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Die Gartenlaube (1886)/Heft 23

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[393]

No. 23.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


 Am Pfingstmorgen.

Stell’ Maienbäume vor dein Haus,
Dann geht nichts Böses ein und aus,
Dann wird nur Frieden drinnen sein
Und stillen Glückes Sonnenschein.

Vom Stamm der Birke strahlt es licht
Wie Freudenglanz auf dein Gesicht;
Mit ihrer hellen Blätter Duft
Durchzieht ein Festesgruß die Luft.

So weht’s durch deines Hauses Raum
Wie halb vergeßner Kindheitstraum,
Und fern verklingt der Welt Gebraus –
Stell’ Maienbäume vor dein Haus!

 F.


[394]

Die Lora-Nixe.

Novelle von Stefanie Keyser.
(Schluß.)


Der Arzt und der Chirurg eilten herzu und leisteten dem Verwundeten, der bewußtlos geworden war, Beistand.

Heino, der vorwärts stürmen wollte, wurde von Ravensburgk zurückgezogen.

„Genug der Kopflosigkeiten!“ zürnte dieser ihn an. „Die Tochter des Spielers ist für Sie so verloren, wie seine Geliebte es gewesen wäre. Jetzt gilt es, den Verstand zusammen zu nehmen.“

Heino hörte nicht. Er starrte entsetzt auf Vater und Tochter.

Leonore war aus ihrer Ohnmacht erwacht. Langsam kam ihr die Erinnerung wieder. Mit verwirrtem Haar, todtenbleichem Antlitz kniete sie neben dem Verwundeten.

Der Wind raschelte im dürren Rohr, das Wasser gurgelte, und der wilde Schrei eines Falken tönte aus der Luft herab.

Der Arzt hatte unterdessen seine Untersuchung beendet und erhob sich.

„Es ist zu hoffen, daß die Kugel keine edlen Theile verletzt hat,“ sagte er. „Aber die zarte Konstitution des Verwundeten, seine augenscheinlich schwache Lebenskraft stellen die Heilung in Frage und machen die größte Vorsicht nöthig. Es ist recht unangenehm, daß wir so weit von Jungbrunnen entfernt sind. Eine verrückte Idee, die Duelle in der Nähe einer Burgruine und einer Herrnhutergemeine auszufechten.“

„Unsere Gemeine ist bereit, jeden Hilflosen bei sich aufzunehmen,“ sagte eine Stimme.

Die fahlen Weiden theilten sich. Bruder Johannes trat aus ihnen hervor, noch athemlos vom raschen Gang. Der Hall der Schüsse hatte ihn auf seinem Morgenspaziergang erreicht und hergetrieben.

Leonore wandte sich zu ihm. Sie hob die gefalteten Hände zu ihm empor.

„Ja, Bruder Johannes, nehmen Sie uns auf. Und damit Sie kein Aergerniß in Ihrer Gemeinde erregen, wenn der Pächter der Spielbank dort einzieht, so sagen Sie ihr: der letzte Freiherr von Falkeneck bittet um ein Asyl auf dem ehemaligen Grund und Boden seiner Väter, bei der Brüdergemeine Himmelgarten. Als meine Legitimation wollen Sie einstweilen den Siegelring der Falkenecks gelten lassen. Das Wappen, welches in den Sapphir geschnitten ist, werden Sie als dasselbe erkennen, welches droben halb versunken am Thore liegt.“

Sie zog den Ring mit dem Sapphir von der Hand und bot ihn dem jungen Prediger dar.

Eine Todtenstille herrschte.

Bruder Johannes neigte sich; aber nicht vor Leonoren, nicht vor dem bewußtlosen Freiherrn. Seine Augen glitten über Alle hinweg nach dem fernen Stückchen blauen Himmel hinüber. Meinte er das Rauschen von Engelsfittichen zu vernehmen?

„Die Gemeine,“ antwortete er, „übt mit Freuden Samariterdienste, sei es am namenlosen Spieler oder am Freiherrn. Aber sie wird Gott für Seine Fügung preisen, daß Er ihr gestattet, den Dank für einst empfangene Wohlthaten dem Hause Falkeneck abtragen zu dürfen.“

Noch einmal wollte Heino auf Leonoren zustürzen, und diesmal hielt ihn Ravensburgk nicht davon ab. Der stand seitwärts gewendet, und seine geballte Faust zeigte, wie er mühselig gegen eine furchtbare Erschütterung rang.

Aber Leonoren’s Gestalt schnellte empor. Hoch aufgerichtet stand sie neben ihrem Vater. Ihre Hand hob sich wie zur Anklage gegen Heino, ein heißer Zorn flammte aus ihren Augen, ihre Lippen öffneten sich. Doch die Verwünschung, die auf ihnen zu schweben schien, blieb ungesprochen.

Johannes hatte das Antlitz ihr zugewendet. Sein Blick fiel ernst und mahnend auf sie herab.

Da sank der erhobene Arm, die zuckenden Lippen schlossen sich; ihr Haupt beugte sich demüthig.

Und ohne ein Wort zu sagen, trat der Priester mit einem leisen Schritt zwischen sie und die Welt.

Georg zog Heino mit sich zurück.

„Das Mädchen hat mehr Verstand als Du,“ sagte er streng, obwohl selbst in tiefster Seele erschüttert. „Ueber einen niedergeschossenen Vater hinweg drückt man sich nicht zärtlich die Hände.“

Er warf einen Blick auf den langsam zum Bewußtsein zurückkehrenden Falkeneck und sah dann nach seiner Uhr.

„Noch wissen wir nicht, welches Ende es mit Deinem Gegner nimmt, und so lässig sonst die Badepolizei in dergleichen Dingen zu verfahren pflegt, so muß sie bei dem Aufsehen, welches der ganze Vorfall erregt hat, schließlich doch Notiz davon nehmen. Mein Wagen steht Dir bis zur nächsten Eisenbahnstation zur Verfügung. Wenn Ihr die Pferde ordentlich auftreten laßt, kannst Du noch bequem den Kurierzug nach der Schweiz erreichen. Ich gebe Dir heute Abend nach Zürich, Hôtel Bauer au lac, telegraphisch Nachricht über Dornheim’s Befinden. Morgen folgt ebendahin ein Brief nach.“

Heino preßte die Hand stöhnend vor die Augen. Aber er ließ sich doch von Georg zu dessen Wagen ziehen.

Dieser nÖthigte ihm noch seine Brieftasche auf, versprach Leonoren nach Kräften beistehen zu wollen, gab seinem Kutscher die nöthigen Befehle und kommandirte dann energisch:

„Fort!“

Mit keinem Blicke beachtete Leonore Heino’s Entfernung. Stark und sanft half sie ihren Vater auf die Trage betten, welche der Arzt aus dem Badeorte mitgebracht hatte und die unterdessen von den Dienern zusammengeschraubt worden war. Zärtlich streichelte und küßte sie die schlaffe bleiche Hand des noch immer halb Bewußtlosen.

„Um meinetwillen bist Du dem Tode entgegen getreten,“ flüsterte sie unter heißen Thränen. „Um Deinem Kinde ein glückliches glänzendes Leben zu schaffen, ließest Du Dich von ihm verleugnen, trugst einsam die Schmach der verachteten Stellung. Und ich Verblendete nahm das ungeheure Opfer an. Ich habe es in dieser Stunde furchtbar bezahlt.“

Die Diener wurden herbeigerufen, um den Verwundeten nach dem nahen Himmelgarten zu schaffen.

Der kleine Zug setzte sich in Bewegung. Neben der Trage mit dem Verwundeten gingen Leonore und Johannes.

Der Arzt folgte.

Wie immer hatten die heiteren Götter der Heiden die Unglücklichen verlassen; der Gott der Christen war zu ihnen getreten.


Mit schwerem Herzen fuhr Georg in einem der harrenden Wagen nach Jungbrunnen zurück. Er mußte Frau von Blachrieth von dem Vorgefallenen in Kenntniß setzen. Als er in einiger Entfernung von der Wohnung ausstieg, meinte er Hedwig’s Kopf an einem der Fenster zu sehen. Sie trat ihm auch schon im Vorgarten entgegen und winkte ihn unter das Zeltdach.

„Es geht etwas vor,“ sprach sie rasch, indem sie ihn durchdringend anblickte. „Diese ganze Nacht ist ein Hin- und Hergehen im Hause gewesen; Heino hat seiner Mutter weder eine Gute Nacht, noch einen Morgengruß geboten. Nur mit der größten Mühe habe ich die Tante beruhigt und unter dem Vorwand, daß der Brunnen ihr bei der Aufregung schaden könnte, sie zu Hause gehalten; denn ich war überzeugt, daß ihrer unter den Badegästen eine Alteration harrte.“

Georg mußte ihrer Umsicht Beifall zollen. Dann erzählte er die Ereignisse der letzten Tage.

Hedwig wurde bleich. Thränen traten in ihre Augen.

„Das arme Mädchen!“ sagte sie leise im Tone tiefsten Mitgefühls. „Wie hat Heino es über das Herz bringen können, sie in der furchtbaren Stunde zu verlassen?“

„Aber sie wollte ja nichts mehr von ihm wissen,“ entschuldigte ihn Georg.

Hedwig schüttelte unwillig den Kopf.

„Das durfte ihn nicht abhalten, mit nach Himmelgarten zu gehen und der unglücklichen Familie beizustehen, damit Leonore wenigstens an seiner Reue sah, daß seine Liebe zu ihr echt gewesen ist.“

„Ich habe ihn auch mit fort gedrängt,“ bekannte Georg, dessen selbstgerechtes Wesen vor den klaren Augen des jungen Mädchens sichtlich abnahm.

[395] „Das thut mir um Ihretwillen leid,“ sagte Hedwig, „wenn auch Heino nicht dadurch freigesprochen wird. Ich habe früher besser von Ihnen gedacht und hätte nie geglaubt, daß Sie der Unbeständigkeit das Wort reden würden.“

Georg hatte sich geduldig abkanzeln lassen. Jetzt unterbrach er sie. „Eine Strafpredigt wegen Unbeständigkeit wollte ich Ihnen halten, gnädiges Fräulein. Denn jedes Mal, wenn ich nach Jungbrunnen kam, proklamirte Sie Ihre Frau Tante mit einem Anderen als Verlobte.“

Hedwig sah ihn überrascht an. Jetzt wurde ihr Alles klar.

„Ja, ja,“ sagte Georg, droheud in ihr Antlitz blickend, welches ein feines Roth überzog. „Erst war Heino der Glückliche.“

Hedwig schüttelte den Kopf.

„Alte Leute vergessen, wie man in der Jugend fühlt. Ebenso gut könnte ein Bruder seine Schwester heirathen.“

„Das zweite Mal war’s Ravensburgk,“ fuhr Georg inquisitorisch fort, „und mit dem drückten Sie sich recht ordentlich die Hände.“

Hedwig sah ihn ernst an.

„Um einen Schmerz zu mildern, den man einem Menschen zufügen muß, ist es nicht zu viel, wenn man ihm von Herzen die Hand schüttelt,“ sagte sie nachdrücklich, wandte sich um und schritt ihm voran in das Zimmer ihrer Tante.

Eine kurze Zeit darauf tönte ein Schrei. Die Klingel wurde gezogen; der Diener in die Apotheke, die Jungfer nach frischem Wasser geschickt.

Frau von Blachrieth war in allen Zuständen. Sie fiel in Ohnmacht, vergoß Thränenströme und bekam einen Sprechkrampf. Sie schalt über die leichtsinnige Spielerstochter, die darauf ausgegangen sei, alle Männer zu verführen; über Hedwig, die durch ihre Gleichgültigkeit Heino zu jener hingetrieben habe; über Georg, der um das Duell gewußt und es nicht vereitelt hätte. Sie beklagte sich, die an dem einzigen Kinde dieses entsetzliche Schicksal erleben müsse, ihren Bruder, dessen Wünsche in Bezug auf Hedwig nicht in Erfüllung gegangen seien, und vor Allem ihren Sohn. Heino mit seinem ehrlichen, nie eine Lüge ahnenden Sinn, seinem weichen Herzen das für alle Menschen schlug, seinem geraden Charakter, der sich immer geben mußte, wie er fühlte – er war der eigentliche Märtyrer, das Opferlamm, welches dieser Schwindlerin geschlachtet wurde.

Als sie endlich über das Aufsehen jammerte, welches dieser Vorfall erregen werde, den Schaden, den Heino’s Ruf als Dichter, Mann und Mensch dabei nehmen könne, verließ Georg mit den unmuthigen Worten das Zimmer:

„Aber gnädige Frau, Heino ist doch keine Dame.“

„Gott sei Dank, daß er geht,“ klagte die Trostlose; „er schreit, als kommandire er seine feuernde Batterie.“

„Gott sei Dank, daß er kommandieren kann,“ seufzte aus tiefster Brust Hedwig, indem sie ihm folgte.

Draußen bewährte Georg sein Talent für das Kommandiren. Er befahl, daß eingepackt werde, damit die Abreise der Frau von Blachrieth am nächsten Morgen vor sich gehen konnte, und sendete Heino’s Diener, mit dessen Gepäck, einigen beruhigenden Zeilen und allen Bedürfnissen für eine längere Reise versehen, nach Zürich.


Auch in der Paloty’schen Wohnung wurde eingepackt. Von ihren alten Bekannten ließ sich Niemand sehen. Selbst Frau von Giera ging am Lora-Flügel vorüber, indem sie das von der Freundin erhaltene kostbare mit Türkisen besetzte Schirmchen schützend gegen sie gerichtet hielt.

Die blasse Frau beachtete es nicht. Sie hatte nur Augen und Ohren für den Arzt, der in seinem Coupé aus Himmelgarten zurückkehrte und zuerst bei ihr vorfuhr; für den Geschäftsführer ihres Gemahls, der sich bei ihr melden ließ.

In gefaßter Haltung fuhr sie dann nach der Herrnhutergemeine hinaus.


Wie ein Schuß unter die Sperlinge war die Nachricht von den Vorgängen im Höllenschlund unter die Badegäste gefahren. Alles stiebte durch einander oder aus einander.

Große Reisewagen wurden aus den Remisen gezogen und bepackt. Die Damen der engeren Gesellschaft, welcher Leonore mit ihrer Mutter angehört hatte, fanden für besser, dem ungeheuren Skandal sich durch die Flucht zu entziehen.

Die drei Fräulein von Gokel schnürten ihr Bündelchen. Sie priesen die wunderbare Führung, daß das Ereigniß mit der gänzlichen Entleerung ihrer Kasse zusammen fiel und ihnen einen Vorwand bot, sofort abzureisen.

Frau von Tromsdorf folgte verdrießlich ihrem Beispiel. Sie kehrte abermals unverrichteter Dinge von einer Badereise zurück. Es war nicht Fifi’s specieller Fall, sich zu verloben.

Auch der nach Juchten duftende Reisewagen der Frau von Nihiloff fuhr, mit vier Pferden bespannt, vor.

„Mit dem Amüsement ist es für diese Saison vorbei,“ sagte sie. „Nitschewo![1] wir gehen nach Nizza.“

„Heino!“ rief der Papagei diesmal ungebeten, während er neben dem Heiligenschrein, der im Schlafzimmer gethront hatte, in den Reisewagen gesetzt wurde. Er machte Niemand mehr eine Freude damit.

„Fräulein Leonore!“ jammerte Vera, während sie hinein gehoben wurde. Mademoiselle legte ihr den Finger auf den Mund. Maman befahl die Abfahrt.

Mitten in die verstörte Gesellschaft trat am Abend während der Brunnenpromenade, schon im Reiseanzug Ravensburgk, wenn auch einen Schein bleicher als sonst, doch ruhig wie immer.

„Wozu der Lärm?“ sprach er mit Mephistopheles. „Es ist doch nichts Außergewöhnliches, daß der Sprößling eines alten Geschlechtes verschuldete Güter ererbt und diese Schuldenlast, den Traditionen seiner Familie gemaß, als flotter Officier in einem vornehmen Regiment noch erhöht, bis ihm die Wucherer die Kehle zuschnüren und er seinen Abschied nehmen muß. Das ungewöhnliche in dem Fall Falkeneck ist nur, daß er auch noch als professionsmäßiger Spieler sein Standesgefühl so rein erhielt. Was mag er, der um seines nicht ganz ehrenwerthen Metiers willen seinen Namen abgelegt hatte, gelitten haben, als dieser elende Faucon sich geheimnißvoll mit demselben schmückte! In dieser Angelegenheit hat sich Falkeneck ganz als Edelmann benommen. Und welche Selbstüberwindung hat es ihn wohl gekostet, sich von der einzigen geliebten Tochter freiwillig zu trennen, um es ihr zu ermöglichen, in die Kreise wieder zurückzukehren, denen er einst angehörte! Die Tochter muß die Liebe des Vaters ebenso warm erwidert haben. Denn um ihm nahe zu sein, sind die Damen in jedem Jahre zur Saison hierher gekommen. Ziehen wir das Resumé der Ereignisse, so können wir sagen: Wir haben mit einer Freiin von Falkeneck eine brillante Saisoa verlebt; und wenn auch dieselbe damit abschloß, daß zwei Herren von Familie um eines Mißverständnisses willen ein paar Kugeln mit einander wechselten, so hat das Duell doch glücklicher Weise keinen tödlichen Ausgang genommen.“

„Ein dunkler Punkt bleibt immer,“ sagte naserümpfend Frau von Giera, „Frau Paloty. Ich hatte immer das Gefühl, daß sie nicht zu uns gehörte. Und sie war mindestens sehr einfach.“ So sagte man damals anstatt beschränkt.

„Frau Paloty ist die Gemahlin des Freiherrn von Falkeneck,“ betonte Ravensburgk kategorisch. „Sie ist die schöne Tochter eines armen, aber nicht unbekannten böhmischen Komponisten, die er geheirathet hat, weil sie die Einzige war, die ihm treu blieb, als seine Standesgenossen, alle seine Freunde und Freundinnen ihn in der Noth verließen, wie das bei den Gesellschaftsratten von je zum guten Ton gehört hat. Sie hat ihren Familiennamen wieder angenommen, als ihr Gemahl wünschte, daß sie die Tochter in die Welt begleiten sollte. Sie ist keine bedeutende Frau; aber, meine Gnädigste, wir können nicht Alle bedeutend sein.“

„Wie mag es bei Blachrieth’s stehen?“ fragte der Präsident.

Ravensburgk’s Augen und Lippen schlossen sich einen Augenblick. Er wußte es ganz genau. Als er vorhin dort gewesen war, um seine Dienste anzubieten, hatte er den Hauptmann Aufdermauer als Höchstkommandirenden vorgefunden, und Hedwig war ihm mit rothen Wangen entgegen gekommen und hatte unter schüchtern bittenden Blicken versichert, daß Alles bestens geordnet sei.

„O,“ erwiderte er dem Präsidenten mit seinem spöttischen Lächeln, „da drüben herrscht jetzt vollständige Klarheit über alle Gefühle. Ich wünsche allerseits, daß das Bad gut bekommen möge.“

Nachdem er so der Gesellschaft vorgeschrieben hatte, wie der Vorgang aufzufassen war, und diese über die annehmbare [396] Formel aufathmete, warf er sich in den leichten, offenen Wagen und fuhr nach der nächsten Eisenbahnstation ab.

Mit überlegener Gründlichkeit winkte er Abschiedsgrüße. Aber als das Bad hinter ihm lag, drückte er den Hut tief in das finster gewordene Gesicht. Er mußte sich sagen, daß ihn diesmal sein Scharfsinn nach allen Seiten im Stich gelassen hatte.


Es war noch früh am andern Morgen, als der Reisewagen der Frau von Blachrieth von dannen rollte, der Eisebahnstation zu.

Der Hainberg lag noch in blauen Duft gehüllt. Aber um das braune Gestein der Weinberge zerflatterten schon die Nebelwölkchen, von der aufgehenden Sonne rosig angestrahlt. Die Lerchen stiegen singend empor, und aus dem Lora-Grund drang das eintönige Rauschen des Wassers.

Da hielt an einem Grenzsteine ein stattlicher Reiter. Die hohen Stiefel, der knapp zugeknöpfte Rock gaben ihm ein ritterliches Ansehen.

Hedwig fuhr aus der Ecke empor, in der sie träumerisch gelehnt hatte.

Georg grüßte lächelnd, erstattete kurz den günstigen Bericht über den Verwundeten, den er aus Himmelgarten erhalten und bereits nach Zürich telegraphiert hatte, und flüsterte Hedwig zu, daß sie auf seinem Grund und Boden sei und er ihr, wie sich für den Vasallen seiner Herrin gegenüber zieme, bis an die Grenze das Geleit geben werde.

Das führte er auch aus, ohne von Frau von Blachrieth etwas Anderes als ein roth geweintes Gesicht und eine halb leidende, halb beleidigte Verbeugung zu gewahren.

Als der Grenzstein erreicht war und Georg sich verabschiedet hatte, da schaute Hedwig noch lange zu ihm zurück, wie er, ihr nachblickend, die Hand an der Mütze, unter seinen dunklen Waldbäumen hielt, hoch und stolz wie diese.

Und sie mußte sich bezwingen, daß sie der Tante nicht jubelnd gestand, wie sie am Tage des Jammers beim Einpacken vieler zarter Häubchen dem Hauptmann Georg Aufdermauer die Erlaubniß gegeben hatte, bei ihrem Vater um ihre Hand zu werben.


Ein Jahr war verflossen, seitdem Georg als Fährmann Hedwig nach seinem Grund und Boden übergeholt hatte.

Ganz wie damals strahlte die Sonne goldig vom blauen Himmel und gleißte goldig aus den Wellen der Lora wieder, flüsterte der Wind in den alten Bäumen des Hainberges, duftete die Weinblüthe an dem Gelände.

Aber für Georg hatten sich die Zeiten geändert. Das dachte er mit warmer Freude, während er, die Büchse über die Schulter gehangen, begleitet von den Jagdhunden, dem Hause Aufdermauer zuschritt. Die Schwalben schossen pfeifend um das schwere, mit kräftiger Hauswurz besetzte Dach; gastlich rauschte der große Brunnen unter den alten Lindenbäumen ihm entgegen. Es war Alles, wie es bei einem echten deutschen Hause sein muß.

Georg’s Blicke flogen über die tiefen kleinen Fenster hin, die in der Abendsonne funkelten, aber aus keinem derselben schaute ein rosiges Gesichtchen, von keinem Erker wehte ihm ein weißes Tuch entgegen.

„Das Nest scheint leer zu sein; ist das Vögelchen ausgeflogen?“ sprach er für sich, indem er durch das niedrige offene Fenster des untersten Stockes in die kühlen Vorrathskammern blickte.

In diesem Augenblick wurde dieses durch eine Hand leise zugeschoben, daß sein Kopf nicht zurück konnte.

„In sein eigenes Haus geht man durch die Thür, nicht durch das Fenster,“ sagte eine helle neckende Stimme hinter ihm.

Von den Wirthschaftsgebäuden her war eine junge Frau ihm nachgeschlichen, ohne bemerkt zu werden, und hatte ihm den Streich gespielt.

„Warte, Schelm!“ rief Georg, vorsichtig den Kopf aus der Falle ziehend, während sein Hund zutraulich die braune Nase in Hedwig’s Hand schob und durch Schwänzeln zu erkennen gab, daß auch er den Scherz verstehe. „Warte, Du sollst Deiner Strafe nicht entgehen.“

Damit wollte er sie umfassen und küssen.

Sie aber trat abwehrend zurück.

„Das schickt sich ja gar nicht unter freiem Himmel,“ sagte sie lachend, „und überdies erwartet Dich Jemand.“

„Dürfte wahrhaftig vorderhand zu viel sein.“

„Aber, Georg, siehst Du denn nicht ein –“

„Ich sehe ein, daß ich an Dir genug habe, daß Du immer allerliebst warst und mit jedem Tage hübscher geworden bist.“

„Bin ich auch hübscher geworden?“ fragte eine klanglose tiefe Stimme, und ein eleganter Herr trat aus der Hausthür.

„Herr von Ravensburgk!“ rief Georg ganz verblüfft.

„Nennen Sie es immerhin einen Schwabenstreich, bei jungen Eheleuten ein paar Stunden einzukehren,“ sprach Ravensburgk ernster und weicher als sonst, „aber lassen Sie auch meine Entschuldigung zu. Auf dem Wege nach Baden-Baden mußte ich Jungbrunnen passiren und, dort angelangt, stürmten die Erinnerungen an die vorjährige Saison mit solcher Macht auf mich ein, daß ich der Versuchung, ihrer Frau Gemahlin mein Kompliment zu machen und noch einmal eingehend über die damaligen Ereignisse zu plaudern, wie jeder Versuchung Zeit meines Lebens – unterlag.“

„Sie sind herzlich willkommen,“ sagte Georg, „wenn Sie sich mit Wohnung, Küche und Keller des altmodischen Hauses Aufdermauer begnügen wollen. Auch mit der Stunde des Soupers müssen Sie sich nach der ländlichen Gewohnheit richten, welche das Feierabendläuten als Signal dazu festgesetzt hat. Wer mit Sonnenaufgang sein Tagewerk beginnt, muß es mit Sonnenuntergang schließen.“

Unter dem steinernen Laubengang wurde die Tafel gedeckt, mit Silbergeschirr besetzt, das des alten Hauses würdig war durch Größe und Schwere, und ein Mahl aufgetragen, welches zeigte, daß der Herr des Hauses auch regierte über die Thiere des Waldes, die Früchte des Feldes, die Vögel unter dem Himmel, die Fische im Wasser, und daß seine junge Frau nicht umsonst durch Küche und Milchkeller, Garten und Gewächshaus mit dem Schlüsselbund geklappert hatte.

Ein weicher Abendhauch strich durch den Bogengang. Die Baumwipfel des Hainberges drüben standen regungslos, als wären sie im Einschlummern.

Der letzte Sonnenschein ließ die Ruine Falkeneck in rothem Lichte erglühen. Allmählich verglomm es. Dunkel und öde erhoben sich die stolzen Trümmer. Fernher tönte durch die Stille der dumpfe Hall eines abbröckelnden Mauerstückes, und leise rauschte im Grunde die Lora.

„Nun, was ist denn aus der großen Verwirrung von damals hervorgegangen?“ fragte Ravensburgk. „Die Menschen pflegen sich ja doch nach jedem Zusammensturz ein neues Heiligthum, ein anderes Luftschloß oder abermals ein trauliches Nestchen zu zimmern. Sie haben verständigerweise das Nest gewählt. Nun möchte ich aber auch wissen, wie die Anderen ihr Leben wieder aufgebaut haben.“

Hedwig deutete hinüber, wo zwischen einem Einschnitt der Berge das Thürmchen des Bethauses von Himmelgarten sich in die blauen Schleier der Dämmerung hüllte.

„Dort ist die Stätte, wo Leonorens Heiligthum steht. Während ihr Vater unter ihrer treuen Pflege genas, wurde seine Beziehung zur Spielbank gelöst, die Betheiligung des letzten Falkeneck an derselben mit einer großartigen Stiftung für das Armenbad gesühnt. Als er dann geheilt war und die Aerzte ihm für den Winter einen Aufenthalt in Italien verordneten, da erklärte Leonore fest, daß sie nicht wieder in die Welt hinaus ziehen werde. Sie wolle bei denen bleiben, die ihr in ihrem tiefen Fall die Hand geboten hätten, und sich ein Heim unter ihnen zu erringen suchen. So ist das lange getrennte Ehepaar zusammen nach Italien abgereist, von da nach Wildbad und dann in die Schweiz gegangen, wo der Patient sich vollends erholen soll. Leonore aber lebte sich unter der Anleitung der Schwester Jakobine in der Gemeine ein. Wenn am nächsten 13. August die Erneuerung der Brüdergemeine gefeiert wird und neue Mitglieder aufgenommen werden, dann soll das Los auch entscheiden, ob das letzte Kind des Hauses Falkeneck sich hinfüro zu den Schwestern zählen darf.“

„Leonore in der Herrnhutergemeine!“ rief Ravensburgk lachend.

„Und warum nicht?“ entgegnete Hedwig sanft, aber ernst. „Im Augenblick, da Alles ihr zerbrach, fand sie dort eine Stütze, die nicht wankte. Heino liebte sie nur als die, welche er in ihr sah, nicht als die, welche sie war. Der Bruder Johannes aber

[397]

In der Kunstausstellung.
Originalzeichnung von H. Schlittgen.

[398] glaubte auch an den Götterfunken, in der Seele des gebrochenen Weltkindes und fachte ihn an zu einem neuen geläuterten Leben.“

Ravensburgk nickte.

„Der alte Kreuzritter hat schon eine Umkehr gehalten, der Stifter von Himmelgarten ebenfalls. So etwas liegt zuweilen in der Familie und erbt fort. Bei uns sind es die schönen Stimmen.“ Er lachte sein dumpfes tausendjähriges Gelächter. Dann fragte er: „Sehen Sie Fräulein von Falkeneck in Himmelgarten?“

„Gewiß,“ entgegnete Hedwig. „Die Schwester Leonore hat fleißig mitgearbeitet an den Möbelbeschlägen, die ich für den alten Familiensaal im Eckthurme habe im Schwesternhause sticken lassen, und ihr feiner Geschmack ist mir dabei sehr zu Statten gekommen. Auch hat sie den Musikunterricht im Kinderchor übernommen, da die bisherige Lehrerin nach Grönland abgegangen ist, um den dortigen Missionar zu heirathen. Und mit tiefer Bewegung habe ich sie im Betsaal beobachtet, wie ihre Augen schwärmerisch an dem jungen Prediger hingen, während er in seiner einfachen herzergreifenden Weise das Evangelium verkündigte. Wer weiß, ob sich nicht bald die rosa Bänder ihres Häubchens in blaue wandeln und sie mit ihm geht, wenn er wieder als Missionar hinaus zieht.“

Es dämmerte. Im alten Eckthurm stimmte ein Heimchen sein Lied an. Die Diener brachten Windlichter und Cigarren.

Ravensburgk blies einige blaue Wölkchen in die Abendluft. Dann fragte er weiter:

„Und wie hat Heino sich mit seinem Schicksal abgefunden?“

„Er lebt in tiefster Zurückgezogenheit auf seinem Gute, verhätschelt und angebetet von seiner Mutter,“ sagte Georg. „Er thut auch besser, er baut eine gute Kartoffel als ein schwaches Gedicht. Lieber Gott! Er wünschte sich ein Schicksal, damit sein Genius sich befreien könnte. Aber wenn nichts in der Nuß ist, kommt auch nichts heraus, wenn sie aufgeklopft wird.“

„Etwas ist doch herausgekommen,“ entgegnete Hedwig. „Aus seinen freilich tief niedergeschlagenen Briefen geht hervor, daß ihn die Erlebnisse des vorigen Jahres auf den Weg zur Selbsterkenntniß und Selbstbeschränkung geführt haben.“

„Seine Poesieen sind schnell aus der Mode gekommen,“ sprach Ravensburgk. „Dagegen macht jetzt ein Gedicht von einem gewissen Viktor Scheffel großes Aufsehen und erlebt Auflage über Auflage. Es heißt: Der Trompeter von Säkkingen.“

Hedwig zog ein kleines Notizbuch aus dem Schürzentäschchen und schrieb den Titel auf. „Das wollen wir uns verschreiben.“

„Und wissen Sie, der aus der Welt kommt, nichts Neues zu erzählen?“ fragte Georg.

„Nun,“ sagte Ravensburgk, „um mich zu revanchiren für Ihre interessanten Mittheilungen, will auch ich ein Geschichtchen zum Besten geben; aber nur im tiefsten Vertrauen. Unser Gesandter beim Bundestag, der sonst nur über Menus, Toiletten und Liebesintriguen zu berichten wußte, meldete es vor Kurzem ganz konsternirt. Der jetzige preußische Gesandte, ein Herr von Bismarck, macht sich sehr mausig in Frankfurt. Der österreichische Gesandte, Graf Thun, der ja natürlich etwas voraus hat, pflegt in den Sitzungen zu rauchen. Da zieht eines Tages dieser Herr von Bismarck eine Cigarre aus seinem Etui, zündet sie sans façon an und raucht mit dem Grafen Thun um die Wette.“

Georg hatte aufgehorcht, sich aufgerichtet. Einen Augenblick starrte er vor sich hin. Dann sprach er: „Ein Trompeter hat den süßlichen Singsang in Grund und Boden geblasen, der Bismarck dem Bundestag unter die Nase geraucht. Es kommt eine neue Zeit; ich wittre Morgenluft.“ Er winkte dem Diener zu. „Eine Flasche Auslese, Schwarzsiegel. Verstanden?“

Als die Flasche gebracht war, schenkte er feierlich drei Gläser voll, stand auf stramm, als stehe er seinem Kommandeur gegenüber, erhob das Glas und sprach mit einer Stimme, die den ganzen Lora-Grund zu füllen schien: „Auf daß ich noch einmal, und sei es auch als alter Landwehrmann, zu des Vaterlandes Ehre kommandiren darf: ,Feuer!‘“

Hedwig setzte erschrocken das Glas hin und sah ihn an.

„Ich glaube gar, Du fürchtest Dich!“ rief Georg. „Vorwärts! Angefaßt!“

Da raffte sich die junge Frau zusammen: „In Gottes Namen!“ Und sie stieß herzhaft an.

Ravensburgk hatte dem Vorgang mit seinem leisen skeptischen Lächeln zugeschaut. Nun stand er auf und knöpfte seinen Rock zu. „Die Luft weht kühl,“ sagte er. „Es wird Zeit für den alten Raben, daß er von dannen zieht.“

Er drückte Georg die Rechte, neigte sich tief über Hedwig’s dargebotene Hand und stieg gravitätisch in den vorgefahrenen Wagen.

„Schwager, ein lustiges Stück,“ rief er im Davonrollen. Und während der Wagen in der Nacht verschwand, schmetterte es hell in die Luft hinein: „Ich hab’ mein Sach auf Nichts gestellt! Hurrah!“

Georg und Hedwig saßen noch eine Weile vor dem alten Hause. Georg rauchte seine Cigarre aus, und sie sprachen von den Arbeiten des kommenden Tages.


Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
2.0 Bilder aus dem Affenleben.
IV. Von der Begabung der Menschenaffen. – Schlußbetrachtung.

Wir verstehen unter Menschenaffen diejenigen, welche in ihrer Gestalt dem Menschen am meisten ähneln, von diesem aber durch die stark hervortretenden Eckzähne, die verhältnißmäßig langen Arme und kurzen Beine, den Bau der Hand, die bei einzelnen Arten vorkommenden Gesäßschwielen und das Haarkleid auch äußerlich noch immer wesentlich sich unterscheiden. Sie bewohnen die Gleicherländer Asiens und Afrikas, ersteres zahlreicher an Arten als dieses, und zerfallen in drei Sippen, von denen die eine auf Afrika beschränkt ist. Jede dieser Sippen umfaßt nur wenige Arten, doch scheint es, als ob uns gegenwärtig noch keineswegs alle bekannt seien.

Auch die Menschenaffen sind, gemäß ihres Baues, auf Bäume angewiesen, aber eben so wenig wie Schlankaffen, Meerkatzen und Makaken Baumsklaven, vielmehr ausgezeichnete Kletterer. Als geradezu unerreichbare Meister im Klettern erscheinen die Langarm-Affen oder Gibbons, Menschenaffen mit so unverhältnißmäßig langen Armen, daß sie doppelt soweit klaftern können als die Länge ihres in aufrechter Stellung gedachten Leibes beträgt. Mit unvergleichlicher Schnelligkeit und gleicher Sicherheit erklettern sie einen Baumgipfel oder Bambusstengel, versetzen ihn oder einen geeigneten Zweig in Schwingungen und schnellen sich sodann beim Zurückprallen desselben mit solcher Leichtigkeit über Zwischenräume von acht bis zwölf Meter hinweg, daß es aussieht, als flögen sie wie abgeschossene Pfeile oder abwärtsstoßende Vögel. Auch sie sind im Stande, noch im Sprunge die zuerst beabsichtigte Richtung zu ändern und ihren Sprung jählings zu unterbrechen, indem sie den ersten besten Zweig ergreifen, an ihm sich festhängen, schaukeln, wiegen und endlich ersteigen, sei es, um fortan ein Weilchen zu ruhen, oder sofort wiederum das alte Spiel zu beginnen. Nicht selten springen sie solcherart drei-, vier-, fünfmal nach einander durch die Luft und lassen dann fast vergessen, daß die Gesetze der Schwere auch für sie maßgebend sind. Ebenso ausgezeichnet als sie klettern, ebenso schwerfällig gehen sie. Andere Menschenaffen sind im Stande, ohne sonderliche Beschwerde in aufrechter Stellung, also auf den Füßen allein, ein mehr oder minder bedeutendes Stück Weg ohne Unterbrechung zurückzulegen, fallen jedoch bei eiligem Laufe stets auf alle Viere, hierbei auf die eingeschlagenen Knöchel der Finger, hinten auf die äußeren Kanten der Füße sich stützend, und den Leib zwischen den aufgestemmten Armen hindurch mühsam und schwerfällig vorwärtswerfend; die Langarmaffen aber bewegen sich nur im äußersten Nothfalle in dieser Weise und dann mehr hüpfend als laufend, legen dagegen kürzere Strecken zurück, indem sie sich zu voller Höhe aufrichten und mit den bald weniger, bald weiter ausgebreiteten Armen [399] im Gleichgewichte halten, die Daumenzehen möglichst spreizen und nunmehr mit kleinen, rasch auf einander folgenden Schritten kläglich dahin trippeln. Ihre Bewegungen müssen daher als einseitige bezeichnet werden; denn was sie an Kletterhaftigkeit vor anderen Menschenaffen voraus haben, wiegt ihre Hilflosigkeit auf dem Boden nicht auf.

Wer erfahren will, bis zu welcher Höhe die geistige Begabung eines Affen sich zu erheben vermag, muß den Schimpanse oder einen seiner nächsten Verwandten zur Beobachtung wählen und mit ihm längere Zeit einigen Umgang pflegen, wie ich gethan habe: er wird dann mit Verwunderung und Staunen, vielleicht auch gelindem Grauen erkennen, wie weit die Kluft, welche Mensch und Thier scheidet, sich verringern kann. Auch die anderen Menschenaffen sind geistig hochbegabte Geschöpfe; auch sie übertreffen in dieser Beziehung alle übrigen Affen; ihre Begabungen gelangen aber weder bei den Langarmaffen noch bei dem Orang-Utan zu so allgemein verständlichem Ausdrucke, ich möchte sagen, zu derartig zwingender Geltung, wie bei jenen. Sie, die Pongos, Gorill, Tschego und Schimpanse, kann man nicht mehr wie Thiere behandeln, wenn man ihre Geistesgaben erkennen und abwägen will. Ihr Verstand steht dem eines rohen, ungeschulten, ungebildeten Menschen wenig nach. Sie sind und bleiben Thiere; aber sie handeln so menschlich, daß man das Thier in ihnen vergessen möchte.

Ich habe Jahre nach einander Schimpansen gepflegt, sie genau und soviel als mir möglich, vorurtheilsfrei beobachtet, mit ihnen eifrig und innig verkehrt, sie in meine Familie aufgenommen, mit mir speisen lassen, sie unterrichtet, gelehrt, förmlich erzogen, in Krankheiten abgewartet und auch in ihrer Todesstunde nicht verlassen: ich darf daher glauben, sie ebenso gut kennen gelernt zu haben als irgend ein Anderer, und zu einem zutreffenden Urtheile über sie berechtigt zu sein. Aus diesen Gründen wähle ich den Schimpanse zu dem Versuche, darzulegen, wie weit die geistige Begabung eines Thieres reicht.

Der Schimpanse ist nicht allein eines der klügsten aller Geschöpfe, sondern auch ein nachdenkliches sinniges Wesen. Jede seiner Handlungen geschieht mit Bewußtsein und Ueberlegung. Er ahmt nach, aber mit Verständniß und Urtheil: er läßt sich belehren und lernt. Er erkennt sich und seine Umgebung und ist sich seiner Stellung bewußt. Im Umgange mit Menschen ordnet er sich höherer Begabung unter; im Verkehre mit Thieren bethätigt er ein ähnliches Selbstbewußtsein wie der Mensch. Was bei anderen Affen in dieser Beziehung angedeutet ist, erscheint bei ihm klar ausgesprochen.

Wie scharf er beobachtet, geht schlagend aus seiner fast immer richtigen Beurtheilung der Menschen hervor. Er kennt und unterscheidet nicht allein seine Freunde von anderen Leuten, sondern auch wohlwollende von übelwollenden Menschen so scharf, daß der Wärter eines Schimpanse überzeugt war, jeden Menschen, welcher den Schimpanse abstieß, als Taugenichts oder Bösewicht bezeichnen zu dürfen. Ein vollendeter, aber feiner Heuchler, welcher mich und Andere täuschte, war dem einen Schimpanse von Anfang an ein Gräuel, gerade, als ob er den rothhaarigen Schuft vom ersten Augenblicke an erkannt gehabt hätte. Am liebsten verkehrt jeder Schimpanse, mit welchem man sich viel beschäftigt, im Kreise einer Familie. Hier benimmt er sich, als ob er sich unter seines Gleichen fühle. Er achtet genau auf Sitte und Gewohnheit des Hauses, merkt sofort, ob er beobachtet wird oder nicht, und thut im ersteren Falle das, was er soll, im letzteren das, was ihm gerade behagt. Spielend leicht und mit wahrem Eifer, ganz im Gegensatze zu anderen Affen, lernt er, was ihm gelehrt wird, beispielsweise aufrecht am Tische zu sitzen, mit Löffel, Messer und Gabel Speise in den Mund zu führen, aus einem Glase oder einer Tasse zu trinken, den Zucker in der Tasse umzurühren, mit dem Nachbar anzustoßen, sich des Mundtuches zu bedienen etc.; ebenso leicht gewöhnt er sich an Kleidungsstücke, Decken und Betten; ohne sonderliche Mühe eignet er sich endlich ein Verständniß der menschlichen Sprache an, welches das eines wohlgezogenen Hundes bei weitem übertrifft, da er sich nicht nach der Betonung, sondern nach der Bedeutung der Worte richtet und bestimmte Aufträge nicht minder richtig als Befehle zur Ausführung bringt. Aeußerst empfänglich für jede Liebkosung oder Schmeichelei und selbst für gespendetes Lob, ebenso empfindlich gegen unfreundliche Behandlung oder schon Tadel, ist er auch lebhafter Dankbarkeit fähig und beweist diese, ohne hierzu besonders abgerichtet worden zu sein, durch Handschlag und Kuß. Besonders lebhafte Zuneigung legt er Kindern gegenüber an den Tag. An und für sich weder tückisch noch bösartig, behandelt er Kinder, so lange sie ihn nicht reizen, stets äußerst freundlich, kleine, noch unbehilfliche Kindlein mit wahrhaft rührender Zärtlichkeit und Zartheit, wogegen er im Verkehr mit anderen seiner Art, anderen Affen und anderen Thieren nicht selten rauh und unfreundlich sein kann. Ich hebe diesen Charakterzug, welchen ich bei allen von mir gepflegten Schimpansen wahrgenommen habe, namentlich deßhalb hervor, weil er zu beweisen scheint, daß der Schimpanse auch im kleinsten Kinde den Menschen anerkennt und würdigt.

Rührend geberdet sich ein kranker, schwer leidender Menschenaffe. Kläglich bittend, wahrhaft menschlich, schaut er seinem Pfleger ins Gesicht, erkennt jede Hilfe oder doch Hilfsleistung mit warmem Danke und in dem Arzte bald seinen Wohlthäter, hält letzterem den Arm hin, oder streckt die Zunge heraus, sobald dies gefordert wird, thut dasselbe nach einigen Besuchen des Arztes auch ganz von selbst, nimmt Arzneien willig ein, läßt sich sogar wundärztliche Griffe gefallen, benimmt sich, mit einem Worte, nicht viel anders als ein kranker und geduldiger Mensch. Je mehr sein Ende sich nähert, um so milder wird er, um so mehr verliert sich das Thierische, um so heller treten die edleren Züge seines Wesens hervor.

Der Schimpanse, welchen ich am längsten pflegte und mit Hilfe eines thierfreundlichen Wärters am sorgfältigsten erzog, erkrankte an Lungenentzündung, welcher sich Vereiterung der Lymphdrüsen des Halses gesellte. Wundärztliche Behandlung der eiternden Drüse erwies sich als nothwendig. Zwei mir und dem Schimpanse befreundete Aerzte unternahmen es, die Geschwulst am Halse zu öffnen, um so mehr, als der Affe in ihr den Sitz seines Leidens zu erkennen vermeinte und die Hand des untersuchenden Arztes fort und fort nach ihr hinleitete. Aber wie sollte der nothwendige Schnitt an der gefährlichen Stelle ausgeführt werden, ohne das Thier zu gefährden? Betäubende Mittel waren wegen der kranken Lunge ausgeschlossen, und der Versuch, den Schimpanse durch mehrere kräftige Männer festhalten zu lassen, scheiterte an dessen hochgradiger Erregung und dem nachdrücklichen Widerstande, welchen er leistete. Was Gewalt nicht zu erreichen vermochte, erzielte Ueberredung. Durch gütliches Zureden und Liebkosungen seitens seines Wärters wieder beruhigt, gestattete der Affe nochmalige Untersuchung der eiternden Geschwulst, ohne mit einer Wimper zu zucken, Annäherung und Gebrauch des Messers, ohne zu klagen, anderweitige schmerzende Eingriffe des Arztes, insbesondere die Nachhilfe bei Entleerung der geöffneten Geschwulst. Mit dieser trat augenblickliche Befreiung der bisher quälenden Athemnoth ein; ein unverkennbarer Ausdruck der Erleichterung drückte sich im Gesichte des Leidenden aus, und dankbar reichte er beiden Aerzten die Hand, und beglückt umarmte er seinen Wärter, ohne zu der einen wie zu der anderen Handlung aufgefordert worden zu sein.

Leider vermochte die Beseitigung des einen Leidens das Leben des Thieres nicht zu retten. Die Halswunde heilte, aber die Lungenentzündung griff um sich und machte seinem Leben ein Ende. Er starb bei vollem Bewußtsein, sanft und ruhig, nicht wie ein Thier, sondern wie ein Mensch stirbt.

Dies sind Züge aus dem Betragen und Gebahren eines Menschenaffen, welche weder mißverstanden, noch bemäkelt werden können. Bedenkt man dazu, daß sie alle nicht erwachsenen, sondern im Kindesalter stehenden Menschenaffen abgelauscht werden konnten, so wird man diesen Thieren unzweifelhaft eine sehr hohe Stellung einräumen müssen. Denn die von irgend einem unfähigen Beobachter aufgestellte, von Hunderten gedankenlos nachgesprochene Behauptung, daß der Affe mit zunehmendem Alter an geistiger Begabung verliere, also gleichsam zurückgehe und verdumme, ist eben nichts Anderes als eine plumpe Lüge, welche jeder wirklich und unbefangen von seiner Jugend an bis zu seinem Alter beobachtete Affe widerlegt. Wenn wir von erwachsenen Menschenaffen auch weiter nichts wüßten, als die beiden Thatsachen, daß sie Bauten errichten, welche man eher Hütten als Nester nennen muß, um in ihnen eine einzige Nacht zu verweilen, und daß sie hohle Bäume als Trommeln verwenden und letztere zu ihrem Vergnügen rühren: wäre dies doch genug, um dieselben Schlüsse zu ziehen, zu denen uns kindliche, von uns gepflegte Affen dieser Gruppe führen, oder mit anderen Worten, um in ihnen die weitaus begabtesten, am höchsten stehenden und unsere allernächsten Verwandten zu erkennen.

[400] Und die Affenfrage? Nun, ich möchte glauben, sie in dem Vorausgegangenen bereits beantwortet zu haben, stehe aber nicht an, meiner Auffassung derselben noch besonders Ausdruck zu geben.

So unbestreitbar die Uebereinstimmung zahlreicher Merkmale bei Mensch und Affe ist, so bestimmt stellen sich bei genauester Vergleichung der Menschen und Affen Unterschiede heraus, welche eine so innige Verschmelzung beider Gruppen, als neuerdings versucht worden, unbedingt verbieten. Die Ebenmäßigkeit der Gestalt, die verhältnißmäßige Kürze der Arme, die Breite und innere Beweglichkeit der Hände, die Länge und Stärke der Beine sowie die Plattheit der Füße, die nackte Haut und nicht minder die geringe Entwickelung der Eckzähne sind äußerliche Merkmale des Menschen, welche nicht unterschätzt werden dürfen, vielmehr gewichtig genug erscheinen, um zwischen ihm und den Affen bestimmte Grenzen aufzurichten und festzuhalten. Zieht man außerdem die Anlagen des Menschen gebührend in Erwägung, vergleicht man seine Bewegungen, seine gegliederte Sprache, seine geistigen Fähigkeiten mit den entsprechenden Begabungen der Affen, so wird man in Aufrechterhaltung jener Grenzen nur unterstützt werden können.

Blinde Anhänger der Umwandelungslehre, wie sie Darwin begründet und Andere weiter ausgebaut, überspringen jene Grenzen freilich ohne alles und jedes Bedenken; sie aber können für eine besonnene Beurtheilung der thatsächlich bestehenden Verhältnisse unmöglich maßgebend sein. So befriedigend, um nicht zu sagen wahrscheinlich, jene Lehre auch ist, über die Bedeutung einer geistvollen Annahme hat sie sich noch nicht zu erheben vermocht; unwiderlegliche Beweise für die Nichtigkeit dieser Annahme hat sie noch nicht erbringen können. Veränderlichkeit der Spielarten oder Rassen läßt sich erweisen, sogar bewirken; Umwandlung einer Art in die andere konnte noch in keinem Falle festgestellt werden. So lange aber Letzteres nicht der Fall, so lange sind wir berechtigt. Menschen und Affen als verschiedenartige Wesen zu betrachten und die Abstammung des einen von dem anderen zu bestreiten. Jeder Versuch, einen gemeinschaftlichen Urahn zu entdecken oder zu ergründen, jegliches Unterfangen, eine Ahnenreihe des Menschen aufzustellen, ändert hierin nicht das Geringste; denn wirkliche Naturwissenschaft begnügt sich nicht mit Erklärungen, sondern verlangt Beweise, wenn sie befriedigt sein soll; sie will nicht glauben, sondern wissen.

Und so mögen wir den Affen unbekümmert die Stellung einräumen, welche unbefangene Prüfung in der Reihe der Wesen ihnen anweist. Als die uns am meisten ähnelnden Thiere oder unsere nächsten Verwandten im thierkundlichen Sinne dürfen wir sie anerkennen; weitergehende Rechte müssen wir ihnen versagen. Vieles, was dem Menschen eigen, wurde auch ihnen beschieden; von wirklichem Menschenthume trennt sie eine noch immerhin weite Kluft. Viel, aber bei weitem nicht aller Mensch ist in ihnen verkörpert wie vergeistigt.


Studien nach dem Leben.

Von Hermann Heiberg.
Gewohnheiten und Unarten.
II.

Es giebt manche Sonderlinge, die man als Anfasser bezeichnen könnte. Es wird ihnen nichts gezeigt, das sie nicht berühren, worauf sie nicht tupfen müssen. Eine Schachtel, eine Geldtasche wird niemals präsentirt, ohne daß sie diese öffnen, und selbst wenn sie in einem öffentlichen Garten sich bewegen, in dem auf großen Tafeln vorher schon vor ihren Unarten gewarnt wurde, müssen sie Blätter abreißen und Blumen pflücken.

In Ausstellungen können sie’s nicht lassen, ihre Hände in Bewegung zu setzen, und sind’s gar Bücher, schauen sie sich um, ob nicht ein unbewachter Moment gestatte, rasch einmal hineinzugucken. Die Anfasser packen Freunde und selbst Fremde beim Sprechen an der Schulter und halten ungebührlich lange eine arglos gebotene Hand. Einige drücken auch, daß man schreien möchte, und seltsamer Weise reichen diejenigen am liebsten und am häufigsten ihre Rechte, deren Finger weder Elfenbeinglätte noch trockene Flächen haben. Kalte, feuchte Hände wirken selbst auf Ungebildete mit weniger ausgeprägtem ästhetischen Gefühl abstoßend. Es sollte Jeder einmal an sich genau prüfen, was ihm anhaftet und anhängt; er würde, wenn er die Unarten ablegte, wahrscheinlich und zu seiner angenehmen Ueberraschung, eine ganz veränderte Begegnung bei seinen Mitmenschen beobachten können.

Lästig können die Knopfdreher werden. Vor einigen Monaten begegnete ich Einem auf der Straße, der zugleich sehr langathmige und langweilige Auseinandersetzungen in eigener Sache hielt. Ich legte meine schützende Hand über den Rock. Da packte er aber doch den obersten Knopf, hielt ihn fest, drehte und drehte und gab ihm endlich den Rest. „Zum Andenken,“ sagte ich launig beim Schluß seiner Rede und überreichte dem Unermüdlichen das Resultat seiner Bemühungen.

Scherenspieler und Schneider finden sich vielfach in der Gesellschaft. Während der Konversation setzen sie das Instrument in Bewegung, und es giebt sogar Einige, welche die Ecken der Tischtücher nicht schonen. Wolle, Seide oder Zeug ist niemals sicher vor ihnen, wenn’s gerade auf dem Tisch liegt.

Die Maler in der Gesellschaft punktiren und beschreiben Papier, Wände und Tische. Jede freie Fläche ist ihnen die Leinewand für ihre Kritzeleien. Sie müssen entweder ihren Namen einschreiben oder wenigstens eine Schnörkelei anbringen; manche schreiben auch Sprüche und Gedichte hin. Meistens gelangen diese „Kieselacks“ niemals an denselben Ort zurück, aber ein unwiderstehlicher Drang treibt sie, ihre Künste zu üben.

Knaben können an einem neubemalten Staket überhaupt nicht vorübergehen, ohne Kreide- oder Bleifederstriche zu machen oder mit dem Taschenmesser darüber zu fahren. Nicht selten zeichnen sie auch eine Menschengestalt in ungeheuerlichen Proportionen.

Namentlich bei weiblichen, abhängigen Personen findet sich die Gewohnheit, die letzten Worte aus der Rede des Anderen zu wiederholen. Es soll als eine besondere Artigkeit wirken, oder die tiefe Ergebenheit fließt in solcher Weise über.

„Ich habe mehrfach versucht, aber ohne Nutzen,“ hebt der Sprechende an, und als Echo tönt zurück: „Aber ohne Nutzen“. Und so geht’s fortwährend in längerer Rede. Fast keinen Satz giebt es, der nicht mit seinem Ende angebunden wird. Redensarten, die zur Gewohnheit geworden sind, können oft konüsch wirken. Eine alte Frau, welche ich in meiner Jugend kannte und die irgendwo als Kammerzofe bei einer fürstlichen Persönlichkeit gedient hatte, brauchte den Ausdruck: „Mit Erlaubnis zu sagen.“ Und da hörte ich sie einmal einer meiner Angehörigen berichten, daß eine hochgestellte Dame sie besucht habe, und sie leitete ihre Erzählung über diesen Besuch mit den folgenden Worten ein: „Ich saß, mit Erlaubniß zu sagen, und nähte, als Frau Gräfin bei mir eintraten!“

Vor Jahren besuchte ich ein Lesezimmer und fand um eine Nachmittagsstunde, in der ich eben auch gerade die rechte Zeit für das Durchlesen von Zeitungen fand, stets drei ältere Herren, die allezeit bei meinem Eintreten, ohne zu grüßen, ein wenig die grauen Köpfe hoben und dann sich wieder eifrig vertieften. Einer von ihnen litt an einem Mundkrampf und mußte gegen seinen Willen Töne von sich geben, die an eine beim Gebrauch abgenutzte Kindertrompete erinnerten. Dies Geräusch ertönte in Pausen und namentlich, wenn abermals die Russen über die Türken gesiegt hatten. Ich hörte gelegentlich, daß er ein Russenhasser sei. Der Zweite, ein pensionirter Beamter, ein stupider „Von oben herab“, schurrte mit den Stiefeln den Fußboden. Dieses scheuernde Geräusch erfolgte in ziemlich regelmäßigen Pausen von fünf Minuten und veranlaßte den Trompetenbläser unwillkürlich einzufallen. Drob aber gerieth der Dritte, ein alter Justizrath, wieder in einen nervösen Zustand und stieß mit einem von mir nie wieder gehörten Nasallaut die Luft heftig und wiederholt aus den Nüstern.

Acht Tage Hielt ich aus, dann aber entfloh ich diesem prustenden, scharrenden und schnaubenden Durcheinander und kam nicht wieder. Sie aber lesen noch heute um dieselbe Stunde und ertragen Unabänderliches.

Unerschöpflich ist das Kapitel! Ich erinnere zum Schluß noch an andere Gewohnheiten beim Sprechen, die Jedermann bekannt sind. Es giebt eine Klasse von „Das heißt, das heißt“, und „Ich meine, ich meine“, und „Wissen Sie, wissen Sie“.

Es läßt sich z. B. ein solcher wie folgt vernehmen: „Ich habe mit ihm gesprochen, aber ich meine – ich meine, viel war nicht aus ihm herauszukriegen und ich meine, ich meine, wenn der Mann nicht einmal offen ist – nicht einmal mir gegenüber, ich meine: mit der Sprache heraus will, dann etc.“

Die „Das heißt-Leute“ haben mehr eine erklärende Ader, während jene Einschiebsler sind. Ein „Das heißt-Mitglied“ spricht etwa so: „Das heißt, das heißt, nur unter der Bedingung, daß Sie in acht Tagen wieder zurück sind. Mein Sohn will auch verreisen, das heißt – eine Geschäftsreise unternehmen, und wenn Alles so liegt, so werde ich am 24., das heißt, das heißt, jedenfalls gegen Ende des Monats meine diesjährige an treten.“

Bei Damen findet man häufig die Gewohnheit des Uhrkettenreibens. Die Kette hängt offener heraus, als bei den Männern, und ihre Hände zerren gern an den einzelnen Gliedern. Tragen Frauen Blumen an der Brust, müssen sie eifrig rücken und schieben, und junge Mädchen zupfen häufig mehr an ihrer Toilette, als sie reden. Ich kenne eine alte Dame, welche die sonderbare Gewohnheit hat, mit denn Kopf Nein zu schütteln, wenn sie beipflichten will, und wenn sie entgegengesetzter Meinung ist, neigt sie das Haupt und zieht die Unterlippe herab. An dieser Bewegung erkennt man, daß sie nicht derselben Ansicht ist.

Die halbe Welt der Bärtigen streicht und zupft und kräuselt an dem Haarwuchs. Einem Kräusler rief ich einmal zu: „Sie, Bernewitz! Sie kräuseln ja schon wieder!“

„So? Wieder?“ rief er bestürzt, zog die Hand zurück und schloß, sofort die Bartenden abermals in die Hand nehmend: „Eine dumme Gewohnheit! Ich werd’s jetzt lassen!“


[401]

Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Ein Wettkampf zwischen Geschütz und Panzer.

Aus dem erbitterten Wettkampfe, welcher seit Jahrzehnten zwischen Geschütz und Panzer geführt wird, schien noch vor Kurzem die Angriffswaffe als endgültige Siegerin hervorgehen zu sollen. Wie der Harnisch der Ritter früherer Zeiten sich machtlos gegen die Büchsenkugel erwies, so sollte auch der Riesenpanzer der Kriegsschiffe und der Strandbatterien keine Schutzwehr mehr bilden gegen die Wucht der Geschosse, welche aus den größten Feuerschlünden der Neuzeit, den 100-Tons-Geschützen, geschleudert werden. Und in der That gab es bis zu den Schießversuchen in Spezia keine Panzerplatte, welche den Kugeln dieser von der Firma Armstrong gebauten, auch unter der Bezeichnung 43-Centimeter-Kaliber bekannten Kanonen hätte Widerstand leisten können. Kein Wunder, da dieselben in der Regel mit 350 Kilogramm Pulver geladen werden und das Gewicht ihrer Geschosse 17½ Centner beträgt!

Die italienische Regierung ist bis jetzt die einzige gewesen, welche einige ihrer Kriegsschiffe mit diesen furchtbaren Zerstörungsmaschinen armiren ließ und die auch den Plan gefaßt hatte, dieselben zur Vertheidigung der Küste zu verwenden. Hier sollten sie in Panzerthürmen aufgestellt werden, wie dieselben schon früher in der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrg. 1883, S. 207 u. f.) beschrieben und abgebildet wurden. Die Ausführung dieses Planes würde jedoch nur dann einen sichtbaren Nutzen bringen, wenn diese Panzerthürme mit Platten geschützt werden könnten, welche den Geschossen der 100-Tons-Geschütze Widerstand leisteten.

Die berühmte Firma Gruson in Buckau bei Magdeburg hatte sich bereit erklärt, den gewünschten Panzer zu liefern, und es wurde in Folge dessen zwischen ihr und der italienischen Regierung ein Kontrakt abgeschlossen, daß sie zwei Panzerthürme in dem Kriegshafen zu Spezia errichten solle, wenn eine von ihr probeweise gelieferte Panzerplatte drei Schüssen aus einem 100-Tons-Geschütze widerstände, ohne Verletzungen davonzutragen, welche den Schutz des Panzerthurmes fraglich machen würden.

Die Versuchs-Panzerplatte in dem Gruson’schen Etablissement.

Schon im vorigen Jahre war diese Probeplatte im Gewicht von 88000 Kilogramm in dem Gruson’schen Etablissement aus Hartgußeisen angefertigt worden und stand zur Verladung bereit. Unser erstes Bild zeigt uns den Riesenblock in diesem Zustande. Er bildet nur einen Theil der Kuppel des Panzerthurmes, die aus 15 derartigen Platten zusammengestellt wird.

Um diese schwere Masse von den Ufern der Elbe nach Spezia zu befördern, mußte ein besonderer zwölfaxiger Transportwagen gebaut werden, welcher auch die ungeheure Last durch den Gotthard-Tunnel glücklich nach Italien brachte. Hier wurde die Platte nahe am Meeresufer in einer in dem Felsen ausgesprengten und ausgemauerten Nische aufgestellt, wobei ihr Anschluß durch drei gewaltige gußeiserne Platten von 42000 bis 45000 Kilogramm Gewicht vermittelt wurde. Außerdem war noch über und vor der Platte, um dem Zurückfliegen von Geschoßtrümmern vorzubeugen, ein aus starken Balken gebildeter Schutzbau angeordnet und nur eine kleine Oeffnung zum Passiren des Geschosses freigelassen.

Das Geschütz selbst wurde auf dem Ponton „Valente“ aufgestellt. Unsere zweite Abbilduug giebt uns die Ansicht des Kolosses, neben welchem sich noch ein kleineres Geschütz von 15 Centimeter Kaliber befindet. Die Entfernung zwischen der Mündung des Geschützrohres und der Platte betrug nur 133 Meter, und für das Versuchsschießen wurde das Geschütz ausnahmsweise mit 375 Kilogramm braunem prismatischen Pulver der Rheinisch-Westfälischen Pulverfabriken geladen, während als Geschosse Krupp’sche gehärtete Stahlgranaten im Gewicht von 1000 Kilogramm verwendet wurden.

Das 100-Tons-Geschütz auf dem Ponton „Valente“.

So waren auf dem Schießplatze zu Spezia die bedeutendsten Firmen der modernen Fabrikation des Kriegs-Materials vertreten, und auch viele Abgeordnete europäischer, amerikanischer und selbst asiatischer Staaten als Zeugen des Riesenduells zwischen Geschütz und Panzerplatte erschienen. Die Kosten dieser großen militärischen Schaustellung beliefen sich auf eine halbe Million Franken.

Am 20. April war das Meer ruhig; die Bewegungen des Pontons „Valente“ erfolgten in den zulässigen Grenzen; der erste Schuß konnte abgefeuert werden. Gegen 9 Uhr brachten mehrere Barkassen sämmtliche Theilnehmer nach dem Schießplatze. Das Richten und Laden der Kanone, sowie die Kompletirung des Schutzbaues vor der Platte nahmen etwa zwei Stunden in Anspruch. Nach Ablauf derselben begaben sich die Zuschauer auf ihren Standplatz, der sich im Freien in einer Entfernung von etwa 300 Meter von der Platte befand. Um ½11 Uhr erfolgte die Detonation des Schusses, die rings im Golfe vielfach widerhallte. Eine mächtige Rauchwolke verdeckte den Ponton, und man sah in ihr Holzbalken in die Höhe fliegen, Trümmer der von dem Luftdruck aus einander gesprengten Landungsbrücke, an welcher der Ponton festgelegt war.

Man eilte nunmehr zu der Platte und entfernte zum Theil den hölzernen Schutzbau (vergl. unsere Abbildung S. 402). Die meisten Sachverständigen waren fest überzeugt, daß sie die Platte zertrümmert finden würden, statt dessen stand diese fast unverletzt, während das 1000 Kilogramm schwere Geschoß fast in Atome zersplittert war. Der Schuß hatte auf der Platte nur einen flachen etwa 5 Centimeter tiefen Eindruck hinterlassen, von welchem 5 radiale Risse ausgingen. Nur einer derselben pflanzte sich bis in den untersten Theil der Platte als feiner Haarriß fort. Die Zahl der gesammelten Splitter, zu welchen die Stahlgranate zerschellt war, betrug gegen 1000. Nachdem der Schutzbau und die Landungsbrücke wieder hergestellt worden waren, erfolgte am 24. April der zweite Schuß. Eine 10 Centimeter tiefe Ausschleifung, deren größte Länge und Breite etwa 40 Centimeter betrug, und 5 radiale Risse bildeten keine ernstliche Beschädigung der Platte, die auf der Innenseite vollkommen intakt blieb und auch gegen den dritten Schuß widerstandsfähig erschien.

Dieser konnte wegen ungünstiger Witterung erst am 29. April abgefeuert werden. Diesmal zeigte die Platte eine neue Ausschleifung von 4 Centimeter Tiefe, 40 Centimeter Länge und 30 Centimeter Breite, von welcher wieder mehrere radiale Risse ausgingen. Auf der Innenseite war [402] ein neuer Riß wahrzunehmen. Das Geschoß ging in Trümmer und beschädigte die über die Platte hinausragende Seitenmauer und die Decke des Schutzbaues. – Der Versuch war zu Ende, die Platte hatte sich bewährt, sie besaß nach den drei wuchtigen Angriffen noch Widerstandskraft genug, um noch einem vierten Schuß, wenn man ihn abgefeuert hätte, trotzen zu können. Dieser Erfolg muß um so überraschender erscheinen, wenn man die Treffpunkte der drei Schüsse genauer betrachtet. Die Entfernung des zweiten und dritten Schusses von dem ersten hatte nur 0,85 Meter beziehentlich 1 Meter und die Fläche des von diesen drei Punkten eingeschlossenen Dreiecks nur 0,35 Quadratmeter betragen, während die treffbare Fläche der Platte überhaupt 12,5 Quadratmeter enthält. Da es nun undenkbar ist, daß im Ernstsalle eine und dieselbe Platte dreimal mit solcher Wucht getroffen werden könne, so wird sicher ein aus solchen Platten zusammengestellter Panzerthurm jedem denkbaren Angriffe mit heutigen Geschützen Stand halten. – In jenen für die Kriegswissenschaft denkwürdigen Tagen von Spezia hat mit der Firma Gruson auch die deutsche Industrie einen glänzenden Triumph gefeiert. Der Bau der unüberwindlichen Panzerthürme wird nunmehr sofort in Angriff genommen werden, und Jahre lang wird der 12achsige 23 Meter lange Frachtwagen mit der schweren Panzerlast auf den Geleisen der Eisenbahnen fortrollen, von der Niederung der Elbe hinauf in die Alpenberge, durch den Schoß des mächtgen Gotthard und dann hinunter zu den Gestaden des südlichen Meeres; Tausende werden ihn anstaunen und bewundern und in ihm ein Zeichen der Wunder wirkenden Menschenkraft erblicken, bis die Panzerthürme vor Spezia wie Giganten dastehen werden – ein gewaltiger Schutz Italiens, ein stählernes Denkmal deutschen Fleißes und Geistes. C. Falkenhorst.

Besichtigung der Panzerplatte nach dem ersten Schusse.


Was will das werden?

Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)


Fünftes Buch.

Fünf Tage später – in der letzten Stunde eines schwülen Sommerabends – stand vor einem jener uralten, windschiefen, mit jedem Stockwerk ein wenig vorspringenden Häuser, welche sich in langer Zeile an dem Innenhafen von Hamburg hinziehen, ein junger Mensch und betrachtete ein großes Schild, auf welchem ein Schiff gemalt war, das mit vollen Segeln durch grasgrüne Wogen strich. Unter dem Schiff las man in großen Bnchstaben: Nach Amerika. Darunter in kleiner Schrift: Billett-Ausgabe nach New-York, Philadelphia, Boston, New-Orleans und Australien. Wieder darunter: Geldwechsel.

Der junge Mensch war ich, und das Schild betrachtete ich nur so aus Langeweile, denn, wenn ich auch nach Amerika wollte, so war dies nicht meine Route. Ich hatte vielmehr mein Billet bereits in der Tasche. Es lautete auf einen südamerikanischen Hafen mit dem Segelschiff „Cebe“, Kapitän Karl Haltermann: und mein alter Spielgenoß aus den Knabenjahren, Fritz Brinkmann, hatte es mir besorgt.

Fritz Brinkmann war Untersteuermann auf der „Cebe“, und der Kapitän war auch aus unserer Stadt, ein älterer Mann, den ich vom Ansehen wohl gekannt hatte, und der um der Landsmannschaft willen und weil mich Fritz Brinkmann so warm empfohlen, ein Auge über den gänzlichen Mangel an Legitimationspapieren bei mir zudrücken und mich mitnehmen wollte.

Ich aber hatte Fritz Brinkmann gestern Morgen hier am Hafen zufällig getroffen. Die Freude des Wiedersehens war auf beiden Seiten gleich groß gewesen und ich hatte den braven Burschen ohne Weiteres mit meiner Lage so weit vertraut gemacht, als es für ihn nothwendig war. Ich sagte ihm, daß nach dem Tode des Vaters meine Verhältnisse immer mißlicher geworden seien, bis ich den Entschluß gefaßt habe, Europa den Rücken zu kehren und in Amerika mein Heil zu versuchen. Mit Geld sei ich hinreichend versehen, um die Ueberfahrt nach New-York in der zweiten Klasse eines Postdampfers bezahlen zu können. Aber, abgesehen davon, daß dabei fast mein ganzes kleines Kapital draufgehen und ich so ziemlich pfenniglos drüben ankommen würde, mache man mir wegen meiner Legitimationslosigkeit Schwierigkeiten, die mich beinah schon mit der Polizei in bösen Konflikt gebracht hätten. Ob Fritz keinen Rath wisse?

Nun, und der gute Fritz hatte Rath gewußt. Ganz glatt lief die Sache freilich auch jetzt noch nicht, und Vorsicht und Geheimniß waren dringend geboten, wenn auch über die Schiffe nach Südamerika, die im Außenhafen vor Anker lagen, eine so scharfe Kontrole nicht geübt wurde und zumal die „Cebe“, die nur gelegentlich Passagiere beförderte, kaum etwas nach dieser Seite zu fürchten brauchte. Gegen das Gesetz verstieß der Kapitän immer, wenn er mich hinter dem Rücken der Polizei mitnahm, und so hatte er sich denn den Dienst, den er mir leisten sollte, nicht nur ganz anständig, wie Fritz meinte, bezahlen lassen, sondern diesem auch auf die Seele gebunden, daß er mich „auf seine Gefahr“ an Bord zu schaffen, das heißt: wenn er dabei abgefaßt würde, „vor dem Riß zu stehen habe“. Er – der Kapitän – werde in diesem Falle von der ganzen Geschichte „nichts nicht wissen“.

Fritz hatte gesagt, er habe es auch nicht anders verstanden, und was die Gefahr betreffe, so „pfeife er darauf“.

Zwischen mir und Fritz aber war verabredet worden, daß wir uns Punkt neun Uhr vor dem Saxonia-Hotel begegnen, den Abend – er hatte zu dem Zweck vom Kapitän Urlaub erhalten – mit einander zubringen und Punkt zwölf Uhr von einem ihm bekannten völlig sicheren und verschwiegenen Jollenführer an Bord rudern lassen wollten.

Das Saxonia-Hotel war mein Hôtel: von all’ den schiefen, wurmstichigen Häusern am Hafen das schiefste und wurmstichigste; trotz senier drei Stockwerke, über denen nach rechts und links je ein Giebel aufragte, nicht höher, als die zweistöckigen Nebenhäuser, welche auch nicht eben hoch waren. Die Fenster klebten dicht nebeneinander und bildeten, da das Haus sich nach der Mitte zu gesenkt hatte, anmuthige Kurven. Nur die beiden oberen Reihen (nebst den Giebeln) gehörten zum „Hôtel“; zu ebener Erde und in dem Souterrain hatten neben und über einander noch ein Holz- und Kohlenhändler, ein Uhrmacher und ein Wein- und Spirituosenhändler Raum gefunden.

Vor diesem interessanten Gebäude, welches ich auf meiner Wanderung nun schon ein paar Dutzend Male passirt – jedes Mal dem Himmel dankend, daß ich in der gräßlichen heißen Koje da oben in dem Giebel rechts nicht noch eine Nacht zuzubringen [403] brauchte – machte ich jetzt wieder Halt. Denn die Uhr in dem Laden des Uhrmachers zeigte auf neun, und gleich darauf schlug es auch neun von irgend einem Thurme in der Nähe: die verabredete Stunde.

Ich wartete fünf, zehn Minuten, nach allen Richtungen spähend: unter den Passanten wollte Fritz’ breitschultrige Gestalt nicht auftauchen. Es mußte ihm irgend Etwas dazwischen gekommen sein. Geduldig begann ich meine Wanderung von neuem, jetzt aber mich auf die Nähe des Saxonia-Hôtel beschränkend und nur manchmal über die Straße herüber bis an den Rand des Quai gehend und dort, mich auf die hölzerne Brüstung lehnend, in den Hafen hinein nach der Richtung spähend, wo, wie ich wußte, die „Cebe“ vor Anker lag.

Es lagen nicht eben viele Schiffe im Hafen – hatte mein Wirth gesagt, und Fritz hatte es bestätigt – trotzdem mir, dem an die bescheidenen Verhältnisse meines kleinen Heimathsortes Gewöhnten, der Anblick der langen schier endlosen Reihen von so viel Fahrzeugen jeder Größe und Gattung mit dem Wald von Masten, Raaen, Spieren, der von einem unentwirrbaren Netz von Tauen übersponnen und von zahllosen Wimpeln überflattert war, gewaltig imponirte. Gerade in diesem Moment, wo sich das ungeheure Bild von dem rothglühenden abendlichen Himmel, bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich erkennbar, abhob, schwimmend auf dem Wasser, welches die rothe Gluth zurückstrahlte, daß es, aller Erdenschwere entrückt, mir wie ein Abbild der Freiheit erschien, nach der meine Seele lechzte, wie der Hirsch nach Wasser.

Und die Worte Faust’s, der der scheidenden Sonne nachblickt, kamen mir in den Sinn:

„Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht –“

Welche Nacht! so dunkel, so voll von Schrecken, daß mir, der ich jetzt an sie zurückdachte, an dem brutwarmen Sommerabend das Blut kalt durch die Adern rieselte. O, der grausigen Stunden, die ich – drei endlose Tage und Nächte hindurch – in dem Giebelstübchen der Mühle verbrachte, bis die Jagd, welche man ringsumher nach mir, wie nach einem entsprungenen Verbrecher anstellte, an ihrer Erfolglosigkeit ermüden würde! Damals, als man glaubte, daß die Wasser des Baches sich über meiner Mutter und ihrem Kinde geschlossen, hatte man es sich bequemer gemacht. Die böse Sache sollte eben geheim bleiben. Heute hatte es gerade nur noch an einem Steckbrief in den Zeitungen hinter mir her gefehlt. Woher der Unterschied zwischen damals und jetzt? War es, daß man die vermeintlich Todte nicht zu fürchten brauchte, oder höchstens, wenn ihre Leiche gefunden wurde, und deßhalb lieber den Bach gar nicht absuchte; wohl aber den voraussichtlich Lebenden scheute, der am Ende gar die Indiskretion hatte, die Welt mit seinen Erlebnissen am herzoglichen Hofe bekannt zu machen? War es Adele’s Einfluß, die, nachdem sie ihren Frieden mit dem Herzog gemacht, nicht daran zweifelte, daß es ihr gelingen werde, den Bruch zwischen ihm und mir wieder auszuheilen? War es die kindisch-lächerliche Ursache dieses Bruches, deren man sich nachträglich schämte, und die man vergessen machen wollte, bis – nun ja, bis man den Ueberlästigen wenigstens auf eine anständige Weise entfernen konnte? War es, daß die momentane thörichte Wallung denn doch einer besseren Empfindung hatte weichen müssen; man sich des Wohlwollens erinnerte, mit dem man den jungen Menschen behandelt hatte, und das dieser doch auch zu verdienen schien, und in Folge dessen wirkliche Reue über das Geschehene empfand und das Verlangen, es nach Kräften wieder gut zu machen?

Gleichviel: mir gebot die Ehre, daß ich lieber mich von Träbern nähren müsse, ein oerlorenes Menschenkind, als mit ihm an einem Tische essen, für den meine Mutter sich sammt ihrem Kinde ertränkt hatte.

Sechzehn Jahre hatte er die Schuld auf seinem Gewissen fühlen können, wenn ein Etwas der Art in seinem moralischen Haushalt sich vorfand. Denn nicht, wie er mir an jenem Abend sagte, unmittelbar nach dem bösen Vorfall war er in die Müllersleute gedrungen, ihm die Wahrheit zu entdecken, und hatten sie ihm dieselbe entdeckt – nein! erst im vorigen Herbst, als Weißfisch die Todtgeglaubte wiedergefunden und durch das Bild, welches er mir aus dem Koffer stahl, die Identität der Tischlersgattin mit der einstigen Primadonna des Hoftheaters auch für den hohen Herrn konstatirt hatte, war der Müller halb durch Bitten, halb durch Drohungen vermocht worden, einen Schwur zu brechen, welcher durch die Thatsache des Lebens meiner Mutter und ihres Kindes inhaltlos geworden war.

Was hätte der hohe Herr wohl jetzt darum gegeben, wäre der schlaue Weißfisch weniger schlau gewesen, und sein Gewissen hätte die leichte Last weiter tragen dürfen!

Aber weßhalb kehrten meine Gedanken immer wieder zu ihm zurück, der fürder für mich todt sein mußte, wie ich selbst es für die war, die ich doch wenigstens Mutter hatte nennen dürfen?

Und die mir doch in den ersten Jahren meines Lebens wirklich Mutter gewesen war und ihre Mutterpflichten an mir erfüllt hatte, ich durfte nicht zweifeln, mit derselben Leidenschaftlichkeit, mit der sie Alles bis ins Uebermaß steigerte, was immer ihre phantastische Seele erfaßt hatte. War es doch dieser Gedanke, daß sie den Sohn in ihre Arme und an ihr leidenschaftliches Herz schließen würde, wenn er jetzt vor sie trat und sprach: ich weiß nun, was an uns Beiden gefrevelt ist, und verzeihe dir, wie ich hoffe, daß du mir verzeihen wirst – der mir den Weg nach Amerika gewiesen. Gutmüthiger Narr! – –

So stand ich, in Gedanken vertieft, auf das hölzerne Geländer gelehnt, während die Abendgluth allmählich verblich und der dumpfheulende Ton einer Signalpfeife von einem der kleinen Schlepper im Hafen mich daran mahnte, daß ich vorläufig noch sehr weit von dem Lande meiner Hoffnung sei und, wenn mich Fritz Brinkmann im Stich lasse, wie es nun allen Anschein hatte, auch schwerlich jemals dahin gelangen werde.

Verzweifelnd schier starrte ich in den Abend hinein. Schon begannen die Gestalten der Passanten schattenhaft zu werden; die Lichter der Laternen blitzten längs des Quai auf, die Fenster in den alten Häusern erhellten sich allgemach – und noch immer kein Fritz! Das hatte ich dem sonst so braven Kerl nicht zugetraut!

„Endlich! – Aber Du hast mich lange warten lassen!“

„Konnte bei Gott nicht eher! gab zu viel zu thun an Bord; und just, als ich da unten anlege, begegne ich ein paar Jungen, die ich in Australien glaubte und mit denen ich nothwendig ein Glas trinken mußte – dammi!“

Es war augenscheinlich nicht bei dem einen Glas geblieben. In dem Licht der Laterne, das plötzlich neben uns aufflammte, sah ich, daß sein breites Gesicht von einer bedenklichen Röthe war und aus dem breiten Gesicht die kleinen Augen unbehaglich hell glitzerten. Indessen, der Fritz konnte einen Hieb vertragen – das wußte ich; und – betrunken oder nüchtern – er war mein Stab und meine Stütze.

Und die auch nicht wesentlich schwankte, als wir jetzt Arm in Arm den Quai hinunterschlenderten, vorüber an dunklen Gestalten, die uns nur noch seltener begegneten, und mit denen Fritz gelegentlich einen kurzen Gruß oder ein derbes Schifferwort austauschte. Dazwischen sprach er ganz vernünftig mit mir über unsre bevorstehende Reise, die voraussichtlich sechzehn Wochen dauern würde; über den Kapitän, der so weit ein ordentlicher Mann und nur ein bischen sehr hinter dem Gelde her sei. Ich hoffte, den guten Jungen so im Gespräch zu erhalten bis zur Stunde, in welcher wir an Bord gehen sollten; aber plötzlich bog er vom Hafen ab in eine schmale und dünne Seitengasse, aus der uns in einiger Entfernung das Licht einer rothen Laterne entgegendämmerte. Das sei seine Lieblingskneipe, sagte Fritz – und man hörte ordentlich das Behagen, mit dem er es sagte; – und so oft er noch von Hamburg ausgefahren sei, habe er seinen letzten Abend da verbracht. –

Was sollte ich thun? Dem guten Jungen ein Vergnügen stören, auf das er sich offenbar schon so lange gefreut hatte, und welches auf Monate hinaus das letzte nach seinem Geschmacke sein würde? Dazu hatte ich kein Recht, und ich war seit mindestens drei Stunden ununterbrochen auf den Beinen gewesen, gründlich ermüdet und einer Erquickung dringend bedürftig. So bat ich denn den Kameraden nur, der Verantwortung, die er sich mit mir aufgeladen, eingedenk zu sein und sich nicht vollends –

„Zu betrinken?" unterbrach mich der Vergnügte lachend. „Als ob ich bi Gott nicht so nüchtern wäre, wie die Spritzen [404] bei uns zu Hause, wenn sie im Sommer mal probirt wurden, und das Wasser aus allen Schläuchen platzte. Weißt noch? Nein, sei ganz ruhig! Erstens betrinke ich mich nie, und zweitens würde sich das in der Gesellschaft von einem so noblen jungen Herrn auch gar nicht schicken.

Ich blickte zaghaft zu dem Schild über der Thür, auf dem noch eben „Mermaid“ zu entziffern war über einer Gestalt, welche vermuthlich die betreffende Nixe in Person vorstellen sollte, wie sie im obligaten Kostüm aus spritzenden Wogen taucht und einem Herrn in Matrosenkleidung, der sich von einem Felsen zu ihr herabbiegt – auf die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren – einen weitbauchigen, von dem edlem Inhalt überschäumenden Pokal kredenzt. –

„Es wird Dir schon gefallen,“ raunte mir Fritz mit vor anticipirtem Vergnügen rauher Stimme zu; „bi Gott!“

Und wir gingen in das Haus.

Ein dunkler oder doch kaum erhellter Flur; Fritz faßte mich bei der Hand und führte mich gerade aus bis zu der hinteren Wand, in welcher er eine Thür öffnete, durch die er mich vor sich herschob, um dann selbst zu folgen.

Ich mochte mir von dem Lokal in der Eile ein schauerliches Bild gemacht haben und war deßhalb angenehm überrascht, als nun, was ich sah, jenem Bilde in keiner Weise entsprach: ein sehr großer, allerdings drückend niedriger, mäßig beleuchteter, aber durchaus reinlicher, mit einem rohen, offenbar gut gemeinten Geschmack dekorirter Raum, der mit seinen glatten Dielen wohl als Tanzplatz dienen mochte, und von dem nach allen Seiten (außer der Flurseite) sich größere und kleinere, zum Theil mit rothen Vorhängen verhüllte Kojen öffneten. Der große Raum war bis auf einige wenige Paare, welche sich nach den Klimpertönen eines verstimmten Klaviers, das ein alter Mann bearbeitete, im Walzer drehten, leer; in den Kojen mußten sich hier und da Gesellschaften befinden, denn man hörte sprechen, lachen oder singen, aber keineswegs übermäßig laut, oder doch nicht viel lauter, als es in unserem ersten Restaurant auch zugegangen war, wenn mich Renten nach einem Hoffest abgeholt hatte, noch eine Flasche Sekt mit ihm und anderen Hofkavalieren en petit comité zu trinken.

Allmählich hatten sich die Räume gefüllt, die dadurch, und weil sich von der Decke der Tabaksrauch wie ein graues Tuch immer tiefer senkte, um vieles kleiner und noch niedriger als im Anfang erschienen. Die verhältnißmäßige Stille war einem wüsten Lärm gewichen, in welchem man nur noch manchmal das Klavier hörte, trotzdem der alte Mann ohne Aufhören die Tasten bearbeitete. Auch schienen die Tänzer der Musik nicht zu bedürfen, sondern machten sich solche nach Bedarf durch Schreien, Jauchzen und Klappern mit Stückchen Holz, die sie zwischen den Fingern hielten, auch wirklichen Kastagnetten, welche ein paar braunschwarze Bursche mit großen Ringen in den Ohren aus den Taschen ihrer verschlissenen Sammetjacken genommen hatten. Und so wenig wie der Musik, bedurften die Lärmenden der Tänzerinnen – glücklicherweise! denn es waren schreckliche Tänze zum Theil, die da getanzt wurden, wenn man dies Gliederverrenken, dies Schleudern mit Armen und Beinen noch so nennen durfte: Tänze, vielmehr Tanzscheusale, wie sie nur die Lasterhöhlen überseeischer Hafenorte so grauenhaft hatten ausbrüten können. Der Anblick wäre unerträglich gewesen, hätte ich dabei nicht beständig das Gefühl gehabt, daß es die Bursche im Grunde gar so schlimm nicht meinten, ja, daß sie sich zum guten Theil gar nichts dabei dachten und in der Welt nichts wollten, als die überschüssige Kraft vertoben und eine Stunde lustig sein im Rückblick auf die monatelangen Entbehrungen und Strapazen, von denen sie gestern heimgekehrt waren, oder denen sie mit dem nächsten Morgen entgegengingen.

Dennoch sehnte ich mich von Herzen aus diesem traurigen Tempel der Lust, den ich doch ohne Fritz nicht verlassen konnte; und Fritz raste schon seit einer Stunde mit den Rasenden und war jetzt sogar gänzlich verschwunden.

„Er wird schon wieder kommen,“ tröstete mich die Wirthin, die sich, wie sie das schon mehrmals im Laufe des Abends gethan, zu mir gesetzt hatte.

Ich saß auf glühenden Kohlen, und meine Situation wurde dadurch nicht weniger peinlich, daß ich wiederholt die Gesichter der vorüberstreifenden Gäste mit einem spöttischen Ausdruck auf das seltsame Paar in dem Winkel gerichtet sah. Denn wir befanden uns in einem äußersten Winkel des Lokals, den die Wirthin wohl für sich und etwaige bevorzugte Gäste reservirt hielt, deren einziger ich Aermster heute Abend war und keiner der Anderen wagte uns zu stören! Und Fritz schien mich ganz vergessen zu haben! Wie sollte dies enden? Plötzlich wurde ich starr vor Schrecken. Meine Augen, die ziellos in dem weiten Lokal umherschweiften, hatten an dem entgegengesetzten Ende eine Gestalt entdeckt, welche auf den ersten Blick Weißfisch zu ähneln schien, und in der ich mit einem zweiten Blick Weißfisch erkannte. Er war in Begleitung eines um einen Kopf kleineren Mannes, der sicher kein Schiffer war. Beide konnten eben erst eingetreten sein und standen noch in der Nähe der Thür, in diesem Augenblick im Gespräch, zu welchem Weißfisch, des Lärmens wegen, der in dem Lokal tobte, den Kopf tief zu dem Kleinen herabbog. Noch hatte er offenbar, den er suchte, nicht gesehen, denn daß er mich suchte, daß man die Spur des gehetzten Wildes, der Himmel mochte wissen wie, aufgefunden hatte und derselben bis hierher gefolgt war – daran zweifelte ich nicht einen Moment.

„Retten Sie mich“ flüsterte ich der Wirthin ins Ohr.

Mein starrer Blick hatte der Klugen gesagt, wovor und vor wem: vor dem Fremden, der da eben mit dem Kleinen, den sie nur zu gut kannte, hereingekommen war.

„Der verdammte Polizist!" murmelte sie durch die weißen Zähne.

Sie hatte sich schnell erhoben und vor mich gestellt, der Art, daß sie mich mit ihrer Gestalt, wenigstens gegen die in der Tiefe des Lokals, beinahe vollständig deckte. So schob sie mich vor sich her, nur zwei oder drei Schritte bis zu einer Thür unmittelbar neben dem „Bar“, die ich vorher nicht bemerkt hatte, und durch diese Thür, die sie sofort hinter uns schloß.

Wir befanden uns in einem kleinen Zimmer, das wohl ihr eigenes war, und in welchem eine auf dem Tisch vor dem Sofa stehende Lampe ein mäßiges Licht verbreitete.

„Ist es schlimm?“ flüsterte die Frau.

„Was?“

„Was Du gethan hast?“

„Nein. Aber, die mich verfolgen, sind sehr mächtig. Ich will lieber sterben, als wieder in ihre Hände fallen.“

„Es ist gut.“

Sie hatte mich wieder bei der Hand gefaßt und leitete mich so aus dem Zimmer auf einen dunklen Korridor, dann ein paar Stufen hinab, dann wieder durch dunkle Gänge, in welchen es feucht und kühl war, bis zu einer Thür, deren Riegel sie vorsichtig zurückschob.

„Man kann nicht wissen,“ flüsterte sie.

Nun öffnete sie langsam die Thür und schaute hinaus.

„Es ist Alles sicher,“ flüsterte sie. „Halt Dich links den Hof hinauf! Du kommst direkt an den Hafen. Da nimm das erste beste Boot und laß Dich an das Schiff bringen! Hast Du Geld?“

„Ja.“

„Dann geleit Dich Gott!“

Ich eilte mit so raschen Schritten, als die Dunkelheit erlaubte, durch die lange enge Passage in der von der Wirthin angewiesenen Richtung davon.


2.

Schneller, als ich gedacht, – denn der schmale Gang schien endlos, und ich hatte wiederholt über Bretter, Fässer oder was sonst im Wege lag, mühsam klettern müssen – gelangte ich ins Freie, das heißt auf jenen breiten Quai, der auf der einen Seite die Häuser und auf der anderen den Hafen hatte. Aber es war nicht jener Theil des Quai, den ich kannte, in der Nähe meines Gasthofes, dem gerade gegenüber eine „Abfahrt der Jollenführer“ sich befunden hatte, nach der ich jetzt suchte, denn wie sollte ich anders an Bord der „Cebe“ gelangen? Ich hielt mich auf gut Glück rechts, merkte aber bald, daß ich von der gesuchten Stelle mich nur noch weiter entfernte. So kehrte ich denn wieder um, diesmal die Häuserseite wählend, die im Schatten lag, während

[405]

Die Grundsteinlegung des neuen Rathhauses zu Hamburg am 6. Mai 1886.
Nach einer Lichtdruck-Reproduktion von Dorn u. Merfeld in Leipzig.
Momentphotographie von G. Koppmann u. Co. in Hamburg.

[406] die andre Seite von dem Mond, der eben über die Giebel heraufkam, hell beleuchtet war. Auch hoffte ich hier im Nothfalle mich hinter einem der Kellerhälse, oder in irgend einer jener dunklen unendlichen Gänge – wie jener, aus dem ich gekommen – eher verbergen zu können. Daß ich im Grunde keine Ursache habe, meinen Verfolgern auszuweichen, sondern ihnen kühn die Stirn bieten müsse und mir einen freien Abzug ertrotzen – daran dachte ich auch nicht einen Augenblick. Vielmehr war meine Seele von einer Angst erfüllt, die etwas Grauenhaftes hatte und mir jede klare Besinnung raubte: sie hätten zweifellos die Macht, mich festzuhalten, zur Umkehr zu zwingen, und ich müßte noch einmal ihm, vor dem ich geflohen war, gegenübertreten. Lieber sterben! wiederholte ich mir fortwährend, indem ich so mit klopfendem Herzen, auf jedes Geräusch lauschend, mit starren Augen das Dunkel durchspähend, an der Häuserzeile hinstrich.

Ich war bis jetzt nur wenigen Personen begegnet und keiner, die meine scharfen Augen nicht schon aus einiger Entfernung als unverdächtig erkannt hätten. Auch bemerkte ich zu meiner großen Beruhigung, daß ich mich jetzt in der rechten Richtung bewegte. Das mußte die Hafenwache sein, die ich von meinem Fenster im Gasthof hatte liegen sehen – das die hohen Masten des Auswandererschiffes, welches mir der Wirth gezeigt hatte – ich konnte nur noch etwa fünfzig Schritt bis zum Saxonia-Hôtel haben. Und da war es mit seinen beiden Giebeln, schräg vom Monde beschienen, der auf den krummen Fensterzeilen glitzerte und – auf drei Gestalten fiel, die vor der Thür standen. Im nächsten Moment war ich in einen jener schmalen Gänge getaucht, dessen schwarzer Mund sich gerade an der Stelle, wo ich mich befand, nach links zwischen den Häusern aufthat. Ich hatte in den Gestalten Weißfisch, den Polizisten von vorhin und meinen Wirth völlig deutlich erkannt – denn ich war höchstens noch dreißig Schritte entfernt gewesen, und nur ein paar großen Fässern, welche bis beinahe auf das Trottoir gewälzt waren, und hinter denen ich eben hervortreten wollte, hatte ich es zu verdanken, daß sie mich nicht ebenfalls gesehen.

Wenn sie mich nicht gesehen! Gleichviel: man war mir auf der Spur und hart auf den Fersen. Das gehetzte Wild mußte seine ganze Schlauheit aufbieten, wollte es den Jägern entrinnen.

Und nun kam auch etwas von jener Ruhe über mich, deren ich mich in den kritischen Momenten meines Lebens noch immer zu erfreuen gehabt hatte. Ich überlegte, was ich thun sollte, wenn der Gang, wie ich hoffte, auf der anderen Seite einen Ausweg hatte, und was, wenn er sich als eine Sackgasse erwiese. Im ersteren Falle wollte ich auf dem kürzesten Wege, den ich auffinden könnte, zum Hafen zurückkehren und – von welchem Punkte auch immer – ein Boot, das mich ans Schiff brächte, und wäre es um den ganzen Rest meiner Baarschaft, zu erlangen suchen; im zweiten hier in dem Gange noch eine halbe Stunde bleiben und dann umkehren, auf die Gefahr hin, meinen Verfolgern in die Hände zu laufen. Die „Cebe“ sollte um zwei Uhr die Anker lichten; bei dem trüben Schein, der aus einem Fensterchen in dem Gäßchen dämmerte, las ich von meiner Uhr halb zwölf; ich konnte nicht wissen, wie lange es währen würde, bis ich ein Boot fand; die andere Gefahr also, daß, wenn ich zögerte, das Schiff ohne mich abging, war nicht minder groß.

In dem Gäßchen, das keine acht Fuß breit sein konnte und bei der Dunkelheit noch schmaler schien, war es völlig still; so leise ich auftrat, hallte mein Schritt doch unheimlich laut auf dem holperigen Pflaster, welches wie mit einem zähen Schleim überzogen schien, so daß mein Fuß fortwährend ausglitt. In den Jammerhöhlen zur Rechten und zur Linken mochten hier und da die Fenster aufstehen; ich vernahm, wie ich so vorüberschlich, dann und wann röchelndes Schnarchen oder das erstickte Wimmern eines Kindes oder ein paar dumpfe Worte, wie von Leuten, die aus dem Halbschlaf heraus zu einander sprechen. Ein mephitischer Dunst, der von der Gasse selbst, aus den Baracken herausqualmte, benahm mir fast den Athem, und immer noch wollte das entsetzliche Gäßchen kein Ende nehmen.

Da hörte ich plötzlich ein Geräusch wie von Schritten. Lauschend, mich dicht an die Wand drückend, blieb ich stehen. Ich hatte mich nicht getäuscht: es waren Schritte, hinter mir das Gäßchen herauf, und von mehreren Personen, mindestens zweien, wenn nicht dreien, die sich schnell näherten, da sie offenbar nicht, wie ich, eine ängstliche Vorsicht beobachten zu müssen glaubten. Wer sollte das sein, wenn nicht meine Verfolger? Noch war mein Vorsprung groß genug, daß ich im Schutze der Dunkelheit ihnen zu entkommen hoffen durfte. Ich that ein paar eilige Schritte, verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und glitt mit Blitzesschnelle, seltsamerweise, ohne zu fallen, die klebrigen Stufen einer Holztreppe hinab, die unten in einer Thür endete, durch deren oberen Theil ein mattes Licht dämmerte. Von den gewaltsamen Verrenkungen, durch die ich mich beim Hinabgleiten instinktiv vor dem Fallen bewahrt hatte, in allen Gliedern wie gerädert, lehnte ich noch keuchend in der Ecke von Thür und Treppenwand, als die Tritte meiner Verfolger bereits über mir in dem Gäßchen erschallten. Sie standen unmittelbar an der Treppe still, und in demselben Moment blitzte ein scharfer Schein schräg die Stufen hinab hart an mir vorüber, der ich mich gerade in die andere Ecke gedrückt hatte. Es war glücklicherweise auch eben nur für einen Moment, dem sofort wieder die alte Finsterniß folgte.

„Was giebt es?“ hörte ich Weißfisch’s Stimme.

„Nichts!“ war die Antwort. „Eine alte Gewohnheit, wenn ich hier vorbeikomme. Die Hinterthür zu einem Lokal, das ihr in Berlin einen Verbrecherkeller nennen würdet."

„Da kann er nicht sein?"

„O nein,“ sagte der Beamte. „Dazu gehört mehr.“

„Wenn er nicht am Hafen zu finden ist, ist er nirgends zu finden,“ hörte ich eine dritte Stimme sagen, die wohl dem Wirth gehören mochte.

„Ich will nur noch eben den Gang zu Ende gehen,“ sagte der Polizist. „Die Herren können hier stehen bleiben, oder auch gleich umkehren. Umkehren müssen wir so wie so; es ist eine Sackgasse.“

„Und eine reizende Gasse,“ sagte Weißfisch, „in der man sich Hals und Beine brechen kann. Wenn Sie doch nur wenigstens Ihre Laterne auflassen wollten!“

„Dann könnte ich sie ebenso gut ausmachen,“ sagte der Beamte lachend. „Also ich treffe Sie am Hafen wieder.“

Man trennte sich. Der Beamte ging die Gasse weiter hinab, die Anderen kehrten um. Sobald die Schritte nach beiden Seiten ncht mehr zu vernehmen waren, pochte ich leise gegen die Thür. Der Beamte konnte, zurückkommend, aus „alter Gewohnheit“ die Treppe noch einmal hinableuchten und weniger flüchtig als das erste Mal. Ich pochte stärker, da keine Antwort erfolgte, trotzdem ich jetzt dumpfe Stimmen von drinnen zu vernehmen glaubte. Was sollte ich beginnen? In wenigen Minuten mußte der Beamte die Treppe abermals passiren. „So öffnet mir doch!“ rief ich durch das Schlüsselloch, das ich endlich entdeckt hatte. Und wirklich drehte sich ein Schlüssel. Die Thür wurde vorsichtig so weit zurückgezogen, als die Sperrkette es zuließ; durch die Spalte sah ich das brutale Gesicht eines Kerls, der mir jetzt mit der Laterne, die er bei sich führte, in das Gesicht leuchtete.

„Was wollt Ihr?“

„Obdach.“

„Könnt Ihr bezahlen?“

„Ja.“

Die Sperrkette wurde geräuschlos ausgehoben, und die Thür geöffnet, daß ich eben durchschlüpfen konnte. Dann schloß der Mann hinter mir ab, hängte die Kette wieder ein und beleuchtete mich, die Laterne hebend, von Kopf bis zu Fuß und wieder bis zum Kopf. Das Examen schien günstig für mich ausgefallen zu sein. Von einem Menschen wie ich, mochte mich nun hergeführt haben, was da wollte, hatte man offenbar nichts zu fürchten.

„Kommen Sie!“ sagte der Mann.

(Fortsetzung folgt.)

[407]

Das Publikum der Kunst.

Von Fritz Mauthner.

In der Hochfluth der künstlerischen Begeisterung, welche die Eröffnung der großen Jubiläumskunstausstellung in Berlin über uns heraufbeschworen hat, möchte auch ich einen kleinen Beitrag bringen; nur vier winzige Geschichten, von denen die drei ersten den Vorzug haben, buchstäblich wahr zu sein. Für die Echtheit der vierten kann ich selbst nicht bürgen, doch hat ein glaubwürdiger Mann sie mir berichtet. Meine harmlosen Anekdoten sind weder symbolisch noch allegorisch; Jedermann erlebt solche kleine Abenteuer auf jeder Bilderausstellung, und ich schreibe mir bei der Wiedergabe kein anderes Verdienst zu, als dieses: die charakteristische Aeußerung aus dem gleichgültigen Beiwerke rein ausgeschält zu haben. Denn nicht Alles, was man um sich her in Galerien sprechen hört, ist erzählenswerth dumm.

Der erste Ausspruch, den ich zu berichten habe, stammt aus der Masse der wackeren Leute, welche vor berühmten Bildern stehen bleiben, weil sie Andere schon davor stehen sehen. Es sind dieselben Menschen, welche auf der Straße unwillkürlich einen Auflauf vermehren helfen, wenn ein Kind überfahren worden ist, oder wenn eine fremdländische Uniform sich zeigt. Die geistige Bescheidenheit dieser ewigen Majoritätsläufer ist so rührend, daß nur die Bosheit über sie lachen kann. Also nicht lachen!

Es war in Kassel und irgend ein Vereinstag. In der Galerie drängten sich die wackeren Vereinsmitglieder. Hinter mir machte ein Gastwirth den Erklärer.

„Du, das Bild mußt Du sehen, das ist von Rafael.“

„Was ist denn daran so Rares?“

„Das weißt Du nicht? Rafael ist ein weltberühmter Maler. Er hat alle seine Bilder mit den Fußen gemalt, weil er ohne Hände geboren worden ist.“

Wörtlich. Einen Geschichtsforscher mag die Untersuchung locken, wie hier das bekannte Paradoxon Lessing’s mythenbildende Kraft bewiesen hat. Ich aber muß gestehen, daß ein Meister der Reklame für Rafael nicht mehr hätte thun können, als dieser ehrliche Gastwirth in seiner Unschuld that. Das Gesicht, mit welchem seine Begleiter das Bild ansahen, weil es mit den Fußen gemalt war, glich auf ein Haar der Verblüffung, mit welcher die Sehenswürdigkeiten einer Hauptstadt von Ungeübten betrachtet werden. –

Den zweiten Ausruf verdanke ich einer Dame, welche ohne Zweifel den oberen Zehntausend, den Blasirten, angehörte. Diese Auserwählten unterscheiden sich von der blinden sensationsgläubigen Menge vor Allem dadurch, daß sie in jedem Bilde, welches von ihnen bemerkt werden will, irgend eine persönliche Beziehung entdecken müssen. Es ist nicht gerade nothwendig, daß sie den Maler oder den Gegenstand des Bildnisses kennen; es genügt, wenn sich vom Maler oder vom Modelle etwas erzählen läßt. Und steht der Stoff des Bildes zu hohen Kreisen oder zu einem Erdbeben oder zu der neuesten Mode in einem menschlichen Verhältniß, so ist das Kunstwerk schon einer halben Minute und einer halben Aeußerung werth.

Es war also vor einigen Jahren zu Berlin in der akademischen Ausstellung. Im letzten Saale hing ein Bild, dessen sich viele Besucher noch erinnern werden; ich glaube, es war von einem Belgier. Vor uns die unabsehbar weite Fläche des Meeres. Und rechts und links die unabsehbar weite graugelbe Fläche der Düne. Der Berliner Kreuzberg würde sich von dieser mathematischen Ebene wie ein Chimborasso abheben. Im Vordergrunde sieht man zwei lebensgroße graue Esel, auf denen bunte Kinder reiten. Und vor dem Bilde stehen zwei lebendige Damen in tadellos eleganten Frühlingskostümen. Es sind Mutter und Tochter.

„Ganz wie aus dem Rigi,“ erklärt die Mutter laut und energisch und will weitergehen.

„Aber Mama,“ flüstert die Tochter, „man sieht doch nicht das Berner Oberland?“

„Da hast Du Recht, Else, die Berge sind dort höher. Aber sonst – die Esel – ganz wie auf dem Rigi.“ –

Meine dritte Geschichte spielt in zwei Akten, der Schauplatz ist Dresden, die handelnden Personen gehören einer höheren Menschenklasse an: es sind Kenner. Diese beneidenswerthen Sterblichen haben bekanntlich das Schöne mit so großen Löffeln gegessen, daß sie für das bescheidene Genießen eines Laien kein Verständniß mehr haben. Wo unser einer bewundert, da forschen sie; wo wir schweigen, da halten sie Vorträge.

Es war also in der Dresdener Galerie, an einem Tage, wo höchstens zehn Menschen das Eintrittsgeld gewagt hatten. Es war schön still in den Räumen. Nur zwei Herren machten sich durch ihre lauten Reden bemerkbar; doch was sie sprachen, war höchst lehrreich für die wenigen Besucher, die auf hundert Schritt in ihre Nähe kamen. Die „Schulen“, „Tinten“, „Lasuren“ und „Gründe“ flogen nur so durch die Luft. Der ältere Herr, ein Einheimischer, docirte. Der Jüngere, ein Ostländer, war offenbar zum ersten Mal in der Galerie. Ich war so glücklich, dreimal ihren Weg zu kreuzen. Dann stampften sie in die Kapelle der Sixtinischen Madonna, wo ich ein Weilchen allein gewesen war. Sie verstummten für mehrere Minuten. Offen gesagt, ich war begierig, ein anregendes Wort von so beredten Lippen zu hören. Endlich sprach der Jüngere:

„Ja, Sie habea Recht. Scheußlich!“

Und sie stampften hinweg.

Ich weiß nicht, ob mich die Sehnsucht, die Lösung dieses räthselhaften Rufes zu erfahrea, jemals hätte zur Ruhe kommen lassen. Den ganzen Tag gingen mir die Worte des Kenners im Kopfe herum. Aber ich hatte Glück; ich traf die Herren Abends im Theater wieder. Ich verfolgte sie in ihr Gasthaus, und dort bei Tische, nachdem die Bekanntschaft gemacht war, durfte ich endlich fragen, was in dem Allerheiligsten der Galerie ihren Zorn erregt hatte.

Der alte Dresdener schien froh, seine Kenntnisse an den Mann bringen zu können.

„Das Interessanteste an der Sixtina ist die rechte Hand des Papstes,“ sagte er. „Das ist das Einzige, was lohnt. Die Verkürzung ist hier nämlich so ungeschickt ausgefallen, daß es aussieht, als hätte seine Heiligkeit sechs Finger an der rechten Hand. Das müssen Sie sehen, und wenn Sie drum noch einen Tag in Dresden bleiben sollten.“

Und der jüngere Herr rief noch einmal: „Sie haben ganz Recht – schenßliah!“ –

Nummer vier habe ich, wie gesagt, nicht selbst erlebt; doch selbst, wenn mein Gewährsmann das Ganze erfunden haben sollte, wäre es zu beachten, denn es handelt sich um eine Menschenschicht, welche von den Künstlern fast noch höher gestellt wird, als die der Kenner: es handelt sich um Käufer.

Kam ein solcher in den Laden und verlangte ein Pendant zu seinem Achenbach, einer Mühle am Bach. Der Händler hatte etwas Passendes im Hinterzimmer hängen. Der Preis war mäßig, 300 Mark. Der Käufer lachte. Auch schien ihm das Bild um einen Zoll zu hoch zu sein. Der Händler schnitt einen Zoll von der Leinwand ab und empfahl das Bild dem selben Besucher vier Wochen später für 1000 Mark. Der Käufer lächelt.

„Ich brauche ein besseres Bild. Neben Achenbach, ich bitte Sie! Auch ist es um zwei Zoll zu breit.“

Der Händler schnitt zwei Zoll von der Leinwand ab und besorgte einen großen Rahmen. Als der Herr wiederkam, verlangte der Verkäufer 3000 Mark. Das Geschäft kam zu Stande.

„Das nenn’ ich doch ein Bild!“ rief der Käufer. „Aber sagen Sie! Haben die billigen Bilder, die Sie mir aufreden wollten, nicht ganz ähnlich ausgesehen?“

„Die Maler werden dasselbe Motiv benutzt haben, das kommt oft vor,“ sagt der Händler. „Sie können zufrieden sein, und stolz auf Ihren Blick. Sie besitzen einen echten Müller-Rügenwalde. Es ist ein werthvolles Bild, ein sibyllinisches Bild.“


[408]

Blätter und Blüthen.

Die Grundsteinlegung des neuen Rathhausbaues zu Hamburg. (Mit Illustration Seite 405.) Die alte „freie und Hansestadt“ an der Elbe und Alster befand sich am 6. Wai dieses Jahres in ungewohnter Aufregung. Die Mitglieder „Eines hohen Senates“ legten, was nur höchst selten und bei ganz besonders feierlichen Veranlassungen geschieht, ihre Amtstracht an, kostbare altspanische Kostüme von Sammet und Seide (der sogenannte „Stalt“), um den Hals breite weiße, gesteifte und gefältelte Kragen, auf dem Kopfe das Barett. Der würdigen, sich sehr stattlich ausnehmenden Herren harrten die mit dem dreithürmigen Wappen geschmückten Staatskarossen aus dem Marstall der Republik, welche die „Magnifici“ und „Wohlweisheiten“ nach derjenigen Stätte tragen sollten, wo sich nach einigen Jahren ihr neues Heim erheben wird und die schon seit reichlich vier Jahrzehnten den Namen „Rathhausmarkt“ führt.

Dorthin wallfahrtete zugleich Alles, was sich zu den Honoratioren Hamburgs zählt, sowie die Ehrengäste, welche zu der Feier der Grundsteinlegung eingeladen worden.

Die Tribünen der umfangreichen Baugrube, reich mit Flaggen, Bannern und Blumengewinden geschmückt, boten trotz des Vorherrschens des schwarzen Fracks ein farbenreiches Bild, da auch zahlreiche Damen anwesend waren und manche Militär- und Beamtenuniform für Abwechselung sorgte. Rings um den unter einer Balkenpyramide an den Ketten eines Flaschenzuges schwebenden granitenen Grundstein standen Zimmerleute mit blanker Axt auf der Schulter, sowie andere Bauhandwerker in idealisirter Arbeitskleidung, unter Führung derjenigen acht hamburgischen Architekten, welche vereint den schließlich genehmigten Bauplan entworfen hatten: Joh. Grotjan, Martin Haller, Wilh. Hauers, Bernh. Hanssen, Leop. Lamprecht, Emil Meerwein, Hugo Stammann, Gust. Zinnow. – Inmitten des Platzes erhob sich, von prächtigen Palmgruppen umgeben, das überlebensgroße goldbronzirte Standbild Kaiser Wilhelm’s.

Vor demselben stehend, nahm, nachdem die Klänge des von den Sängern mit Pauken- und Posaunenbegleitung vorgetragenen Chorals „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr“ verhallt waren, der Bürgermeister Dr. Petersen das Wort zu einer kurzen und kräftigen Ansprache. Daran erinnernd, daß an demselben Datum vor 44 Jahren, am 6. Mai 1842, das frühere seit dem Jahre 1292 bestehende hamburgische Rathhaus dem großen Brande zum Opfer gefallen war, betonte er, daß die Halle desselben in lateinischer Sprache den Spruch getragen habe: ‚Die Freiheit, welche die Altvordern errangen, würdig zu wahren, sei die Nachwelt bestrebt.‘ „Mögen Hamburgs Söhne,“ fügte er daran anknüpfend hinzu, „stets eingedenk sein der Bürgertugenden: Opferwilligkeit, unbedingte Achtung vor dem Gesetz, Mäßigung und Selbstbeherrschung, Fernhaltung verleitlichen Ehrgeizes, einfache Sitte.“

Noch eine Ansprache ward seitens des ersten Vorsitzenden der Bürgerschaft, Landesgerichtsdirektor Dr. Mönckeberg, gehalten; sodann verlas der Rechtsanwalt Dr. John Israel Namens der Raths- und Bürgerkommission, in deren Hände die Ausführung des Baues gelegt worden war, die in den Grundstein zu verschließende Urkunde, und es erfolgte die Grundsteinlegung mit den feierlichen Hammerschlägen in üblicher Form; der Senior der Hamburgischen Geistlichkeit, Dr. Hirsche, Hauptpastor zu St. Nikolai, gab durch einen über den Grundstein gesprochenen Segen dem Feste auch die religiöse Weihe. – Sänger und Orchester, welche in den Pausen zwischen den einzelnen Rede-Akten noch einige Tondichtungen zum Vortrag gebracht hatten, stimmten schließlich das zum Mitsingen für alle Festtheilnehmer bestimmte „Nun danket alle Gott“ an, und langsam, nach etwa 11/4stündiger Dauer der Feier, leerte sich alsdann unter den Klängen des Lieblingsmarsches der ehemaligen Hamburger Bürgergarde der Festplatz. G. K.     

Die größte Orgel der Welt. Um Mitte December vorigen Jahres wurde in der Heiligen Dreifaltigkeitskirche zu Libau in Kurland durch den bewährten Orgelbaumeister B. Grüneberg in Stettin ein Orgelwerk vollendet, das heute als das größte seiner Art bezeichnet wird.

Dieses Riesenwerk, mit 4 Manual-Klaviaturen und einem Pedal, nimmt auf dem Orgelchor die ganze Breite genannter Kirche, etwa 18 Meter ein, besitzt 131 klingende Stimmen und ca. 8000 Pfeifen, denen durch 14 Gebläse größter Dimension der erfordcrliche Wind zugeführt wird.

Von den 131 Stimmen gehören allein 42 dem Hauptwerk, 24 dem Brustwerk, 17 dem Oberwerk, 13 dem Feen- oder Echo-Werk und 35 dem Pedal an; die größte Pfeife des letzteren (C) Kontrabaß ist aus Bohlen von 75 mm Stärke hergestellt, besitzt eine Länge von 32 Fuß, mißt im Durchschnitt 48 Quadratcentimeter und hat ein Gewicht von 14 Centnern! Außer den 131 Registerzügen sind noch 21 Nebenzüge vorhanden, durch deren theilweise Benutzung der Spieler in den Stand gesetzt wird, die zu verschiedenen Gruppen kombinirten Stimmen oder einzelne derselben ohne weitere Registrirung momentan in Gebrauch zu nehmen. Mittelst der in dem Werk angelegten, vorzüglich konstruirten „pneumatischen Maschine“ vermag der Organist die zusammengekoppelten 4 Manual-Klaviaturen, welche 96 Stimmen repräsentiren, technisch wie einen Koncertflügel zu behandeln.

Die Tonwirkung des vollen Werkes ist eine überwältigende, wie denn auch jede der einzelnen Stimmen charakteristisch erklingt! Das Urtheil Sachverständiger fiel daher sehr günstig aus.

Vergleichsweise mögen die bisher bestehenden größten Orgelwerke hier noch Erwähnung finden. Es besitzen: Orgel im Dom zu Riga 125 Stimmen, Gardens City. Long Island 120 St., Albert-Hall, London 100 St., Dom in Ulm 100 St., St. Georgs-Hall, Liverpool 100 St., Notre Dame de Paris 90 St., Kathedrale zu Boston 86 St., Dom zu Schwerin 85 St., desgl. Nikolaikirche zu Leipzig 85 St., während Deutschlands größtes Gotteshaus, der Kölner Dom, ein Werk von nur 42 Stimmen aufzuweisen hat. Dr. Ludwig Klug-Stettin.     


Sprechsaal.


Zur Frage 13 wird uns noch Folgendes mitgetheilt: „Die Lösung der Frage: ,Wie entfernt man alten Schellackanstrich aus Fußböden!?‘ ist, glaube ich, der des Gordischen Knotens ähnlich, man hobelt nämlich den Fußboden ab. Es kann das allerdings nicht von zarten Händen geschehen, ein Tischler besorgt’s jedoch zu geringem Preise, billiger noch als Schmierseife, Lauge und Spiritus, mit denen man nie auf ‚einen grünen Zweig‘ – wollte sagen: ‚weißes Holz‘ kommen wird.“ Die meisten uns inzwischen zugegangenen Zuschriften empfehlen gleichfalls einen gewandten Tischler und einen guten Hobel.

Frage 16: „Welche tragbaren Geradehalter würden Sie mir empfehlen?“

Antwort: Die „tragbaren Gradehalter“, welche bei Tage beständig und zwar unmittelbar über dem Korset getragen werden, haben den Zweck, durch Zurückziehen der Schultern die Wirbelsäule zu strecken und die besonders bei heranwachsenden Mädchen nicht seltene vorgebeugte, krumme Haltung des Oberkörpers zu bessern. Von den verschiedenen Formen führen wir Ihnen zwei einfache, mit Riemen und Schnallen versehene vor, wie sie bei Bandagisten (in Leipzig unter Anderem bei Reichel, Schädel etc.) vorräthig sind. Auch fügen wir das Bild einer dritten hinzu, bei welcher das unangenehme Vortreten der das Kleid leicht durchscheuernden Schnallen vermieden und der Zug durch sich kreuzende, dem Körper sich besser anschmiegende Stoffstreifen ausgeübt wird, die man nach vorn mittelst Haken schließt. Letztere Form des Gradehalters wird unter Anderem von Frau Knaur-Hormann, Leipzig, Jablonowsky-Straße, angefertigt. Ob das Tragen eines Geradehalters bei Ihrem Kinde angezeigt ist, darüber muß Ihr Hausarzt entscheiden.

Frage 17: „Wie vertilgt man am einfachsten und sichersten Holzwürmer? Gemeint sind die kleinen, silberglänzenden, in der Form fischähnlichen, äußerst flinken Thierchen, welche nicht nur in alten Möbeln, sondern auch in Gebäuden großen Schaden anrichten können.“

Frage 18: „Wie kann man Bernstein zusammenschmelzen, ohne daß er seine schöne Farbe verliert? Vielleicht läßt sich derselbe auf eine andere Art und Weise zusammenbringen, ohne zu kitten. Welche Versuche sind damit gemacht worden?“


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

E. G. in K. Die in dem Artikel „Die Ausstellung des Ornithologischen Vereins in Wien“ („Gartenlaube“ 1886, Nr. 18) genannten Nistkästchen können Sie von dem Erfinder derselben, Herrn Fritz Zeller in Wien, II, Untere Donaustr. 13, beziehen.

F. R. M. Die Unterschrift des betreffenden Bildes ist richtig. Wassersnoth ist die Gefahr, die übertretendes Wasser bringt; Wassernoth das dringende Bedürfniß an Wasser.

Abonnent seit 1853 in A. Die von Ihnen genannte Adresse genügt.


Inhalt: Am Pfingstmorgen. Gedicht. Mit Illustration S. 393. – Die Lora-Nixe. Novelle von Stefenie Keyser (Schluß). S. 394. – In der Kunstausstellung. Illustration. S. 397. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. 2. Bilder aus dem Affenleben. IV. Von der Begabung der Menschenaffen. Schlußbetrachtung. S. 398. – Studien nach dem Leben. Von Hermann Heiberg. Gewohnheiten und Unarten. II. S. 400. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Ein Wettkampf zwischen Geschütz und Panzer. Von C. Falkenhorst. S. 401. Mit Abbildungen S. 401 und 402. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 402. – Das Publikum der Kunst. Von Fritz Mauthner. S. 407. – Blätter und Blüthen: Die Grundsteinlegung des neuen Rathhausbaues zu Hamburg. S. 408. Mit Illustration S. 405. – Die größte Orgel der Welt. Von Dr. Ludwig Klug-Stettin. – Sprechsaal. – Kleiner Briefkasten. S. 408.



In der nächsten Nummer der „Gartenlaube“ wird der längst mit Spannung erwartete Roman

„Sankt Michael“ von E. Werner
beginnen. Neu eintretenden Abonnenten werden die bereits erschienenen Nummern des Quartals nachgeliefert.
Die Redaktion und Verlagshandlung der „Gartenlaube“. 

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Das schadet nichts!