

„Das kannst Du erfahren. Meine Mutter hat vorhin einen Brief von Tante Elise erhalten. Du fehlst nicht allein in Onkels Studirstube, auch im Salon der Tante, wo sich die Freunde des Hauses versammeln, wird Deine schleunige Rückkehr ersehnt ... Herr von Billingen-Wackewitz ist wohl das enfant gâté in diesem Salon?“

„Aus welchem Grunde glaubst Du das?“

Ein helles jähes Roth stieg ihr in die Wangen, während sie die Brauen leicht zusammenzog.

Er wandte den durchdringenden Blick nicht von ihrem Gesicht. „Das will ich Dir sagen. Ich möchte wetten, daß der lange, eingehende Bericht der Tante keine fünf Zeilen aufzuweisen hat, in welchen der schöne Mecklenburger nicht figurirt.“

„Er ist Tante Elisens Protégé und einer der wenigen Adeligen, die das Haus des Onkels, des ‚alten Freiheitsschwärmers‘, besuchen,“ sagte sie, sich von ihm wegwendend, erklärend zu Tante Sophie.

Der Landrath lehnte sich mit dem Rücken an Sims und Fensterkreuz. „Also eine politische Inklination, Margarete?“ warf er spöttisch hin. „Tante Elise schreibt anders darüber.“

Ihre Augen funkelten in tiefverletztem Mädchenstolze, aber sie bezwang sich. „Das sieht aus wie der Anfang eines Familienklatsches, und dazu sollte Tante Elise, die geistreiche Frau, ihre Feder hergeben?“ sprach sie mit ungläubigem Achselzucken.

Er lachte leise, aber hart auf. „Die Erfahrung lehrt, daß im Punkte des Ehestiftens die Frauen insgesammt – gleichviel ob geistreich oder beschränkt – ein und dieselbe kleine Schwäche haben.“

„O, ich bitte mir’s aus – ich nicht!“ protestirte die Tante energisch. „An solchen heiklen Dingen hab’ ich mir nie die Finger verbrannt.“

„Rühmen Sie sich nicht zu früh, Fräulein Sophie – Sie könnten gerade jetzt stark in Versuchung kommen!“ warnte er sarkastisch. „Herr von Billingen soll ein schöner Mann sein –“

„Ja, er ist groß von Gestalt und hat ein Gesicht, weiß und roth wie eine Aepfelblüthe,“ warf Margarete ein.

Er sah nicht auf von seinen Fingernägeln, die er angelegentlich zu betrachten schien.

„Vor Allem trägt er einen Namen, der hoch angesehen und sehr alt ist,“ fuhr er unbeirrt fort.

„Ja wohl, uralt!“ bestätigte Margarete abermals. „Die Heraldiker streiten bis auf den heutigen Tag, ob das seltsame Gebild in einem der Wappenfelder das Feuersteinbeil eines Höhlenbewohners, oder ein Webstuhlfragment aus der späteren Pfahlbauzeit sein soll.“

„Potztausend, was für ein Stammbaum! Davor müssen sich ja unsere dicksten Eichen verkriechen,“ meinte Tante Sophie mit schelmischem Augenblinzeln. „Was, so hoch willst Du hinaus, Gretel?“

Die Augen des jungen Mädchens sprühten förmlich in Muthwillen. „Mein Gott, warum sollte ich denn nicht?“ fragte sie zurück. „Ist das ‚Hochhinauswollen‘ nicht ein Zug unserer Zeit? Und ich, ein Mädchen! ein Mädchen, das acht Loth Gehirn weniger hat, als die Herren der Schöpfung, wie sollte ich mir darüber ein eigenes Urtheil bilden und meinen eigenen Weg gehen wollen! Nein, so vermessen bin ich nicht! Ich laufe brav mit auf der Heerstraße der Tagesmode und sehe nicht ein, weßhalb es mir nicht auch Spaß machen soll, mehr zu werden und den Staub meiner Abkunft von den Füßen zu schütteln.“

„Na, das sollten unsere alten Herren da oben hören!“ drohte die Tante und zeigte auf einige noch nicht abgenommene Oelbilder der aus ihrer Allongenperücke stolz und ernsthaft von der Wand herabschauenden Kaufherren.

Margarete zuckte lächelnd die Achseln. „Wer weiß, wie sie heutzutage mit ihrem strengen Bürgersinne fertig würden! ‚Wir sind Kinder unserer Zeit und keine Spartaner!‘ hörte ich kürzlich sagen, und so könnte es immerhin sein, daß die alten, mit Bienenfleiß in Komptoir und Lagerräumen schaffenden Lamprechts es machten wie so Viele jetzt und sich glücklich schätzten, ihren Honig als Mitgift der Töchter in den leeren Stock irgend eines ‚alten, hoch angesehenen Geschlechts‘ gießen zu dürfen. ... Das soll der Bürgerstolz heutigen Tages sein – so sagen die Leute.“

„‚So sagen die Leute,‘“ wiederholte der Landrath kopfnickend. „Selbstverständlich hast Du diesen Ausspruch scharfer Zungen auch wieder nur von Anderen –“

„Natürlicher Weise,“ bestätigte sie lachend. „Ich mache es genau wie andere junge Mädchen auch – ich plappere nach, Onkel ... Ich höre zu, wenn Andere über die heutigen Zustände diskutiren, und Manches interessirt mich wirklich. So zum Beispiel die Kletterstange voll wünschenswerther Dinge, die jetzt in der Welt aufgerichtet sein soll –“

„Und welcher die Streber in hellen Haufen zuströmen, nicht wahr, Margarete?“ unterbrach sie Herbert mit kaltem Lächeln.

Ihr Blick, der dem seinen begegnete, verdunkelte sich. „Ja wohl, Onkel! Solche, denen der ehrliche Heimathboden nicht gut genug, der gerade Weg nicht der beste ist. Manch braves Menschenkind soll bei dem Ansturme zu Boden getreten werden. Sonst soll das Klettern leicht sein, sagen die Leute; man müsse immer nur auf die äußeren Signale achten, um Gotteswillen aber nie auf irgend eine innere Stimme wie die des Herzens oder der wahren Ueberzeugung, sonst falle man herab, wie der angerufene Nachtwandler vom Dach. Auch schöne Damenhände sollen manchmal helfen –“

„Pst!“ machte Tante Sophie und hob den Zeigefinger in der Richtung des Treppenhauses. Es mochte ihr wohl gelegen kommen, daß draußen Schritte heraufpolterten und das Gespräch unterbrachen, welchem die übermüthigen Anspielungen des jungen Mädchens eine peinliche Wendung zu geben drohten. „Lauf und wirf das Kleid ab, Gretel!“ drängte sie. „Dem Schritte nach ist’s Reinhold, der heraufkommt, und der kann selten einen Spaß vertragen, er wird leicht grob!“

Margarete flog nach der Thür. Sie vermied es ängstlich, mit dem reizbaren Bruder in Kollision zu kommen, aber schon war es zu spät, Reinhold kam in Begleitung der Großmama den Flursaal entlang.




12.

Die Eintretenden prallten zurück vor der aus dem Rahmen gestiegenen „schönen Dore“, die sich wieder bis an den Tisch inmitten des Salons zurückgezogen hatte, die Stirn gesenkt, als erwarte sie widerspruchslos die Grobheiten, die auf ihr Haupt niederregnen sollten.

„Das ist wieder einmal ein verrückter Streich von Dir, Grete! Den Tod könnte man davon haben,“ sagte denn auch Herr Lamprecht junior prompt, nachdem er zu Athem gekommen war.

„Ja, Holdchen, es war eine grenzenlose Albernheit,“ gab sie sanftlächelnd zu. Dabei ging sie von Thür zu Thür, um die offenen Flügel zu schließen – für Reinhold war der Zug stets verderblich.

„Unsinn!“ murrte er und folgte jeder ihrer Bewegungen mit geärgertem Blicke. „Das rauscht und rasselt, und das Silber stäubt ab von den morschen Fäden. Der Papa sollte nur kommen und sehen, wie Du das kostbare Inventarstück über die Dielen schleifst! Da wär’s aus und vorbei mit seiner Vorliebe, die ihm geradezu über Nacht gekommen sein muß – thut er doch gerade, als hättest Du in Berlin die Weisheit mit Löffeln gegessen!“

„Rege Dich nicht auf!“ bat sie. „Ich gehe gleich. In wenig Minuten hängt das Kleid an seinem Platze und ich werde mich nie wieder daran vergreifen. Geh’, sei gut!“

Sie legte bittend ihre zarten Fingerspitzen auf seine Hand, die er auf den Tisch stützte, aber er schob sie weg. „Ach, lasse doch die Kindereien, Grete! Ich hab’s von klein auf nicht leiden können, wenn man mir zu nahe kommt – das weißt Du doch!“

Sie nickte lächelnd mit dem Kopfe, nahm vorsichtig das Kleid auf, um das Lärmen beim Hinausgehen zu verhindern, und ging zur Mittelthür. Aber an der Schwelle zögerte sie und wandte sich zurück.

„Was sind denn da für Dummheiten geschehen?“ hatte sie Reinhold fragen hören, und nun sah sie, wie er die Vasenscherben durch einander warf.

[144] „Ja, siehst Du, Reinhold, das ist nun so ein kleines Malheur, wie es Einem bei einer gründlichen Räumerei leicht passirt,“ sagte Tante Sophie achselzuckend. Sie vermied es geflissentlich, den eigentlichen Missethäter, den „armen Tapps“, zu nennen.

„Was, ein kleines Malheur?“ wiederholte der junge Mensch ganz empört. „Aber, Tante, Du scheinst auch nicht die blasse Ahnung von dem Geldwerthe zu haben, der Dir hier oben anvertraut ist! Bare zehn Dukaten hat die Vase gekostet; ich will es Dir aus dem Inventarbuch beweisen – bare zehn Dukaten! Ja, weiß Gott, es ist geradezu haarsträubend, wie oft aus Marotte mit dem Gelde gehaust wird! Der gute Großpapa ist auch so Einer gewesen. Tausende stecken in dem Kram aus Olims Zeiten, den er zusammengeschleppt hat. Die Antiquitätenhändler wissen das und klopfen immer wieder an bei uns; aber der Papa wird allemal grob, und ich würge dann tagelang an dem Aerger über die unverantwortliche Verschwendung! ... Aber es wird auch einmal anders, und dann weiß ich Einen, der aufräumt. Da wird Alles versilbert, Alles, was nicht absolut nöthig ist zum Hausgebrauche.“ Er schüttelte den Kopf und warf die Scherbe in seiner Hand auf den Tisch. „Zehn Dukaten! Ein Pappenstiel natürlicher Weise! Eine Lappalie für Alle in unserem Hause, die nicht rechnen können –“

„Na, sei nur ruhig; ich hab’ das Einmaleins gründlich weg und brauche nicht auf Euren Komptoirstühlen zu sitzeu, um zu wissen, was das Geld werth ist,“ unterbrach ihn Tante Sophie gleichmüthig. „Die zehn Dukaten sind aber schon dazumal zum Fenster hinausgeworfen gewesen. Auch der Klügste läßt sich einmal anführen mit nachgemachtem Zeug, wie das hier ist.“ Sie zeigte auf die Scherben.

„Wie – nachgemacht? Wer sagt denn das?“

„Margarete sagt es,“ sprach der Landrath, der langsam an den Tisch getreten war.

Reinhold lachte laut auf. „Die Grete? Diese da?“ Er zeigte mit dem Finger nach dem jungen Mädchen.

„Ja, Deine Schwester,“ bestätigte Herbert mit festem, verweisendem Blick in das impertinent grinsende Gesicht des Neffen. „Ich möchte Dich übrigens bitten, den Ton, welchen Du der Tante und Deiner Schwester gegenüber noch so jungenhaft unmanierlich anschlägst, nunmehr zu ändern. Es ist Dir zeitlebens, Deiner reizbaren Nerven wegen, sehr viel nachgesehen worden, allzu viel, wie ich fürchte – aber nun solltest Du doch wissen, daß auch Du Anstandspflichten hast.“

Reinhold hatte den Sprecher anfänglich ganz perplex angestarrt; eine solche ernste Rüge aus diesem Munde war ihm neu; aber bei all seiner Unverfrorenheit war er doch ein feiger Bursche, der jedem Stärkeren aus dem Wege ging. Er nagte an seiner Unterlippe und wagte kein Wort der Erwiderung. Scheu wegsehend, griff er in die Brusttasche, zog einen Brief heraus und warf ihn so auf den Tisch, daß das sehr große Siegel obenauf zu liegen kam.

„Hier, Grete, der Brief ist vorhin im Komptoir für Dich abgegeben worden,“ sagte er mürrisch. „Nur des Wappens wegen, das fast so groß ist, wie unser herzogliches, bin ich die zugige Treppe heraufgeklettert; sonst ist es mir sehr egal, wer Dir schreibt.“

Das junge Mädchen war feuerroth geworden. Der Uebermuth, der vorhin ihre ganze Erscheinung beseelt hatte, war kläglich zusammengesunken. Fast hilflos, mit einem angstvoll scheuen Blick nach dem Briefe stand sie da wie ein tieferschrockenes Kind.

„Das ist das Wappen der Herren von Billingen-Wackewitz, Reinhold,“ sagte die Frau Amtsräthin ganz feierlich, mit hörbarer Ergriffenheit. „Ich könnte Dir manches heilig aufgehobene Billetdoux mit diesem herrlichen Siegel zeigen. Ein Fräulein von Billingen war früher Obersthofmeisterin bei unseren gnädigsten Herrschaften. Sie war mir sehr gütig gesinnt und korrespondirte mit mir über unseren Frauenverein. ... Mein Gott, wenn ich damals hätte denken sollen“ – sie brach ab mit einem fast verzückten Aufblicke, schlang ihren Arm um die Taille der Enkelin und zog sie an sich. „Mein liebes, liebes Gretchen, Du kleine Spitzbübin!“ rief sie mit tiefer Zärtlichkeit. „Also das ist der Magnet gewesen, der Dich in Berlin festgehalten hat? ... Und ich bin so unverantwortlich kurzsichtig gewesen und habe Dir Vorwürfe gemacht, während Du berufen warst, ein unaussprechliches Glück in unser Haus zu bringen! Solch eine blinde, ungerechte Großmama, gelt, Herzenskind? ... Bist Du mir böse?“

Die Enkelin entschlüpfte der Umarmung und trat um einen Schritt weg. Sie hatte ihre Fassung wieder gewonnen. „Ich habe keinen Grund, böse zu sein – ein solches Gefühl würde sich auch wenig schicken für die Enkelin,“ sagte sie fast trocken und zupfte ordnend, mit einem Seitenblick nach Reinhold, an den Spitzen des „kostbaren Inventarstückes“. „Solche Extravaganzen dürfen wir uns nicht erlauben, so lange ich im Staatskleid der schönen Dore stecke – Reinhold wird zanken.“

„Ach, wüßte er, was ich weiß,“ entgegnete die alte Dame mit schalkhaftem Augenblinzeln, „dann würde er nur mit mir finden, daß Dir die Robe unvergleichlich steht! Ja, so wie ich Dich da vor mir sehe, mit der wirklich vornehmen Haltung und dem – nun, auch eine Großmama darf einmal schwach sein in ihrer großmütterlichen Eitelkeit – und dem durchgeistigten, pikanten Gesichtchen – ja, so könntest Du Dich getrost den illustren Frauengestalten anreihen, die in einem gewissen Saale von den Wänden blicken –“

„Auch mit dem ‚wilden Haar und den Jungenmanieren‘, Großmama?!“

Die Frau Amtsräthin wurde ein wenig roth und hob beide Hände empor.

„Liebes Kind – doch nein,“ unterbrach sie sich, „ich will heute still sein! Morgen, oder vielleicht auch erst in einigen Tagen, wirst Du mir viel zu sagen haben, unendlich viel, mein Kind, was mich lebenslang beseligen wird, ich weiß es. Bis dahin will ich mich bescheiden!“

Margarete antwortete nicht. Mit scheuem Finger griff sie nach dem Briefe, schob ihn in die weite Kleidertasche und ging hinaus, um die Staatsrobe wieder an Ort und Stelle zu bringen. In diesem Augenblick erinnerte sich auch die Frau Amtsräthin, daß sie ja eigentlich nur heruntergekommen sei, um sich bei Tante Sophie ein Tortenrecept auszubitten, der Herr Landrath aber, der ja auch nur hier eingetreten, weil er draußen im Vorübergehen das Geräusch der stürzenden Vase gehört, hatte Hut und Stock vom Tisch genommen und war mittlerweile in den Flursaal hinaus gegangen.

Er stand vor dem nächsten Büffet und besah anscheinend sehr interessirt die alten Humpen und Becher, als Margarete an ihm vorüber nach dem Gange schritt.

„Du wirst mir später einmal viel abzubitten haben, Margarete,“ sagte er halblaut, aber mit Nachdruck über die Schulter hinweg zu ihr.

„Ich, Onkel?“ Sie hemmte ihre Schritte und trat verstohlen lächelnd näher. „Mein Gott, sofort, auf der Stelle soll es geschehen, wenn Du es wünschest! Töchter und Nichten müssen das, und können es auch getrost, unbeschadet ihrer Mädchenwürde.“

Er wandte sich voll nach ihr um zugleich warf er aber auch auf den herankommenden Reinhold einen so streng und finster zurückweisenden Blick, daß der lange Mensch betroffen Kehrt machte und mit den beiden alten Damen den Flursaal verließ.

„Du scheinst die Jahre, während welcher wir uns nicht gesehen haben, für meine Person doppelt zu rechnen,“ sagte Herbert finster. „Ich komme Dir wohl sehr alt und ehrwürdig vor, Margarete?“

Sie bog ihr Gesicht ein wenig zur Seite, und die übermüthigen Augen huschten musternd über seine Züge. „Nun weißt Du, gar so schlimm ist’s nicht – ich sehe noch kein einziges graues Haar in Deinem schönen Barte.“

„Schlimm genug, wenn Du bereits darnach suchst!“ Er sah einen Moment weg durch das nächste Fenster. „Es war mir ein wenig verwunderlich, bei Deiner Ankunft so respektvoll von Dir begrüßt zu werden; meines Wissens hat mich immer nur Reinhold ‚Onkel‘ genannt, Du nie!“

„Du hast Recht – ich nie, trotz so mancher Strafpredigt! Dein Onkelgesicht imponirte mir nicht! ‚Gerade wie Milch und Blut ist’s,‘ sagte Bärbe immer.“

„Ach so – nun sind Dir die Farben greisenhaft genug?“

Sie lachte. „Ach, das spricht ja gar nicht mehr mit – der Bart macht’s! Solch ein aristokratisch gescheitelter Kinnbart imponirt, Onkel!“

Er verbeugte sich ironisch.

„Und dann – als ich Dich vorgestern Abend neben der schönen Dame sitzen sah, und Du kamst dann heraus in den Flursaal, Zoll für Zoll der erste Beamte der Stadt, und Deine

[145]

Der Kampf ums Dasein.0 Nach dem Oelgemälde von L. von Frecskay.

[146] ganze Erscheinung umleuchtet von dem Widerschein fürstlicher Vornehmheit, da kam mir das Respektgefühl geradezu überwältigend, und ich schämte mich furchtbar.“

„Da muß ich ja wohl sehr entzückt sein, daß Dir der Onkeltitel nun so flott von den Lippen kommt?“

Sie wiegte lächelnd den Kopf. „Nun weißt Du, so ganz unbedingt ist das nicht zu verlangen. Ich sehe recht gut ein, daß es nicht angenehm sein mag, von einem so alten Mädchen, wie ich bin, ‚Onkel‘ genannt zu werden. Aber ich kann Dir nicht helfen. Wir armen Lamprechts-Kinder sind ohnehin zu kurz gekommen, wir haben nur diesen einen Mutterbruder, und wenn auch nur ein Stiefonkel, mußt Du Dir es doch gefallen lassen, zeitlebens Onkel Herbert zu bleiben.“

„Nun gut, ich bin’s zufrieden, liebe Nichte! – Aber Du wirst nun auch wissen daß Du diesem anerkannten Onkel gegenüber die Pflicht des Gehorsams übernimmst.“

Sie stutzte, aber sofort ging auch ein Strahl des Verständnisses durch ihre Züge. „Ach, Du meinst das!“ Sie legte die Hand, dunkel erröthend, auf die Tasche, in welcher das angekommene Schreiben steckte, und in ihren Augen glomm es wie feindselig auf.

Er sah nur mit halbem Blick hin und schwieg.

„Ja, das ist’s!“ nickte sie mit Bestimmtheit. „Du denkst genau wie die Großmama. Ihr seid stolz auf die Aussicht, die sich mir bietet, und öffnet dem Freier Herz und Arme, ohne ihn je gesehen zu haben. Wozu auch? Kennt Ihr doch seinen Namen – mehr braucht es nicht ... Nun kennst Du aber auch den Querkopf Deiner Nichte, und vielleicht beschleicht Dich die geheime Furcht, daß sie den grenzenlos dummen Streich machen könnte, lieber Grete Lamprecht bleiben zu wollen; da ist ein Recht mehr gegen den Oppositionsgeist von großem Werth für die Familie. Das Haus ‚Marschall‘ ist im Begriff, bis über die Wolken zu steigen, und da verlangt es das eigene Interesse, daß auch die verwandten Lamprechts höher gehoben werden.“

„Es ist erstaunlich, wie scharfsinnig Du bist!“

Sie lachte. „Nein, Onkel, das Kompliment weise ich zurück! Du denkst zu schmeichelhaft von mir. Der da“ – sie hob den kleinen Finger der Rechten – „der sagt mir’s nicht ... Für mich ist die ganze Luft unseres Hauses beseelt und lebendig; aus allen Gängen und Treppenwinkeln wispert und flüstert es mir zu, denn ich bin an einem Ostersonntag geboren und habe mich immer sehr gut mit unseren Hausgeisterchen gestanden. Und wie sie mir früher von den alten Zeiten zuraunten, von den Silberfäden des Lein, die sich draußen auf Handelswegen verwandelt und als eitel Gold in die Truhen meiner Urväter zurückgeflogen sind, so flüstern sie jetzt von einem ganz anderen Glanz, von fürstlicher Huld und Gnade, von der Gunst schöner, blaublütiger Frauen und von dem alten Plebejerblut, das nach jahrhundertelangem Sammelfleiß nunmehr reif sei, in einer höheren Kaste aufzugehen.“

„Ei, das sind ja ganz allerliebste Kobolde mit ihren kleinen Bosheiten, die die Luft vergiften! Man sollte auf sie fahnden –“

„Mit Deinen Gendarmen, Onkel? Das gäb’ aber einen Spaß für die lustigen Kameraden! Sie würden erst recht an meinem Ohr niederhocken und weiter erzählen von dem neuen Theaterstück in Lamprecht’s Hause, in welchem sogar das dumme Ding, die Grete, mitspielen soll – ein Freiherrnkrönchen auf das Struwwelhaar gesetzt, und die Wandlung sei fertig, meinen sie ... Aber weißt Du, Onkel, ein ganz klein wenig Stimme habe ich doch auch dabei, meinst Du nicht? Das kleine Wörtchen ,Ja‘ muß doch auch gesagt werden. Und da nehmt Euch nur in Acht, daß der Vogel nicht davonfliegt, ehe er gesungen hat! Mich fangt Ihr nicht!“

„Es käme auf eine Probe an –“

„Versuch’s, Onkel!“ Sie sah halb über die Schulter nach ihm zurück, und ihre Augen sprühten auf, als sei sie sofort bereit, den Wettlauf der Geister anzutreten.

„Ich nehme die Herausforderung an, darauf verlasse Dich! Aber das merke Dir, habe ich den Vogel einmal, dann ist’s um ihn geschehen!“

„Ach, das arme Ding, da muß es singen, wie Du pfeifst!“ lachte sie. „Aber ich fürchte mich nicht – ich bin eine Spottdrossel, Onkel, und könnte Dich leicht auf den verkehrten Weg locken!“

Sie verbeugte sich graziös, unter heimlichem Lachen, und schritt eiligst nach dem Gange hinter Frau Dorotheens Sterbezimmer, und während sie mit flinken Händen die Spangen des Kleides löste, hörte sie, wie der Landrath den Flursaal verließ. Zugleich wurde aber auch die Stimme ihres die Treppe heraufkommenden Vaters laut. Die beiden Herren begrüßten sich, wie es schien, unter der Thür; dann fiel diese zu, und der Kommerzienrath ging nach seinem Zimmer.

Er war schon in aller Frühe nach Dambach geritten, war über Mittag draußen verblieben und kam eben heim. Es drängte sie, ihn zu begrüßen, um so mehr, als er heute Morgen düster- schweigend, mit verfinstertem Gesicht zu Pferde gesessen und für ihr fröhliches „Guten Morgen“ vom Fenster aus kaum ein leichtes Kopfnicken und kein Wort der Erwiderung gehabt hatte. Das war ihr schmerzlich auf das junge, frohgestimmte Herz gefallen. Aber Tante Sophie hatte sie getröstet. Das sei wieder einmal solch ein schlimmer Tag, wo man sich stillschweigend zurückhalten und ihm aus dem Wege gehen müsse, hatte sie gemeint. Er wisse da selbst am besten, was ihm noththue, um das schwarze Gespenst loszuwerden – das sei ein Ritt in die frische Luft hinaus und Zerstreuung draußen im Fabrikgetriebe. Abends werde er schon „umgänglicher“ zurückkommen.

Die Brokatschleppe der schönen Dore hing wieder in der tiefsten Schrankecke, und Margarete war eben im Begriff, ihr Haar zu ordnen, als sie abermals die Zimmerthür ihres Vaters gehen hörte. Er trat wieder heraus und ging den Flursaal entlang. Er kam rasch näher, und es schien, als schreite er direkt dem Gange zu.

Margarete erschrak. Sie war in Unterkleidern und mochte sich überhaupt nicht hier vor ihm sehen lassen; wußte sie doch nicht, in welcher Stimmung er heimgekommen war und wie er ihr muthwilliges Attentat auf das ehrwürdige Inventarstück des Hauses beurtheilen würde. Ein wahres Angstgefühl packte sie. Unwillkürlich schlüpfte sie in den Schrank, schmiegte sich tief in die Seidenwogen – es war ihr, als versinke sie in rauschenden Gewässern – und zog die Thür leise an sich.

Wenige Augenblicke nachher kam der Kommerzienrath um die Gangecke. Durch die schmale Thürspalte konnte ihn die Tochter sehen. Der Ritt in die frische Luft und das Fabriktreiben in Dambach hatten nicht an das Gepräge schwarzer Melancholie gerührt, welches diese schöne Männererscheinung für Alle im Hause oft so furchterweckend machte. Er hatte einen kleinen Strauß frischer Rosen in der Rechten und schritt achtlos zwischen den Bilderreihen seiner Vorfahren hin. Nur das Oelbild der schönen Dore, welches, schräg zwischen die Schrankecke und die Wand gelehnt, ihm die bezaubernde Gestalt gewissermaßen entgegentreten ließ, schien eine unheimliche Wirkung auf ihn zu üben. Er fuhr zurück und legte die Hand über die Augen, als befalle ihn ein Schwindel. Dieses Erschrecken war begreiflich. Drüben im rothen Salon, hoch an der hellen Wand, trat das Dämonische dieser Schönheit nie so sieghaft hervor, wie hier, im spukhaften Halbdunkel ... Er murmelte leidenschaftliche Worte in sich hinein, packte wie in einem Wuthanfall das schwere Bild und kehrte es gegen die Wand. Der Rahmen schlug hart an das Mauergestein und krachte in den Fugen.

Der erschrockenen Tochter stockte der Athem. War es doch, als schlage aus dem finsteren, melancholischen Brüten plötzlich die Flamme des Irrsinns empor, als müsse die gewaltige Hand zerstörungswüthig das stille Kaufmannshaus zum Schauplatz grauenvoller Ereignisse machen. Aber das Furchtbare geschah nicht. Mit dem Verschwinden der Frauengestalt in der dunklen Ecke schien auch der Sturm in der Seele des aufgeregten Mannes beschwichtigt. Er schritt weiter, dicht an der Tochter vorüber, sodaß sie durch die klaffende Thürspalte sein heftiges Ausathmen zu spüren meinte.

Gleich darauf rasselte der Schlüssel im nächsten Thürschloß. Der Kommerzienrath trat ein, zog den Schlüssel wieder ab und schob drinnen den Riegel vor.

Ein Grauen überschlich die Lauschende. Was that er drinnen, so allein mit seinen dunklen Gedanken in den öden, verstaubten Räumen? – Niemand im Hause ahnte, daß er noch hier verkehrte. Bärbe behauptete, er sei mit keinem Fuße wieder in den Gang gekommen – dazumal müsse ihm doch gar zu arg aufgespielt worden sein, denn für nichts und wider Nichts gäbe kein beherzter Mann so jämmerlich Fersengeld, daß er sich nicht wieder zurücktraue. Nun war er doch drin – wie vergraben [147] in der tiefen Stille und Dämmerung; denn kein Laut drang heraus. – Vielleicht war es aber gerade diese grabesruhige Abgeschiedenheit, die er schließlich suchte, wenn er im Weltgetriebe seinen bösen Dämon nicht abzuschütteln vermochte. Sie sänftigte wohl den inneren Sturm, das heiße, kranke Blut, das ihm so beängstigend den Kopf verdunkelte. ... Ja, er war krank. Es war nicht, wie die Großmama fälschlich behauptete, ausschließlich der Gram um ihre verstorbene Mutter, der ihn so furchtbar verändert – war er doch in den ersten Jahren nach ihrem Tode nicht so verbittert und schwarzgallig gewesen – nein, er war krank, Wahngebilde verfolgten und marterten ihn; das hatte sie schon am Abend ihrer Ankunft erkennen müssen. Er, der strengrechtliche, pünktliche Chef der hochgeachteten Firma Lamprecht, der stolze Mann, auf dessen Ehre auch nicht der leiseste Makel haftete, er bildete sich plötzlich ein, es könne eine Zeit kommen, wo man mit Fingern auf ihn zeige, wo er verfehmt sein werde in Kreisen, denen sein falscher Ehrgeiz unablässig zustrebte. Das Herz krampfte sich ihr zusammen vor Weh, indem sie sich vergegenwärtigte, wie er vor ihr, seinem Kiude, in jenem Augenblicke fast flehend gestanden und an ihre Mithilfe, ihre kindliche Treue appellirt hatte. So weit hatte ihn die tückische Krankheit bereits gebracht!

(Fortsetzung folgt.)

Robert Hamerling.

Einem von den Zeitungen im vergangenen Sommer veröffentlichten Aufrufe, Robert Hamerling in seinem Geburtsorte ein Denkmal zu setzen, ist alsbald eine Erklärung des Dichters nachgefolgt, es sei lediglich Sache der Nachwelt, zu entscheiden, ob ihm solche Ehre gebühre. Inzwischen werden sich’s die Zeitgenossen nicht nehmen lassen, dem Dichter, wie seither, ihre Huldigung darzubringen und seine Schaffenslust durch das Bewußtsein zu erhöhen, daß er seine Gaben nicht an ein Geschlecht von Verständnißlosen und Undankbaren verschwende. Und wenn Robert Hamerling das häufige Los deutscher Dichter theilt, äußerer Glücksgüter zu entbehren, so haben ihm doch freundlichere Sterne geleuchtet, als seinem Landsmanne Grillparzer, den an seinem Lebensabende Laube für die Oesterreicher und die Deutschen im Reiche erst neu entdecken mußte. Schon um den jungen Dichter sammelte sich in der Heimath eine große Gemeinde von Verehrern; treue Anhänger umgaben ihn auf seinem Krankenlager zu Graz, und gar Vielen ist es eine Herzenspflicht, wenigstens einmal im Jahre nach der Hauptstadt Steiermark zu seinem Besuche zu pilgern.

Robert Hamerling ist am 22. März 1830 zu Kirchberg am Walde in Niederösterreich geboren. Das Häuschen seines Vaters stand bei einem fürstlichen Thiergarten, aus dessen Tanendunkel ein griechischer Tempel hervor schimmerte; der Thiergarten gehörte zu dem schönen Schlosse, in welchem die Familie des entthronten Karl X. von Frankreich ein Asyl gefunden. Zum geheimnißvollen Schauer des deutschen Waldes, der die Kindesseele erfüllen mußte, gesellte sich die Ahnung des hellenischen Schönheitsideals und der erste Eindruck eines gewaltigen Völkerschicksals: drei Elemente, denen wir im späteren Dichten des Jünglings und Mannes immer wieder begegnen sollen.

Schon als siebenjähriger Knabe fand er Trost für die Armuth des Vaterhauses in dichterischem Träumen; sein frühreifes Talent öffnete ihm zuerst die Pforten des nahen Schlosses, dessen junge Bewohnerinnen ihn im Französischen unterrichteten, und verschaffte ihm im neunten Lebensjahre die Aufnahme als Chorknabe im Cisterzienserstifte Zwetl, wo er sich von der Mühsal des Lateinlernens beim Dichten erholte. Ein Gedicht des zwölfjährigen Knaben „Das arme Kind“ rührte die französische Prinzessin Louise, spätere Herzogin von Parma, so, daß sie seine Mutter als eine Glückliche pries und dem jungen Studenten ihre Unterstützung zuwandte.

Mit jugendlichem Selbstvertrauen machte sich Hamerling, nachdem er vom Stifte, mit seinen Eltern, nach Wien übersiedelt war, an die größten Vorwürfe. Noch vor seinem sechzehnten Jahre hatte er ein zweiaktiges Drama „Columbus“, ein fünfaktiges „Die Märtyrer“ und eine Canzone „Eutychia“, sowie eine Menge Sonette und Lieder verfaßt, die später in den Band „Sinnen und Minnen“ aufgenommen wurden. Ein ernster Sinn für die Menschengeschichte, eine an den Schwaben Hölderlin erinnernde Sehnsucht nach Hellas und germanisches Naturgefühl waren schon in dem Jüngling zu einer dichterischen Eigenart zusammengeflossen, die sich in der Folge nur immer bestimmter ausprägen sollte.

Das Bewegungsjahr 1848 rief Robert Hamerling aus seinem stillen Stübchen auf die Straße und in Volksversammlungen, wo er voll glühender Begeisterung die frohe Botschaft von einem durch die Freiheit verjüngten Oesterreich vernahm. Es war ihm heiliger Ernst mit dem Waffentragen in der Akademischen Legion und er legte Säbel und Gewehr erst nieder, als in den Oktobertagen die Kroaten Windischgrätz’s schon die Herren Wiens geworden waren und die Häuser der Hauptstadt nach Legionären durchspürten. Der Dichter mag heute vielleicht den Freiheitstraum seiner Jugend belächeln, aber dem Ideal eines einigen deutschen Vaterlandes, an welches er damals glauben lernte, opfert er auch heute noch in unerschütterter Treue. Mitten in seinen sprachlichen, philosophischen und medicinischen Studien, die er im Frieden einer dumpfen politischen Reaktion wieder aufnahm, trug er sich mit dem Plane eines nationalen Dramas „Hermann“. Dem Sehnen nach hellenischer Gefühls- und Gedankenwelt that er Genüge in einem damals von ihm verfaßten Märchen „Atlantis“, und in einem Musenalmanach vom Jahre 1852 trat er zum ersten Mal als Lyriker mit drei Liedern vor die Oeffentlichkeit.

Ein nur zu kurzer Sonnenschein des Glückes leuchtete ihm, als er ein Stipendium und die Erlaubniß erhielt, zuerst im Theresianum und akademischen Gymnasium zu Wien, dann zu Graz Unterrichtsstunden zu geben, neben denen er sorgenfrei seiner Muse leben konnte. Allein die Pflicht, für seine betagten Eltern zu sorgen, zwang ihn wieder, von dem freien Dichterleben Abschied zu nehmen; er mußte die Lehramtsprüfung ablegen, um 1855 eine Professur am Gymnasium zu Triest antreten zu können, eine Thätigkeit, die sein Gemüth doppelt belastete, da jetzt zuerst die Krankheitserscheinungen sich einstellten, die ihn fortan nie ganz verließen.

Dennoch schwang er sich damals zu dem „Sangesgruß von der Adria“ auf, einer lyrischen Dichtung, die ihm reiches Lob von den berufensten Kritikern eintrug und die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Lehrer lenkte, der da an der Grenze deutschen Wesens so neue und kühne Weisen erschallen ließ. Von Triest ging er mehr als einmal nach Venedig hinüber, welches damals noch im Besitze Oesterreichs war, und schuf dort jenes lyrische Epos „Venus im Exil“, in welchem er mit aller sinnlichen Gluth, aber mit einer noch etwas unsicheren Gestaltungskraft die Göttin der Schönheit preist. Seine erste Sammlung lyrischer Gedichte „Sinnen und Minnen“, in denen noch, wie er selber sagt, eine allzu subjektive Richtung der Lyrik vorherrscht, gab er 1859 heraus. Der Donner von Solferino und der Verlust der Lombardei konnte ihn, wie es scheint, in seinem dichterischen Träumen nicht beirren. Und doch war Hamerling ein Mann von ausgesprochenem historischen Gefühl! Diesem letzteren und seiner deutschen Vaterlandsliebe lieh er freilich drei Jahre später einen nur um so begeisterteren Ausdruck in seiner Canzone „Germanenzug“, den man nicht unpassend den Fries zu einem großen epischen Wandgemälde genannt hat, der vorzugsweise durch die Darstellung der Idee in lebensvoller und frappirender Gruppirung Eindruck macht. Ueber sein etwa um dieselbe Zeit erschienenes herrliches „Schwanenlied der Romantik“ hat Robert Hamerling selbst einmal geschrieben: „Meine Dichtung singt nicht etwa in Hölderlin’s und Schiller’s Art ausschließlich dem untergegangenen Lebens– und Schönheitsideale der Griechen, sondern allen dahin geschwundenen Blüthenzeitaltern des Menschheitslebens eine Threnodie; zugleich wendet sie sich in die Zukunft mit prophetischen Nachtgesichten, die nichts sein wollen als eine ins poetische Gewand der Prophetie gekleidete Warnung an das Zeitalter, das schöpferische Leben des Herzens und der Phantasie hinter dem naturbezwingenden, aber auch entseelenden Leben des Verstandes nicht allzuviel zurücktreten zu lassen.“

Eine entscheidende Wendung im Leben und Dichten Robert Hamerling’s bezeichnet sein 1865 erschienener „Ahasverus in Rom“. Nachdem er mit seinem „Germanenzuge“ einen ersten [148] Schritt auf der Bahn der Epik gewagt, bekundet er nunmehr seine volle Meisterschaft in dieser Dichtart. Jahre lang hatte er schon den Plan des Ahasverus im Kopfe herumgetragen und bis in seine Einzelnheiten ausgebucht. Daher bei aller scheinbaren Willkür, die mit dem gewaltigen Stoffe nur zu spielen scheint, die wohldurchdachte Ordnung in der Komposition, daher bei aller Ueppigkeit der Schilderung, bei allem Reichthum und Glanze der Bilder die zielbewußte Strenge, womit die dramatisch belebte Handlung fortgeleitet wird, und daher die kräftige Zeichnung der Charaktere. Wenn wir davon absehen, daß Robert Hamerling aus Rücksichten des Geschmacks abstoßende Züge aus den Berichten eines Tacitus und Suetonius mildern mußte, so müssen wir gestehen, daß wir kein zugleich großartigeres und getreueres Gemälde des römischen Kaiserreichs in seiner Entartung kennen, als dasjenige, welches im Ahasverus vor uns aufgerollt ist. Man hat vom Standpunkte der Moral bedauern wollen, daß der Dichter nicht der Predigt des Genusses die Religion der Entsagung, den Gräueln der Bacchanalien die Feier der christlichen Geheimnisse, dem goldenen Hause Nero’s die Kirche der Katakomben, der Poppäa, Agrippina und Actäa christliche Märtyrerinnen jungfräulicher Keuschheit, endlich dem heidnischen Genußriesen Nero statt des schwachen und verbrecherischen Kain-Ahasverus die christlichen Glaubens- und Tugendriesen Petrus und Paulus gegenüber gestellt habe. Allein der Dichter hat nur von einem souveränen Rechte Gebrauch gemacht, das erste Christenthum blos episodenhaft zu behandeln, nachdem er einmal seinen Ahasver als den ewigen Menschen, nicht blos als den Juden von Jerusalem aufgefaßt, der gegen den Messias trotzt. „Götter kommen und schwinden – ewig wandert Ahasver“. Diesem Vertreter der Menschheit ist das titanisch sich aufbäumende Individuum, der ewigen Todessehnsucht des Unsterblichen der unendliche Lebensdrang des Sterblichen in Nero gegenüber gestellt, und damit allerdings, was der Dichter mit klarem Bewußtsein anstrebte, Grund und Boden für ein wirkliches Epos gewonnen.

Dem durchschlagenden Erfolge seines „Ahasverus in Rom“ dankte Robert Hamerling auch eine Besserung in seinen äußern Lebensverhältnissen. Sein durch Kränklichkeit begründetes Gesuch um Entlassung aus dem Lehramte wurde bewilligt und ihm zugleich von einer ihm persönlich fern stehenden Bewundererin seines Ahasver ein Betrag zugewendet, der ihm über die augenblicklichen Schwierigkeiten der Lage hinweg half. Der Dichter konnte sich jetzt in das liebliche Graz zurückziehen und von nun ganz den Musen leben. Sein leider vielfach durch Krankheit getrübtes Leben theilt sich fortan noch ausschließlicher als seither nach den Stationen ein, die den Namen von seinen Werken tragen.

Während Robert Hamerling für die Dichtung, die uns auf den Boden des alten Roms versetzt, den uns anheimelnden erzählenden Vers von vier Hebungen und Senkungen gewählt hatte, erzählt er uns nun, gleichsam um seinem jungen Stoff antike Würde zu verleihen, in allerdings ungewöhnlich biegsamen und klangvollen Hexametern die „seltsamste, deutsamste aller Geschichten, die auf germanischer Erde geschah’n“, die Geschichte des Johann von Leyden. „Der König von Sion“, an plastischer Gestaltungskraft und Reinheit der epischen Behandlung das Schreckensgemälde des Ahasver noch übertreffend, theilt mit letzterem den Charakterzug, daß das Endliche, Zufällige der geschilderten geschichtlichen Erscheinung, ohne gewaltsames „Hineingeheimnissen“, in die Sphäre des Unvergänglichen, immer Wiederkehrenden empor gehoben erscheint. Man hat mit Recht aufmerksam gemacht, daß niemals in unserer Gegenwart die Kluft zwischen dem Hochsinne geist- und gemüthvoller Volksführer, jene verhängnißvolle Kluft zwischen der selbstlosen Idealität solcher begeisterter Männer und der platten Selbstsucht und Rohheit scheinbar ihnen anhängender und zujauchzender Massen so ergreifend geschildert worden ist als in diesem Epos, in welchem sich Hamerling als echter, mitfühlender und mitstrebender Sohn seiner Zeit erweist.

Als echter Sohn seines Volkes begrüßte er auch jubelnd das neu erstandene Deutsche Reich und setzte er, mit dem Uebermuth und Witz eines Aristophanes, dem in dem großen Kriegsjahre von 1870 endgültig beseitigten Jammer der Kleinstaaterei und der Uneinigkeit der deutschen Stämme in seinem 1872 erschienenen zweiaktigen Lustspiele „Teut“ das verdiente Denkmal. Zürnend erhebt er von Zeit zu Zeit seine gewaltige Stimme, um die Abtrünnlinge zu züchtigen, die in den gegenwärtigen nationalen Kämpfen Oesterreichs dem Deutschthum nicht die Treue bewahren, und mit der göttlichen Zuversicht eines Sehers spricht er denjenigen Muth zu, welche, ermattet vom jahrelangen Ringen, an der Zukunft Oesterreichs und des Deutschthums in Oesterreich verzweifeln möchten.

Der Unerquicklichkeit der öffentlichen Zustände, die ihn umgaben, entrann Robert Hamerling, indem er sich in seine zweite Heimath, nach Hellas, flüchtete: mit dem dreibändigen Romane „Aspasia“ vollendete er den Kreis jener Inspirationen, die ihn von seiner Kindheit an durchs Leben begleitet hatten. In der That würde uns das Charakter- und Lebensbild Hamerling’s unfertig scheinen, wenn er nicht auch dem Hellenenthum, wie dem Römerthum und Germanenthum ein vollwerthiges dichterisches Angebinde dargebracht, wenn er uns nicht auch noch auf die Akropolis geführt hätte, nachdem er uns in Nero’s goldenes Haus und in die Wälder Germaniens geführt. Es ist das Athen des Perikles, Sophokles, Phidias und der Aspasia, welches der Dichter vor uns erstehen läßt, und es ist die Blüthe edelsten Menschenthums, welche wir hier im Spiegel poetischer Verklärung schauen dürfen.

Als ob der Dichter endgültig dem Dichten abgeschworen hätte, hat er sein letztes Werk „Prosa“ genannt. Wir aber wollen auf die Fülle kleinerer Aufsätze, die Hamerling hier zusammengestellt, das Vertrauen gründen, daß er Allem, was unsere Zeit bewegt, seine Theilnahme zu schenken fortfahren und sich daraus den Stoff zu einem großen Zeitgemälde zurechtlegen werde, welches zu schaffen er vor Anderen berufen wäre. Wilhelm Lanser.     




Ueberraschung.
(Mit Illustration Seite 149.)

Fernher scholl es wie Hundegebell
Ueber die schweigende Halde –
Täusch’ ich mich nicht? – Mein herzliebster Gesell
Kehrt mit der Beute vom Walde!

Schlendert gemächlich, als trieb’ es ihn kaum –
Wart’ nur, ich werde Dich necken!
Ruhig, mein Herz! Dort hinter dem Baum
Will ich mich hurtig verstecken.

Thörichter Waidmann, Tag und Nacht
Warst Du im Wald auf der Suche;
Siehe, Dein Wild, hier lauert’s und lacht
Heimlich im Schatten der Buche.

Arglos nahst Du. – Ist’s Spuk? Ist’s Traum? –
Daß sich der Himmel erbarme!
Wie’s aus dem Stamme sich reckt: – der Baum
Hat zwei lebendige Arme!

Und sie schlingen sich fest um ihn,
Zwei unlösliche Klammern.
Solchem Zauber, wer kann ihm entfliehn?
Hilft kein Flehen und Jammern.

Mein nun bist Du, Du böser Mann!
Leib und Seele verfallen!
Nimmermehr wieder durch Feld und Tann
Wirst Du mir, Frevelnder, wallen!

Der Du vergessen Dein Lieb im Wald,
Falscher, jetzt sollst Du mir büßen!
Ich bin das Waldweib, in Hexengestalt,
Muß Dich zu Tode nun küssen!  Ernst Scherenberg.


[149]

Die Deutschen in Oesterreich.
Eduard von Hartmann’s Ansichten über die Zukunft des Deutschthums.
Von einem Deutschböhmen.


In den beiden ersten in diesem Jahre erschienenen Nummern der „Gegenwart“ unternahm es Eduard von Hartmann in einem „Der Rückgang des Deutschthums“ überschriebenen Artikel, der deutschen Nation das Horoskop zu stellen, und kam dabei zu dem Schlusse, daß der Panslavismus die größte, dem Deutschen Reiche sowohl als Oesterreich drohende Gefahr sei, gegen welche die Slavisirung Oesterreichs und die Umwandelung desselben in einen südwestslavischen Föderativstaat die einzige Schutzwehr sei. Für das Deutsche Reich sei es darum eine Lebensfrage, einer solchen Umwandelung Oesterreichs keine Schwierigkeiten zu bereiten, und es könne für dasselbe keine Sache der Erwägung sein, wie der Rückgang des Deutschthums in Oesterreich abzuwenden sei. Das Deutschthum daselbst sei, abgesehen von Tirol und einigen kompakten Sprachinseln an der Moldau und Donau, überall verloren, unaufhaltsam und unrettbar verloren. Nun ist freilich die politische Wahrsagerei ein Geschäft, das von altersher wenig Vertrauen genießt und in dem speciellen Falle wohl kaum an Werthschätzung gewinnen wird, wenn es sich, aller Hüllen entkleidet, als ein Rechtfertigungsversuch dafür erweist, daß Deutsche, die sonst ein so lebhaftes Nationalgefühl besitzen und fordern, wie dies für Hartmann aus seinen Schriften hervorgeht, mit vornehmer Kühle und würdiger Zurückhaltung den Kampf betrachten, den die Deutschen in Oesterreich um ihre nationale Existenz führen. Und auch das Verständniß für die Schlußfolgerungen, die Hartmann zieht, dürfte kaum ein sehr allgemeines werden, wenn man als Wesen derselben Forderungen erkennt, die logisch nichts Anderes bedeuten, als eine Förderung des Slavismus zum Schutze gegen das Slaventhum, und ethisch etwa auf der Höhe der That Ugolino’s stehen, der seine Kinder verzehrte, wie ein bitterer Witz bemerkt, um ihnen den Vater zu erhalten. So könnte es vielleicht als das Zweckmäßigste erscheinen, jenen Artikel Hartmann’s ruhig einem stillen Gericht der öffentlichen Meinung zu überlassen. Indessen, viele Leser sind bei der Fülle des Lesestoffes, der heutzutage bewältigt werden soll, um den Anspruch auf allgemeine Bildung zu rechtfertigen, und bei der ganzen Hast des heutigen Lebens nicht in der Lage, länger bei dem Gelesenen zu verweilen und sich über die Richtigkeit der darin enthaltenen Thatsachen und Schlüsse zu unterrichten. Zudem treten die von einem hochangesehenen Namen getragenen Aeußerungen Hartmann’s in einer so bestimmten Form und unter dem Anschein so großer logischer Präcision auf, daß doch Verwirrung durch dieselben in gar manchem echt und tief deutsch empfindenden Gemüthe zu besorgen ist. Dies mag es rechtfertigen, wenn hiermit der Versuch einer kritischen Beleuchtung jenes Artikels – so weit er auf den oben angegebenen Inhalt Bezug hat – unternommen wird.

Ueberraschung.
Originalzeichnung von Felix Schmidt.

Zunächst ist in dieser Richtung hervorzuheben, daß man an und für sich wohl erwarten müßte, daß Jemand, der zu so einschneidenden und, wie man wohl hoffen darf, ihm selbst so widerstrebenden Schlußfolgerungen über die Zukunft seiner Nation gelangt, sich mit den Thatsachen genau vertraut gemacht hat, auf die er seine Schlußfolgerungen aufgebaut hat. Doch fand Hartmann dies sichtlich nicht für nothwendig, als er seine Betrachtungen über das Schicksal der Deutschen in Oesterreich auf den Satz begründete, daß „die ehemaligen deutschen Bundesprovinzen (dieses Reiches), abgesehen von Tirol und der Sprachinsel an der Donau, überall eine slavische Majorität zeigen“.

Ein Blick in ein statistisches Handbuch hätte ihn belehren können, daß diese Behauptung nicht blos für das rein deutsche Salzburg, sondern auch für Steiermark, wo das Verhältniß der Deutschen zu den Slaven sich wie 79:38, für Kärnten, wo sich [150] dasselbe wie 24:10, ja eigentlich auch für Schlesien nicht gilt, wo es sich wie 27:28 stellt, also von einer Majorität nicht wohl gesprochen werden kann. Und diese Zahlen fallen um so mehr ins Gewicht, als die Deutschen in diesen Ländern zumeist kompakt beisammen wohnen, wodurch die Gefahr einer Entnationalisirung, wie Hartmann ja selbst fühlt, sehr vermindert wird. So sind in Steiermark 44 der 68 Gerichtsbezirke des Landes ganz von Deutschen besiedelt, wobei das Procentverhältniß der eingesprengten Slaven nur in 3 dieser Bezirke sich bis 1 erhebt. In Kärnten sind 17 von den 29 Gerichtsbezirken des Landes deutsch, und nur in einem dieser Bezirke steigt das Procentverhältniß auf 1. In Schlesien sind 15 von 27 Gerichtsbezirken deutsch. In einem dieser Bezirke finden sich 13, in einem anderen 1½ Procent, in allen übrigen aber gar keine oder nur Bruchtheile eines Procentes Slaven. Ebenso hätte sich Hartmann leicht überzeugen können, daß es ganz falsch ist, die unter einander und mit dem Deutschen Reiche zumeist in unmittelbarem geographischen Zusammenhange stehenden deutschen Bestandtheile Oesterreichs als Sprachinseln zu erklären und vollends falsch, die vorwaltend an der Elbe und Eger liegenden Wohnsitze der Deutschen Böhmens als „kompakte Sprachinsel an der Moldau“ zu bezeichnen, welch letzterer Fluß hauptsächlich durch tschechisches Sprachgebiet strömt.

Und ist etwa in jenen ehemaligen deutschen Bundesprovinzen Oesterreichs, die in der That eine slavische Majorität haben, der Untergang des Deutschthums schon besiegelt, wenn diese Majorität „zum vollen Bewußtsein ihrer Macht erwacht“?

In Böhmen stellt sich das Verhältniß der Deutschen zu den Slaven wie 20:34. Als eine zusammenhängende, stellenweise bis 13 Meilen breite Zone zieht sich das deutsche Sprachgebiet an der Grenze dieses Landes und zumeist zugleich des Deutschen Reiches von Nordosten nach Südwesten hin. In vielen Gerichtsbezirken dieses Gebietes macht die slavische Bevölkerung nicht einmal 1 Procent, in vielen anderen höchstens 3 Procent der Gesammtbevölkerung aus. Die Zahl der Deutschen in Böhmen, welche in der Diaspora leben oder in abseits von diesem Gebiete liegenden wirklichen Sprachinseln, ist verhältnißmäßig gering. Ist dies eine Lage, welche die Auszehrung des Deutschthums durch die Slaven in Böhmen selbst nur wahrscheinlich macht?

Sogar für Mähren, wo die Dinge im Ganzen ungünstiger liegen und das Verhältniß der Deutschen zu den Slaven auf 62:150 herabsinkt, muß dies verneint werden, nachdem das Deutschthum dort in allen größeren Städten und in 17 von den 75 Gerichtsbezirken des Landes stark überwiegt, und zwar in letzteren derart, daß die Slaven oft nur ein Bruchtheil eines Procentes der Bevölkerung erreichen. Weit eher könnte eine solche Wahrscheinlichkeit für Krain und Ungarn angenommen werden, wo das Deutschthum allerdings mehr inselartig verstreut ist. Indessen so leicht der Deutsche in der Diaspora in Städten seine Nationalität einbüßt, so zäh hält sie der deutsche Landmann im allgemeinen fest. Und wenn die Deutschen in Siebenbürgen, im Banate und in Gottschee ihre Nationalität durch Jahrhunderte rein erhalten haben, so darf wohl auch einige Widerstandsfähigkeit ihrerseits für die Zukunft erwartet werden, wo allerdings die politischen Verhältnisse für die Erhaltung ihrer Nationalität ungünstiger liegen dürften als bisher, dagegen aber der unschätzbare Vortheil bestehen wird, daß die modernen Mittel für den geistigen und persönlichen Verkehr auch weit aus einander liegende Theile eines Volksthumes bis zu einem gewissen Grade zu einem Ganzen verbinden und das lähmende Gefühl der Isolirung in keinem der Theile aufkommen lassen, falls die Angehörigen jenes Volksthumes allerwärts einigermaßen ihre Schuldigkeit thun.

Letzteres setzt allerdings ein wechselseitiges Gefühl der Zusammengehörigkeit voraus, das Kundgebungen, wie jene Hartmann’s, freilich bei den Deutschen nicht zu fördern vermögen. Indessen sprechen doch andere Kundgebungen wieder so deutlich für eine langsame aber stetige Ausbreitung, für ein langsames aber stetiges Erstarken dieses Gefühles in Deutschland und Oesterreich, daß man wohl die Erhaltung des Deutschthums selbst in seinen am meisten bedrohten Gebieten in Oesterreich-Ungarn hoffen darf, ohne daß sich Deutschland deßhalb in „Kriege und unhaltbare Eroberungen“ einzulassen braucht. Und wenn die Auseinandersetzungen Hartmann’s zum Theil durch die Furcht hervorgerufen sein sollten, daß die Deutschen Oesterreichs „verlangen könnten, daß Deutschland, „um das Deutschthum der Brüder im Auslande zu retten, sich in Kriege und unhaltbare Eroberungen stürzen solle“, so kann ihm die beruhigende Versicherung gegeben werden, daß kein einigermaßen klar denkender Kopf, insbesondere kein ernster Politiker unter den Deutschen Oesterreichs an ein solches Verlangen denkt. Selbst die äußersten Kolonnen des linken Flügels der deutschen Partei in Oesterreich fordern, wie ganz deutlich aus ihren Programmen hervorgeht, nichts Anderes als Sicherung des Bündnisses zwischen Deutschland und Oesterreich durch einen staatsrechtlichen, parlamentarisch sanktionirten Vertrag und Herstellung einer engeren Interessengemeinschaft zwischen beiden Reichen durch einheitliche Lösung einzelner wirthschaftlicher und anderweiter Fragen der Gesetzgebung – eine Forderung, die im Einklang steht mit dem Programm, das Fürst Bismarck selbst für die Beziehungen der beiden Reiche zu einander aufgestellt hat, und die jedem Annexionsstreben schnurstracks zuwider ist.

Und wer die Verhältnisse in Oesterreich einigermaßen kennt, wird trotz aller denunciatorischen Gegenversicherungen der Feinde des Deutschthums in diesem Reiche, unter denen die „Auchdeutschen“ nicht in letzter Reihe stehen, zugeben müssen, daß das Streben der deutschfühlenden Patrioten daselbst in dieser Frage auf nichts Anderes gerichtet ist, auf nichts Anderes gerichtet sein kann, als auf die Ausbreitung des Nationalbewußtseins unter den Volksgenosen und die allmähliche Besiegung des Widerstandes gegen die oben bezeichnete Forderung. Dieser Widerstand besteht zum Theil selbst in deutschen Kreisen noch, in denen, entsprechend dem großen Beharrungsvermögen, das den Deutschen überhaupt eigenthümlich ist, der alte anerzogene Gegensatz zu Preußen und eine menschlich gewiß entschuldbare Eifersucht auf dasselbe noch nicht allerseits erloschen ist.

Freilich müßte auch ein solches Streben als aussichtslos erscheinen, wenn man mit Hartmann annimmt, daß „die bestgemeinten Bemühungen der Patrioten nicht hinreichen werden, um in den niederen Klassen der Deutschen den Erbfehler derselben, den Mangel an nationalem Stolz gründlich zu ändern.

Dieser Annahme Hartmann’s aber stehen die Erfahrungen, die man in Oesterreich in den letzten Jahren gemacht hat, durchaus entgegen. Gerade in der „niederen“ Masse des deutschen Volkes bricht sich daselbst das deutsche Nationalbewußtsein siegreich Bahn, und wenn diese Erscheinung sich auch zunächst nur an den eigentlichen Wahlstätten des nationalen Kampfes deutlich kund giebt, wo freilich das übermüthige Treiben der nationalen Gegner noch rascher und wirksamer erzieht als die bestgemeinten Bemühungen der gebildeten deutschen Patrioten, so sprechen doch auch mancherlei Zeichen dafür, daß es in nicht allzuferner Zeit gelingen wird, auch in den deutschen Alpenländern Oesterreichs kräftigere Regungen deutschen Nationalgefühls wachzurufen, wenn die Patrioten nur beharrlich arbeiten und, was bis jetzt zumeist versäumt wurde, ihre Arbeit gerade auf die „niedere“ Masse des Volkes konzentriren. Durch „geistige, moralische und pekuniäre Unterstützung“ in dieser Arbeit aber können die Angehörigen Deutschlands unter strenger Einhaltung aller der Rücksichten, welche die politische Lage dem Geber wie dem Empfänger auferlegt, eine nationale Pflicht gegen die Deutschen Oesterreichs erfüllen ohne mit Hartmann glauben zu müssen, dadurch nur deren „Todeskampf“ zu verlängern.

Mit all Dem soll aber durchaus nicht etwa behauptet werden, daß das Deutschthum in Oesterreich nicht bedroht ist, daß es keine Verluste erlitten und keine weiteren Verluste zu gewärtigen hat. Es muß zugegeben werden, daß in Städten wie Prag und Pesth, die noch vor wenigen Jahrzehnten einen deutschen Anstrich hatten, jetzt ein nichtdeutsches Volksthum sich vorwaltend geltend macht, daß an den Sprachgrenzen da und dort ein Abbröckeln zu bemerken ist, und daß oft an und für sich unbedeutende slavische Minoritäten mitten im deutschen Sprachgebiete, die vordem kaum wahrnehmbar waren, dort einen förmlichen Krieg gegen das Deutschthum organisiren. Um sich durch solche Erscheinungen aber nicht über Gebühr in Schrecken versetzen zu lassen, darf man nicht übersehen, daß die „niedere“ Masse des Volkes in jenen Städten auch früher nicht deutsch war, und daß die Veränderung, die sich im Anstrich jener Städte vollzogen hat, zum guten Theil auf die weit größere Regsamkeit und das erhöhte Selbstbewußtsein dieser Masse zu schieben ist, sowie daß das Deutschthum in Oesterreich auf dem Wege ist, gar Manches von dem, was es an Ausbreitung verloren hat, durch schärfere Ausprägung und Vertiefung zu ersetzen. Zudem bricht sich bei den Deutschen Oesterreichs immer [151] mehr die Ueberzeugung Bahn, daß Sicherung des deutschen Sprachgebietes in diesem Reiche zunächst ihre wichtigste politische Aufgabe ist. Und stets werden sich doch auch die leitenden Kreise daselbst der Ueberzeugung nicht verschließen können, daß möglichst sorgfältige Abgrenzung der Sprachgebiete, Regelung der nationalen Verhältnisse nach Maßgabe dieser Gebiete und unter Feststellung der unvermeidlichen neutralen Punkte, sodann aber Verhängung einer Art nationalen Landfriedens behufs Hintanhaltung jeder gewaltthätigen Verrückung des status quo die einzig richtige Auslegung des Nationalitätenprincipes für Oesterreich und zugleich das einzige Mittel ist, um dauernd Ordnung in diesem Reiche zu schaffen.

Da scheinen nun freilich der Hoffnung auf eine solche Lösung der Nationalitätenfrage in Oesterreich jene Schlußfolgerungen Hartmann’s entgegen zu stehen, welche dem Sinne nach dahin gehen, daß in konstitutionellen Staaten die Majoritäten entscheiden, und daß in Oesterreich-Ungarn also, wo das Jahr 48 und die liberale Doktrin der Deutschen konstitutionelle Zustände geschaffen haben und die Slaven die Majorität bilden, jede Regelung der Verhältnisse ausgeschlossen ist, welche die Ansprüche der slavischen Majorität nicht befriedigt, das heißt nicht zur Slavisirung dieses Reiches führt. Wenn man aber schon Zukunftspolitik auf Grund eines einfachen Rechenexempels treiben will, so sollten doch wenigstens die Ziffern, mit denen man rechnet, richtig sein. Es ist jedoch unrichtig, daß die Slaven in Oesterreich-Ungarn die Majorität bilden, da nach dem Ergebnisse der letzten Volkszählung die Slaven zu den Nichtslaven in diesem Reiche sich verhalten wie 177:201.

Allerdings bilden die Nichtslaven keine homogene Masse, und manche Elemente unter ihnen, wie die Deutschen und Magyaren, stehen augenblicklich in nationalen Fragen in einem gewissen Gegensatze zu einander. Allein dieser Gegensatz ist kaum so groß, wie jener zwischen einzelnen der slavischen Nationen Oesterreichs, so zwischen den Polen und Ruthenen, und der Gedanke an eine Art von Ausgleich der nationalen Interessen innerhalb der ersteren Gruppe, behufs gemeinsamer Abwehr des slavischen Angriffes, liegt nicht gar so fern, daß er für eine Zukunftspolitik nicht mit in Betracht gezogen werden müßte. Unrichtig ist es weiter, wenn Hartmann in Ungarn nur ein magyarisches Viertel der Bevölkerung einer slavischen Mehrheit gegenüberstellt. Nach der letzten Volkszählung betragen die Magyaren im ungarischen Staatsgebiete 41,16, die Slaven dagegen nur 29,86 Procent der gesammten Bevölkerung, womit auch alle von Hartmann an die These der slavischen Majorität in Ungarn sich knüpfenden Schlußfolgerungen hinfällig werden.

Wohl sollten diese Auseinandersetzungen an und für sich genügen, um nachzuweisen, wie wenig Gewicht den niederschmetternden Darlegungen in dem fraglichen Artikel beizumessen ist. Indessen dürfte es sich empfehlen, das Gespenst des Panslavismus noch etwas näher zu betrachten, das einen so wichtigen Faktor in den Kombinationen Hartmann’s abgiebt. Es sei dabei ganz abgesehen von der Frage, ob ein übermäßig ausgedehnter, zumeist dünn bevölkerter panslavischer Staat mit seinen vielen inneren Ungleichheiten und den in Rußland jetzt schon üppig wuchernden Keimen der Zersetzung überhaupt eine furchterregende Angriffsmacht wäre; auch das Bedenken soll nur gestreift werden, daß es doch unbestimmt ist, ob der Zug zur Bildung großer Nationalstaaten, welcher der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts die Signatur gieht, dem nächsten Jahrhundert noch eigenthümlich sein wird. Aber das muß eindringlich betont werden, daß die Hindernisse, welche sich der Bildung eines großen panslavischen Nationalstaates durch Rußland entgegenstellen, nicht nur verhältnißmäßig weit größer sind, als dies bei Italien und Deutschland der Fall war, sondern an und für sich derart sind, daß die Aussicht auf den panslavischen Staat bei einer sorgfältig abwägenden politischen Berechnung nur ganz nebenbei in Betracht gezogen werden kann. Denn hier handelt es sich nicht um die Vereinigung verschiedener Stämme einer Nation, sondern um verschiedene Nationen, die nur in mühevoller und äußerst langwieriger Arbeit zu einer Einheit verschmolzen werden könnten. Nicht allein die großen Verschiedenheiten in Sprache, Schrift und Kirche zwischen den Russen und den meisten übrigen Slaven wären dabei zu überwinden, sondern auch der ausgesprochene Hang der Südslaven zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit, der alte Haß der Polen, der Kulturdünkel der Tschechen etc. Alle diese inneren Verschiedenheiten und Gegensätze sind so groß, daß eine energischere Anziehungskraft Rußlands auf die österreichischen Slaven und die Südslaven ohne eine gewaltsame Unterdrückung dieser, die ja auch ohne Umwandlung Oesterreichs in einen südwestslavischen Föderativstaat zu vermeiden ist, sich gar nicht entwickeln kann. Die einsichtigeren Slaven sind sich dessen auch gar wohl bewußt, und wenn von Slaven selbst ab und zu das Gespenst des Panslavismus heraufbeschworen wird, so mag dies bei Manchen von ihnen wohl auf einer naiven Phantasterei beruhen, den Meisten derselben aber handelt es sich dabei nur um die Vorführung eines Zweckgespenstes, dessen Wirkung sie mit schlauem Lächeln beobachten. Und glaubt denn Hartmann in der That, daß die Entstehung eines panslavischen Staates, wenn die Bedingungen hierfür so günstig lägen, wie er anzunehmen scheint, verhindert werden könnte durch Schwächung oder gar Aufsaugung der die Slaven Oesterreichs trennenden und der freien Aktion nach außen beraubenden Volkselemente und Bildung eines südwestslavischen Föderativstaates? Im besten Falle würde damit doch nichts Anderes erreicht werden, als eine Verzögerung, dann aber, nach Anschluß des slavisirten Oesterreich, durch Volksmasse und geographische Lage eine um so größere Gefährdung Deutschlands durch den neuen Staat.

Nicht unerwähnt darf schließlich bleiben, daß Hartmann in seinen zukunftspolitischen Kombinationen – in grellem Widerspruch mit den jüngsten Aeußerungen des Fürsten Bismarck über die politische Lage – mit der offenen Feindschaft Frankreichs gegen Deutschland und der versteckteren, nur des richtigen Augenblickes harrenden Gegnerschaft Rußlands gegen Deutschland und Oesterreich, sowie mit dem Indifferentismus aller übrigen Mächte Europas gegenüber den hieraus etwa entspringenden Händeln als mit für alle Zeiten gegebenen Faktoren rechnet. Wohl muß zugegeben werden, daß dies für die Politik der nächsten Zeit sehr wichtige Faktoren sind, allein wie viele solche Gegensätze gleichen sich im Lauf der Zeit aus, welche große Verschiebungen in der Stellung der einzelnen Mächte gegen einander hat Europa selbst in diesem Jahrhundert schon erlebt! Und wenn Hartmann den Panslavismus in Rechnung zieht, wer hindert dann Andere, ein Gleiches mit dem Pangermanismus zu thun? 105 Millionen Angehörige der germanischen Völkergruppe in Europa gegen 94 der slavischen! Oder, das hochkultivirte Westeuropa gegen das minder kultivirte Osteuropa! Heißt dies Alles nicht, sich in spekulative Spielereien verlieren?

Wer zu weit denken will, denkt oft zu kurz, und so fehlerhaft die Politik ist, die nur das Heute in Betracht zieht, so ist doch jene noch fehlerhafter, die über dem Ausblicke in eine nebelhafte Zukunft die Forderungen der Gegenwart vergißt. Und für ein Volk, das eben noch so Großes vollbracht, so Langersehntes erreicht hat, gehört unter diesen Forderungen die Wahrung der nationalen Ehre gewiß nicht in die letzte Reihe. Wie wenig es sich aber mit dieser vertrüge, wenn man in Deutschland sich anschickte, aus engherziger und noch dazu unbegründeter Furcht, aus kleinlichem und noch dazu falsch berathenem Egoismus die Stimme des Herzens zu ersticken und den Untergang von 10 Millionen von Brüdern als ein der eigenen Sicherheit gebrachtes Opfer zu fördern, um das „in ihnen gemordete Deutschthum“ durch ungestörten Vollzug der Germanisation der denn Deutschen Reiche zugehörenden Polen, Dänen und Franzosen „verjüngt wieder auferstehen“ lassen zu können, bedarf wohl einer weiteren Auseinandersetzung nicht.

Treu der Pflicht, aber auch treu dem Herzen, das ist der Standpunkt, den die nationalfühlenden Deutschen Oesterreichs seit der Auflösung des früheren, alle Deutschen umschlingenden politischen Verbandes den deutschen Angelegenheiten gegenüber eingenommen haben. Von diesem Standpunkte aus haben sie mit hingebungsvoller Theilnahme die Ereignisse des Jahres 1870 verfolgt und dieser Theilnahme jeden statthaften Ausdruck gegeben, und dem entsprechend wird auch in Zukunft alles in ihrem Herzen nachklingen, was den Brüdern in Deutschland das wechselnde Verhängniß bringt. Den Glauben daran, daß ein ähnliches Empfinden in den Herzen der Angehörigen des Deutschen Reiches lebt, wird auch die jüngste Kundgebung Hartmann’s nicht zu erschüttern vermögen.




[152]
Ungleiche Kameraden.
Von H. Villinger. 0Mit Originalzeichnungen von Fritz Bergen.


Da wo die Stadt nach der östlichen Richtung hin aufhört, am schwarzen Gitterthor des Kirchhofes, saß seit Menschengedenken ein Hökerweib und verkaufte seine Waare, welche in Aepfeln, Eiern und Käse bestand. Wenn die Alte so regungslos, das Haupt gegen das Gitter gelehnt, da saß, machte sie den Eindruck eines niederländischen Bildes. Daran war der dunkelrothe Kattunmantel schuld, aus dessen breitausgeschlagener Kapuze ein faltiges Gesicht, blaue Augen und schneeweißes Haar sich scharf abhoben. Sie zählte achtzig Jahre, hatte immer am Kirchhof gesessen, und die Poesie ihres Lebens waren Leichenbegängnisse. All ihre Thränen, Seufzer und Gebete galten den Todten, die in ihrer Lade still an ihr vorüberzogen. Die Armseligkeit, welche ohne Blumen und Begleitung daherkam, griff ihr ins Herz, und sie weinte aus Mitgefühl; über ein reiches Leichenbegängniß zerfloß sie in Thränen der Bewunderung; wenn ihr aber gar der Wind einen Grabgesang zutrug, über ihr die alten Zitterpappeln rauschten und die Abend- oder Mittagssonne ihr warm auf das Haupt schien, dann war die Alte im siebenten Himmel. Jedoch nicht oft verewigte sich all dies zu ihrem Behagen; es starben mehr Arme als Reiche, und weit übers halbe Jahr hinaus blies ihr der Wind um die Ohren, und Regen und Schnee klatschten auf ihren großen blauen Schirm. Da nun aber Alles, was dies alte Herz zu empfinden vermochte, denen jenseit des Kirchhofthores galt, so blieb natürlicher Weise für die Lebendigen diesseit des Thores wenig oder gar nichts übrig. Die Klagen der armen Weiber über die theuern Eier rührten die Alte ebenso wenig, als das Murren der Männer über den Preis der Käse. Hungrigen Kinderaugen begegnete ihr Blick mit der vollkommensten Empfindungslosigkeit - denn Armuth, Hunger und Kälte waren ihr so natürliche Dinge, daß ihr dabei nichts weiter einfiel. Indem sie nie von dem einmal bestimmten Preis herunter ging, kam es ihr auch nicht in den Sinn, wohlhabend aussehende Leute zu übertheuern, wenn solche bei ihr anhielten, um etwas Obst zu kaufen. Sie war gerecht, die Alte – sowohl im Geschäft als in ihren Reden.

„Du, gib mir einen Apfel!“

In der ganzen Gasse gab’s Keinen, der hätte behaupten können, die Frau habe ein freundliches Wort an ihn verloren, damit sie seine Kundschaft erhalte. Im Gegentheil, wenn Einer sich einmal eine Bemerkung erlaubte wie: „Heut’ sind sie aber klein gerathen die Käschen“ – so erwiderte sie kurz: „Geht in den Laden und laßt sie Euch an der Elle abmessen.“

An einem schönen Herbstmorgen, die Alte saß schon auf ihrem Platze, erschien auf der Treppe eines alten Hauses gegeuüber ein kleiner, kaum fünfjähriger Bursche und schaute sich ernsthaft in der Welt um; er hielt einen langen Eisenhaken in der Hand, auf dem Rücken hing ihm ein Blechkessel. Die Blicke des Buben und der Hökerin begegneten sich – sie hätten können die Betrachtung anstellen, daß man nicht leicht älter und wohl kaum jünger sein konnte, um sein tägliches Brot zu verdienen – aber dergleichen fiel ihnen nicht ein. Der Bube setzte seine krummen, mit alten Lappen umwickelten Beinchen in Bewegung, die ihn schnurstracks vor den Aepfelkorb beförderten. „Du,“ sagte er, „gieb mir einen Apfel.“

„Gott bewahre,“ entgegnete die Frau, und nach einer düstern Pause wandte sich der Knabe zum Gehen und nahm seine Beschäftigung auf; er sammelte den Abfall der Gasse.

Im Laufe des Nachmittags kam er etwas müde unter der Last des gefüllten Kessels die Gasse einher gewackelt. Wieder zogen ihn die lachenden Aepfel unwiderstehlich in ihre Nähe. Er schaute sie lange an, endlich sagte er zu der alten Frau, die ihn scharf beobachtete. „Du, ich geb’ Dir gleich was aus meinem Kessel - wenn Du magst.“

„Und ich geb’ Dir auch gleich was,“ meinte sie mit einer bezeichnenden Handbewegung, „pfui Teufel – fort mit Deinem Lumpenzeug!“

Betrübt schlich er davon.

Am andern Morgen stand er schon wieder da; ein Leichenzug ging eben vorbei, und die Alte weinte. Der Bube wartete den geeigneten Moment ab und fragte dann:

„Du, giebst Du mir einen Apfel, wenn ich todt bin?“

„Wer todt ist, braucht keinen Apfel mehr,“ entgegnete die Alte.

„Aber ich,“ behauptete er.

„Ist das ein Bengel,“ fuhr sie auf, „nicht einmal seine Leich’ kann man mit Ruh’ betrachten – mach’ Dich fort – sag’ ich!“

[153] Das nächste Mal blieb der Bube vor dem neugefüllten Eierkorb stehen. „Wo sind denn die alle her?“ fragte er, und als ihm keine Antwort wurde, gab er sich selber eine. „O, ich weiß – vom Huhn – es ist sehr schön von einem Huhn, so gute Eier zu legen.“

„Nun, dafür ist’s halt ein Huhn,“ brummte die Alte.

Nach einer Pause tiefen Besinnens erklärte der Junge: „Ich könnt’s nicht, und wenn ich auch ein Huhn wär’.“

Aber auch diese Worte, in denen gewiß eine große Anerkennung ihrer Waare lag, vermochten die Alte nicht zu rühren.

Ein anderes Mal berichtete er voll Eifers: „Du, dort an der Ecke der Gasse steht eine Frau, die ruft Dir schon lange, Du sollst hinkommen.“

„Geh’ hin und sag’ ihr, sie soll herkommen,“ erwiderte die Hökerin, und der kleine Lügner ging und kehrte nicht wieder.

Als einstmals eine feine schwarzgekleidete Dame an dem Hökerweibe und dem Kleinen vorüberging, blies die Alte gar gewaltig die Backen auf. „Puh,“ sagte sie, „das ist eine Noble, die sieht Unsereins gar nicht, aber wir kommen Alle auf denselben Friedhof, das ist immer meine Freud’.“

„Ist sie Eine, die nicht arbeitet?“ fragte der Kleine, „die kriegen vom Sankt Nikolaus hinten drauf.“

„Du meine Güte,“ unterbrach ihn die Frau, „wenn Einer auch so gar nichts von der Welt weiß – seit wann arbeiten denn die reichen Leut’? Dummer Bub!“

Der hielt jedoch an seiner Ansicht fest. „Der Vater sagt: Arbeiten oder Ohrfeigen – ja wohl!“

„Hör’ auf zu reden,“ schrie die Alte, „Du bist ein Esel!“

Der Bube besann sich einen Augenblick, alsdann erklärte er: „Meinetwegen – aber giebst Du mir jetzt einen Apfel?“

Die Hökerin griff nach dem Seil, mit dem sie ihre Körbe zu umwinden pflegte, und der Kleine verstand die Gebärde und trollte sich.

„Sie lauschte auf die Athemzüge des Kindes (S. 154).

Er ging ins Haus, kletterte auf allen Vieren die steile Treppe hinauf und trat in die niedrige Dachkammer, die nie verschlossen war. Da drin stand ein Bett, ein Tisch und ein paar Stühle; der Fußboden starrte vor Schmutz, ebenso die Fensterscheiben, die deßhalb nur ein gedämpftes Licht einließen. Ein paar Kleider lagen und hingen herum; frische Luft schien seit Wochen nicht in den Raum gekommen zu sein. Hier war der kleine Lumpensammler aufgewachsen; ganz verlassen von klein auf, lag er fast immer im Bett, bis der Vater heimkam und sein Mittagsbrot mit ihm theilte. Der Mann nahm den Kleinen dann vor sich auf den Tisch, aß sein Brot und Käs und schob von Zeit zu Zeit dem Kind einen Bissen in den Mund. Am Sonntag seifte und wusch er es tüchtig und nahm’s mit ins Bierhaus.

Jetzt zählte der Bube fünf Jahr, und der Vater fand es an der Zeit ihm das Nichtsthun abzugewöhnen. Wenn er des Abends von der Arbeit heimkam – er war Laternenputzer – fiel sein erster Blick auf den kleinen Kessel. Fand er ihn gefüllt, war’s gut, war es jedoch nicht der Fall, so erhielt der Bube seine Strafe mit den Worten: „Arbeiten oder Ohrfeigen!“ – Und das war die einzige Weltweisheit, die der kleine Geselle bislang begriffen, und an der er auch festhielt.

Obwohl sich nun die Hökerin jedesmal ärgerte, so oft er sich vor ihre Körbe pflanzte, so geschah es doch, daß sie plötzlich anfing die Gasse entlang zu blicken, wenn der Bube einmal länger ausblieb als gewöhnlich. Kam er, so war sie neugierig auf seine neuesten Anschläge, die alle darauf hinausliefen, einen Apfel zu haben. Aber ihre Widerstandskraft war eben so groß wie seine Sehnsucht, und so übten sie gegenseitig ihren Witz mit löblicher Ausdauer.

Die gelben Blätter über dem alten Kirchhofthore hatten sich allgemach zu den Füßen der Hökerin versammelt; sie zog ihren Mantel fester um sich, je kahler die Aeste jenseit des Thores zum Himmel ragten. Jetzt krachten die Räder des Todtenwagens über dem frischen Schnee, und nur die dunklen Lebensbäume ragten noch über die weißen Gräberreihen. Ging die Sonne unter, so leuchtete es feuerfarben durch die kahlen Aeste, und die Hökerin in ihrem rothen Mantel lehnte ein paar Minuten lang wie vergoldet unter dem schwarzen schneebestäubten Thore. An einem solchen kalten Abend hatte die Alte ihren blechernen Topf auf das glimmende Kohlenbecken gesetzt und erwärmte sich von Zeit zu Zeit den Magen mit einem Schluck heißen Kaffees. Der kalte Mond stand am Himmel, die Sterne blinkten, von fern ertönte das Geklingel der Schlitten und Wagen, Alles, was kam und ging, übereilte und überstürzte sich, um die erstarrten Glieder zu erwärmen. Die Hökerin erhob sich manchmal und blickte die Gasse entlang; er war noch immer nicht zu sehen. Kopfschüttelnd trank sie ihren Kaffee, und da er ihr heute gar nicht den gewohnten Genuß gewährte, fing sie an zu schelten. „Der Bengel – hol’ ihn der Deufel – treibt sich da im Schnee herum – unnützes Volk, die Kinder – sollten gleich groß auf die Welt kommen.“ Wieder erhob sie sich – richtig, da kam es durch [154] den Schnee gewankt, eine kleine krummbeinige, vornübergebeugte Gestalt.

„Wenn ich nicht zu faul zum Aufstehen wär, ich wollt’ Dir Beine machen,“ brummte die Alte und verwandte keinen Blick von dem Buben.

Er schien aber heute alle Lust zur abendlichen Unterhaltung verloren zu haben; zitternd erstieg er die paar Stufen, um in das Haus zu gehen, aber als er an der Klinke drückte, fand er die Thür verschlossen.

„Richtig,“ sagte die Alte, „die Hausleute sind ja zu einer Hochzeit, da haben sie abgeschlossen und an das Kind hat Niemand gedacht.

Der Bube stellte seinen Kessel sammt Haken vor die Thür und setzte sich auf die Schwelle. Da saß er einen Augenblick wie rathlos, dann erhob er sich plötzlich und lief zur Hökerin hinüber, heulend, ihr die blaugefrorenen Fingerchen entgegenstreckend.

„Ja,“ nickte sie, „das geschieht Dir schon recht – meinst, ’s giebt einen Apfel – Ohrfeigen giebt’s, aber keinen Apfel.“ Dabei hielt sie ihm die Kaffeeschüssel hin, und er trank mit vollen Zügen, die Augen ängstlich auf die Alte gerichtet, welche immer zu schelten fortfuhr.

Plötzlich, sie wußte selbst nicht wie’s zugegangen war, hatte sie den erfrorenen Buben auf dem Schoß, sie schlug den weiten Mantel um ihn und immer weiter scheltend, hielt sie ihn so fest an sich gepreßt. Bald hörte sie an dem ruhigen, tiefen Athem des Kindes, daß es eingeschlafen war, und sie schwieg und rührte sich nicht mehr. An dem Herzen dieser Achtzigjährigen hatte nie ein menschliches Wesen geruht, weder Liebe, noch Wohlwollen, noch Mitleid hatten diese starren Arme zu öffnen vermocht. Denn sie war immer brummig gewesen und nur für ihren Vortheil interessirt, der erschien ihr stets zweifelhaft, so oft ein Mann dabei im Spiel war. Jetzt ging von dem jungen Leben da eine wohlthuende Wärme auf sie über; sie lauschte auf die Athemzüge des Kindes, dessen Haupt unter ihrem Kinn ruhte, sie wiegte es sachte, und es fiel ihr ein Lied ein, das sie in der Schule gelernt – sie begann es zu singen, völlig stimmlos, mit zischenden Tönen.

Als der Laternenputzer heimkam, rief sie ihn zu sich.

„Da habt Ihr auch Euern Buben,“ sagte sie in ihrer allerbrummigsten Weise, „hab’ ihn Euch zum letzten Mal gehütet – bedank mich –“ und sie legte dem Mann das schlaftrunkene Kind in die Arme. Hierauf fuhr sie über eine Stunde später als gewöhnlich mit ihren Körben nach Hause.

Am andern Morgen trat der kleine Mann zur gewohnten Stunde aus dem Hause, um seinem Beruf nachzugehen. Den Blicken der alten Frau drüben begegnend, blieb er stehen, setzte sich wieder auf die Schwelle und schaute, wie sich besinnend, ernsthaft zu ihr hinüber. Dunkel erinnerte er sich an das Wohlbehagen, das er am vergangenen Abend empfunden. Er war ohne Mutter aufgewachsen und wußte nichts von der liebenden Sorgfalt, nichts von dem zarten Berühren einer treuen Mutterhand. War ihm eine Ahnung davon geworden am Herzen der alten Frau?

Plötzlich stand er auf seinem alten Platz vor dem Korbe rothleuchtender Aepfel, aber er schaute über diese hinweg der Alten ins Antlitz und sagte – diesmal ohne jede Nebenabsicht: „Du, ich heirath’ Dich.“

Sie mußte lachen – zum ersten Mal mußte sie über den kleinen Kerl lachen, und ohne sich zu besinnen, reichte sie ihm den schönsten Apfel im ganzen Korbe hin. Es war aber auch der einzige Heirathsantrag ihres Lebens gewesen.




Im Lande des Machdi.
Von Heinrich Brugsch.

In Folge der unerwarteten Reise unseres hochgeschätzten Mitarbeiters Heinrich Brugsch-Pascha nach Persien, die er als Mitglied der deutschen Gesandschaft bekanntlich im vorigen Jahre angetreten hatte, mußte leider die Fortsetzung seiner im Jahrgang 1884 der „Gartenlaube“ (Seite 510) begonnenen Artikelserie „Bilder aus Oberägypten“ unterbrochen werden. In einem uns noch vor seiner Abreise von Brugsch-Pascha eingesandten Manuskript findet sich die nachfolgende Schilderung jener Gegenden, durch welche die englische Expedition unter General Wolseley unter schweren Kämpfen die vielgenannten Wüstenmärsche ausführen mußte, und zugleich eine Beleuchtung der sudanesischen Wirren, die wir unsern Lesern nicht vorenthalten möchten. Der inzwischen erfolgte Fall Khartums und das Eingreifen der englischen Truppen unter Wolseley haben die vor mehr als einem halben Jahre niedergeschriebenen, durchaus zutreffenden Ausführungen des berühmten Orientforschers nur bestätigt.

*      *      *

Nilaufwärts bis nach Khartum bewohnen die Stämme der sogenannten Barabra die schmale Rinne des Nilthales, eine öde trostlose Heimath, durch welche der Nil von Wassersturz zu Wassersturz sich in seinem Felsenbett hindurchdrängt. Armselige Dörfer und traurige Ansiedelungen zwischen Palmengebüsch und Dornakazien dienen der halbnackten Bevölkerung als Wohnorte, welche die Reisenden nur da zu betreten pflegen, wo die Ruinen von Tempeln einen kurzen Halt auf der Auffahrt bis zum zweiten Katarakt gebieten. Die Dörfer Korusko und Wadi-Halfa, in welchen sich zugleich die Sitze ägyptischer Behörden befinden, bilden gleichsam die Hauptstädte der heutigen nubischen Landschaft. Die Barabra, oder wie man sie richtiger bezeichnen sollte, die Nubavölker, reden ihre eigene Sprache, deren Stämme sich bis zu den Bergen südlich von Kordofan verfolgen lassen.

Die daselbst ansässigen Nubastämme zeigen den Negertypus in seinen markantesten Zügen: wolliges krauses Haar, aufgeworfene dicke Lippen und die bekannte platte, kleine Negernase. Obgleich die an den Nilufern seßhafte Bevölkerung der Barabra jede Verwandtschaft mit ihren Vettern in Kordofan entschieden in Abrede stellt und in der vergangenen Zeit des Sklavenhandels keinen Anstand fand, an den Sklavenjagden auf dieselben einen regen Antheil zu nehmen, so steht dennoch die Stammverwandtschaft [155] beider außer Zweifel. Die heutigen Barabra (vom Singular Berberi, woher der geläufigere Name der Berberiner im Munde der in Aegypten lebenden Europäer) sind degenerirte Neger, deren Typus sich im Laufe von Jahrtausenden durch die Berührung mit echt ägyptischen, semitischen und kuschitischen Elementen allmählich verändert und jene kaum noch die Negerabstammung verrathende Eigenthümlichkeit angenommen hat, unter welcher sie heute die Blicke des Reisenden auf sich ziehen. Von schlankem Wuchse, regelmäßiger, oft schöner Gesichtsbildung und dunkelbrauner Hautfarbe, wenn auch von mäßiger Intelligenz, scheinen sie der Negerrasse fern zu stehen, und dennoch bilden sie ein wichtiges Glied der afrikanischen Urbevölkerung, deren Heimath von jeher die Nillandschaft im Süden des altägyptischen Reiches gewesen ist.

In der Mitte des dritten Jahrtausends vor dem Anfange unserer Zeitrechnung durch seefahrende rothfarbige Kuschiten bedrängt, welche an den nubischen Küsten des Rothen Meeres landeten, durch die Wüstenthäler westwärts bis zum Nile vorrückten und im Kampfe mit der schwarzen und braunen Ureinwohnerschaft eine neue Heimath zu erobern suchten, fielen die Neger der in Kultur und Sitte höher stehenden kuschitichen Rasse zum Opfer und ein kuschitischer Staat gründete sich an den Ufern des Niles inmitten der alten Negerheimath. Das weltberühmte Meroë wurde im Laufe der Zeiten der Mittelpunkt der kuschitischen Bevölkerung, der eigentlicheu Aethiopen, wie sie die Griechen von Homer an zu bezeichnen pflegten.

Die heutigen Berberiner, um diese bekannte Bezeichnung beizubehalten, fühlen sich, vor allem in ihrer Eigenschaft als Muslimin, wie die nächsten Stammverwandten der Aegypter. Schon in früher Jugend verlassen sie ihre armselige Heimath, um sich im Unterlande des Nilthales, besonders in Alexandrien und Kairo, als Diener (chadam), Vorläufer (Saïs) und Thorhüter (Bowab) zu verdingen und für die Zukunft einen Spargroschen anzulegen. Sie gehen gern nach ihrem Geburtsdorfe zurück, um einen eigenen Hausstand zu gründen und am knarrenden Wasserrade die schönen Tage ihrer Jugend unter den Aegyptern zu vergessen. Leider haben die letzten Jahre den Beweis geliefert, daß der Umgang mit den zuströmenden europäische Elementen und die überreiche Bezahlung ihrer Dienstleistungen aus den nüchternen, fleißigen, ehrlichen und treuergebenen Berberinern das gerade Gegentheil geschaffen und daß der Fanatismus sie zu den entschiedensten Feinden der Europäer gestempelt hat.

Man wird sich der Gräuelthaten erinnern, welche von den Berberinern während des letzten Aufstandes in Alexandrien und längs der Eisenbahnstraßen, die von den Küsten des Mittelmeeres durch das Herz des Deltalandes nach Kairo führen, gegen die Christen und Juden ohne Unterschied der Nation ausgeübt worden sind. Ich selber war bei meinem letzten Aufenthalte in der Chalifenstadt nicht mehr im Stande, meine langjährigen berberinischen Diener im Hause zu dulden. Ihr verhaltener Ingrimm und ihre Widerspenstigkeit trat bei jeder Gelegenheit zu Tage, und meine europäischen Freunde klagten ohne Ausnahme über eine ähnliche Veränderung im Charakter ihrer Berberiner in Folge der letzten Ereignisse. Andererseits muß zugestanden werden, daß die Aegypter in den Zeiten des Aufstandes unter Arabi Pascha unseligen Angedenkens die Berberiner mit Verachtung behandelten und von solchen Patrioten wenig wissen wollten. Die kommenden Ereignisse werden die Beweise liefern, daß die Berberiner ihre Rache zu nehmen nicht unterlassen werden. Sollte es den Schaaren des Machdi gelingen, ihren Lauf nach der ägyptischen Südgrenze über Wadi-Halfa und Korusko (den Endpunkt der Karawanenstraße quer durch die Wüste von Abu Hammed aus) unbehindert fortzusetzen, so werden die Berberiner die Ersten sein, welche sich ihnen anschließen, um den Aegyptern und Europäern ihren vollen Haß fühlen zu lassen. Sie waren von jeher berüchtigte Sklavenjäger, die jahraus jahrein mit den arabischen Sklavenhändlern in das Herz von Afrika zogen, die Dörfer und Ansiedelungen der Neger überfielen, raubten, plünderten und mordeten und ihre lebendige Beute hinter Palisaden-Verschanzungen von Seriba zu Seriba vertheidigten.

In der Grenzstadt Assuan hat der Reisende oftmals Gelegenheit eigenthümliche Völkertypen zu sehen, deren Erscheinung geeignet ist, eine ganz besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Bronzefarbige Menschen von mittlerer Größe, von männlich schönen Gesichtszügen, den Kopf von einem wunderlichen Haaraufputz überragt, die Augen dunkelschwarz, die Zähne von blendender Weiße, Hände und Füße von zierlicher Kleinheit, nur mit einem Schurze von Baumwollenstoff bekleidet, mit Rundschild, Lanze und breitem Schwerte mit Kreuzgriff bewaffnet, erscheinen nicht selten auf dem Markte und auf den Plätzen am Nilufer der Stadt in Begleitung leicht gebauter, hellfarbiger Dromedare, um ihre eigene Neugierde zu befriedigen und für Andere einen entsprechenden Gegenstand der Neugierde zu bilden. Es sind die Bewohner der Wüste zwischen dem rechten Nilufer und der Küste des Rothen Meeres, welche vom Breitengrade der Stadt Kenneh an bis nach Abessinien hin die wilden Gebirgsthäler bewohnen, den Karawanenverkehr vermitteln und in einigen Oasen mit Brunnen ihre Zeltwohnaugen aufgeschlagen haben.

Berühmte Kameelzüchter, ziehen sie neben dem Karawanengeschäfte ihre Haupteinnahme aus dem Verkaufe ihrer Thiere. Sie sind die Nachkommen jener rothfarbigen Kuschiten, von denen ich bereits oben gesprochen habe. Ihre Sprache ist keine Negersprache, sondern eine kuschitische, das sogenannte Bedja, und die Hauptzweige ihrer Stämme, in der Richtung von Norden nach Süden, die Ababdeh, die Bischari und die Hadendoa.

Dieselben Namen haben in letzter Zeit eine bedeutsame Rolle gespielt. Als die Engländer von Suakin aus ihre wohlgeschulten Heeresmassen den Schaaren des berüchtigten Osman Digma entgegenschickten und blutige Lorbeeren auf dem ungewohnten Kriegsschauplatze einernteten, gehörten die Bedjavölker, mit deren Schilderung ich mich soeben beschäftigt habe, zu den erbittertsten Feinden der Engländer.

An ein unstätes fahrendes Leben gewöhnt, leicht erregbar und mißtrauisch gegen alles Fremde, lieben sie den Kampf und fürchten den Tod nicht. Dem Namen nach mohammedanisch, beruht ihr Glaube auf sehr allgemeinen Vorstellungen über Gott und den Propheten, aber Neid und Haß gegen alle Kulturvölker und die Befürchtung, ihrer ungebundenen Freiheit beraubt zu werden, schürte die helle Flamme des Fanatismus an, der in dem Glauben an die Unfehlbarkeit des von Gott gesandten Machdi, an den Befreier des Islam und den Ueberwinder der Ungläubigen, seinen Höhepunkt erreichte. Man erinnert sich noch, mit welcher Todesverachtung jene wilden Söhne der Wüste ihre nackte Brust den britischen Bajonetten und Kanonen entgegenstellten, wie sie tollkühn mit Lanze und Schwert auf die formirten Karrés losstürmten und selbst die englische Taktik in bedenkliche Verwirrung brachten.

Es ist auch nicht unwahrscheinlich, daß der falsche Prophet mit Hilfe dieser Stämme sein Ziel erreichen wird: die vollständige Unabhängigkeit des Sudan von ägyptischer und englischer Oberhoheit, die Anerkennung seiner Autorität und die Freigebung des Sklavenhandels. Wird aber dieses erreicht, so hat die christliche Mission auf der nordöstlichen Seite Afrikas den Todesstoß erlitten und der Islam einen Triumph gefeiert, dessen Folgen unabsehbar sind. Welcher Forschungsreisende, welcher Diener der Kirche, welcher Kaufmann christlichen Glaubens würde es fortan wagen, nilaufwärts zu ziehen, um in den Herd eines Fanatismus einzudringen, aus dem kein Rückzug mehr offeu steht? Schon im Nilthale sind die Europäern ohne Unterschied ihrer Abstammung und ihres Glaubens, keine beliebten Gäste mehr, und nur die Furcht vor der Uebermacht der europäischen Waffen verschafft der Strenge polizeilicher Maßregeln noch einige Achtung. Jenseit Wadi-Halfa hat bereits diese Furcht ihr Ende erreicht und man spottet der europäische Ueberlegeheit. Terrainverhältnisse, Wasserarmuth und ein dem europäischen Soldaten mörderisches Klima sind die Haupthindernisse für jede militärische Expedition, und um das Blut der gefallenen Opfer von den Händen zu waschen, dazu dürften für denn unbesonnene Urheber einer solchen die Wasser des Nilstromes nicht ausreichen. Der englischen Politik ist es gelungen, die alten Handelswege nach dem ägyptischen Sudan von der Nord- und Ostseite her durch Waffengewalt zu versperren. Den friedlichen Unterhandlungen mit den Negervölkern längs des Kongogebietes wird es gelingen, den Verlust wett zu machen und einen neuen Weg, von Westen her, in die reiche Landschaft des äquatorialen dunklen Welttheiles zu bahnen. Damit wird die alte Nilstraße ihre Bedeutung als Handelsstraße eingebüßt haben und nur der Reisende sich bewogen fühlen, das oberägyptische Land zu besuchen, um die Werke der Vorzeit zu bewundern oder von dem milden winterlichen Klima Heilung seiner körperlichen Leiden zu erwarten.




[156]
Blätter und Blüthen.


Der Kampf ums Dasein. (Mit Illustration S. 145.) Aus dem Scherz wird Ernst und aus dem Spiele Kampf. Wie oft haben wir Gelegenheit, dieser Wandlung der Dinge im kindlichen Leben zu begegnen! Auch die Helden des Miniaturkampfes, der sich hier neben dem Hökerstande abspielt, machen von diesem Privileg der Kindheit und Jugend den ausgiebigsten Gebrauch. Anfangs schnüffelten und zupften gar leise die vierbeinigen Witzbolde an den Zipfeln des Kinderbettchens und prallten wohl ein wenig zurück, als der Muntergewordene sich zu regen begann.

Bald aber gingen sie zum Angriffe über und stehen schon im Begriff, dem Säuglinge das Nothwendigste zu rauben. Das Bettchen ist aufgedeckt, und nun wird auch die Windel fortgezerrt und sogar der süße Zulp mit Gewalt annektirt. Was hilft da das unzweckmäßige Strampeln mit den Beinchen? Die Uebermacht ist zu groß, und selbst aus dem benachbarten Korbe droht eine Verstärkung den Angreifern zu erwachsen. Hilflos auf dem Straßenpflaster zu liegen, das ist für den Säugling das voraussichtliche Resultat des muthwilligen Treibens, welches in einen regelrechten Kampf ums Dasein ausartet. Aber die Natur hat auch dem hilflosen Menschenkinde eine Waffe verliehen, von der es nun rechtzeitig Gebrauch macht. Das Gesichtchen zieht sich in Fältchen zusammen, und ein jammernder Schrei tönt aus dem Kinderwagen. Das Herz der Mietzekatze, der gleichgültigen Zuschauerin dort oben auf der Tone, rührt er freilich nicht, aber die nicht weit entfernte Mutter vernimmt wohl den Nothruf. Bald regnet es Prügel auf die muthwillige Angreiferschar, und der Kampf hat ein Ende.


Falsches Haar. Die Haarkünstler von Marseille, die jährlich 25000 falsche Haarkoiffuren für Damen und etliche tausend Perücken für Herren anfertigen, wurden in den letzten Monaten bitter enttäuscht. Die mit Sehnsucht erwarteten Schiffe aus China liefen zwar pünktlich ein, aber ohne eine Ladung, die sie sonst regelmäßig mitbrachten, ohne chinesisches Haar. Es ist wohl eine bekannte Thatsache, daß das civilisirte Europa von den Chinesen Zöpfe kauft und daß unsre Nachbarn jenseit der Vogesen zu den fleißigsten Vermittlern in diesem eigenartigen Handel zählen. Sind doch im Jahre 1882 nicht weniger als 70758 Kilogramm und im Jahre 1883 sogar 124715 Kilogramm chinesischer Haare nach Frankreich importirt worden.

Der Krieg mit China scheint jetzt diesen Handel lahm gelegt zu haben, und der Ausfall dieser Waare wird sehr schmerzlich fühlbar werden, denn Europa kann den Bedarf seiner Glatzköpfe allein nicht decken, und überdies liefern die Chinesinnen das billigste Haar, das mit mit 10 bis 12 Franken für das Kilogramm bezahlt wird. Es ist zwar nicht so schön wie das Haar aus dem Norden Frankreichs, das für das schönste unter allem Haar der Welt ausgegeben wird, aber das letztere ist auch nur für die vornehmsten Damen bestimmt, denn ein 80 Centimeter langer Zopf einer bretonischen oder normandischen Schönen wird mit 1000 Franken bezahlt, und fast unglaublich ist der Preis für ein Kilogramm schneeweißer Zöpfe jener Provinzen, der sich nach einer in „Science et Nature“ veröffentlichten Mittheilung auf rund 25000 Franken belaufen soll. Die Engländer und die Deutschen, deren Haar mit dem französischen konkurriren kann, behalten ihre Zöpfe zum größten Theil im Lande, und so richtet sich die Hoffnung der französischen Haarkünstler auf Italien, welches schon in den letzten Jahren nach Marseille durchschnittlich 22000 Kilogramm dieser seltenen Waare exportirt hatte. i.     


„Die Ameisen sind da!“ Dieser Ruf wird bei uns höchstens von dem berechtigten Aerger der Hausfrau begleitet, die einen Ueberfall ihrer Speisekammer durch die ungeladenen Gäste entdeckt hat. Anders ist es in Westafrika, wo die harmlosen Worte im Hause eine förmliche Panik erzeugen. Im Urwalde haust dort die Wanderameise (Ponera), deren Züge, oft nach Millionen zählend, durch das Land streichen. Kleinere Thiere, die in einen solchen Ameisenzug gerathen, sind rettungslos verloren, und selbst der Mensch hütet sich, ihm in den Weg zu treten, da er sonst augenblicklich durch wüthende Bisse von Hunderten der Gestörten gestraft wird.

So zieht, wie Dr. A. Reichenow in seiner Schrift „Die deutsche Kolonie Kamerun“ berichtet, die Schar unaufhaltsam, ruhelos durch das Land, Tod und Verderben bringend, öde Schlachtfelder hinter sich lassend. Auch die Ortschaften der Eingeborenen werden von den Ameisen nicht verschont, und eiligst müssen Menschen und Thiere aus der Hütte fliehen, sobald die ersten dieser kleinen schwarzen Unholde sich sehen lassen. Dr. Reichenow selbst erlebte einen solchen Ueberfall einer Missionsstation. Auf den Ruf eines der schwarzen Diener: „Die Ameisen sind da!“, der mitten in der Nacht sich hören ließ, war Alles sogleich auf den Beinen und suchte zu retten, was an genießbaren Gegenständen zur Hand lag. Der größte Theil der Speisekammer fiel jedoch den Räubern zum Opfer und wurde in wenigen Stunden verzehrt.


Auflösung des redenden Parkettbodens in Nr. 8: Die Buchstaben benennen die neben resp. über ihnen liegenden Randfelder und somit auch die – in der Schraffirung entsprechenden – übrigen Fleder des Parkettbodens, sodaß nach Einsetzung der bezüglichen Buchstaben in die einzelnen Felder zu lesen ist: „Gesegnet sei dein Eingang und Ausgang“.



Kleiner Briefkasten.

Uarda. Wir sind bereit, Ihnen die gewünschte Auskunft direkt brieflich zu geben, wenn Sie uns Ihre Adresse mittheilen wollen. Zur Mittheilung von Adressen in unserem Blatte können wir uns nicht entschließen.

C. W. Ortschaften mit dem Namen Schaffhausen finden Sie noch in Elsaß-Lothringen, in der Rheinprovinz und in Bayern. Schafhausen zählt man in Württember, Bayern, Hessen und Preußen 13.

L. B. in St. Unsinn.

M. N. in Thorn, M. H. in Wien. Ein langjähriger Abonnent in Bremen. P. B. stud., A. M. in Hildesheim. Anonyme Anfragen werden grundsätzlich nicht beantwortet.

H. B. in B., Änton B., H. O, A. v. B. Nicht geeignet.



Unseren neu eingetretenen Abonnenten

theilen wir hierdurch mit, daß sie den letzten Jahrgang (1884) der „Gartenlaube“, welcher u. A. die Erzählungen:

Ein armes Mädchen und Am Abgrund von W. Heimburg, Dschapei von L. Ganghofer, Die Erbin von Arholt von L. Schücking, Salvatore von Ernst Eckstein, Brausejahre von A. v. d. Elbe, Das Urbild des Fidelio von Ernst Pasqué etc., sowie neben zahlreichen belehrenden Artikeln die vielbesprochenen Heine’schen Memoiren enthält, bis auf Weiteres noch zum Subskriptionspreise von Mark 6,40 durch alle Buchhandlungen beziehen können.

Von einzelnen älteren Jahrgängen der „Gartenlaube“ können wir noch eine beschränkte Anzahl von Exemplaren zu dem ermäßigten Preise von nur Mark 3.– für den vollständigen Jahrgang abgeben.

Es sind dies die Jahrgänge 1868, 1869, 1872, 1875, 1876, 1877.

Aus dem reichen Inhalte dieser Bände seien hier nur folgende größere Novellen genannt:

1868

Der Schatz des Kurfürsten von L. Schücking
Vetter Gabriel von Paul Heyse
Prinz oder Schlossergeselle von Louise Wühlbach
Süden und Norden von Herman Schmid

1869

Reichsgräfin Gisela von E. Marlitt
Die Gasselbuben von Herman Schmid
Jedem das Seine von Ad. von Auer
Verlassen und Verloren von L. Schücking

1872

Am Altar von E. Werner
Die Diamanten der Großmutter von L. Schücking
Was die Schwalbe sang von Fr. Spielhagen

1875

Ein kleines Bild von E. Wichert
Das Capital von L. Schücking
Hund und Katz’ von Herman Schmid
Die Kaiserin von Spinetta von Paul Heyse

1876

Im Hause des Commerzienrathes von E. Marlitt
Vineta von E. Werner
Ein Grab von A. Godin

1877

Aus gährender Zeit von Victor Blüthgen
Im Himmelmoos von Herman Schmid
Teuerdank’s Brautfahrt von G. von Meyern

manicula Bestellungen auf den Jahrgang 1884 sowohl als auf die älteren Jahrgänge führen alle Buchhandlungen aus, welche den neuen Jahrgang liefern. Nur solche Besteller, welche an ihrem Wohnort oder in dessen Nähe keine Buchhandlung haben, wollen sich unter Beifügung des Betrags der Bestellung (event. in Briefmarken) direkt franko an die unterzeichnete Verlagshandlung wenden.

Leipzig, Februar 1885. Ernst Keil’s Nachfolger.     


Inhalt: Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Roman von E. Marlitt (Fortsetzung). S. 141. – Robert Hamerling. Von Wilhelm Lauser. S. 147. Mit Portrait S. 141. – Ueberraschung. Gedicht von Ernst Scherenberg. S. 148. Mit Illustration S. 149. – Die Deutschen in Oesterreich. Eduard von Hartmann’s Ansichten über die Zukunft des Deutschthums. Von einem Deutschböhmen. S. 149. – Ungleiche Kameraden. Von H. Villinger. S. 152. Mit Illustrationen S. 152, 153 und 154. – Im Lande des Machdi. Von Heinrich Brugsch. S. 154. – Blätter und Blüthen: Der Kampf ums Dasein. S. 156. Mit Illustration S. 145. – Falsches Haar. – „Die Ameisen sind da!“ – Auflösung des redenden Parkettbodens in Nr. 8. – Kleiner Briefkasten. S. 156.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.