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Die Gartenlaube (1886)/Heft 22

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[377]

No. 22.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Lora-Nixe.

Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

Die hohen Ahornbäume und Buchen auf dem Wege nach Falkeneck schirmten Johannes vor der Sonnengluth; frische Waldesluft wehte ihn an, ein Moosteppich breitete sich weich über den Weg.

Die ganze Gegend war ein Himmelgarten gegen das Land, in dem er bis dahin seine Mission erfüllte. Und doch legte sich ein wehmüthiger Ausdruck auf sein Antlitz, als er dachte, daß ihn seine Glaubensbrüder zurückberufen hatten, damit er sich von den Prüfungen erhole, die ihm unter den wilden Völkern auferlegt worden waren. Sie hätten daran denken sollen: wohin der Mensch sich auch wenden mag, ein Kreuz ist überall für ihn gezimmert und wartet schon auf ihn. So tapfer er einst im Wüstensande vorwärts geschritten war, so müde wandelte er heute den wonnigen

Zerstörung von Sauk-Rapids in Minnesota durch die Cyklone vom 14. April 1886.
Nach einer amerikanischen Vorlage.

[378] Waldpfad; so freudig er einst am Marterpfahl dem Tod ins Auge schaute, so traurig sah er jetzt ins Leben hinein.

Er war auf dem Gipfel des Berges angekommen. Die Ruinen der Burg Falkeneck erhoben sich vor ihm.

Neben dem Burgthor stand eine breite Linde statt des Thorwartes, das Wappen lag zerbröckelt in blühenden Feldnelken; den geblendeten Falken überspannen braune Flechten. Hinter der tiefen Wölbung breitete sich der von hohem Gras überwachsene Hof aus, auf dessen höchstem Punkte der schlanke Bergfried sich erhob. Scharen von Thurmfalken umkreischten ihn.

Aus den Trümmern des Banketsaales, dessen leere zerbröckelnde Fenster gelb blühender Mauerpfeffer auspolsterte, schallten lachende Stimmen. Eine Gesellschaft mußte sich dort niedergelassen haben.

Johannes schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er folgte dem Rande des Wallgrabens, der, wie eine vernarbte Erdwunde, von Thymian überwachsen, um die Burg sich zog, und schritt nach der halb zerfallenen Kapelle hinüber, die weit hinaus auf einem felsigen Vorsprung erbaut war.

Hier waltete Stille. Nur fernes leises Rauschen tönte aus dem Thale herauf. Es war die Stimme der Lora, die den Fuß des Berges umfloß als natürliche Schützerin der Burg.

Aus den schmalen Rundbogenfenstern waren die Schlußsteine gefallen, die dicken Wände geborsten, das Deckengewölbe war eingestürzt. An seiner Stelle spannte sich der Himmel über dem heiligen Raum aus.

Die Natur hatte von dem Gotteshaus Besitz ergriffen. Den morschen halb in die Erde vergrabenen Weihkessel füllten Regentropfen, in denen der Stieglitz sein buntes Gefieder badete. Aus dem Boden, der einst so heiße Thränen getrunken, als der Falkenecker hier gekniet und seine sündige Verbindung gebeichtet hatte, sproßten frische grüne Halme auf. Selbst die Gruft, in welche der Ritter endlich mit all seinem Leid sich zur Ruhe gelegt hatte, war gesprengt, die Platte, die sie für ewige Zeiten verschließen sollte, geborsten, und aus dem Spalt schaute die dunkle Krone eines Fliederstrauches heraus.

Johannes schritt die mit Moos überwachsenen halb eingesunkenen Stufen empor, die zu dem Altar führten. Dieser war zusammengebrochen. Ueber seinen Trümmern träumte eine hohe schlanke Birke ihren sonnigen Lebenstraum. Hier hatte vor grauen Jahren der Burgkaplan gestanden, der dem Ritter die Bußfahrt in das gelobte Land gebot. Auch jener Priester mußte einst allem Lebensglück entsagen. Aber sein Name war vergessen; er hatte an dieser Stätte gestanden im Namen des Herrn.

Und das Kreuz, dem er einst Lebensfreude, Namen, Willen geopfert hatte, erhob sich noch siegreich über den Verfall dort oben auf dem östlichen Giebel. Ein wilder Rosenstrauch hatte sich daneben angesiedelt und umflocht es mit seinen rosigen Blüthen.

So standen sie innig umschlungen: eines der Gebilde der Natur, deren träumerische Seele nur von unbewußter Daseinsfreude erfüllt ist, und das Svmbol dessen, der mit hehrem Geist den Gedanken faßte, sein Leben zu opfern um die Menschheit zu retten.

Und wie Johannes für die Rose die Zeit kommen sah, da sie, von der Hitze verdorrt, vom Sturm entwurzelt, welkte und verging, so sah er das Kreuz stehen durch die Jahrtausende und die Arme ausbreiten, so lange noch eine Sünde zu vergeben, eine Seele zu erlösen war.

Ein leises Rauschen in den Büschen des verwachsenen Einganges, Schritte, von dem langen Gras des Bodens gedämpft, kamen heran.

Johannes hörte die Stimme, welche zu vergessen er hier herauf gewandelt war, sagen: „Vielleicht finden wir in der Kapelle die Offenbarung, die wir suchen.“

Da stand sie im Thürbogen, die er nicht wieder sehen wollte, im lichtblauen Kleid, das blonde Haar lang nachwallend, eine Seerose an der Brust. Sie bemerkte den Bruder Johannes nicht. Ihr Antlitz war dem jungen Dichter zugewendet, der ihr folgte.

Der innige Blick aus seinen braunen Augen verschmolz mit dem ihren; er reichte ihr stützend die Hand, während sie über die zerbröckelten Stufen schritt. Wie sich die beiden feinen Hände in einander fügten, flog ein heißes Roth über die jungen schönen Gesichter.

Einen Augenblick blieb Johannes regungslos stehen. Dann trat er unter der Birke hervor.

Leonore schaute zu ihm auf. Ihr Fuß zauderte vor den Altarstufen. Aber als er mit mildem Ernst sie grüßte, sagte sie rasch: „Welch glückliche Fugung, daß wir Sie treffen! Vermag irgend ein Mensch das erlösende Wort zu finden, so sind Sie es. O sagen Sie: Wenn Sie an der Stelle des Priesters stünden, der einst hier den Richterspruch fällte, würden auch Sie dem Ritter ewige Trennung von der armen Lora auferlegen?“

Heino fühlte sich unangenehm berührt, daß einem Dritten die Aufgabe gestellt wurde, die zu lösen ihm allein zukam. Sein Gruß war kühl.

Johannes erwiderte ihn gelassen und wandte sich an Leonoren. „Wir können uns nicht mehr zurückdenken,“ sprach er, „in die Anschauungen einer finstren Zeit, welche das Wasser von verwünschten Geistern belebt wähnte, die vergeblich nach Erlösung schrieen. Aus jenen Ansichten ging der uu<rtheilsspruch des Priesters hervor.“

Um Heino’s Lippen spielte ein überlegenes Lächeln. „Der Dichter vermag es. Doch, um Fräulein Paloty’s Wunsch zu erfüllen: Nehmen Sie an, die Lora sei ein irdisches Weib gewesen, von dunkler fluchbeladener Herkunft, die sie verhehlte, um den Mann ihrer Liebe zu erringen. Wie würde sie diese Schuld abzubüßen vermögen?“

„Nennen Sie eine dunkle Herkunft eine Schuld?“ rief Leonore vorwurfsvoll. „War es nicht genug, daß die Lora Reichthum, Schönheit, ein treues Herz dem Ritter zubrachte?“

„Nicht die dunkle Herkunft war die Schuld der Lora, sondern der Betrug, den sie an dem Ritter von Falkeneck verübte,“ antwortete Johannes.

„Aber die Liebe soll Alles vergeben,“ entgegnete Leonore stürmisch.

„Die wahre Liebe würde auch vergeben haben,“ erwiderte Johannes. „Die Liebe des Ritters war jedoch zu schwach, um diese Prüfung zu bestehen.“

Heino lachte unmuthig auf. „Schwach? Er hatte die große Leidenschaft, die alle Schranken durchbricht.“

„Leidenschaft ist nicht Liebe,“ sagte Johannes.

„Vom kirchlichen Standpunkt aus allerdings nicht,“ entgegnete Heino. „Wir Dichter sind aber etwas Heiden geblieben. Wir empfangen am liebsten die Weihe von jenen heitren Gottheiten, die den seligen Rausch kennen, den die Liebe verhängt.“

Er war gereizt. Der Herrnhuter machte richtig die Sache nur noch verwickelter, indem er die Hauptschuld der Lora abnahm und auf den Ritter wälzte, und mit welcher unerschütterlichen Gelassenheit sich diese durchdringenden Augen in die seinen senkten, als wollten sie auf dem Grund seiner Seele lesen! Heino’s Brauen zogen sich nervös zusammen.

Mit dem Ahnungsvermögen der Liebe fühlte Leonore seine Verstimmung heraus. „Ich hatte so fest geglaubt, daß Sie helfen könnten,“ sagte sie niedergeschlagen zu Johannes.

Er wandte sich zu ihr. Und als er wieder denselben rathlosen Blick auf sich gerichtet sah, der von ihrem Begegnen in Himmelgarten her in seinem Gedächtniß haftete, wurde der Ausdruck des blassen Gesichtes unendlich mild, und er antwortete: „Ja, ein versöhnender Abschluß läßt sich finden. Denn auch die Leidenschaft kann geläutert werden zu der tiefen ewigen göttlichen Liebe, die in jeder Prüfung erstarkt, die über Wahnglauben und Vorurtheil der Zeit und der Menschen sich siegreich erhebt und die Kraft hat, ein geliebtes Wesen aus Nacht und Schuld zu sich emporzuziehen in lichte reine Regionen. Und ich glaube, es müßte eine herrliche Aufgabe für den Dichter sein, ein Lied von dieser Liebe zu singen.“

Die Worte hallten in der Kapelle wider, als gäben die alten Mauern gern den vertrauten Klang zurück.

Leonore neigte sich tief und ehrfurchtsvoll vor Johannes; aber ihre Lippen vermochten nur zitternd zu flüstern: „Ich danke Ihnen, o, ich danke Ihnen.“

Heino zog gemessen den Hut. „Ich bin Ihnen sehr verbunden für den Wink, wenn ich auch nicht weiß, ob ich der Dichtung diese Wendung gebeu kann.“

Auch Johannes nahm den Hut ab. „Möchten Sie die Kraft dazu finden,“ erwiderte er in dem ihm eigenen halblauten Ton, der so weit trug und doch immer gedämpft klang. Er ging ruhig an ihnen vorüber und verließ die Kapelle. Heute wie vor einem Jahrtausend hatte der Priester hier das letzte Wort gesprochen.

Leonore schritt durch den mit Trümmern bedeckten Burghof wie auf Wolken. „O,“ sprach sie, „nun muß Ihr Werk gelingen. Und wenn die arme Lora erlöst ist, dann wird sie mit ihrem goldenen Zauberstab die Burg in alter Herrlichkeit erstehen lassen. Statt der grünen Eberesche wird dort am Bergfried wieder die Fahne in den Farben der Falkenecks wehen, die das Blau des Himmels mit dem Gold der Erde vereint. Hier am Thorbogen wird das Wappen neu aufgerichtet werden. Aber der Falke soll, [379] von der Kappe befreit, mit hellem Auge in die Sonne schauen, wie es seine edle Art war in alter glücklicher Zeit.“

„Dazu ist wenig Aufsicht vorhanden,“ unterbrach Ravensburgk, der ihnen eilig entgegen kam, ihre begeisterte Rede. „Baron Pölz, der eben noch nachgekommen ist, erzählt, daß Falkeneck wahrscheinlich jetzt schon hinter Schloß und Riegel sitzt.“

Leonoren’s Fuß stockte. „Wer?“ fragte sie mit athemloser Stimme.

Niemand gab Antwort. Die ganze Gesellschaft drängte sich um Baron Pölz, welcher berichtete: „Es gab einen kleinen Auflauf in Jungbrunnen. Der Kroupier Faucon, den man als Herrn von Falkeneck bezeichnet, ist von dem Bankpächter maßlos heftig nach seinem Namen gefragt und, als er nicht gänzlich seine edle Abkunft verleugnen wollte, aus dem Dienst entlassen und ihm gedroht worden, daß er als Schwindler angezeigt werden solle. Da soll er ein Attentat auf Dornheim gemacht haben, mit einem Dolch auf ihn eingedrungen sein.“

„Ist Dornheim verwundet?“ fragte Frau Paloty, indem sie die Mamille fester um die fröstelnden Schultern zog.

„Unkraut verdirbt nicht,“ erwiderte Pölz. „Er ist heil davon gekommen.“

„Was ist Ihnen?“ fragte Heino erschreckt Leonoren, die leichenblaß war und nach einer Stütze griff.

Ihre Mutter trat ruhig zu ihr und flüsterte ihr zu: „Fasse Dich! Auch meine Kraft hat eine Grenze.“ Laut sprach sie dann: „Es ist nichts, Leonore hat zu heiß gebadet. Aber sie bedarf Ruhe. Herr von Pölz, darf ich Sie bitten, uns Ihren Wagen zu geben, damit wir rasch nach Jungbrunnen zurückfahren können? Sie nehmen dafür unsere Equipage, die noch nicht angespannt ist.“

Leonore saß zusammengesunken auf einem uralten Steinbänkchen, das vielleicht einst für Bettler auf dem Schloßhof aufgestellt worden war. Als Heino besorgt ihr den Arm bot, um sie nach dem Halteplatz der Wagen am letzten Aufstieg hinab zu führen, erhob sie sich wie träumend.

Warum war ihr, als sehe sie Heino nur wie aus weiter Ferne, als sie seinem Abschiedsgruß dankte?

Wenige Minuten später rollte der Wagen langsam den alten Burgweg hinab. Und jetzt sank auch Frau Paloty in sich zusammen.

Heino sah ihnen tief verstimmt nach, und es verbesserte seine Laune nicht, als ihn die Gräfin Schwuggensee mit einem fünfeckig gerathenen Eichenkranz krönen wollte.

Auch die übrige Gesellschaft fühlte sich unbehaglich. Der Präsident beklagte die auf dem unebenen Boden umgefallenen Weinflaschen; die Fräulein von Gokel waren in einen mit Nachtschatten überwachsenen, Keller gestürzt, und der ‚Sohn seiner Mutter‘ hatte sich beim Aufstieg zur Burg mit Shawls und Mänteln sämmtlicher Gräfinnen und Baronessen so überbürdet, daß er den ganzen Nachmittag sich nicht wieder erholen konnte.

Während man in allen Sprachen klagte, als solle der Thurmbau von Babel sich erneuern, mit Grashüpfern Krieg führte und ängstlich nach den drohend herabhängenden Giebeln und Zinnen empor lugte, versammelte Ravensburgk die Herren von altem Adel, welche sich in der Gesellschaft befanden, um sich.

„So wird denn also wirklich die Sache an die große Glocke geschlagen,“ sagte er. „Das widerwärtige Gerücht, das wie ein übel riechender Nebel hier herum zog, nimmt feste Gestalt an und verwandelt sich in ein Aktenstück. Der letzte Sprosse eines der ältesten edelsten Geschlechter sinkt bis zum professionsmäßigen Spieler herab und fällt nun auch noch der rücksichtslosen Justiz in die Hände. Wie wird die Presse diesen Fall einmal wieder ausbeuten. Wie wird der Bourgeois auf seiner Bierbank salbadern über das Sinken des alten Adels! Aber so weit dürfen wir es nicht kommen lassen. Ich wenigstens werde mich sofort nach Jungbrunnen begeben, um zu sehen, wie man den äußersten Skandal abwenden kann.“

Man stimmte ihm allseitig zu, und die Gesellschaft verließ in kleinen Gruppen den Burghof und stieg zum Halteplatz der Equipagen hinab.




In der Mittagsstunde des anderen Tages begab sich Ravensburgk im die Wohnung Dornheim’s.

Eine Anzahl Herren von Familie hatte sich auf seine Veranlassung entschlossen, für den heruntergekommenen Freiherrn von Falkeneck einzutreten.

Nach Ravensburgk’s Erkundigungen war eine gerichtliche Anzeige des Attentates noch nicht erfolgt. Es sollte nun ein Druck auf den Spielpächter ausgeübt werden, daß er keinen Strafantrag stellte, und man wollte eine Summe deponiren, mit welcher der sogenannte Faucon nach Amerika auswandern konnte. Ravensburgk war mit den Verhandlungen betraut worden.

Er traf den Banquier nicht zu Haus. Auf seine Frage, wann er denselben sprechen könne, rief der Portier einen Kammerdiener herbei.

Der alte weißhaarige Mann in tadellos schwarzer Kleidung berichtete mit leiser Stimme, daß sein Herr jeden Augenblick aus dem Bad zurückkommen könne, und als Ravensburgk den Wunsch aussprach, ihn zu erwarten, öffnete er demselben den Salon, rückte ihm einen Sessel zu und verschwand mit lautlosen Schritten.

Ravensburgk war ein wenig überrascht. Solche Kammerdiener gab es sonst nur in den vornehmsten Familien.

Auch der Salon mit seinen dunklen Draperieen, den in einfachem Stil gehaltenen Möbeln, zeigte nichts von der geschmacklosen Ueberladung, der Prahlerei eines Geldprotzen.

Sogar den Landschaften, die in nicht allzu reicher Zahl die Wände schmückten, lagen nur unscheinbare Motive zu Grunde: ein Stück altes Gemäuer mit einem Fliederbusch, ein trübes Wasserauge, von Weiden umstanden.

Und war das ein Altarschrein, der dort an der Hauptwand hing? Seine äußeren Wände waren aus Ebenholz gearbeitet und mit verschlungenen Arabesken verziert, welche durch eingeschlagene silberne Stifte gebildet wurden. Die Art der Arbeit gefiel Ravensburgk durch ihre anspruchslose Eleganz.

Einer der Stifte schien gelockert. Als er denselben aber mit leisem Drucke wieder in das Holz einzupassen versuchte, schlugen plötzlich die Flügelthüren auf.

Ein eigener halb pfeifender, halb zischender Laut drang durch Ravensburgk’s Zähne bei dem Anblick, der sich ihm bot.

War es möglich? Durfte er seinen Augen trauen?

Er trat einen Schritt zurück, er strich sich über Stirn und Augen – sie war und blieb es.

Das goldige Haar, die blauen strahlenden Augen, diese Gestalt, die an die zierliche Schlankheit des Rehes erinnerte, war nicht zu verkennen. und die Beschäftigung, bei welcher sie gemalt worden war, bekräftigte ihren Zusammenhang mit diesen Räumen.

Neben ihr auf einer vortrefflich dargestellten Marmorkonsole lag ein Spiel verstreuter Karten. Mit der einen Hand schien das schone Mädchen dieselben sorglos bei Seite zu schieben, die andere hielt statt der gern gewählten Blumen oder des gebräuchlichen Buches – das Coeur–Aß.

„Verdammtes Höllenkind!“ murmelte Ravensburgk zornig, „hast Du das arme Herz so fest in Deiner Hand? Gott sei ihm gnädig!“

Er drückte die Thür wieder zu. Aber noch ehe er die auf ihn einstürmenden Gedanken, die sich an diese Entdeckung knüpften, ordnen konnte, ließen sich leichte Schritte vernehmen.

Dornheim trat ein.

Zu jeder andern Zeit hätte Ravensburgk der vornehmen Haltung, der gelassenen Miene, der feinen Form, in welcher Dornheim ihn begrüßte, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber die Entdeckung, die er eben gemacht, hatte ihn vollständig seiner sonst unerschütterlichen Kaltblütigkeit beraubt.

Mit ungemessenem Hochmuth über den Spielpächter hinweg blickend, trug er sein Anliegen wie eine harte Forderung vor.

Als er ihm die zarten Standesgefühle des blauen Blutes auseinander setzte, wurde sein Blick durch eine Bewegung Dornheim’s auf diesen gezogen. Er blieb überrascht an ihm haften.

Dornheim hatte sich aufgerichtet. Wie ein Ebenbürtiger stand er ihm gegenüber. Und ebenbürtig war auch der Hochmuth, mit dem er jetzt aus den halbgeschlossenen Augen Ravensburgk ansah und erwiderte: „Mein Herr, ich verstehe und achte Ihre und Ihrer Standesgenossen Besorgniß, bedaure aber unendlich, sie nicht von Ihnen nehmen zu können. Der Angriff des Schwindlers auf meine Person ist gänzlich bedeutungslos, und die Auzeige, welche ich dem Gericht zu machen gedenke, wird desselben nicht erwähnen. Ich bin aber meiner Ehre, – ja wohl, meiner Ehre,“ betonte er und ein Blick von Stahl traf Ravensburgk, „schuldig, daß der wahre Name meines ehemaligen Kroupiers zu Tage kommt. Ich würde dem Grundsatz meines ganzen Lebens untreu werden, wollte

[380]

Das Opfer der Athener.
Nach dem Oelgemälde von A. Gendron.
Photographie im Verlag von E. Lecadre u. Comp. in Paris.

[381]  WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [382] ich diesen Herrn Faucon schonen. Indessen sagen Sie doch Ihren hochgebornen Absendern, daß es ein wohlfeiles Mittel sei, den lästigen Standesgenosseu hilflos im fremden Lande auszusetzen, wo er nichts thun kann als am Wege sterben, und daß sie sich nicht wundern dürfen, wenn bei solchem eigensüchtigen Verfahren, das den Verlornen sich nur aus den Augen schaffen möchte, auch ihre verkommenen Angehörigen keine Rücksicht mehr auf Sie und Ihre Empfindungen nehmen.“

Mit eiskalter Verachtung in jedem Zuge seines Gesichtes erhob sich Ravensburgk. Ohne ein Wort zu erwidern, verabschiedete er sich von Dornheim in einer Weise, als wische er denselben mit einer Bewegung seiner röthlichen Augenwimpern von der Erde weg. Dann schritt er hinaus.

Zornroth wandelte er in die einsamen Anlagen am Fluß hinaus, wo ihm um diese Zeit Niemand begegnete. Er suchte seine Gedanken zu ordnen. Der Falkeneck’schen Affaire mußte man ihren Lauf lassen; da war nichts mehr zu thun.

Um so rascheres Handeln machte sich nöthig dieser Person gegenüber, über deren wahre Verhältnisse ihm eben ein so grelles Licht aufgegangen war. Die Paloty, mit der sie wie mit einer Dame der Gesellschaft verkehrt hatten, war die Geliebte des Spielpächters. O, sie hatte ihm auch als Lockvogel gedient. Der Abend fiel ihm ein, wo sie unter mysteriösen Reden mit Heino vereint gespielt hatte.

Vielleicht war der Spieler ihrer überdrüssig und wollte sie mit einem vornehmen Mann verheirathen – es gab ja solche Lumpe – oder sie hatte das abenteuernde Leben satt und streckte ihre dreisten Hände nach einer Freiherrnkrone aus.

Blachrieth mußte Alles erfahren. Aber es widerstrebte Ravensburgk, einen Kavalier wie ein Backfischchen zu warnen. Auch stand er ihm nicht so nah, um ihm ohne peinliche Verlegenheit diese beschämende Enthüllung zu machen.

So war er, in Gedanken und Ueberlegungen versunken, weiter und weiter gegangen und sah sich plötzlich im Lora-Grund.

Nun wollte ich doch, der Wunsch des guten Präsidenten hätte sich erfüllt, und es stünde eine Restauration da, dachte er. Ich habe verteufelten Hunger. Vielleicht ist bei dem Fährmann eine kleine Erfrischung zu bekommen, die ebenso gut ist wie die Kollation, die ich mit dem Prinzen August auf der Bärenjagd in Galizien eingenommen habe.

Er schritt nach dem Holzhäuschen hiuüber.

Aber wie das erstemal fand er statt des Knechtes den Herrn.

Am Landungsplatze saß auf einer Steinbank Georg, die Büchse neben sich gelehnt. In tiefe Gedanken versunken starrte er das Boot an, das sich vor ihm leise an seiner Kette schaukelte, während sein Hund, den Kopf auf das Knie seines Herrn gelegt, aufmerksam in dem düstren Antlitz desselben zu lesen suchte.

Ravensburgk athmete auf. „Sieh da!“ flüsterte er für sich, „der intime Freund Blachrieth’s, der Artilleriehauptmann a. D. Nun, den Herrn von der Bombe soll mir das Schicksal nicht umsonst in den Weg geführt haben. Er mag die Lunte anzünden; das gehört zu seinem Metier.“

Mit höflichem Gruß trat er zu Georg heran.

Fast entsetzt sprang dieser auf. Es war auch ein gar zu wunderbares Zusammentreffen. Eben hatte er in Gedanken alle Teufel aus der Hölle geflucht, daß sie ihm den alten Sünder, der ihm die erkorene Braut vor der Nase wegschnappte, einmal vor die Klinge bringen sollten, und sofort trat er zwischen den Kastanienbäumen hervor.

Ravensburgk fand sein Erschrecken zwar etwas zu nervös für solch einen Landbewohner und Kanonier, hielt sich aber nicht weiter damit auf, sondern drückte ihn auf die Bank zurück, nahm neben ihm Platz und theilte ihm in kurzen Worten die Lage der Dinge mit.

Georg hörte ihm mit steigender Bestürzung zu. Die Erinnerung an den Vorgang, den er von seinem Balkon aus am Morgen nach Leonoren’s Ankunft wahrgenommen hatte, erwachte und bestätigte das intime Verhältniß der Dame zu Dornheim. Er konnte sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß die Situation eine ernste war.

„Wir sind es Blachrieth schuldig, ihm so schnell als möglich die Augen zu öffnen,“ schloß Ravensburgk. „Sie sind sein bester Freund. Wollen Sie mit ihm sprechen?“

Georg sah ihn finster an. „Nach Frau von Blachrieth’s Aeußerungen stehen Sie der Familie naher als ich.“

Ein Schatten lief über Ravensburgk’s Gesicht. Dann erwiderte er in gleichgültigem Tone: „Frau von Blachrieth ist eine etwas konfuse Dame. Hat sie das gesagt, so können Sie annehmen, daß ich in demselben Augenblick der Familie ferner denn je stand. Ich würde mir in dem Fall, daß Sie es nicht auf sich nehmen wollen, Blachrieth aufzuklären, selbst dazu schreiten. Aber ich glaube, es würde ihm später unangenehm sein, wenn ich dem Ausbruch seiner Gefühle beigewohnt hätte.“

Georg erhob sich. Er konnte diesen Freundschaftdienst nicht verweigern, so schwer er ihm auch fiel.

Aber er schwor sich zu: er wollte nun herausbringen, wie es kam, daß das reizende Mädchen bald mit dem Einen, bald mit dem Andern in Beziehung gebracht wurde, und warum sie mit Thränen in den Augen Händedrücke austauschte. Wenn sie keinen vernünftigen Grund dafür angeben konnte, dann mußte die Liebe zu ihr mit Stumpf und Stiel aus seinem Herzen ausgerottet werden. Diesen barbarischen Entschluß faßte er, während die Hoffnung in ihm wieder lustig empor wuchs.

Er lud Ravensburgk zu seinem Diner ein, was dieser annahm unter der Bedingung, daß Georg einer Einladung zu seinem morgen stattfindenden Abschiedsdejeuner folgen würde.

Nach Georg’s Zusage stiegen beide zum Haus Aufdermauer hinauf und rollten gegen Abend in Georg’s leichtem Wagen nach Jungbrunnen hinab.




In jener vertrauenden freudengewissen Stimmung, wie sie die letzte Stunde des Glückes so oft mit sich bringt, rief Heino seinem Freunde Gruß und Willkommen zu, als dieser in sein Zimmer trat.

Auf seinem Schreibtisch lagen Notizen zu dem Manuskript der Lora-Sage, angefangene Gesänge. Blumen mit bunten seidenen Bänderm zu Bouquets zusammengefügt, blühten neben seinen Büchern. Ein Krystallkrug, den der eingeschliffene Namenszug als Leonoren’s bisherigen Trinkbecher bezeichnete, stand halb gefüllt neben einer Flasche Rheinwein. – Alles deutete auf sie und auf den Kultus hin, der ihr hier errichtet worden war.

Und als Georg das Zimnter verließ, lagen die Blumen zertreten am Boden, das böhmische Glas in Scherben, und zusammengebrochen stützte Heino das todtenblasse Antlitz auf zerknitterte Papiere.

Die letzte Stunde des Glücks war vorüber.




Das Abschiedsfest, welches Ravensburgk dem ihm bekannten Herrenkreis gab, nahm einen wilderen Charakter an, als die Blasirtheit der Eingeladenen hätte vermuthen lassen.

Als die Zeit des Soupers kam, war die Gesellschaft noch beim Dejeuner. Es war scharf getrunken worden; das bezeugten die vielen leeren Flaschen auf dem Büffet, und noch immer wurden die schlanken Spitzgläser rasch geleert und auf den Wink des vollkommen kühl blickenden Gastgebers wieder gefüllt.

Man besprach die nächsten Pläne. Der Eine ging zu seiner Gesandtschaft nach Petersburg, der Andere zum Manöver, der Dritte zum Wettrennen, Dieser machte eine Hochzeitsreise nach Italien, Jener gedachte mit einer berühmten Tänzerin nach Paris auszufliegen. Pikante Anekdoten, Zweideutigkeiten, Toaste, Gläserklingen und lautes Gelächter wirbelten durch einander und bildeten einen wüsten Knäuel.

Die leichtfertigsten Worte, die wildesten Trinksprüche, das tollste Gelächter kamen aus Heino’s Munde und trieben Georg einen leisen Fluch, Ravensburgk ein Lächeln über die Lippen.

„Es ist Zeit, brechen wir auf,“ sagte Georg, der bei großer Mäßigkeit im Sprechen ungestraft im Trinken mit den Andern hatte Schritt halten können.

Aber sein Plan, Heino dem zügellosen Treiben zu entreißen, schlug fehl. Die Gesellschaft beendete zwar das Dejeuner, aber nur, um sich zu Lakrony zu verfügen.

Die Dämmerung war angebrochen, die Brunnenpromenade längst vorüber, die Kolonaden und der Kurgarten leer. Erhitzt, den Geruch des genossenen Weines ausathmend, in nachlässiger Toilette und mit dunkel glühenden Köpfen traten die Herren in den Salon der Konditorei, in welchem verschiedene Brunnengäste bei ihrem Thee oder einer Schale Eis die Zeitungen lasen.

Heino’s erster Blick traf auf Dornheim.

[383] Das Lachen, mit welchem er der Besorgniß in Georg’s Zügen antwortete, fiel diesem schwer aufs Herz. Heino setzte sich nur ein paar Schritte von Dornheim und wendete demselben das Gesicht zu, welches durch eine bleifarbene Blässe, das Zittern der Oberlippe, den unstät flackernden Blick der sonst so schönen Augen entstellt war. Er hatte sich Kognak geben lassen; aber seine Finger waren wie gelähmt, und er griff mehrmals fehl, ehe es ihm gelang, das Glas zu fassen.

Den Spielpächter unverwandt anstarrend, sagte er mit heiserer Stimme:

„Also man besteht darauf, alte edle Namen in den Schmutz zu treten! Es genügt nicht, die Träger auszusaugen, herabzuziehen. Nein, sie sollen auch öffentlich an den Pranger gestellt werden.“

Dornheim horchte auf. Seine Stirn färbte ein leises Roth. Aber nachdem er mit einem Blicke aus seinen halb geschlossenen Augen die berauschte Gesellschaft überflogen hatte, legte er ruhig seine Zeitung hin, trank ohne Hast seinen Thee aus und erhob sich, um zu gehen.

Als er an Heino vorüber schritt, rief dieser mit lauter Stimme den anderen Herren zu:

„Der Spielpächter hat noch abzurechnen mit seinem Kroupier im Kotillon.“

Dornheim war stehen geblieben.

„Da ist nichts mehr zu thun,“ murmelte Georg, die Arme kreuzend.


Mit fahlem Blick sah Heino an Dornheim vorüber, und laut, in schneidendem Tone rief er dem Baron Pölz zu:

„Sie waren falsch unterrichtet über diese Paloty. Sie ist nichts als die Coeurdame eines Kartenkonigs oder –Buben.“

Todtenstille trat ein.

Nur Dornheim war mit einem Schritt dicht vor ihn getreten. Seine Augen sprühten.

„Lügner!“ rauschte es über die schmalen Lippen.

Im nächsten Augenblick sauste Heino’s erhobener Stock nach Dornheim’s Gesicht.

Georg’s starke Faust hielt ihn auf.

„Sind das die Formen,“ rief er, von heißem Zorn überwallt, „in welchen man eine Ehrensache ausficht?“

Damit warf er das Heiuo entrungene Rohr bei Seite.

Heino wurde von seinen Bekannten umringt und aus der Konditorei hinaus gezogen.




Am andern Morgen herrschte eine schwüle und doch erregte Stimmung auf der Brunnenpromenade. Die Badegäste raunten sich geheimnißvoll zu; verstörte und schadenfrohe Gesichter schauten unter den grauen Filzhüten, hinter den duftigen Schleiern hervor.

Leonoren’s Name ging von Mund zu Mund.

Ahnungslos erschien sie.

Daß Heino gestern nicht zu sehen gewesen war, hatte sie sich mit dem Abschiedsfest Ravensburgk’s erklärt. Heiter wie immer folgen ihre Augen über die Gesellschaft.

Aber sie empfing nur kalte Grüße.

Die Damen von Gokel traten schnell an einen Verkaufstisch, als sie vorüber ging; sie hörte, daß sie das Wort. „Coeurdame“ murmelten.

Sie faßte Frau von Tromsdorf ins Auge, um sie zu grüßen. Diese wandte ihr den Rücken.

Der Bergrath Müller wandelte an der Seite der Kontesse Schwuggensee vorüber. Sie schien Luft für Beide zu sein.

Frau von Giera fehlte, ein Fall, der noch nicht dagewesen war.

Nur Mister Montagu stellte sich an der Seite auf, ließ sie vorüber passiren, indem er sie, den Mund weit offen, wie immer, mit dreisten Blicken musterte, und Baron Pölz lüftete mit einem zweideutigen Lächeln den Hut.

„Was bedeutet denn das?“ fragte Leonore bestürzt ihre Mutter.

Diese antwortete mit einem Achselzucken.

Leonore sah sich um. Sie musterte die in Gruppen lebhaft sich unterhaltende Gesellschaft, konnte aber die Lösung des Räthsels nicht finden.

„Was liegt denn nur heute Empörendes in den Zügen aller dieser Menschen?“ fragte sie sich. „Wo ist Heino? Wenn er doch käme, mich hielte. Mir ist, als sänke ich tief, tief hinab.“

Da öffnete sich plötzlich die Thür des Lora-Pavillons.

Ein alter Mann in der schwarzen Tracht eines Kammerdieners stürzte heraus; sein weißes Haar flog im Morgenwinde, als er auf sie zu eilte.

Die Befremdung, mit der sie ihm entgegen blickte, verschwand nach seinen ersten athemlos ihr zugeraunten Worten.

Sie stand wie vom Blitz getroffen und starrte ihn an, bis er seinen hastigen kurzen Bericht mit den Worten schloß:

„Vor zwanzig Minuten sind sie Alle in den Höllenschlund gefahren.“

Da hörte sie nicht mehr.

Sie flog durch die verwundert und mißbilligend vor ihr aus einander weichenden Menschen. Sie eilte nach dem Platze, wo die Droschken hielten. Mit raschem Blicke hatte sie die kräftigsten Pferde ausgewählt. Zwei Worte an den Kutscher. Sie stieg ein, und in vollem Galopp ging es dem Höllenschlund zu.

Sie stand im Wagen. Ihre Augen waren starr, gerade aus gerichtet. Wie ein Uhrwerk wiederholte ihr Mund das Wort:

„Schneller! schneller!“

Ihre Glieder bebten wie im Frost, trotz der warmen Sommerluft. Vor ihren Augen lag ein trüber Schleier, trotz der strahlenden Beleuchtung der Morgensonne.

Da jagten sie über die Kettenbrücke. Wie eine riesige graue Schlange wand sich der Nebel über der Lora hin, duckte sich zusammen und bäumte sich auf, wie die Schlange, die zum Sprunge ansetzt.

„Sei ruhig, Du kannst mich noch haben,“ murmelte Leonore mit klappernden Zähnen.

Da sausten sie in den Wald hinein, den sie mit Heino hoch zu Roß durchzogen hatte, in den er – und noch ein Anderer – jetzt vor ihr gefahren waren.

Ringsum glitzerten helle Thautropfen sie an, als bezeichne ein Thränenregen den Weg. Sie drückte die eiskalten Hände an ihre glühende Stirn, sie preßte sie auf das wild schlagende Herz.

„Vorwärts, schneller!“ keuchte sie wieder.

„Die Pferde stürzen, wenn sie noch mehr getrieben werden,“ widersetzte sich der Kutscher, ließ aber doch die Peitsche durch die Luft sausen.

Da tönte schon der Schrei des Raubvogels aus dem Höllenschlund heraus. Kreiste er über einem bereits Gefallenen?

Wie ein zähnefletschender Teufel stieg in ihrem schwindelnden Gehirn die Frage auf: Welchen von Beiden möchtest du preisgeben? Da ist sie am großen Scheideweg.

Seitwärts halten mehrere Wagen. Sie springt aus der Droschke und eilt im Fluge hinab in den Grund.

Da fällt ein Schuß.

Die Kniee brechen unter ihr. Aber sie rafft sich empor. Durch Gestrüpp und Sumpf drängt sie vorwärts. Die Dornen zerreißen ihr Kleid, ihre Hände; das Wasser des Sumpfbodens überfluthet ihre Füße, die, vom einbrechenden Moorboden festgehalten, nur mühsam weiter eilen können.

Jetzt ist die Lichtung des Waldes erreicht. Dort stehen die beiden Männer sich gegenüber. Heino hat die Pistole gehoben.

Der Andere schaut mit furchtlosem Blicke der Mündung der drohenden Waffe entgegen.

Sie will rufen. Die athemlose Brust versagt ihr den Laut.

Da – fällt ein zweiter Schuß. Der Ranch verfliegt.

Heino’s Arm sinkt mit der abgefeuerten Waffe.

Noch steht Dornheim. Im nächsten Augenblick aber wankt er. Seine Hand faßt nach der Seite. Mit einem unterdrückten Stöhnen sinkt er zusammen.

Sie stürzt zu ihm hin.

Aus ihrer athemlosen Brust reißt sich mit wildem Aufschrei ein einziges Wort, das wie der Schlag eines Hammers auf alle Herzen fällt: „Vater, mein Vater!“

Sie kniet neben ihm; sie will ihn aufrichten. Aber ihre Kraft ist erschöpft. Sie sinkt zusammen. Ihre Hände schlingen sich um seinen Hals, ihr Kopf gleitet an seine Brust, über das goldene Haar rieseln die Tropfen des entströmenden Blutes.

(Schluß folgt.)




[384]
Studien nach dem Leben.
Von Hermann Heiberg.
Gewohnheiten und Unarten.
I.

Man sagt, daß jedes Blatt von den unzähligen, die auf den Bäumen wachsen, eine Verschiedenheit zeige. Die Richtigkeit dieser Behauptung wäre allerdings erst nachzuweisen, wenn man alle Blätter pflückte und in die Lage käme, sie sorgfältig zu vergleichen. Vielleicht ist’s auch so genau nicht zu nehmen, aber sicher ist, daß jedes Ding in dieser Welt, das todte und lebendige, etwas Individuelles hat, und das kann man beobachten, wohin man den Blick wendet. Also auch der Mensch. Und seiner Eigenart einmal nach einer besonderen Seite nachzuspüren, verlohnt sich wohl schon der Mühe.

Fast Jeder hat eine kleine ihm eigenthümliche, bisweilen auch unartige Gewohnheit. Je sorgfältiger ältere Augen in seiner Jugend über ihm wachten, je weiser die Mahnung, je nachahmenswerther das Beispiel, je geringer werden die Mängel dessen hervortreten, was wir gemeiniglich gute Erziehung nennen.

Gewohnheiten sind aber auch erblich. Sie gehen vom Großvater auf die Enkel über, aber in der Jugend kommt die Eigenart nicht allemal gleich zum Vorschein, sie entwickelt sich oft erst im späteren Alter.

Ich zählte einst bei einer älteren Dame während eines halbstündigen Gespräches einundvierzigmal das Wort Ja. Dieses Ja hatte einfache und doppelte Ausrufungszeichen, kleine und große Fragezeichen, klang sinnend und mitleidig, freundlich und erstaunt, war mißtrauisch und zornig und vierzigmal – unnöthig. – Das Ja und Nein – als Höflichkeitsdiener im Gespräch – äußert sich auch in Bewegungen und Gesichtsausdruck. Ich kannte einen Mann, der bei der Konversation seinen Beipflichtungen durch eine außerordentlich starke Vorwärtsbewegung des Kopfes Ausdruck verlieh. Es machte diese heftige Bewegung jedesmal den Eindruck, als ob ihm Jemand einen Schlag auf den Hals versetzte, und es war Einem Angst um den armen Mann. – Eine bedeutende Rolle spielt bei sehr vielen Menschen der Zeigefinger. Er macht lange, sich wiederholende Marschrouten auf der Stirn, Entdeckungsreisen auf der Nase und hämmert in Pausen die Mundwinkel oder tupft die Partie unter dem Kinn. Auch jene linksseitige Warze auf der Backe, die zufolge der Fortvererbung vielleicht schon zur Zeit der Kreuzzüge an derselben Stelle auf dem Gesicht eines der Vorfahren saß, wird von den Nachkommen gern und heftig gestrichen.

„Kaufen Sie Kornblumen?“
Nach dem Oelgemälde von A. Kozakiewicz.

Auch Ohrläppchen werden beim Nachdenken angefaßt und gestreichelt, als sei’s die Wange der Geliebten, aber Viele zupfen auch daran, als müsse es nun endlich gelingen, das Endchen abzulösen.

Die ganze Hand hat unendlich viele Beschäftigungen. Ich beobachtete einst in einem Restaurant einen Mann, der einen Brief schrieb. Nach jedem halben Satze, oft nach einem Worte, fuhr er sich mit der Hand durch das Haar, und zwar – das war mir so bemerkenswerth – glitten die gespreizten Finger stets über eine und dieselbe Stelle auf der linken Seite. Ich schaute mich unwillkürlich nach einem wettsüchtigen Engländer um, der auf einen Strich querüber, oder rechtsseitig, fünfzig Pfund gegen einen Gegner zu setzen bereit wäre.

Die ganze Hand treibt auch allerlei Beschäftigungen auf der Stirn, fährt über die Backen und klopft den Kahlköpfigen aufs Oberhaupt. Zum Nasenpeiniger werden Daumen und Zeigefinger benutzt. Einer meiner Bekannten kneift diesen schuldlosen Theil seines Körpers und hat glücklich bewirkt, daß sich eine gewisse spitz wirkende Röthe eingestellt hat. Diese beiden Finger haben auch sehr viele feste Anstellungen bei Männern, die hohe Kragen tragen und durch die fortwährende Berührung derselben eine unbewußte Zärtlichkeit gegen Wäscherinnen an den Tag legen. In schnellen regelmäßigen Pausen werden die Enden gepackt und zurecht geschoben. Häufig haben sie auch noch Pflichten, deren Ausübung sich tiefer nach unten erstreckt. Am Kragenausschnitte ist fortwährend zu thun, und die Kravatten mit und ohne Enden und Schleifen kommen niemals zur Ruhe.

Die vier Finger ohne Daumen sind vielfach als Putzer angestellt. Immerfort scheint dem nervösen Inhaber dieser Vier etwas Staub auf dem Rocke zu sitzen. Die absonderliche Bürste ist in andauernder Bewegung, und wenn gar Asche von der Cigarre herabfällt, nimmt’s mit dem Reinigen kein Ende.

Die ganze Hand verliert sich auch gern in Seiten- und Hintertaschen. Einer meiner Bekannten kann überhaupt etwas aufmerksam nicht betrachten, z. B. ein Gemälde in der Kunstgalerie, ohne beide Hände hinten zu vergraben, und ein Anderer schiebt die rechte Hand in die Brust und steht da, als ob er modellirt werden sollte. Der Daumen wird gern eingehakt. Viele haken ihn in die Rocköffnung, manche auch an derselben Stelle in die Weste.

Seitdem geschlossene Röcke in der Mode sind, verliert sich der Tommeltot (eine charakteristische dänische Bezeichnung für den kleinsten Finger der Hand) nicht mehr in die Westentaschen.

Eine besondere Species in der Gesellschaft bilden die Leute, welche Brillen oder Pincenez tragen. Ein Gelehrter, den ich kenne, nimmt die Brille ab, putzt sie, spricht, setzt sie wieder auf, zieht von Neuem das seidene Tuch hervor, putzt abermals, vergißt beim eifrigen Gespräch aufzusetzen, erinnert sich, reinigt nochmals, und schiebt nun endlich das Glas auf die Nase, um nach fünf Minuten dieselbe Procedur zu wiederholen. – Sehr gern wird auch mit den an Bändchen befestigten Gläsern gespielt. Sie werden benutzt, um der Handbewegung beim Sprechen einen nachdrücklicheren Impuls zu verleihen, sie werden geschwenkt, und mit ihren Rändern wird leise aber permanent auf den Tisch geklopft.

Manche Menschen sind fortwährende Lacher und zwar, wo nichts zu lachen ist. Die gleichgültigsten Reden begleiten sie mit einem lauten Geräusch, und nicht etwa aus Verlegenheit, sondern um ihren Worten eine größere Bedeutung beizulegen. Wie alles unzeitige abstoßend wirkt, so ist auch diese Gewohnheit ganz besonders störend. Lacher ohne Grund gleichen einem arg verstimmten Piano, man möchte sich die Ohren zuhalten. Einign haben die Gewohnheit, beim Zuhören den Mund in die Breite zu ziehen, als seien sie Kinder, die sich im Fratzenschneiden üben, und vieler Leute Hüsteln, Räuspern, Blinzeln und [385] Lippennagen ist kaum zu ertragen. Einige bringen die Unarten ihrer Kinderjahre mit ins erwachsene Alter hinüber. Ich sah einen meiner Schulkameraden noch mit dem dreiundzwanzigsten Jahre die Zunge unter die Unterlippe schieben und Beides in Bewegung setzen. So saß er mit zerstreutem Gesicht auf der Schulbank, und so hörte er in späteren Jahren schweigend Anderen zu. Sein Vater hatte es ebenso gemacht bis an seinen Tod.

Jüngst beobachtete ich eine Scene zwischen einem Leisesprechenden und einem ungeduldigen, etwas herrischen Geschäftsmann. Der Leisesprecher, zudem ein Lispler, begann seine unverständliche Rede.

„Verstehe kein Wort!"

Der Supplikant wiederholte in gleichem, gedämpftem Ton, was er eben gesprochen.

Jener griff ein verständlicheres Wort heraus, zuckte mit unverkennbarem Unbehagen fragend die Achseln und ging an sein Pult zurück, als ob der Besucher nicht mehr anwesend sei.

Es entstand eine Pause, nach welcher der Lispelnde nochmals begann, diesmal aber, vielleicht aus Furcht, nur noch Laute hervorhauchte.

„Lieber Herr! Räthsel zu rathen, fehlt mir die Zeit. Entweder sprechen Sie, daß man’s hören und verstehen kann, oder entfernen Sie sich!"

Nach diesem heftigen Ausbruch nervöser Ungeduld öffnete der Fremde zwar noch einmal den Mund, aber ein völliges Unvermögen stellte sich ein. Er verbeugte sich schließlich betreten, ging und ward nicht mehr gesehen.

Die Ausführlichen, die selbst auf offener Straße im strömenden Regen ihre langen Tiraden ablösen und ihre Mitmenschen empfindungslos festhalten, sind auch nicht allzu selten. Ausführliche Erzähler sind furchtbare Quälgeister der Menschheit.

Welch eine Erquickung, wenn in der heutigen beschäftigten Zeit Jemand kurz, knapp und klar seine Meinungen und Wünsche äußert! Und das gilt nicht nur im geschäftlichen Verkehr, auch in der gesellschaftlichen Konversation wirkt das präcise, das Wesen da Sache betreffende Wort überaus anheimelnd. Wem der Schöpfer schnelles Fassungsvermögen nicht verlieh, der möge wenigstens nachdenken, bevor er redet. Ohne vorheriges Nachdenken aber sprudelt der langsam Ueberlegende seine Meinung heraus, und so entsteht das Geschwätz, welches mit der Leierkastenmelodie in der Musik zu vergleichen ist.


Was will das werden?

Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)
10.

Es war ein sehr weites und hohes Gemach, in welchem ich kaum eine Einzelheit erkennen konnte, da es, nach Westen gelegen, so ganz von dem röthlichen Widerscheine einer letzten höchsten Abendwolke erfüllt war, daß ich im ersten Momente nicht einmal die Lampen bemerkte, von denen eine auf einen großen Tisch in der Mitte, ein paar andere in den Ecken auf Postamenten brannten. Ich hatte, eintretend, Reisetasche und Mütze auf einen Sessel neben der Thür gelegt, während der Herzog bis zu dem Tisch geschritten war, an welchem er sich jetzt in einen Armstuhl niederließ, mich auffordernd, zu ihm zu kommen und auf einem Sessel vor ihm Platz zu nehmen. Ich gehorchte, vorsichtig über den glatten Marmorfußboden schreitend, der nur da, wo er saß, und an einigen anderen Stellen mit Teppichen belegt war. Mein Fuß war so lange auf Moosboden getreten, und die marmorne Pracht, die mich umgab, so wenig ich auch davon unterscheiden konnte, machte einen schauerlichen Eindruck auf mich, da mir unwillkürlich der weite von Blumenduft erfüllte Raum, in welchem die beiden einzigen Personen zu verschwinden schienen, die niedrige, von Menschen wimmelnde, dunstige Waldschenke und das Leben der armen Leute „vom Walde“ in Erinnerung brachte.

So fielen denn die Antworten, die ich dem Herzog auf seine mancherlei in der bei ihm gewohnten raschen und kurzen, oft abspringenden Weise gestellten Fragen gab, recht mangelhaft und verworren aus. Ich fühlte das wohl; er aber schien es nicht zu bemerken, obgleich er sonst dergleichen ungebührliche Zerstreutheit hat sofort und streng rügte. Ich hatte den Eindruck, als ob er selbst mit irgend etwas, das mit seinen Fragen in keinem Zusammenhange stehe, innerlich beschäftigt sei und an meinen Antworten so wenig ein Interesse nehme, als an seinen aufs Gerathewohl gestellten Fragen. Oder an der Erzählung seiner Berliner Erlebnisse, in die er, ich weiß nicht wie, gerathen war, und in welcher „der Mann, dessen Namen er nicht zu nennen brauche“, die hergebrachte unliebsame Rolle spielte. Zugleich sagte mir eine Stimme, daß dies Etwas, was ihn innerlich beschäftige, sich auf Adele beziehen müsse; er hatte sie sicher nicht uns allein lassen heißen, damit wir das völlig unfruchtbare Gespräch mit einander führen könnten.

Und ich schien mich nicht getäuscht zu haben. Plötzlich traf ihr Name mein Ohr, nicht: Adele, sondern: Frau von Trümmnau, wie er sie immer mir gegenüber nannte.

„Sie erinnern sich,“ fuhr er fort, „was ich Ihnen an dem Abend vor meiner Abreise sagte. Ich weiß, daß Sie einen lebhaften Antheil an der liebenswürdigen Dame nehmen, wie sie selbst – was Sie sich immerhin als ein Kompliment anrechnen dürfen – sich nicht minder lebhaft für ihren jungen Protégé interessirt. Als ein solcher echauffirten Sie sich, wie billig, neulich Abends für Ihre Dame, und ich glaube, ich gerieth darüber ebenfalls in einen größeren Eifer, als just nöthig war – sich zum wenigsten in der Folge nöthig erwiesen hat. Ich will nicht sagen, daß Frau von Trümmnau gestern Abend – ich bin bereits seit gestern Abend zurück – und selbst noch heute nicht auf ihre Emancipationsideen zurückgekommen ist. Sogar mit einiger Lebhaftigkeit. Aber meine alte erprobte Erfahrung und Welt-, Menschen- und Herzenskunde hatten doch einmal wieder Recht behalten. Sie konnte denn doch nicht in Abrede stellen, daß das Bild des famosen Russen in den Jahren ein wenig stark eingedunkelt ist und verhältnißmäßig an seinem Zauber verloren hat. Und nebenbei vermuthlich vice versa, obgleich ich ein zu höflicher Mann bin, einer schönen Frau gegenüber auf diese Seite der Medaille auch nur hinzudeuten. Es bedurfte dessen auch nicht, da sich auch ohne das die Vortheile ihrer hiesigen Situation für ihre klugen Augen ganz von selbst in das rechte Licht gestellt hatten. Entin, wir beide: Frau von Trümmnau und ich, haben unsere kleine Differenz á l’aimable ausgeglichen und ich theile Ihnen das mit, weil ich weiß, daß es Sie freuen wird, und damit Sie dieser Ihrer Freude, wenn die Rede, wie wahrscheinlich, zwischen Euch Beiden daraufkommt, einen diskreten Ausdruck geben.“

Ich war starr. Denn von zwei Dingen konnte doch nur eines sein: entweder Adele hielt trotzdem an ihrer Liebe fest und hatte also gelogen, als sie dieselbe scheinbar preisgab; oder sie hatte sie wirklich preisgegeben und dann den Mann verrathen, an dessen Halse sie vor meinen Augen gehangen. War aber das Letztere der Fall – und in meiner verzweifelten Stimmung hielt ich es für wahrscheinlich, um es im nächsten für gewiß zu halten – nun, es gab eine Zeit, wo meine eifersüchtige Liebe darüber aufgejauchzt hätte. Jetzt nicht mehr. Jetzt, wo ich ihr nach so schweren Herzenskämpfen voll und rein entsagt, empfand ich nichts als Empörung über einen so schimpflichen Verrath des Herzens um die dreißig Silberlinge elender weltlicher Vortheile. So mochte sie denn hinfahren auf dem stolzen Glücksschiff mit den seidenen Segeln, das zu verlassen ich im Begriff war und nun gewiß verlassen wollte!

„Es scheint, dieser Ausgang hat Sie denn doch überrascht?“ sagte der Herzog, als ich beharrlich schwieg, mit einem Stirnrunzeln des Erstaunens.

„Ja, Hoheit,“ erwiderte ich entschlossen; „er hat mich überrascht, und ich gestehe, auf eine peinliche Weise.“

„Ich bitte gehorsamst, mir das zu erklären,“ sagte er, indem sich die Falten auf seiner Stirn vertieften.

„Ich fürchte, Hoheit wird von meiner Erklärung wenig befriedigt sein,“ fuhr ich fort, nun, da die Entscheidung gekommen war, mit einer Festigkeit, über die ich erstaunt war. „Ich halte es aber für das heilige angeborene Recht jedes Menschen, sich sein Schicksal nach seinen Ueberzeugungen und nicht zum wenigsten nach den Bedürfnissen seines Herzens zu gestalten. Wer dies Recht aufgiebt, macht sich zum Sklaven, schmiedet sich an die Kette, und wäre sie von Gold. Und um so schlimmer, wenn sie von Gold ist, denn dann liegt der Preis gleich bei der Waare, und dem Sklaven bleibt nicht einmal der armselige Trost, sich einbilden zu können, er habe seine Freiheit verschenkt.“

Ich hatte sicher geglaubt, vielmehr, ich hatte gehofft, der Herzog werde das nicht von seinem Schützling geduldig hinnehmen:

[386] ich hatte mich getäuscht. Die Falten von seiner Stirn waren verschwunden, als er jetzt nach einer kleinen Pause ruhig, fast freundlich erwiderte:

„Das klingt Alles recht schön und gut, und ungefähr habe ich dergleichen schon oft selbst gesagt. Sie vergessen nur in diesem Falle Eines. daß in der Wagschale nicht immer gerade Gold zu liegen braucht, oder ein Brennusschwert oder dergleichen rohe Dinge. Daß es wiederum eine Ueberzeugung und ein Herzensbedürfniß sein kann, wie eben in diesem Falle. Zugegeben, Frau von Trümmnau bringt ein Opfer; aber sie bringt es mir – Jemandem, dem sich dankbar zu erweisen, den zu lieben sie sich verpflichtet fühlt. Dankbarkeit und Liebe sind keine sklavischen Gesinnungen, und man darf sie acceptiren, wie ich es thue, ohne sich damit zu einem Tyrannen zu erniedrigen.“

Es war das erste Mal, daß der Herzog seinem Verhältniß zu Adele mir gegenüber einen so unzweideutigen Ausdruck gab, und ich fühlte mich halb entwaffnet. Nur halb: denn auf den heiligen Glanz des Verhältnisses von Vater zu Kind fiel ein dunkler Schatten. Unten im Thal war ich eben durch die Mühle gekommen, in der Eine gewohnt hatte, die für sich selbst auf Liebe und für ihr Kind auf ein Vaterherz Anspruch erhoben hatte und – damit abgewiesen war. Mit der Heiligkeit der Naturbande schien es hier also doch nur mißlich zu stehen. Mich aber fesselte an ihn kein Band, das ich nicht hätte zerreißen dürfen, ohne göttliche und moralische Gesetze zu verletzen. Was denn zögerte ich?

Für den Moment hatte ich jedenfalls schon zu lange gezögert, denn er fuhr, offenbar mein Schweigen für sich deutend, in einem Tone fort, der jetzt fast herzlich klang:

„Sehen Sie, Sie wissen nichts vorzubringen, und ich freue mich, offen gestanden, Sie überzeugt zu haben. Schon deßhalb, weil ich, nachdem dieser Stein des Anstoßes für Sie beseitigt ist, mit Ihnen selbst glattere Bahn zu haben hoffe. Frau von Trümmnau sagt mir, daß Sie mit Hartnäckigkeit daran festhalten, Ihr Verhältniß hier zu mir und meinem Hause als ein passagères zu betrachten – als einen Besuch gewissermaßen, den Sie mir auf meine Einladung machen, und der, wie jeder Besuch, einmal sein Ende finden wird. Ich wünsche, daß Sie diese Auffassung fallen lassen. Selbstverständlich sind Sie mir gegenüber vollkommen frei und Herr Ihrer Handlungen und Entschlüsse. Daß Sie, wie Sie Frau von Trümmnau gesagt haben, mein Schuldner wären, weil ich Sie aus Ihren alten Verhältnissen gelöst und Ihnen die Mittel gewährt habe, ein halbes Jahr oder so unter Weißfisch’ Leitung die Schauspielkunst zu studiren, ist mit Ihrer Erlaubniß falsch. Das Gegentheil findet statt: nachdem ich Sie aus Ihren alten Verhältnissen gelöst, habe ich auch die Verpflichtung, weiter für Sie zu sorgen. Das kann auf mancherlei Weise geschehen, und ich habe mir auch bereits einen Lebensplan für Ihre nächsten Jahre ausgedacht und Frau von Trümmnau mitgetheilt, die ganz damit einverstanden ist. Daß wir, Frau von Trümmnau und ich, dabei auf unsere Kosten zu kommen suchen, das heißt: Sie so viel als möglich in unserer Nähe behalten wollen, werden Sie begreiflich finden. Damit genug für heute. Und jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer. Auf Wiedersehen in einer Stunde beim Thee!“

Er winkte mit der Hand; ich erhob mich, an allen Gliedern wie gelähmt. Gegen seinen Zorn wäre ich gewaffnet gewesen, gegen seine Güte war ich machtlos. Ach, und er hatte so gütig gesprochen, wie noch nie; so wohlwollend, so bittend fast, ohne auch nur einmal den Fürsten durchblicken zu lassen, so ganz nur als ein älterer, reiferer, besorgter Freund! Und da war mir denn, während er sprach, gewesen wie damals, als ich und Fritz Brinkmann unser leckes Boot gegen Strom und Wellen zum Ufer zwingen wollten und es nicht konnten, und endlich die Ruder sinken ließen und sagten: wenn der Wind nicht umgeht, sind wir verloren

Damals ging der Wind um, aber jetzt –

Ich schwankte fast über den Marmorboden nach der Thür, durch die wir eingetreten waren.

„Da kommen Sie in den Park!“ sagte der Herzog hinter mir her.

„Ich wollte nur meine Reisetasche holen,“ erwiderte ich verwirrt.

„Ja so! à propos Reisetasche! Haben Sie das Buch gefunden, das ich Ihnen hatte hineinlegen lassen?“

„Ja, Hoheit.“

„Wissen Sie, daß es eigentlich ein wenig unfreundlich von Ihnen ist, mir darüber auch nicht ein Sterbenswort zu sagen? Sie haben es am Ende nicht einmal gelesen?“

„Doch, Hoheit!“

„Oder nicht goutirt. Man schweigt sich doch nicht aus über ein Buch, an dem man Freude gehabt hat. Nun?“

„Was soll ich sagen, Hoheit?“

Ich hatte mich auf seinen Aufruf wieder gewandt, und wir standen uns jetzt, da er sich inzwischen ebenfalls erhoben hatte, einander gegenüber. Aber die herzgewinnende Freundlichkeit, die vorhin seine Züge belebt hatte, war völlig verschwunden und hatte einem finsteren Ausdruck Platz gemacht, welcher sich besonders um die Augen koncentrirte, die starr und gläsern auf mich geheftet waren.

„Was Sie sagen sollen?“ rief er mit unterdrückter Heftigkeit. „Schöne Frage! da darf ich sie wohl in Ihrem Sinne beantworten? Der gute Herr hätte besser gethan, die Hände von dem Spiel zu lassen, das er nicht versteht, das nur wir verstehen, wir, die Poeten von Gottes Gnaden! Meinen Sie das? Dilettantenkram! Verse, wie sie Jeder machen kann! Schülerarbeit! nicht werth, einem Meister vorgelegt, von einem Meister beurtheilt zu werden! So sagen Sie es doch! Oder hätte der Herr Poet von Gottes Gnaden nicht einmal den Muth seiner Meinung?“

„Lassen mich denn Hoheit auch nur zu Worte kommen?“

Er biß sich auf die Lippen und aus seinen Augen schoß ein zorniger Blitz.

„Ich danke Ihnen für diese Lektion,“ sagte er mit bebender Stimme. „Nun die andere, wenn ich bitten darf!“

Jetzt war der entscheidende Augenblick da. Ich fühlte es bis in den letzten Nerv. Jagte er mich weg, weil ich seine Verse nicht loben wollte, nun, so war die Freiheit, die ich bei ihm genießen sollte, eitel Schein und Lüge; so war es von allem Anderen abgesehen mein Recht und meine Pflicht, dieser Lüge ein Ende zu machen mit Schrecken, wenn es sein mußte, lieber, als das Grauen dieser Lüge endlos weiter zu schleppen.

Er hatte den Platz, auf dem er mir gegenüber gestanden, verlassen und ging mit Schritten, die von dem marmornen Fußboden widerhallten, auf und ab. Ich folgte ihm mit den Augen und sagte mit einer Festigkeit, über die ich mich selbst wunderte:

„Zuerst werden mir Hoheit die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich mich nie für einen Poeten von Gottes Gnaden ausgegeben habe. Ich habe mich für einen solchen in meinem Innern auch noch nie gehalten, und ebenso wenig für einen Kenner in poetischen Dingen, der zu einem Urtheil berechtigt wäre und dessen Urtheil einen Werth hätte. Ich kann nichts geben, als meine subjektive Empfindung, und wenn also Hoheit darauf bestehen, daß ich dieselbe über Ihre Gedichte äußere, so muß ich allerdings sagen –“

Ich kam nicht weiter. Eine schmale Seitenthür dicht neben dem gewaltigen Kamine hatte sich geöffnet und Adele war in das Gemach getreten, eilenden Schrittes auf den Herzog zugehend, der sich in diesem Momente halbwegs zwischen jener Thür und mir befand.

„Was soll das heißen?“ rief er heftig.

Sie antwortete nicht, sondern kam vollends an ihn heran und suchte seine Hand zu fassen, die er ihr entzog.

„Wer hat Dich gerufen?“ herrschte er sie an; „Du weißt, ich liebe dergleichen Ueberraschungen nicht. Oder bin ich nicht mehr Herr in meinem eigenen Hause?“

Sie hatte nun doch seine Hand ergriffen und war, dieselbe festhaltend, an seiner Seite niedergesunken, mit leisen, flehenden Worten, in die sich manchmal ein lauteres Schluchzen mischte, zu ihm emporsprechend, der sich vergebens loszumachen suchte, wobei er fortwährend die blitzenden Augen auf mich gerichtet hielt.

Und während ich, ein stummer Zeuge dieser seltsamen Scene, da stand, kam plötzlich jene wunderlichste aller Empfindungen über mich, daß man das, was da um uns geschieht, schon einmal erlebt hat. In diesem Saale, in welchem jetzt der Abendschimmer längst erloschen war und dessen mächtigen Raum die spärlichen Lampen nur so weit erhellten, daß ein gespenstischer Schein von den weißen Statuen an den Wänden flimmerte, und aus den Wandgemälden, an deren gewaltigen goldenen Rahmen hier und da ein röthlicher Reflex aufblitzte, ein nackter Menschenleib tauchte, oder ein unheimliches Gesicht, wie wenn Jemand durch die Wand herein- und auf mich niederschaute – in diesem Saale war ich schon einmal gewesen zu eben dieser Stunde. Und den hohen [387] Mann mit den blauen blitzenden Augen, den hatte ich gesehen an eben derselben Stelle, und eine Frau hatte vor ihm gelegen – gerade so auf den Knieen, seine Hand festhaltend, die er ihr entziehen wollte; in leisen, schluchzenden Worten, die ich nicht verstand, zu ihm emporsprechend. Nur Eines war nicht da und ich sah es doch: das Kind, das neben der Frau, die seine Mutter war, auf den Knieen gelegen und auf seiner Mutter Geheiß die gefalteten Händchen zu ihm emporgestreckt hatte – das Kind, das ich gewesen war!

Ich, der ich da stand und mich nach einem Gegenstande bückte, der dem Herzoge, als er sich niederbog. Adele aufzuheben, aus der Tasche geglitten, sich ihm von der Kette gelöst haben mochte – ich weiß es nicht – und auf dem Marmorboden bis zu mir gerollt war und jetzt zu meinen Füßen lag, der ich mich niederbog, es aufzuheben, und es jetzt in der Hand hielt: mein Medaillon mit dem Bilde der Mutter, dessen Kapsel in dem Momente, als es zur Ruhe kam, aufgesprungen war, als wollte es dem Träumer zu Hilfe kommen und ihm seinen Traum deuten.

Es war nicht mehr nöthig gewesen: er hatte auch ohne das das Furchtbare voll begriffen.

Und nun packte es ihn und schüttelte ihn, daß ihm die Glieder flogen, es dunkel wurde um ihn her und er meinte, er müsse zu Boden sinken. Und daß ihn dann der Marmorboden verschlingen möchte!

Ich hatte mich doch aufrecht erhalten, aber wohl für einen Moment das Bewußtsein verloren, das mir erst von einer Berührung wiederkam. Es war Adele, die mich an beiden Händen gefaßt hatte und mit schreckensbleichem Gesichte zu mir aufschaute. Und nun sah ich auch den Herzog wieder. Er stand, näher als vorhin, aber noch immer in einiger Entfernung, mit einer finsteren und doch gespannten Miene auf mich, auf uns blickend.

Auf uns! auf mich und auf sie, die ich so grenzenlos geliebt hatte!

Entsetzen!

Ich schleuderte das schöne Weib von mir, als wäre es eine giftgeschwollene Natter, und stürzte aus dem Saale in die Nacht hinein.

Wie ich den Weg durch die vielverschlungenen Pfade des Parks gefunden habe – ich weiß es nicht. Ich rannte nur fort, denselben Weg, den mich vorhin der alte Müller geführt hatte, denselben Weg, den mich meine Mutter getragen hatte in ihren Armen, während die Sterne droben schimmerten. Und blickte jetzt wieder zu ihnen auf, aber nicht mehr mit den wundernden Kinderaugen – mit den Augen eines Verzweifelten, den sie zu verhöhnen schienen in ihrer stillen Majestät.

Nun quellen sie hervor in unendlicher Zahl, die ich eben nur noch vereinzelt sah, denn der Park liegt hinter mir, und ich eile den schmalen Pfad über die Wiese hin dem Bache zu und dem Rauschen, das immer lauter wird. Aber ich weiß, es ist nicht der Bach, der so rauscht; es ist der Wasserberg, der ganz schwarz ist, nur daß weiße Streifen über ihn hingleiten, die im Lichte der Sterne flimmern. Und hart an ihm vorüber geht es über den Steg, von dem mich der Mann mit den blauen blitzenden Augen an jenem Morgen weggetragen hat, als ich hier auf der Wiese gespielt hatte, die aber keine Wiese war, sondern ein Wald von hohen nickenden Halmen, über denen riesengroße bunte Schmetterlinge flogen.

Und da ist der Steg, und da ist der schwarze Wasserberg mit den flimmernden weißen Streifen. Hier hat die Mutter mit mir gestanden, hier an dieser Stelle. Und sich so über das schwanke Geländer gebogen, und so schoß unter dem Stege das Wasser siedend und gurgelnd dahin.

Das dünne Geländer, das eigentlich nur eine Stange ist, biegt sich unter meiner Last. Wenn es bricht! Es ist heute mehr Wasser im Bache, als dem Müller lieb ist! Und um das Schwimmen mit dem lahmen Arme wird es wohl mißlich stehen. So kann’s bald vorüber sein.

Eine schwere Hand legt sich mir auf die Schulter, und eine große Gestalt steht neben mir. Ich habe sie vor dem Donner des Wasserberges nicht kommen hören, und es ist so dunkel, daß ich nur eben die Umrisse der Gestalt sehe. Aber er ist es nicht, vor dem ich fliehe. Er! wie käme auch er hierher!

„Wer sind Sie?“

„Ich bin der Müller Siebenpfeiffer. Wer Sie sind, junger Herr, das brauche ich nicht zu fragen. Ich habe Sie auf den ersten Blick erkannt an der großen Aehnlichkeit. Sie sind ihr wie aus den Augen geschnitten. Kommen Sie von hier weg, junger Herr! Der Ort ist schon einmal ein böser Ort für Sie gewesen. Und mir scheint, er könnt’ es noch einmal werden.“

Der Alte hat mich mit einer Kraft, die mir unwiderstehlich scheint, am Arme ergriffen und von dem Stege geführt. Ich kann eben keinen Widerstand leisten, denn meine eigene Kraft ist gebrochen, und als wir jetzt den Hof erreichen, muß ich mich schwer auf seine Schulter stützen.

„Kommen Sie ins Haus!“ sagte er.

„Ich kann nicht,“ erwiderte ich; „ich muß fort, fort. Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, helfen Sie mir von hier!“

„Morgen, wenn Sie wollen; heute nicht mehr.“

„Sie versprechen es mir?“

„Ja, das thue ich.“

„Und wenn man mich hier sucht?“

„So soll man Sie nicht finden, wenn Sie nicht gefunden sein wollen.“

„Nein, nein! Lieber sterben!“

„Just so sagte Ihre Mutter auch.“

Wir stehen vor der Hausthür, in der eine Matrone erscheint, die, das Licht mit der Hand schützend, uns entgegen leuchtet.

„Bist Du’s, Alter?“

„Ja, Alte. Und ich bringe da Jemand, den Du schon kennst.“

„Herr Gott!“

„Still! Hinein ins Haus! und mach’ das Licht aus.“

Er hat uns durch die Thür geschoben, die er hinter uns zudrückt. Die Alte hat das Licht ausgeblasen. Ich stehe mit ihr auf dem dunklen Flur hinter der Hausthür. Auf dem Pflaster des Hofes klappern Pferdehufe. Eine unbekannte Stimme fragt; die tiefe Stimme des Alten antwortet. Dann wieder das Klappern von Pferdehufen. Als sie verklungen sind, öffnet der Alte die Thür, die er hinter sich abschließt, und dann ein Schwefelholz anreißt.

„Es war der Reitknecht Martens,“ sagt er: „sie haben schon Boten nach allen Richtungen geschickt.“

Er leuchtet mir mit dem wieder angezündeten Lichte ins Gesicht. Die alte Frau schlägt vor Verwunderung die Hände zusammen.

„Sagte ich es nicht? ganz wie seine Mutter. Und er will auch nicht gefunden sein. Hörst Du, Alte?“

„Ich höre schon,“ erwidert die Matrone. „Mir ist’s recht. Wenn’s nach mir gegangen wäre, Der im Schlosse hätt’s nie erfahren, daß Du sie aus dem Wasser gezogen hast, und es auf dem Gewissen behalten müßen zu allem Anderen.“

(Fortsetzung folgt.) 


„Kaufen Sie Kornblumen?“

Von Viktor Blüthgen.
(Mit Illustration S. 384.)

„Kornblumen, Herr?“ – das Mädchen ruft.
Still halt’ ich im Vorüberwandeln,
Um diese Schönheit ohne Duft,
Dies holde Unkraut einzuhandeln.
Wie leuchtet’s her so tief und satt,
Der Aehren grellem Grund entzogen!
So strahlend blau, als ob sich’s hat
Am Blau des Himmels satt gesogen.

Reich her, schwarzhaarig Kind der Flur!
Du bist zum Handel just die Rechte,
Und wär’s um diese Augen nur
Und deines Lächelns holde Mächte:
Das blitzt wie Feld im Morgenthau,
Darüber Lerchentriller steigen,
Das buhlt um Gunst so kinderschlau,
Halb schüchtern, halb mit trautem Neigen.

Feldblume selber, frisch erblüht –
Behüt dich Gott vor üblen Händen!
Ein Weilchen noch, getränkt, besprüht,
Wird dieser Strauß mich reizend blenden:
Dann fruchtlos welkend, abgewehrt
Such ihn im Kehricht auf der Gassen – –
Behüt dich Gott! Sei dir beschert
Ein reines Blühen und Verblassen!


[388]

Die Neugriechen.

Von Eduard Engel (Berlin).

Die „griechische Frage“, d. h. die Abtretung von Epirus, Makedonien und sämmtlichen Inseln an Griechenland, beschäftigt jetzt, wie in den letzten Jahrzehnten ja schon wiederholt, seit Monaten die ganze europäische Großmachtdiplomatie, die Börse und die Presse. Jeder Zeitungsleser hat sich über diese Frage, wie über die meisten andern, sein Urtheil längst gebildet, d. h. er hat es fix und fertig aus seiner Morgenkaffee-Zeitung übernommen und kommt damit aus. Von dem Volk aber, welches diese neueste „Frage“ mit so nachdrücklichen Fragezeichen auf die politische Schreibtafel geschrieben und sie immer wieder schreiben wird, bis sie einmal endgültig beantwortet sein wird, hat man eine erstaunlich geringe Kenntniß.

Griechenland liegt nicht mehr außerhalb der europäischen Grenze wie früher; man kann wöchentlich mehrere Male auf sehr verschiedenen Wegen, wenn Einem die Cholera nicht gerade einen der kürzesten versperrt, nach Athen gelangen und von dort eine schnelle Rundreise auf bequemen Dampfern des Oesterreichischen Lloyd und der drei griechischen Dampfergesellschaften um den Peloponnes machen. Man bekommt bei solcher vergnüglichen Runfahrt allerhand Küstenstädte und -städtchen zu sehen, die sich vom Schiffe aus äußerst malerisch ausnehmen, hat in Athen eine Mischung von Pariser und Brüsseler Leben mit einigem orientalischen, in Korfu ein süditalienisches Hafenstädtchen mit etwas Griechenthum kennen gelernt, ist allenfalls von Katakolo nach Pyrgos und von hier nach Olympia in einem behaglichen Wagen gefahren, hat entweder einen Dolmetscher mitgenommen oder ist mit Stangen gereist, hat natürlich bei dieser Gelegenheit auch einige Fustanella[1] tragende Griechen, wohl gar einige Bauersleute gesehen, und nun ist man mit Griechenland und den Griechen fertig. Die Zahl der Ausnahmsreisenden, welche tief ins Land hineingedrungen sind, und zwar mit dem unentbehrlichsten aller Forschungsmittel, der Kenntniß der Landessprache, ist noch immer eine erstaunlich geringe, und so kommt es denn, daß Vorurtheile der allerverschiedensten Art sich die Hände reichen, um das Publikum gegen Griechenland und die Griechen einzunehmen. Das nämlich, was man bei einer solchen Rundfahrt zu sehen bekommt, enthält so viel Schattenseiten des griechischen Lebens, die an der Oberfläche liegen, und bringt so wenige der vielen ausgezeichneten Eigenschaften dieses Volkes ans Licht, daß man sich nicht wundern kann, wenn noch heute, im Jahrzehnt der Blitzzüge und Schnelldampfer, griechische Menschen und Dinge nahezu unbekannter sind, als west- und ostafrikanisches Volk und Land.

Da ist zunächst die Abstammung der Neugriechen! In der Wissenschaft ist freilich die Behauptung Fallmerayer’s längst abgethan: die Griechen seien weiter nichts als Südslaven, gemischt mit Albanesen. In der Praxis aber, soweit die Westeuropäer überhaupt über die Abstammung der Neugriechen sich den Kopf zerbrechen, kann man heut zu Tage noch überall die ganz unbefangen vorgetragene Meinung vernehmen: „nicht wahr, von den alten Griechen stammen die Neugriechen doch nicht ab?“ Man hat auf den deutschen Universitäten hin und wieder einen griechischen Studenten gesehen, und da diese Herren meist kleine, unansehnliche Leute sind und von weitem wirklich den Südslaven ein bischen ähneln, so hat das Vorurtheil immer neue Nahrung erhalten.

Nein, die Neugriechen sind echte und rechte Nachkommen der alten Griechen, vielleicht in höherem Grade, als die heutigen Italiener Nachkommen der alten Römer sind. Mischungen mit andern Völkerstämmen, die von Norden und Nordwesten im Mittelalter erobernd ins Land drangen, haben allerdings stattgefunden, aber diese Mischungen sind nicht stark genug gewesen, um den Charakter, die Sitten und vor Allem die Sprache des Volkes wesentlich zu ändern. Freilich, auf den Inseln des westlichen Meeres, auf Korfu, Kephalonia und Zante kreist mindestens eben so viel italienisches oder fränkisches Blut in den Adern der Menschen wie griechisches, und auch in Athen und Umgegend sieht es mit der Reinheit der Rasse nicht sehr griechisch aus. Im Innern aber, sowohl des Peloponnes wie auch großer Theile des rumeliotischen Griechenlands, wohnt ein Volk, welches völlig abweichend ist in physischem wie geistigem Charakter von allen andern Völkern Europas, namentlich auch von den Südslaven.

Wer von Arkadien durch Messenien nach Lakonien gewandert ist und die hohen Männergestalten gesehen hat, die nicht etwa vereinzelt, sondern als Regel das Land bewohnen, Riesen von sechs Fuß und darüber, wahre Muster männlicher edelster Schönheit, der lacht, wenn er sich seines vielleicht früher selbst gehegten Vorurtheiles gegen die Abstammung der Neugriechen erinnert. Diese Menschen kommen freilich nicht nach Deutschland, um auf unseren Universitäten zu studiren, auch ihre Söhne nicht. Die bleiben auf ihrer eigenen Scholle, bebauen von Vater auf Sohn denselben Weinberg, sammeln die Oliven von denselben Oelbäumen und lassen sich auch durch die mächtig vordrängende griechische Volksschule nicht in dieser uraltgewohnten Lebensweise stören. Was zu uns aus Griechenland kommt, ist Stadtvolk, ein verkümmertes, verhutzeltes Geschlecht, das seit Menschenaltern in den Städten haust und sich im Gasthause zum Menschen herangebildet hat.

Unantastbarer aber als die ethnologischen Gründe für die Echtheit der Rasse sind die sprachlichen. Wenn je ein Volk durch Jahrtausende seine Sprache treu bewahrt hat, dann das griechische. Es macht auf den Sprachforscher beinahe einen unheimlichen Eindruck, wenn er in der neugriechischen Sprache, und zwar wohlgemerkt in der Volkssprache, fast all den Formen und Wörtern begegnet, die er seit frühen Knabenjahren als längst abgestorben (todte Sprache!) zu betrachten gewöhnt worden ist. Was die neugriechischen Städter heute sprechen, und was die Journalisten und Schriftsteller heute schreiben, das mag auf sich beruhen; denn es ist nichts Volksthümliches, sondern mühsam erlernt; wie auch wir unser Griechisch mühsam erlernt haben. Niemand aber in Griechenland spricht das Griechisch der Zeitungen und Bücher als Umgangssprache, auch die Gebildetsten nicht, es sei denn im Parlamente, wo es zum guten Tone gehört. Darum ist man auch völlig verblüfft, wenn man mit dem mühsam zu Hause erlernten Neugriechisch in Korfu ans Land steigt, daß man die Sprache des Volkes nicht versteht und von ihm nicht verstanden wird. Denn in der Familie und im Umgange herrscht überall die neugriechische Volkssprache, griechisch in jeder Faser ihres Seins, vor Allem ganz griechisch in ihrer Grammatik und mit so wenig fremden Beimischungen in ihrem Wörterschatze, daß namentlich wir Deutsche mit unserem Heere von Fremdwörtern uns dagegen verkriechen können. Die jahrhundertelange Unterjochung des Landes durch Italiener und Franzosen im Mittelalter, die fast vierhundertjährige Knechtschaft durch die Türken hat nichts vermocht über die Unverwüstlichkeit des Lebens der griechischen Sprache. Mit Ausnahme leicht zählbarer, jetzt immer mehr aussterbender türkischer und italienischer Wortentlehnungen ist das Griechische durchaus griechisch geblieben.

Ein anderes Vorurtheil gegen Griechenland und die Griechen ist das Gerede gegen das Räuberwesen. Es wird noch lange dauern, ehe in diesem Punkte eine Besserung der öffentlichen Meinung Europas eintritt, und doch ist kaum ein anderes Vorurtheil gegen Land und Leute ungerechter als jenes. Seit 16 Jahren ist in Griechenland gegen keinen Fremden auch nur der Versuch eines feindseligen Angriffs auf Leben oder Habe gemacht worden, und doch wird, namentlich von Deutschen, jeder Winkel, jedes entlegenste Gebirgsthal des Landes durchstreift, allein oder mit einem Führer, waffenlos, ohne Schutz durch Soldaten oder Polizisten. Wenn es doch gelänge, den verhängnißvollen Irrthum, der leider auch in Deutschland herrscht, auszurotten, daß man in Griechenland auf einer Reise abseits von der großen Wanderstraße Gefahr läuft, von Räubern angegriffen, in finsteren Höhlen versteckt und nur gegen hohes Lösegeld freigegeben zu werden! Die Sicherheit in Griechenland ist selbst in den bewegten Tagen, in denen diese Zeilen geschrieben werden, während das Volk durch das Kriegsgeschrei gegen die Türkei fieberhaft erregt ist, während Alles von Waffen starrt und selbst ein Theil der Gendarmerie zur Grenze abgegangen ist – eine so vollkommene, wie ganz gewiß nicht in Mittelitalien, von Sicilien ganz zu schweigen. Wer nach Griechenland reisen will, der lasse bei Leibe den sechsläufigen Revolver zu Hause. Solch ein Ding erregt

[389]

Die neuen Markthallen in Berlin.
Originalzeichnung von E. Hosang.

[390] Mißtrauen, macht vielleicht Feinde und – wiegt sehr schwer im Tornister; allenfalls mag man ihn zur Erweckung eines besonders guten Echos mitschleppen; im Uebrigen findet er keine Verwendung.

Dabei ist es auf den Bergwegen einsamer als in einem anderen Reiseland Europas, Norwegen vielleicht ausgenommen. Wollten die Schäfer, denen man begegnet, einen anfallen und ausrauben, so könnten sie es in aller Gemüthlichkeit; aber es kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Die räuberischen Anfälle in früherer Zeit (der letzte im Jahre 1869) wurden sämmtlich von organisirten Räuberbanden ausgeführt, und mit denen hat die Regierung des früheren Ministers Deligeorgis so unerbittlich aufgeräumt, daß man jetzt durch ganz Griechenland so sicher wandern kann, wie nur irgendwo in Deutschland, in Tirol oder in der Schweiz.

Eine Gefahr freilich giebt es für den einsamen Wanderer, zumal, wenn er nicht beritten ist! Die Unmasse von Dorfhunden, wolfähnliche, große Bestien, die rudelweise auf einen losstürzen, sobald man sich einem Dorf oder einem Weiler nähert. Sie umstellen einen, zeigen einem die spitzen, langen Wolfszähne, und im nächsten Augenblick glaubt man sich zerfleischt am Boden liegend. Die Hunde aber, die da bellen, sind just nicht die besten Beißer, und zudem genügt der Wanderstab und das bloße Drohen mit einem Steinwurfe, um durch die ganze geifernde Meute ungefährdet hindurch zu kommen. Ich habe an manchem Tage wohl ein Dutzend solcher unblutigen Kämpfe ausgefochten, und keine der Bestien ist mir je auf Prügelweite an den Leib gekommen.

Völlig ihren Vorfahren gleich sind die Griechen in einer schönen Tugend, die im übrigen Europa oft zu den frommen Sagen gehört: in der Gastfreundschaft. Mögen die Entbehrungen der gewohnten Wohllebigkeit im Großen wie im Kleinen eine Reise durch den Peloponnes auch noch so anstrengend machen, und mögen auch manche Stunden kommen, wo der Reisende, zumal der einsame, sich recht verlassen und verkommen fühlt – die über alles Lob erhabene Gastfreundschast erquickt ihn, so gut sie es vermag, und deckt über alle Mängel und Blößen den Mantel schönster Menschlichkeit. Selbst ohne Empfehlungen ist ein Reisender in Griechenland, der kein unleidlicher Patron ist, sicher, in jeder Stadt und in jedem Dorf Menschen zu finden, die sich seiner annehmen, und wenn sie als Lohn dafür mit einer geradezu kindlichen Neugier die weitestgehende Auskunft über Namen, Vaterland, Alter, Familienstand, Beschäftigung etc. des Reisenden erfragen, so ist das wohl ein kleiner Fehler, aber keine große Sünde.

Ja, die griechische Neugier! Ich habe mit Reisenden gesprochen, die mir erzählten, daß sie in Verzweiflung geriethen beim ersten Betreten einer griechischen Dorfschenke (Chani). Erst, wenn sich das wiederholt, so oft man sich zur Ruhe irgendwo niederläßt, wird man abgehärtet und nimmt diese Gaffgier für das, was sie ist, für den Fehler einer Tugend. Der Neugrieche ist von einer verzehrenden Wißbegierde; er erlernt Alles, was er sich vornimmt, in kürzester Frist, vergißt es freilich auch leicht genug. Das Leben der „Europäer“ aber, das heißt der Westeuropäer, ist für ihn der wichtigste Gegenstand der Wißbegier. Er möchte gar zu gern es ihnen gleich thun und thut es leider in den Städten viel zu schnell und ohne Geschmack, wie man sich in Athen auf Schritt und Tritt überzeugen kann. Die Wißbegierde ist es, welche das Gaffen und Starren und Ausfragen erzeugt; sie hört bald auf, nachdem man sich angefreundet hat, und nachdem des Wissens erste Gier gestillt ist und die Leute eingesehen haben, daß man auch keine Berge versetzen kann, sondern ein armes Menschenkind ist, wie sie, wenn auch mit anderer Sprache und anderen Sitten. Wem es Spaß macht, Aufsehen zu erregen, der Mittelpunkt eines ganzen Orts zu sein, dieses Verlangen aber in der lieben Heimath nicht nach Herzgelüste befriedigen kann, der gehe von Zeit zu Zeit nach Griechenland: er ist dort in jedem Dorf und in vielen Städten sogleich die erste und wichtigste Persönlichkeit, dem die Kinder nachlaufen, den die Männer umstehen und die Frauen bewundern. Führt man gar einige solche Herrlichkeiten mit sich wie einen Regenmantel, einen Kompaß, ein Opernglas, einen Schrittmesser etc., so kann man eine ganze Ortschaft einen langen Tag unterhalten, als wäre man – ein Seiltänzer oder ein Menageriebesitzer. Die Hantirung mit der Zahnbürste, mit einem Nagelmesser oder sonstigen Unentbehrlichkeiten des „civilisirten Mitteleuropäers“ macht einen zum Helden, wie einen geschickten Taschenspieler. Verläßt man das Dorf, so muß man schon sehr plump im Umgang mit Menschen gewesen sein, wenn man nicht verabschiedet wird wie ein Ehrenbürger. Aber dieselben Leute, die einen mit solcher Neugier umdrängt haben, sind es auch gewesen, die einem Obdach und Speise gewährt, und wenn es Bauern gewesen sind, nicht ein gewerbsmäßiger Herberger, so hüte man sich, ihnen Geld anzubieten, will man nicht als Feind von ihnen scheiden. Den Kindern mag man irgend etwas schenken, aber kein Geldstück, irgend einen bunten Tand. Aber im Uebrigen heißt es von den Griechen wie von jenem „Wirthe wundermild“ in Uhland’s Gedicht: da schüttelt er den „Gipfel“.

Wir feingebildeten, mit Hôtels und Oberkellnern und „Service“ und „Bougie“ gesegneten und übergesegneten Europäer wissen so wenig mehr von einfach menschlicher Gastfreundschaft gegen Wildfremde, daß wir bei einer Wanderung durch Griechenland aus dem Staunen und – ich gestehe sie wenigstens für meine Person – aus der Rührung nicht herauskommen. Es sind ja doch nicht die paar Franken mehr oder weniger für solch ein Nachtquartier mit Zubehör von Abendbrot und Frühstück, die einem am Herzen liegen; es ist der Zauber reiner Menschlichkeit, der sich überall da am herrlichsten offenbart, wo der Fremde dem Fremden, dem zum ersten Mal im Leben gesehenen und wahrscheinlich nie wiederzusehenden Menschen entgegentritt.

Man sage von den Stadtgriechen so viel Schlechtes, wie man wolle – ich sage es nicht, denn ich habe sie nicht ärger gefunden als die Städter sonstwo –, aber vom Kern des Volkes, von den griechischen Bauern schlecht zu sprechen, das ist bisher noch keinem Reisenden, auch dem übelwollendsten nicht, in den Sinn gekommen. Dieser Kern aber ist zum Glück der weit überwiegende Theil des griechischen Volkes im eigentlichen Griechenland, und sollte einst Epirus, Makedonien, Kreta und das andere Inselklein des aegäischen Meeres an Hellas fallen, so wird dieser beste Bestandtheil des Volkes eine bedeutende Bereicherung erfahren. Aus diesem Kern heraus aber wird dem Lande die Zukunft erblühen, nicht aus der städtischen Kruste, die sich um das Volk gelagert hat. Das griechische Landvolk ist ein starkes, anspruchsloses, gastfreies, keusches, durch und durch bildungsfähiges Geschlecht, und Keiner, der es gesehen, der mit ihm geschlafen und gewacht, gegessen und getrunken, und namentlich Keiner, der mit ihm gesprochen in der Sprache des Landes, zweifelt daran, daß aus diesem Volk etwas für den ganzen Orient sehr Bedeutendes werden kann, wenn es von einer weisen Regierung geleitet wird.


Das Menschenopfer und die Grabesnachfolge.

Eine kulturgeschichtliche Skizze.0 Von C. Falkenhorst.
(Mit Illustration Seite 380 und 381.)

Aus dem lichten Bilde, welches uns die Geschichte des erfinderischen phönicischen Volkes bietet, ragt düster ein ehernes Standbild hervor, das aller Menschlichkeit spottet. Ueberall an den Küsten des mittelländischen Meeres finden wir im grauen Alterthum die Tochterstädte von Tyr und Sidon, Pflanzstätten der Kultur in barbarischen Ländern; in den Häfen zahllose Ruderschiffe, darin unerschrockene Seefahrer; in den Städten reiche Kaufmannshäuser mit fleißigen frohen Menschen; Glück und Reichthum schirmen das Volk. Und doch wenden wir mit tiefem Schmerz unser Antlitz von dieser Kultur ab, die eine unheimliche Gottheit beschützt. Dort vor dem prachtvollen Tempel steht ihre Bildsäule – wie ein zürnender Dämon. Eine menschliche Riesengestalt aus Erz, einen Stierkopf auf dem Nacken, streckt sie opferverlangend die gewaltigen Arme aus. Und an gewissen Tagen naht das Volk im feierlichen Aufzuge zum Tempel seines mächtigsten Gottes, dessen Leib sich von den entfachten Flammen röthet, und nun legen die Priester das verlangte Opfer auf die emporgestreckten glühenden Arme – lebende Kinder und Jünglinge sind es, die der Grausame langsam in seinen heißen Schlund hinabgleiten läßt. Kein Klageton läßt sich vernehmen, denn, alle menschlichen Laute erstickend, schallt jetzt der wilde Lärm der Pfeifen und Pauken. Nur in dem Herzen der daneben stehenden Mutter, die ihr Kind opfern mußte, bäumt sich wild der Schmerz, regt sich das Menschlichkeitsgefühl und rüstet sich zum Kampfe gegen den grausamen Gott Moloch!

[391] Es dauerte aber lange, bis die Macht des Schrecklichen gestürzt wurde.

Ueberallhin, wo die Macht der Phönicier vordrang, wo sie sumpfige Länder in lachende blühende Felder verwandelte, wohin sie den Reichthum des Handels und Wandels brachte, folgte ihr auf der Spur der grausame Molochkultus. Aber an den Gestaden des mittelländischen Meeres gab es auch Völker, die berufen waren, eine bessere, edlere Kultur zu schaffen, höhere Geistesgüter zu erwerben, dem Menschenrecht in der Weltgeschichte Geltung zu verschaffen, und diese Völker wurden auch zu Feinden des Menschenopfers, welches sie erfolgreich bekämpften.

In grauer Vorzeit vollzog sich dieser gewaltige Streit, dessen Schlußakte noch in die Epoche der ersten Geschichtschreiber unserer Kulturwelt hineinreichen. Das mosaische Gesetz verdammt noch das Menschenopfer, und eine griechische Gesetzessammlung, über die uns Herodot berichtet, enthielt gleichfalls eine Abwehr gegen die grausame Sitte.

Phönicische Machthaber herrschten in Böotien und errichteten dem griechischen Moloch, dem Zeus Laphystios (dem „Verschlinger“) Opferaltäre, aber das Volk vertrieb die grausamen Herrscher, und lange noch bestand in der Stadt Halos das Gesetz, daß jeder Nachkomme der menschenopfernden Athamaniden, sobald er in die Stadt heimkehrte, mit dem Opfertod bestraft werden sollte. Auch die Sage der Hellenen befaßte sich mit dem Sturze der Molochherrschaft und kleidete den großen kulturgeschichtlichen Vorgang in ein poetisches Gewand. Auf der Insel Kreta lebte nach ihrer Ueberlieferung in einem Labyrinth ein Ungeheuer mit einem menschlichen Körper und einem Stierkopfe, welches Minotaurus hieß und welchem Verbrecher preisgegeben wurden. Minos, der König von Kreta, hatte den Athenern den schimpflichen Tribut auferlegt, alljährlich sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge als Opfer für den Minotaurus nach Kreta zu senden. Zweimal war schon das schwarzbeflaggte Schiff mit der theuren Last nach Kreta abgegangen, beim dritten Mal aber beschloß der Held Theseus die Befreiung seiner Vaterstadt von dem Schimpf zu wagen. Er ging mit den zum Opfer Auserwählten nach Kreta, und mit Hilfe der schönen Ariadne, der Tochter des Minos, gelang es ihm, mit einem gefeiten Schwerte das Ungeheuer zu tödten und Athen von dem Tribut zu befreien.

Die Größe dieser That schildert vortrefflich das unserem Artikel beigegebene Bild (S. 380 und 381), welches den Augenblick darstellt, wo Theseus mit den sieben Jungfrauen an dem düstern Eingange des Labyrinths erscheint. Welches Los erwartet die Unglücklichen? Auf den Stufen der breiten Pforte liegt ein Gerippe, neben welchem der Geier sitzt, ein schreckliches Symbol des Todes, dem die zum wirklichen Leben kaum Herangereiften entgegengehen. Wohl schmücken Rosen das Schiff – aber nicht Rosen der Freude sind es – es ist der letzte Opferkranz. Und in stummer Verzweiflung bricht die eine der Jungfrauen am Rande des Schiffes zusammen, die Andere birgt ihr Antlitz an der Brust der Leidensgefährtin, während aus dem dunklen Hintergrunde uns ein ernstes Antlitz entgegenschaut. An den Augen dieser Geweihten zog jetzt ihr früheres Leben vorüber – Freuden der Jugend, Hoffnungen der Liebe … das Alles wird bald in die dunkle Todesnacht versinken. Stumm, gefaßt nimmt sie Abschied vom Leben. Erschrocken schauen die Anderen in die dunklen Gänge des Labyrinths, die ein rother Fackelschein beleuchtet und in denen dunkle Gestalten erscheinen. Nur Eine hebt hoch das Haupt, stolz aufgerichtet steht sie in dem Kahne; in ihren Adern fließt Heldenblut und sie schrecken weder der gewaltige Stierkopf an der Wand, noch der Geier und das blasse Gerippe, noch die dunkle, Unheil verkündende Pforte. Sie ist bereit zu sterben, wie es einer Heldin geziemt. Oder beschleicht eine Hoffnung ihr Herz? Wie klingt jetzt das Horn des Helden, der am Bug des Schiffes steht? So meldet kein Verzweifelter seine Ankunft; kein Feigling ist er, der die Töchter seiner Heimath preisgeben will. Wie eine Herausforderung zum Kampfe schmettert der Ton durch die dunklen Gänge, ein weit verzweigtes Echo im Labyrinth weckend, nicht den Tod der Opfer, das Ende des Ungeheuers scheint er zu verkünden. – –

Nach Jahrtausenden noch erfaßt uns das Mitleid mit dem Schicksale der Opfer dieses grausamen Wahnes, und wir schrecken vor dem Gedanken zurück, daß Hunderttausende hingeschlachtet und verbrannt werden mußten, bis sich die geknechtete und mit Füßen getretene Menschheit zu lichteren Sitten emporrang.

Was uns das Bild vorführt, ist im Lichte der Geschichte keine Fabel. Der Menschenleben heischende Minotaurus, das Ungethüm mit einem Stierkopf, bestand wirklich; es war die Bildsäule Moloch’s, dem auch die Athener Opfer darbrachten. Und uns, deren Kultur auf derjenigen Griechenlands aufgebaut ist, darf auch Theseus als Erlöser von einer tiefen Schmach gelten. Denn das Ideal der Menschheit, das wir heute hochhalten, ist nur das Werk europäischer Kultur.

Ein Blick in die Vergangenheit unseres eigenen Volkes und eine Rundschau der Religionssitten der Völker, die außerhalb unserer Civilisation stehen, zeigen uns dies deutlich genug. Keines Volkes Geschichte war ursprünglich frei von dem Schandfleck des Menschenopfers.

In den ersten Zeiten der römischen Republik kamen Menschenopfer alljährlich vor. Später wurden sie zwar vom Senat verboten, allein noch zu Cäsar’s Zeiten werden dergleichen erwähnt. Augustus ließ 300 Senatoren auf dem Altar des Jupiter Cäsar tödten und Sextus Pompejus Menschen ins Meer werfen, um sie dem Neptun zu opfern.

Zu derselben Zeit bestand bei den Galliern die Sitte, aus Weidenruthen geflochtene Götzenbilder mit Menschen zu füllen und dann anzuzünden. Auch die Germanen opferten an bestimmten Festtagen ihren Göttern Angehörige, Sklaven und Kriegsgefangene. Bei den Slaven begegnen wir derselben Sitte, und selbst dann noch, als die Stämme zum Christenthume bekehrt waren, forderte der abergläubische Wahn Menschenleben. Wenn der schwarze Tod verheerend durch das Land einherschritt, suchte man die zürnende Gottheit dadurch zu versöhnen, daß man eine Jungfrau lebendig begrub!

Zu solchen Gräuelthaten veranlaßte die Menschen ein falsch verstandenes Gottheitsideal. Aber nicht dieses allein bildet die Quelle des Menschenopfers. Auch eine andere Idee, welche heute Millionen von Herzen erhebt, die Idee von der Unsterblichkeit der Seele, verleitete die Völker zu blutigen Orgien. In der Ueberzeugung, daß es ein Jenseits giebt, wurzelt die Sitte der Grabesnachfolge.

In dem märchenhaften Indien, wo noch vor Kurzem Hunderte von Büßern sich in religiöser Ekstase unter die Räder des Götterwagens in Dschaggernat warfen, um den erlösenden Tod zu finden, wo noch heute in den „reinigenden“ Fluthen des heiligen Ganges alljährlich das Leben von Hunderten Bethörter erlischt, besteht, obwohl in Abnahme begriffen, die Sitte, daß die Frauen nach dem Tode ihres Mannes den brennenden Scheiterhaufen besteigen. Noch unter der Herrschaft der Engländer sollen sich jährlich 30.000 Frauen freiwillig dem Flammentode geweiht haben. Ihre Söhne zündeten die Scheiterhaufen an, und sie umarmten die Leiche des Gatten und erklärten sich bereit, als Sühnopfer für die Sünden des Mannes zu sterben, um mit ihm die Seligkeit des Himmels genießen zu dürfen.

Um den verstorbenen Inka in der anderen Welt zu bedienen, wurden in Peru oft über tausend Gattinnen und Sonnenjungfrauen des Herrschers dem Tode geweiht – und sie gingen willig zum Scheiterhaufen, weil die Verweigerung dieses Liebesdienstes einem Ehebruche gleichgehalten wurde. Die Mexikaner schlachteten bei ähnlichen Gelegenheiten an 20.000 Menschen auf einmal ab. Schädelmauern zeugen noch heute von diesen furchtbaren Gebräuchen der amerikanischen Völker. Freilich mit Menschenschädeln gezierte Stadtmauern kann man noch wo anders sehen, in Abome, der Hauptstadt des Schreckensreiches Dahome, wo noch heute die „große Sitte“ der Menschenschlächterei in Kraft besteht.

Aber auch den Frauen europäischer Urvölker war der Heroismus der freiwilligen Grabesnachfolge nicht fremd. So wird bei der Leichenfeier Baldr’s, des Sohnes von Odin, nicht nur sein Roß, sondern auch seine Gattin mitverbrannt, so wird in der eddischen Sage Sigurd und Brynhild ein gemeinschaftlicher Scheiterhaufen errichtet, so erklärt schon in geschichtlicher Zeit Niall’s Frau Bergthora, als man sie aus dem brennenden Hause retten wollte: „Ich bin dem Niall jung vermählt worden und habe ihm gelobt, daß ein Schicksal über uns beide ergehen solle.“ Sie wich nicht aus dem Hause und ließ sich mit verbrennen. Auch bei den Wenden galt die Frau für lobenswerth, welche sich selbst tödtete, um des Scheiterhaufens mit ihrem Gatten theilhaftig zu werden, und in einer Urkunde von 1249, worin die neubekehrten Preußen mit dem deutschen Orden vertragen werden, geloben sie, ihre Todten nicht ferner zu verbrennen oder mit Pferden und Menschen zu beerdigen.

Wie schauerlich auch die Grabesnachfolge erscheint, so entbehrt sie nicht eines gewissen Trostes, sobald ihre Ausübung auf freiwilligem Entschluß beruht, teuflisch grausam wird sie aber, wenn Religionsvorschriften und Gesetze beim Tode eines Menschen das gewaltsame Opfer Anderer verlangen.

Der Seelenglaube vieler Naturvölker zeitigte in dieser Hinsicht abscheuliche Blüthen.

Starb eine Mutter, so wurde das noch lebende Kind mitbegraben, „weil beide zusammengehörten“. Starb ein Häuptling, so wurden erstgeborene Kinder getödtet, damit ihre Seelen den Geist des Häuptlings stärkten; starb ein Kind, so wurde die erste beste Person ermordet, damit sie das Kind im Jenseits beschütze!

Manche afrikanische Negerkönige verpflichten noch heute ihren ganzen Hofstaat zur Grabesnachfolge; um sie im Jenseits zu bedienen und zu belustigen, werden unzählige Frauen, Diener, Sänger und Soldaten erwürgt. Falschen Begriffen von einem Leben nach dem Tode, das in allen seinen Einzelheiten durchaus dem irdischen entspreche, hat auch die afrikanische Seelenpost ihr Dasein zu verdanken. Es werden nämlich bei einigen Negerstämmen immer wieder Menschen getödtet, welche den Auftrag erhalten, irgend einem Fürsten in der „andern Welt“ Nachrichten über die neuesten Begebnisse auf Erden zu überbringen.

Unter den Stämmen der Südsee herrscht die grausame Sitte, daß man alte und schwache Leute tödtet, um sie eher zu den Freuden des Jenseits gelangen zu lassen – eine Sitte übrigens, welcher früher auch die heidnischen Völker Europas gehuldigt haben.

Die Grabesnachfolge wurde in manchen Gebieten Afrikas von klugen Häuptlingen als Mittel zur Befestigung ihrer Herrschaft benutzt. Bei dem Tode eines Walunguhäuptlings wird stets der Hauptmann desselben getödtet und mit ihm bestattet. Aus diesem Grunde wagt es kein Walunguhäuptling, sich gegen das Leben des Fürsten zu verschwören, da er damit sein eigenes Todesurtheil unterzeichnen würde, und er wacht im eigensten Interesse für die Sicherheit seines Herrn. Gleichzeitig werden auch sämmtliche Frauen des Walunguhäuptlings getödtet und mitverbrannt, bis auf eine einzige, der ein weit schlimmeres Los bevorsteht. Man gräbt ein Loch, welches gerade hinreicht, sie aufzunehmen. In dieses wird sie gestellt und dann mit Erde überschüttet, wobei man nur eine schmale Oeffnung läßt, durch welche sie athmen kann. Auch wird ihr ein Speer in die Hand gegeben. Stellt es sich nach zwei Tagen heraus, daß sie das schreckliche Gefängniß überlebte und den Speer in ihrer Hand behalten hat, so nimmt man sie heraus und gestattet ihr zu leben.

Die Reihe der Gründe, welche Völker zum Menschenopfer trieben, ist damit keineswegs erschöpft. Die Anbetung der Thiere brachte es mit sich, daß man den für heilig gehaltenen Wesen Menschen vorwarf oder dieselben mit Menschenfleisch fütterte. So wurden in Centralamerika Schlangen, die als Geister der Fruchtbarkeit galten, Menschenopfer dargebracht. Der Glaube an böse Geister und Dämonen sowie an Schutzgeister führte zu der früher weitverbreiteten Sitte, daß man Kinder und Frauen, selten auch Männer in die Fundamente neuer Gebäude vermauerte. –

Eine erfreuliche Wahrnehmung ist es, daß die meisten Völker aus eigenem Antriebe diesen grausamen Kultus aufgaben und an die Stelle des Menschenopfers das Thier- und Fruchtopfer setzten. In Japan, wo man beim Tode des Herrn früher seine Diener geopfert hatte, legt man heute als Ersatz für dieselben Puppen von Thon oder Holz ins Grab. [392] In China werden dagegen beim Begräbniß nur Papierfiguren als Symbole verbrannt. Dieses billige Opfer ist auch als wirthschaftlicher Fortschritt der Sitte gegenüber zu betrachten, nach welcher bei einem südamerikanischen Volksstamm große Viehherden geschlachtet werden, damit ihr einstiger Besitzer auch im Jenseits Viehzucht treiben könne.

Selbst bei den wildesten Völkern dämmert heute die Ueberzeugung von der Unwürdigkeit und Nutzlosigkeit des Menschenopfers auf, und die Menschenschlächtereien haben in den letzten Jahrzehnten in erfreulicher Weise überall abgenommen. So sind die Tage der abscheulichen Verirrungen gezählt, und die beste Gewähr für die vollständige Ausrottung derselben giebt uns das unaufhaltsame Vordringen europäischer Civilisation in die dichtesten Urwälder und die fernsten Inseln, vor Allem aber die welterobernde Kraft des Christenthums, welches kein blutiges Opfer kennt, zu einem barmherzigen Gott betet und das hohe Evangelium der Nächstenliebe predigt.


Blätter und Blüthen.

Die Markthallen in Berlin. (Mit Illustration S. 389.) Wer in den letzten Apriltagen die Berliner Wochenmärkte durchwandelte, dem ist gewiß nicht der elegische Zug entgangen, welcher über den Bücklings-, Käse-, Gemüse- und Fleischstständen lagerte und melancholisch über die Fischbottiche wehte. Ein Jeder fühlte, daß es zum Abschiednehmen ging. Bisher hatte man im freundlichen Neben- und Durcheinander gehandelt, geliebt, übertheuert und sich wohl auch die Augen ausgekratzt – das war nun fast Alles dahin. Und hielt der Nachbar auch Einzug in der neuen Markthalle, fortan stand man doch räumlich getrennt, Bückling neben Bückling, Kohlkopf neben Kohlkopf. Und wo Kunstbutter ausgeboten werden sollte, mußte dies eine Tafel bezeichnen, reifes Obst von dem unreifen scharf getrennt und gekennzeichnet werden.

Doch es erträgt sich Alles. Anfang Mai hat Berlin seine vier ersten herrlichen Markthallen dem öffentlichen Verkehre übergeben. Mit Ausschluß weniger Mittagsstunden laden die hohen Eingangspforten vom frühen Morgen bis zur Abendstunde die Hausfrauen zum Einkaufe ihrer Bedürfnisse für Küche und Keller ein. Wenn Glockenzeichen und das Aufhissen einer Fahne das Zeichen zur Eröffnung allmorgendlich geben, hat sich bereits während einiger Stunden der Engroshandel abgewickelt.

Von den ersten vier Markthallen: I. in der Neuen Friedrichstraße, II. in der Linden-Friedrichstraße, III. in der Zimmerstraße, IV. in der Dorotheenstraße, ist die erste als die Centralmarkthalle nicht nur die größte, sondern auch vielleicht die stattlichste. So recht im Herzen des alten Berlin gelegen; hart neben dem Bahnhof Alexanderplatz, der Westen und Osten verbindenden Stadtbahn; mitten in einem Netze durch einander kreuzender Pferdebahnen; flankirt von der im Entstehen begriffenen Kaiser Wilhelmstraße als Fortsetzung von „Unter den Linden“, lehnt sie sich zugleich dicht an das Panorama von Sedan, das die Erinnerung jenes glorreichen Tages verherrlicht, von dem aus die Entstehung des Deutschen Reiches und der Aufschwung Berlins zur Welt- und Reichshauptstadt zu rechnen ist.

Ein neues Leben ist seitdem gleichsam für den Marktverkehr erblüht. Wenn auch so manche poetischen Erscheinungen dem Auge verloren gingen, wie sie unstreitig dem bunten, regellosen Marktgewühl eigen waren, was dafür an Ordnung, Sauberkeit, Eleganz und – Bequemlichkeit eingetauscht ist, überwiegt alle poetischen Bedenken. Und eine auf die Ersparniß ihrer Wirthschaftskasse emsig bedachte Hausfrau wäre auch wohl die letzte, welche solche Bedenken überhaupt hegte.

Wie leicht fluthet jetzt der Verkehr in diesen schönen Hallen auf und nieder, durch deren Glasdach der Sonne Licht sich goldig bricht, in welche das Läuten der Pferdebahnen, der schrille Pfiff der Lokomotive, Wagengerassel, das unnennbare Tongewirr einer Weltstadt hereintönt! Mit welchem Wohlgefallen schweift das Auge über die in peinlichster Schlachtordnung aufmarschirten Händler und Verkäuferinnen in der schmucken Umgebung ihrer Verkaufsstände! Wie nimmt sich Alles jetzt noch einmal so einladend aus! Selbst unter den Damen der Halle erscheint jetzt so manche, herausgeschält aus ihren bisherigen Tüchern, befreit von der weit beschattenden strohernen Schaube, liebenswürdiger und liebenswerther. Im Einklang mit der architektonisch künstlerischen Umgebung scheint auch das Wort auf ihren Lippen milderen Sitten sich zu beugen. Der alte Berliner Witz ist ja leider seinem Ende nahe, vielleicht daß auch die Grobheit des Berliner Hökerthums denselben Weg geht. Nur der Heimgang des Ersteren dürfte auf aufrichtiges Bedauern Anspruch erheben können. Und man sehe sich die Fische lustig rudernd in den eleganten Bassins an: der Herrgott verbot ihnen das lebendige Wort, aber auf ihren Gesichtern steht jetzt eine Lebensfreude geschrieben, als dächten sie nimmer an Köchin und Küchenmesser. Es ist Alles so anders ringsum geworden! Nur das mit Kaffee, Schrippen und sogenanntem Kuchen von Stand zu Stand schlurrende alte Weib, das einzige, welchem es auch hier wieder gestattet wurde, ihre unheimlichen Kreise zu schlagen, erinnert noch an die Marktplätze und ihr harmloses, buntes Treiben.

Noch blüht ja der Marktverkehr auf einer Reihe von öffentlichen Plätzen, aber auch seine Tage sind gezählt. Wenn die geplante Anzahl stattlicher Markthallen in allen Theilen der Riesenstadt vollendet sein wird, dann wird das Grabgeläute des letzten Markttages den Beginn einer neuen Aera unseres öffentlichen Handelsverkehrs künden. Dann wird das „Märkische Provinzial-Museum“ seine Pforten weit aufthun, um die letzte fliegende Marktbude, das letzte Marktkostüm wie einen Katalog sämmtlicher Schmeichelworte Berliner Hökerinnen seinen Sammlungen einzuverleiben, als eine denkwürdige Erinnerung für kommende Geschlechter, wie einst das alte Berlin auf seinen öffentlichen Marktplätzen in Handel und Wandel sich den Zeitgenossen offenbarte. A. Trinius.     

Wirbelstürme. (Mit Illustration S. 377.) Am 14. April dieses Jahres um ½4 Uhr Nachmittags wurden die Einwohner des Städtchen St. Cloud in Minnesota von einem jener Wirbelstürme überrascht, welche fast zu den ständigen Naturereignissen des amerikanischen Nordwestens zählen. Diesmal war die Cyklone nicht nur überaus heftig, sondern auch in ihrer Erscheinung höchst eigenartig. Ohne Vorboten, ohne von Jemand aus der Ferne in der Landschaft gesehen zu werden, schoß der Wirbelsturm wie vom Aether herab, um, aufspringend von der Bahn, sich wieder und wieder zur Zerstörung zu senken, bis er aufsteigend verschwand. In St. Cloud zerstörte der Sturm gegen 100 Gebäude und zog von hier nach Sauk-Rapids, einem Städtchen mit ungefähr 800 Einwohnern. Hier scheint seine Wuth den Höhepunkt erreicht zu haben. Zunächst flogen Dächer in die Höhe, dann ergriff die Windsbraut selbst leichtere Häuser, trug sie hundert Fuß weit davon und warf die Trümmer auf die benachbarten Felder; in wenigen Minuten waren ganze Straßenfronten in Trümmerhaufen verwandelt. Ein Bach, der in der Nähe der Stadt fließt, wurde stellenweise von der Cyklone trocken gesogen und der Schlamm seines Grundes in breiten Streifen rechts und links über das Land gespritzt. Außer Sauk-Rapids wurde noch die Ortschaft Benton-County schwer heimgesucht und in Schultz’s Platz eine Hochzeitsgesellschaft unter den Haustrümmern begraben. Die Breite des Wirbelsturmes betrug nur 800 Fuß, die Länge der Bahn etwa 12 Meilen, und doch bezifferte sich der Verlust an Menschenleben allein in den genannten Städtchen auf 74 Todte und über 200 Verwundete. Auch in der alten Welt traten in letzter Zeit Wirbelstürme mit besonders verheerender Macht auf. Am 14. Mai wurde die Stadt Crossen a. O. von einer Cyklone heimgesucht, welche den Thurm der Marienkirche umstürzte, viele Häuser mehr oder weniger zerstörte und auch Opfer von Menschenleben forderte. Wenige Tage vorher meldeten Depeschen aus Madrid von einem starken Sturmwetter, welches in der spanischen Hauptstadt und in der Umgebung derselben große Verheerungen angerichtet hatte. Eine naturwissenschaftliche Erklärung dieses Phänomens findet der Leser im Jahrgang 1885, S. 632 der „Gartenlaube“. *     

Ein neues Vogelbuch von Karl Ruß. Seit einer langen Reihe von Jahren steht der Verfasser des Werks „Die fremdländischen Stubenvögel“ vielen Tausenden von Liebhabern als ein bewährter Rathgeber gegenüber. Durch sein genanntes, mit prächtigen Farbenbildern ausgestattetes Werk, dann vornehmlich durch seine Zeitschrift „Die gefiederte Welt“, sein „Handbuch für Vogelliebhaber“ und sein umfassendes „Lehrbuch der Stubenvogelpflege, –Abrichtung und –Zucht“, war Dr. Ruß bestrebt, auf diesem Gebiete eine ganz neue Richtung ins Leben zu rufen, die nämlich, daß man die Vögel nicht mehr bloß wie in früherer Zeit hält und verpflegt, um sich an ihrem Gesange, ihren schönen Farben und ihrem munteren Wesen zu erfreuen, sondern daß man sie auch züchtet, und zwar sei es lediglich um Freude an der Entstehung jungen Lebens zu haben, oder für wissenschaftliche Zwecke, oder auch zum Erwerb. Nach diesen Seiten hin hat die Vogelliebhaberei in Deutschland in den beiden letzten Jahrzehnten einen staunenswerthen Aufschwung und eine nie geahnte Verbreitung gewonnen. Betrachten wir die Vogelzüchtung mit Einschluß der Kanarienvogel-Liebhaberei und -Zucht vom letzterwähnten Gesichtspunkt aus, so finden wir, daß dieselbe auch bereits einen beträchtlichen volkswirthschaftlichen Werth gewonnen hat. Diese kurzen Bemerkungen mußten wir vorausschicken, um die Aufmerksamkeit der Liebhaber darauf hinzulenken, daß soeben ein neues Buch „Vögel der Heimath“ von Dr. Karl Ruß (Verlag von G. Freytag, Leipzig), ausgestattet mit farbenprächtigen, lebenstreuen Bildern nach Aquarellen von Emil Schmidt, in Lieferungen zu erscheinen begonnen hat. Im Prospekt ist gesagt, daß es eine stichhaltige Naturgeschichte der einheimischen Vögel sein solle, bei welcher nicht zum Mindesten der Werth in den schönen Farbendruckbildern liegt.


Allerlei Kurzweil.

Rebus von Erin.

Auflösung des magischen Problems auf Seite 376: Verfolgt man die Schriftzüge in der Weise, daß man, vom Aufstrich ausgehend, stets den betreffenden Buchstaben derjenigen Querlinie (Zeile) abliest, an welcher der Schreibstrich endigt (sei es oben oder unten), und so die ganzen Schriftzüge durchgeht, so erhält man die Worte: „Aller Anfang ist schwer.“


Kleiner Briefkasten.

J. D. in Zwickau. Herzlichen Dank für die „zur Beschaffung von Fahrstühlen“ übersendete Summe von 10 Mark. Möge Ihr menschenfreundliches Beispiel recht viele Nachahmer finden, denn der Armen und Elenden, die Hilfe heischen, sind gar so viele!

O. S. in Potsdam und B. B. Wir bitten um Angabe Ihrer genauen Adresse, damit wir Ihnen brieflich antworten können.


Inhalt: Die Lora-Nixe. Novelle von Stefanie Keyser (Fortsetzung). S. 377. – Studien nach dem Leben. Von Hermann Heiberg. Gewohnheiten und Unarten. I. S. 384. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 385. – „Kaufen Sie Kornblumen?“ Gedicht von Viktor Brüthgen. S. 387. Mit Illustration S. 384. – Die Neugriechen. Von Eduard Engel (Berlin) S. 388. – Das Menschenopfer und die Grabesnachfolge. Eine kulturgeschichtliche Skizze. Von C. Falkenhorst. S. 390. Mit Illustration S. 380 und 381. – Blätter und Blüthen: Die Markthallen von Berlin. Von A. Trinius. S. 392. Mit Illustration S. 389. – Wirbelstürme. S. 392. Mit Illustration S. 377. – Ein neues Vogelbuch von Karl Ruß. – Allerlei Kurzweil: Rebus von Erin. – Auflösung des magischen Problems auf Seite 376. – Kleiner Briefkasten. S. 392.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Ein hemdartiger Ueberwurf, der über den Hüften durch einen Zug zusammengehalten wird.