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Die Gartenlaube (1886)/Heft 24

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[409]

No. 24.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Nachdruck verboten. 
Uebersetzungsrecht vorbehalten.

Sankt Michael.

Roman von E. Werner.


Ostern war gekommen, das Fest des Lichtes und der Erlösung für die ganze Natur! Der Winter hatte sich bei seinem Scheiden in düstere Nebelschleier gehüllt, und auf jagenden, gährenden Wolken nahte jetzt der Frühling. Er hatte seine Sturmesboten vorausgesandt, um die Erde wach zu rufen aus ihrem langen Traume, sie brausten über Ebenen und Wälder, sie schwangen ihre Flügel um die mächtigen Gipfel des Hochgebirges und wühlten das Meer auf in all seinen Tiefen. Es war ein wildes Kämpfen und Toben in den Lüften, und doch klang es daraus hervor wie Siegesruf. Es waren ja Frühlingsstürme, und in ihnen brauste das Leben, sie kündeten die Auferstehung an.

Das Gebirge lag noch halb im Schnee begraben, und die alte Bergveste, die von der Höhe in das Thal herabblickte, ragte aus beschneiten Tannen hervor. Es war eines jener grauen Felsennester, die, einst der Schrecken ihrer Umgebung, jetzt meistentheils verödet und vergessen daliegen und oft nur noch in Trümmern von der einstigen Herrlichkeit erzählen. Das Letztere traf nun hier allerdings nicht zu, die Grafen von Steinrück schützten die Stammburg ihres Geschlechtes sorgfältig vor dem Verfalle, sonst aber kümmerten sie sich nicht viel um das alte Gemäuer, das, fernab von der Welt, tief in den Bergen lag. Nur zur Jagdzeit sah es regelmäßig eine größere Menge von Gästen, die auf einige Zeit Leben und Lärm in die Einsamkeit brachten.

Diesmal freilich fand eine Ausnahme statt, die Gaste waren schon im Frühjahre eingetroffen, aber sie kamen zu einer ernsten Feier. Der Schloßherr wurde zu Grabe geleitet und mit ihm erlosch die jüngere Linie des Hauses, wenigstens in ihren männlichen Sprossen, da er nur eine Wittwe und eine Tochter hinterließ. Graf Steinrück war auf einem der anderen Güter, seinem gewöhnlichen Wohnsitze, gestorben, und dort hatte auch die große Trauerfeier stattgefunden, dann war die Leiche nach der Familiengruft des Stammschlosses überführt worden, wo die eigentliche Bestattung in aller Stille und nur in Gegenwart der nächsten Verwandten vor sich ging.

Es war an einem jener stürmischen Märztage, der das ganze Thal mit grauen Wolkenmassen erfüllte. Das trübe Licht des Nachmittags fiel in das Gemach, das der verstorbene Schloßherr zu bewohnen pflegte, wenn er zu dem gewohnten kurzen Herbstaufenthalte hierher kam. Es war ein tiefer, ziemlich niedriger Raum mit einem einzigen breiten Erkerfenster und einer Einrichtung, die noch aus der ehemaligen Glanzzeit der Burg stammte. Das dunkle Holzgetäfel der Wände, die mächtigen Eichenthüren und der riesige, säulengetragene Kamin im Hintergrunde, mit dem Wappen der Steinrück, behaupteten seit Jahrhunderten ihren Platz, und die schweren, alterthümlichen Möbel, die alten Familienbilder an den Wänden gehörten gleichfalls einer längst vergangenen Zeit an. Das Feuer, das im

Die Erbgroßherzogin von Baden in Miesbacher Tracht.
Nach einer Photographie von X. Peuthauser, Hofphotograph, Bad Krankenheil-Tölz.

[410] Kamine loderte, vermochte den düsteren Raum nicht behaglicher zu machen, aber es lag ein Stück Geschichte darin, die Geschichte eines alten mächtigen Geschlechtes, dessen Geschick von jeher mit dem seines Landes eng verknüpft gewesen war.

Soeben wurde die Thür geöffnet, und es traten zwei Herren ein, die wohl zu den Verwandten des Hauses gehören mußten, denn die Uniform des Einen und die Civilkleidung des Andern trugen die Abzeichen der Trauer. Sie kamen in der That soeben von der Bestattung zurück, und auf den Zügen des Aelteren lag noch der ganze Ernst dieser düsteren Feier,

„Das Testament soll morgen eröffnet werden,“ sagte er. „Es ist allerdings nur eine Form, da ich die Bestimmungen bereits kenne. Der Gräfin ist ein sehr reiches Witthum und Schloß Berkheim, ihr bisheriger Wohnsitz zugewiesen, die sämmtlichen anderen Güter fallen an Hertha, zu deren Vormund ich ernannt bin. Dann kommt noch eine Reihe von Legaten, und mir, als Haupt der älteren Linie, ist Steinrück vermacht.“

Der jüngere Gefährte zuckte bei den letzten Worten leicht die Achseln.

„Ein riesiger Besitz, der jetzt in der Hand dieses Kindes vereinigt wird!“ bemerkte er. „Deine Erbschaft ist nicht gerade glänzend, Papa, ich glaube, das alte Bergschloß mit seinem Waldreviere kostet beinahe so viel, als es einbringt.“

„Gleichviel, es ist die Stammburg unseres Geschlechtes, die nunmehr in unsere Hände übergeht. Mein Vetter hätte mir kein besseres Vermächtniß hinterlassen können, und ich bin ihm dankbar dafür. Du willst morgen schon wieder abreisen, Albrecht?“

„Ich hatte mich nur auf einige Tage eingerichtet, wenn Du es indessen wünschest –“

„Nein, es ist nicht nöthig, daß Du bleibst. Ich werde allerdings um Verlängerung meines Urlaubs ersuchen müssen. Es giebt noch Vieles zu besprechen und zu ordnen, und die Gräfin zeigt sich in allen Dingen so unselbständig, daß ich ihr nothgedrungen noch eine Zeit lang zur Seite bleiben muß.“

Er trat in den Erker und blickte hinaus in die verschleierte Berglandschaft. Der Graf hatte die Mittagshöhe des Lebens bereits überschritten, aber seine Erscheinung zeigte noch die vollste ungebrochene Kraft, eine prächtige Gestalt in gebietender Haltung, die freilich in jedem Zuge den Soldaten verrieth. Er war ohne Zweifel einmal sehr schön gewesen und konnte noch jetzt dafür gelten, wo er bereits an der Schwelle des Alters stand, aber das volle, nur leicht ergraute Haupthaar, die raschen lebhaften Bewegungen und die Sprache, die noch tief und voll klang, liehen ihm etwas Jugendliches, wie das Feuer, das noch in seinen Augen blitzte.

Sein Sohn war von dem Allem das Gegentheil, eine schmächtige Gestalt von kränklichem Aussehen. Das blasse Gesicht mit den schlaffen Zügen machte einen ziemlich nüchternen Eindruck, und doch glichen diese Züge auffallend denen des Vaters. Der Ausdruck der Persönlichkeit wirkte als vollster Gegensatz, aber trotzdem war die Familienähnlichkeit unverkennbar.

„Die Gräfin scheint überhaupt eine unselbständige Natur zu sein,“ sagte er, „und der Trauerfall findet sie nun vollends ganz fassungslos.“

„Es ist aber auch hart, den Gemahl nach so kurzer Krankheit, in der Blüthe des Lebens zu verlieren, weiche Naturen werden durch solchen Schlag völlig niedergeworfen.“

„Eine Andere hätte ihm Stand gehalten! Louise würde das Unabänderliche mit einer Fassung ertragen haben, –“

„Schweig’!“ unterbrach ihn der Graf finster, indem er sich abwandte.

„Verzeih’, Papa, ich weiß, Du willst nicht daran erinnert sein, aber gerade heute drängt sich die Erinnerung unabweisbar auf. Von Rechts wegen sollte Louise um den Todten trauern. Sie wäre schwerlich mit einem wenn auch noch so reichen Witthum abgefunden worden, Steinrück hätte sie unbedingt zur Herrin über das ganze Erbe gemacht, er ließ sich ja schon damals völlig von ihr beherrschen. Und seine Hand zurückzustoßen! Namen, Heimath, Familie, Alles zu opfern, um das Weib eines Abenteurers zu werden, der sie ins Verderben zog – man möchte wahrhaftig an die alte Sage von den Liebestränken glauben, denn auf natürlichem Wege ist das nicht zu erklären.“

„Thorheit!“ sagte der Graf kalt. „Das Schicksal des Menschen ist in seine eigene Hand gelegt. Louise hat das ihrige zum Abgrund gelenkt, es war nur natürlich, daß sie hineinstürzte.“

„Und vielleicht hättest Du trotz alledem die Verlorene wieder aufgenommen, wenn sie reuevoll zurückgekehrt wäre.“

„Nie!“ Das Wort klang in unbeugsamer Härte. „Uebrigens wäre sie auch nicht zurückgekehrt. Sie konnte zu Grunde gehen in der Schmach, in dem selbstverschuldeten Elend, aber um Gnade betteln bei dem Vater, der sie verstoßen, das hätte Louise nicht gekonnt. Sie war trotz alledem mein Blut!“

„Und Dein Liebling!“ ergänzte Albrecht mit aufwallender Bitterkeit. „ich habe das oft genug empfinden, es oft genug hören müssen, daß ich keinen Zug Deines Charakters besitze. Nur Louise hatte Dein Blut geerbt, die schöne, geistvolle, energische Louise, die war das Kind Deines Herzens. Dein Stolz und Dein Glück. Nun, wir haben es ja erlebt, wohin diese Energie führte, wir erfuhren es ja noch, daß sie von Stufe zu Stufe sank an der Seite jenes Mannes und endlich –“

„Deine Schwester ist todt,“ unterbrach ihn der Graf schneidend. „Laß die Todten ruhen!“

Albrecht schwieg, aber die Bitterkeit wich nicht aus seinen Zügen, er konnte es offenbar seiner Schwester noch im Grabe nicht verzeihen, was sie der Familie angethan hatte. Zu einer weiteren Erörterung kam es nicht, denn so eben erschien ein Diener und meldete:

„Hochwürden der Herr Pfarrer von Sankt Michael.“

Der Gemeldete schien erwartet zu werden, denn der Diener öffnete, ohne erst eine Antwort abzuwarten, die Thür, und der Pfarrer trat ein.

Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit schon völlig ergrautem Haar, einem Antlitz voll stiller, ernster Ruhe, mit tiefen, blauen Augen, und auch Haltung und Sprache verriethen dieselbe Ruhe und Milde, die von dieser Erscheinung unzertrennlich zu sein schienen.

Graf Steinrück ging ihm einige Schritte entgegen und begrüßte ihn höflich, aber fremd. Die altere Linie des Hauses war protestantisch, und ein katholischer Priester hatte als solcher keine Bedeutung für sie.

„Ich habe Ihnen zunächst meinen Dank auszusprechen, Hochwürden,“ begann er, indem er den Pfarrer mit einer Handbewegung einlud, Platz zu nehmen. „Es war der ausdrückliche Wunsch der verwittweten Gräfin, daß Sie die Trauerceremonien leiten sollten, und Sie haben ihr an dem heutigen schweren Tage so aufopfernd zur Seite gestanden, daß wir Alle Ihnen dankbar dafür sind.“

„Ich erfüllte nur meine Pflicht als Seelsorger,“ erwiderte der Geistliche ruhig. „Dafür bedarf es keines Dankes. Zu Ihnen aber, Herr Graf, komme ich in einer anderen Angelegenheit, unaufgefordert und in Ihren Augen vielleicht unberechtigt, dennoch muß ich sie zur Sprache bringen, da der Trauerfall Sie so ganz unerwartet in unsere Berge führt. ich ersuchte Sie deßhalb um eine Unterredung.“

„Und ich wiederhole, daß ich Ihnen zur Verfügung stehe, Herr Pfarrer Valentin. Wenn die Unterredung eine geheime sein soll, so wird mein Sohn uns sofort –“

„Ich bitte, daß der Graf bleibt.“ fiel Valentin ein. „Er kennt gleichfalls die Angelegenheit, die mich herführt, sie betrifft den Pflegesohn des Försters Wolfram.“

Er hielt inne, wie um eine Antwort zu erwarten, doch diese erfolgte nicht; der Graf saß mit völlig unbewegter Miene da, während Albrecht plötzlich aufmerksam zu werden schien, doch auch er äußerte nichts, und so war der Pfarrer genöthigt, fortzufahren.

„Sie werden sich erinnern, Herr Graf, daß ich es war, durch den Sie die Nachricht von dem Aufenthalt des Knaben erhielten und die Bitte, sich seiner anzunehmen.“

„Eine Bitte, der ich unverzüglich entsprochen habe. Wolfram nahm auf meine Weisung das Kind in Empfang, ich unterrichtete Sie ja davon.“

„Allerdings, ich hätte es freilich lieber in anderen Händen gesehen, indessen die Bestimmung hing von Ihnen ab. Jetzt aber ist der Knabe herangewachsen und kann unmöglich länger in derartiger Umgebung bleiben. Ich bin auch überzeugt, daß dies keineswegs Ihr Wille ist.“

„Weßhalb nicht!“ fragte Steinrück kalt. „Ich kenne Wolfram als durchaus zuverlässig und hatte meine Gründe, gerade ihn zu wählen, oder wissen Sie irgend etwas Nachtheiliges von ihm?“

[411] „Nein, der Mann ist brav in seiner Art, aber roh und halb verwildert in der Einsamkeit. Seit dem Tode seiner Frau kommt er kaum noch in Berührung mit Menschen, und sein Haushalt unterscheidet sich nicht von dem des ersten besten Bauern. Das ist schwerlich eine passende Umgebung für einen heranwachsenden Knaben, am wenigsten für den Enkel des Grafen Steinrück.“

Albrecht, der hinter dem Stuhle seines Vaters stand, machte eine Bewegung, der alte Graf zog nur finster die Brauen zusammen, aber er entgegnete mit voller Schärfe:

„Ich besitze nur einen Enkel, das Kind meines Sohnes, und ich bitte Sie, das im Auge zu behalten, Hochwürden, wenn von jener Angelegenheit die Rede ist.“

Die milden Augen des Priesters richteten sich ernst und vorwurfsvoll auf den Sprechenden.

„Verzeihung, Herr Graf, aber der legitime Sohn ihrer Frau Tochter hat doch wohl Anspruch auf diese Bezeichnung.“

„Gleichviel, er existirt als solcher nicht für mich, wie jene Heirath überhaupt nie für mich und die Meinigen existirt hat.“

„Und dennoch haben Sie meine Bitte gewährt, als Michael –“

Der Graf stutzte. „Michael?“ wiederholte er langsam.

„Der Name des Jünglings! Kannten Sie ihn nicht?“

„Nein, ich habe das Kind ja überhaupt nicht gesehen, als es Wolfram zur Erziehung übergeben wurde.“

„Von Erziehung konnte bei einem Manne von dem Bildungsgrade Wolfram’s wohl keine Rede sein, und doch hätte sie gerade hier vieles gut machen müssen. Michael war schon als Kind verwahrlost, verwildert und verschüchtert zugleich durch das unstäte Leben, das er so lange mit seinen Eltern geführt hat. Ich habe mich allerdings seiner angenommen und ihn unterrichtet, so viel das bei der weiten Entfernung der Försterei möglich war.“

„Haben Sie das wirklich gethan?“ Es klang eine offenbar unangenehme Ueberraschung aus der Frage.

„Gewiß, ein anderer Unterricht war in der Abgeschiedenheit nicht zu ermöglichen, und ich konnte doch nicht annehmen, daß der Knabe geistig verkommen und verbauern sollte in jenem Lebenskreise. Diese Strafe für das Unrecht seiner Eltern wäre doch allzu hart.“

Es lag ein schwerer Vorwurf in den einfachen Worten, und er mußte wohl treffen, denn es flog ein zorniges Aufleuchten über Steinrück’s Züge.

„Hochwürden, welchen Einblick Sie auch in unsere Familiengeschichte erhalten haben, Sie urtheilen als ein Fremder, und da mag Ihnen Manches hart und unbegreiflich erscheinen. Ich habe als Haupt des Hauses die Ehre unseres Namens zu wahren, und wer diese Ehre antastet und befleckt, der wird hinausgestoßen aus meinem Hause und aus meinem Herzen, sei es auch mein eigenes Kind! Ich that, was ich mußte, und wenn die furchtbare Nothwendigkeit noch einmal an mich heranträte, ich würde das Gleiche thun.“

Es lag eine eiserne Entschlossenheit in diesen Worten. Valentin schwieg, er mochte wohl fühlen, daß eine solche Natur sich keinem Priesterwort beugte.

„Gräfin Louise ruht im Grabe,“ sagte er endlich, und seine Stimme bebte leise, als er den Namen aussprach, „und mit ihr der Mann, dem sie angetraut war! Ihr Sohn steht allein und schutzlos da, ich bin gekommen, für den Jüngling zu erbitten, was Sie jeder fremden Waise gewähren würden, die Sie in Ihren Schutz genommen haben, eine Erziehung, die ihn befähigt, dereinst in die Welt und in das Leben zu treten. Bleibt er in Wolfram’s Händen, so ist das ausgeschlossen, er taugt dann höchstens noch für das halbwilde Dasein auf irgend einer einsamen Bergförsterei, für eine Bauernexistenz. Wenn Sie, Herr Graf, die Verantwortung dafür übernehmen können und wollen –“

„Genug!“ unterbrach ihn Steinrück heftig, indem er sich erhob. „Ich werde die Sache in Erwägung ziehen und dann Bestimmungen über Ihren Schützling treffen, verlassen Sie sich darauf, Hochwürden.“

Der Pfarrer stand gleichfalls auf, er sah, daß die Unterredung zu Ende war, und hegte wohl auch nicht den Wunsch, sie zu verlängern.

„Mein Schützling?“ wiederholte er. „Möge es auch der Ihrige werden, Herr Graf, ich glaube, er hat ein Recht darauf.“

Und mit einer kurzen, ernsten Verneigung sich von den beiden Herren verabschiedend, verließ er das Gemach.

„Das war ja ein eigenthümlicher Besuch!“ sagte Albrecht, der sich bisher völlig schweigsam verhalten hatte. „Was giebt denn diesem Pfarrer das Recht, sich in unsere Familienangelegenheiten zu mischen?“

Steinrück zuckte die Achseln.

„Er war früher der Beichtiger unserer Verwandten und nimmt noch jetzt eine Vertrauensstellung bei ihnen ein, trotzdem er hoch oben in einem einsamen Alpendorfe lebt. Er und kein Anderer sollte Steinrück zu Grabe geleiten. Ich werde ihm aber klar machen, daß ich priesterlichen Einflüssen nicht zugänglich bin; ganz zurückweisen konnte ich ihn nicht, da er es war, der damals meine Hilfe für den verwaisten Knaben anrief, so wenig, wie ich jene Hilfe verweigern konnte.“

„Nun ja, man mußte für den Buben sorgen, und das ist auch geschehen,“ stimmte Albrecht in sehr kühlem Tone bei. „Du hast die Sache damals allein in die Hand genommen, Papa; dieser Wolfram – ich erinnere mich noch dunkel des Namens – stand ja wohl früher als Jäger in Deinen Diensten?“

„Ja, mein Fürwort verschaffte ihm die Försterstelle bei unserem Vetter. Er ist verschwiegen und zuverlässig und kümmert sich überhaupt nicht um Dinge, die über seinen Horizont hinausgehen. Er fragte auch damals nicht, was für eine Bewandtniß es mit dem Knaben hatte, den man ihm anvertraute, sondern that, was ihm befohlen wurde, und nahm ihn in sein Haus.“

„Wo er jedenfalls am besten aufgehoben war. Du wirst darin doch keine Aenderung treffen?“

„Das wird sich finden. Zunächst will ich ihn einmal sehen.“

Albrecht stutzte, und eine sichtlich unangenehme Ueberraschung prägte sich in seinen Zügen aus.

„Wozu denn das? Weßhalb ihn uns persönlich nahe bringen? Dergleichen unliebsame Dinge schiebt man doch möglichst weit von sich.“

„Das ist Deine Art,“ sagte der Graf scharf. „Die meine ist es, diesen Dingen Stand zu halten und Auge in Auge mit ihnen zu rechten, wenn es nothwendig ist." Er stampfte in plötzlich ausbrechender Heftigkeit mit dem Fuße. „Verkommen und verbauern sollte, als Strafe für das Unrecht seiner Eltern! Das muß ich mir ins Antlitz sagen lassen von diesem Priester.“

„Ja, es fehlte nur noch, daß er die Eltern vertheidigte,“ warf Albrecht spöttisch ein. „Und Michael haben sie ihren Buben genannt! sie haben es gewagt, ihm Deinen Namen zu geben, den alten, traditionellen Namen unseres Hauses, das ist doch offenbarer Hohn.“

„Es kann auch Reue gewesen sein,“ sagte Steinrück finster. „Dein Sohn heißt allerdings Raoul.“

„Nicht doch, er ist nach Dir getauft und trägt Deinen Namen.“

„Im Kirchenbuche! Genannt wird er Raoul, dafür hat Deine Frau von Anfang an gesorgt.“

„Es ist der Name von Hortense’s Vater, an dem sie mit kindlicher Pietät hängt. Du weißt das ja und hast es niemals getadelt.“

„Wenn es nur der Name allein wäre. Aber es ist nicht das Einzige, was mir an meinem Enkel fremd ist. Raoul hat auch nicht einen Zug der Steinrück, weder im Gesicht noch im Charakter, er gleicht einzig seiner Mutter.“

„Nun, ich dächte, das wäre kein Nachtheil für ihn. Hortense hat von jeher für eine Schönheit gegolten, Du ahnst nicht, welche Triumphe sie noch feiert.“

Die Worte klangen scherzhaft, fanden aber keinen Anklang, der alte Graf blieb kühl und ernst.

„Daher stammt vermuthlich auch ihre Anhänglichkeit an den Schauplatz dieser Triumphe. Ihr seid ja mehr in Frankreich, bei ihren Verwandten, als daheim. Die Besuche werden immer häufiger und dauern immer länger, und jetzt ist sogar die Rede davon, Dich unserer Gesandtschaft in Paris zu attachiren. Dann hat Hortense ihren Willen vollends durchgesetzt.“

„Ich muß doch gehen, wohin ich gesandt werde,“ vertheidigte sich Albrecht, „und wenn man gerade mich wählt –“

„Willst Du mir etwa Deine diplomatischen Erfolge anführen?“ unterbrach ihn der Vater mit herbem Spott. „Ich weiß es besser, welche geheimen Federn da spielen, und der Posten ist wahrlich unbedeutend genug. Ich hatte doch mehr von Deiner Laufbahn erwartet, Albrecht! Es standen Dir Wege genug offen, um wenigstens einigermaßen zur Geltung zu gelangen, aber dazu gehört Ehrgeiz und Energie, und die hast Du nie besessen. Jetzt bewirbst Du Dich um eine Stellung, die Du nur [412] Deinem Namen verdanken wirst und in der Du ein Jahrzehnt bleiben kannst, ohne vorwärts zu kommen – auf Befehl Deiner Frau.“

Albrecht biß sich auf die Lippen bei diesem mit vollster Rücksichtslosigkeit ausgesprochenen Vorwurf.

„Papa, in diesem Punkte bist Du von jeher ungerecht gewesen, Du hast meine Heirath nie mit günstigen Augen angesehen. Ich glaubte bei meiner Wahl Deines vollen Beifalls sicher zu sein, und Du hast mir beinahe einen Vorwurf daraus gemacht, daß ich Dir eine schöne, geistvolle Tochter aus dem edelsten Hause zuführte –“

„Die uns bis auf diese Stunde fremd geblieben ist!“ ergänzte Steinrück. „Sie hat es noch immer nicht eingesehen, daß sie zu uns gehört, nicht Du zu ihr. Ich wollte, Du hättest mir die Tochter des einfachsten deutschen Landedelmannes in das Haus geführt, statt dieser Hortense de Montigny. Es thut nicht gut, dies heiße französische Blut in unserem alten germanischen Stamm, und Raoul hat nur zu viel davon. Es wird ihm heilsam sein, wenn er in die strenge militärische Zucht kommt.“

„Ja – Du bestehst ja darauf, daß er in die Armee eintritt,“ sagte Albrecht zögernd. „Hortense fürchtet nur – und ich fürchte es auch – daß unser Kind den Anstrengungen nicht gewachsen ist. Es ist ein zarter Knabe, er wird diese eiserne Disciplin nicht aushalten.“

„So muß er es lernen! Dich hat Deine Kränklichkeit allerdings vom Waffendienste ausgeschlossen, Raoul ist gesund, aber es ist die höchste Zeit, ihn Eurer Verweichlichung und Verzärtelung zu entziehen, und die Armee ist gerade die rechte Schule für ihn. Ich will nicht, daß mein Enkel dereinst ein Schwächling wird. Er soll unserem Namen Ehre machen – dafür werde ich sorgen!“

Albrecht schwieg, er kannte den unbeugsamen Willen seines Vaters, der ihm, obwohl er selbst längst Gatte und Vater war, noch unbedingt Gesetze vorschrieb, und Graf Michael Steinrück war der Mann danach, diesem Willen Geltung zu verschaffen.




„Ja, ich kann mir nicht helfen, Hochwürden, ich bleib’ dabei, es ist ein Elend mit dem Menschen. Nichts kann er, nichts versteht er, vom Morgen bis zum Abend läuft er in den Bergen herum, und dabei wird er immer dümmer von Tag zu Tag. Aus dem wird weder ein richtiger Weidmann noch sonst etwas, das ist verlorene Müh’.“

Die Worte kamen aus dem Munde eines Mannes, dessen Aeußeres schon verrieth, daß er sich mit dem Weidwerk abgab. Er war mit Flinte und Jagdtasche ausgerüstet, eine untersetzte, kraftvolle Gestalt, mit breiten Schultern und derben Zügen. Haar und Bart gänzlich verwildert, der Anzug, eine Mischung von Jäger- und Bauerntracht, gleichfalls im höchsten Grade verwahrlost, dazu eine Sprache so derb und rauh, wie sein ganzes Wesen – so stand er vor dem Geistlichen. Die Beiden befanden sich in der Pfarrwohnung von Sankt Michael, dem kleinen, hochgelegenen Wallfahrtsorte des Gebirges, und der Pfarrer, der vor seinem Schreibtisch saß, schüttelte mißbilligend das graue Haupt.

„Ich habe es Euch schon so oft gesagt, Wolfram, Ihr versteht Michael nicht zu behandeln. Mit Schelten und Drohen richtet Ihr bei ihm gar nichts aus, er wird nur noch scheuer dadurch, und ich dächte, er wäre schon scheu genug, wenn er wirklich einmal mit den Menschen in Berührung kommt.“

„Das macht seine Dummheit,“ erklärte der Förster. „Der Bube weiß ja nichts vom helllichten Tage, den muß man derb anfassen, wenn er aufwachen soll, und ich habe es Ihnen ja in die Hand geloben müssen, Hochwürden, ihn nicht mehr zu schlagen.“

„Und ich hoffe, Ihr habt Wort gehalten. Es ist viel an dem Kinde gesündigt worden, Ihr und Eure Frau habt es ja fast täglich gemißhandelt, ehe ich hierher kam.“

„Das war ihm gesund! Alle Buben brauchen Schläge, und der Michel hat von jeher die doppelte Portion gebraucht. Nun, er hat sie auch reichlich bekommen; wenn ich aufhörte, da fing meine Frau an, aber geholfen hat es nie etwas, und klüger ist er auch nicht dadurch geworden.“

„Nein, aber er wäre zu Grunde gegangen an dieser rohen Behandlung, wenn ich nicht eingeschritten wäre.“

Wolfram lachte laut auf.

„Zu Grunde gehen? der Michel? Der hätte das Zehnfache ausgehalten, er hat ja eine wahre Bärennatur. Es ist wirklich eine Schande mit dem Burschen, er ist so stark, daß er Bäume ausreißen könnte, und läßt sich hänseln von den Dorfbuben, ohne einen Finger zu rühren. Ich weiß schon, warum er heute wieder nicht mitging, sondern absolut nachkommen wollte. Er will nicht mit mir durch das Dorf, lieber macht er den Umweg durch den Wald, wie immer, wenn er zu Ihnen geht – der feige Bub’ der!“

„Feig ist Michael nicht,“ sagte der Pfarrer ernst. „Das solltet Ihr doch am besten wissen, Wolfram, Ihr habt mir ja selbst erzählt, daß er gar nicht zu bändigen ist, wenn er mit seinem Jähzorn losbricht.“

„Ja, dann ist er eben verrückt, und dann muß man ihn laufen lassen. Wenn ich nicht wüßte, daß hier oben bei ihm nicht Alles richtig ist, dann würde ich noch ganz anders mit ihm umgehen, aber ein Kreuz ist’s doch! Es ist nur merkwürdig, daß er so gut schießt und trifft, wenn er nämlich das Wild sieht, aber das kommt nicht oft vor. Er guckt sich die Bäume und den Himmel an, und derweil läuft ihm der Zwölfender vor der Nase vorbei. Ich bin nicht neugierig, aber das möchte ich doch wissen, wo dies Mondkalb eigentlich herstammt!“

Um die Lippen Valentin’s zuckte es schmerzlich bei den letzten Worten, aber er erwiderte ruhig:

„Das kann Euch ja gleichgültig sein. Bringt nur Michael nicht auf solche Ideen, er fängt sonst an darüber nachzugrübeln und stellt Euch Fragen, die Ihr ihm nicht beantworten könnt.“

„Dazu ist er viel zu dumm!“ behauptete der Förster, für den diese Eigenschaft seines Pflegesohnes ein Dogma zu sein schien, das unerschütterlich feststand. „Ich glaube, er weiß nicht einmal, daß er überhaupt geboren ist. Aber da schlägt mein Tyras an, er wird den Michel gesehen haben.“

In der That vernahm man draußen das freudige Gebell eines Hundes und nahende Schritte, und gleich darauf trat Michael ein.

(Fortsetzung folgt.)




Der Phönix.[1]
Von Franz Herzfeld.

Hamburgs Flotte liegt in der Bucht von Cadix.
Sie umdrängt den Phönix, die Kriegsfregatte,
Die ihr Schutz gewährt vor der Türken-Yachten
0 Enger Belag’rung.

5
Rings auf hohem Meere der Feinde Flotte

Möchte gern das reiche Geschwader plündern,
Doch es sperrt die Bucht der gewalt’ge Phönix
0 Mächtig gewaffnet.

Auf dem Deck des Schiffs, zu den Masten blickend,

10
Steht der Admiral mit den Officieren:

„Was doch will das Kreischen des blut’gen Vogels
0 Hoch aus den Raaen?“

Sieh! Was huscht dort leis von dem Borde seewärts?
„Ha! Ein Brander! Ließ ihn die Wache nahen?

15
Eine Salve drauf! Zu den Innenräumen

0 Folgt mir ein Fähnlein!“

Da mit Keuchen schreit der Kajütenwächter:
„Feuerjo! Es brennt in des Schiffes Bauche!“
Alles stürzt von dannen – am Holze knuspern

20
0 Grinsende Flammen –


Alles schwingt die Eimer – Kommandorufe –
Hilfebrüllen glühender Schiffskartaunen –
Ruf nach Booten – – da mit gezücktem Degen
0 Unter das Schiffsvolk

25
Tritt der Admiral: „Wer vom Platz sich rühret,

Ist des Tods! Wo bleibt Euer Eid, Ihr Schurken?“
Neubelebet regen sich hundert Hände –
0 Aber vergeblich!

Bohlen krachen, Böller und Anker schmelzen!

30
Feuersäulen steigen zum Firmamente!

Todte Möven taumeln aus Purpurwolken
0 Nieder in Blutgischt.

Jetzt des Führers eiserne Knie’ umklammern,
Wild gepackt vom Grausen, die Officiere:

35
„Weh! Schon naht das Feuer der Pulverkammer –

0 Rette die Mannschaft!“

[413]

Untergang des Phönix.
Originalzeichnung von Johs. Gehrts.

[414]

Doch er ruft: „Ihr Memmen! Die Pulverkammer
Ist geschützt durch mächtige Eisenplatten –
Wasser drauf zur Kühlung! Der Phönix darf nicht
      Sinken! Verloren

Wär’ die ganze Flotte durch uns’re Feigheit!
Löscht! Und gafft nicht! Löscht, bis die Eimer brennen!
Oder selber werf’ in die Pulverkammer
      Ich eine Lunte!“

Doch des Vaters eiserne Knie’ umklammert
Nun sein Sohn: „Gedenke des stillen Hauses,
Das Du füllen willst mit der Wittib Klagen,
      Ach! und der Waisen!“

Da aus Feuerbrausen die sanfte Alster
Sieht er schimmern – doch er zerdrückt die Thräne:
„Fort mit Dir! Wie darfst Du es wagen, Knabe,
      Mich zu erweichen!

Weißt Du nicht, daß ernster, als Weiberklagen,
Schallt der Pflicht erhabener Ruf dem Manne?
Hier zu stehen, hab’ ich gelobt den Bürgern –
      Hier will ich fest stehn!

Dieser Bord war Wiege dem Schifferkinde,
Diese Segel seien mein Leichenlinnen –
Dieses Feuer preise mit tausend Zungen
      Männliche Treue!“

Doch dem Jüngling winken die blauen Augen
Seiner Braut, der holden, vom Heimatstrande –
„Sei’s denn!“ ruft er, „Noth vor Befehl, Ihr Männer
      Senkt die Schaluppe!“

Hundert Kehlen schreien dem Kühnen Beifall!
Alles drängt und hastet zum Rettungsboote.
Doch der Admiral mit erbob’ner Rechten
      Tritt vor den Sohn hin:

„Stirb, Rebell! Du hast Dir den Tod ertrotzet!!“
Seine Waffe saust – der Getroff’ne stürzet
Hoch vom Bord – o weinet, ihr blauen Augen
      Fern in der Heimat!

Da durchbraust die Rotten ein drohend Murren,
Wüthend schwillt es: „Stoßet den Mörder nieder!“
Ein Matros, um Diebstahl gezüchtigt, rennt den
      Stahl in die Brust ihm.

Und er stürzt! Wie kniet um ihn her so Mancher
Seiner wetterfesten, ergrauten Freunde!
„Rettet Euch,“ so stöhnet er. „ich doch rette
      Mehr noch – die Ehre!“

Nun verlassen, schaut er mit matten Blicken,
Wie ein wilder Knäuel zum Boot sich wälzet,
Um den Eingang ringt – die Schaluppe kentert –
      Alle versinken!

Alle traf ein gräßlich Gericht des Aufruhrs!
Doch der Alte wankt zu der hohen Brücke,
Rings umrauscht vom Blähen des Feuersegels,
      Wie von der Fahne!

Doch der Alte ragt auf der hohen Brücke.
Stark die nerv’ge Faust ans Geländer klammernd.
Nun erglüht’s – da sinkt seine Hand – es sinkt des
      Sterbenden Wimper.

Weh! Welch abgrundspaltendes Donnerkrachen
Drob äonenjährige Felsen zittern?
’s war die Pulverkammer. Den stolzen Phönix
      Schauet kein Aug’ mehr.

Und ein Sturm zerstreute die Türkenflotte.
Ungeschädigt segelten Hamburgs Schiffe
Heimwärts, schwarz beflaggt um des Phönix Ende
      Und seines Führers.

Nein! Nicht sank das Schiff, ob die Planken barsten!
Nein! Ein Phönix, stieg’s aus der Gluthenwiege
Geisterhell empor und den todten Helden
      Trägt’s durch die Sturmnacht!

Wo die Meerschlacht tobt, da erscheint’s den Streitern,
Und der Alte winkt mit den Feuerhänden –
Und auf Meeresgrund ein erschlag’ner Wiking
      Schlägt an den Erzschild.

Segle, sel’ger Geist, durch die Seen des Weltrunds,
Wenn mit Macht die deutschen Kanonen donnern,
Und der Mannschaft rausche dein Flammenmantel
      Todesbegeist’rung!


Der kleine Schuh.

Skizze aus dem italienischen Badeleben von Isolde Kurz.

In die Farben des wärmsten Julisonnenstrahls möchte ich den Pinsel tauchen, um den ganzen Golf mit seinem tiefblauen Wasser, seinen klaren Inseln, seinen felsigen Buchten und Grotten auf dieses Blatt zu zaubern. Denn Worte sind machtlos vor dieser Fülle von Licht und Farben. Die weite See ist wie eine Palette, auf welcher der große Künstler alle seine Farben probirt und planlos mit dicken Strichen durch einander gemischt hat, ehe er damit die zarten Schattirungen der lachenden Landschaft malte.

Da sitze ich nun auf meiner meerumspülten alten Felsenburg unter dem dichten Schatten eines Feigenbaumes, um dessen vielverschlungenen Doppelstamm sich üppige Reben winden, und stehle dem lieben Gott den Tag ab.

Und die Gedanken kommen und schwinden wie die Wellen drunten am Ufer, sie haben keine feste Gestalt, Alles schwimmt und rinnt, bis es vom großen Meere wieder verschlungen ist.

Aber je länger ich dem rastlosen Treiben zusehe, desto mehr scheint es mir, als sei jede dieser Wellen ein persönliches Wesen, das sich für einen kurzen Moment mit seiner Eigenart behauptet, um schon im nächsten nicht mehr zu sein. Die eine wogt anmuthig herbei, und sowie sie am Ufer ist, dehnt sie sich wallend aus und giebt in friedlichem Zerrinnen dem Meere ihren Inhalt wieder, die andere muß sich gewaltsam an den Kieseln zerschlagen, die dritte bringt es gar nicht bis ans Ziel, sondern fällt auf halbem Wege zurück wie eine matte Kugel.

Ein grenzenloser Fatalismus kommt über mich (in Deutschland würde man’s Faulheit nennen), eine Stimmung, die nicht frohlich, nicht traurig ist, aber jede Thatkraft lähmt, eine wahrhaft orientalische Beschaulichkeit!

Da wogt eine große Welle prahlerisch herbei mit ihrer weißen Schaumkrone, aber sie ist so hohl wie die andere, denn wenn sie an die Klippe schlägt, zerbricht sie, spritzt ein wenig Schaum, und es bleibt Alles wie zuvor.

Ich begreife nicht, daß die Menschen, die an dieser Küste aufwachsen, überhaupt zum Leben zu gebrauchen sind. Die Tage schwinden hier wie ein seliger Traum, und wer wie ich den Kalender zu Hause gelassen, verliert jeden Begriff der Zeit, wie die Eingeborenen, die Einem nicht genau sagen können, wie alt sie sind. Und doch wohnt hier ein thatkräftiges Volk, kaum einer von diesen braunen, wetterharten Matrosen, der nicht schon in den kalifornischen Goldgruben oder am Ganges sein Glück gesucht hätte. Die männliche Jugend, die dem Staat die besten Seeleute liefert, ist fast immer von Hause fort, nur wenn Einer in der Welt Etwas vor sich gebracht hat, kommt er nach San Terenzo zurück, kauft sich hier an und lebt mit Frau und Kindern wie die andern Dorfbewohner.

Es macht einen seltsamen Eindruck, wenn man diese Männer, die zum Theil stattliche Güter besitzen, barfuß ihre Netze ans Land ziehen und ihre Fische selber kochen sieht. Tritt man zu ihnen ins Haus, so bieten sie dem Fremden mit dem Anstande eines homerischen Fürsten einen Platz bei ihrem Mahle, das am Herde verzehrt wird, und ein Glas Wein an, und erzählen von fernen Ländern und von den Gebräuchen fremder Völker, deren Sprachen sie auch zum Theile bei langem Aufenthalte erlernt haben.

Mein Hauswirth, der alte Giacomino, ist der Patriarch des Orts, bei ihm holen sich die Mitbürger Rath, und sein Wort entscheidet jede Frage. Er hat auch eine Odyssee hinter sich, wie keiner seiner Gefährten, alle Länder der bewohnten Erde hat er befahren, unzählige Abenteuer zu Wasser und zu Land bestanden, ehe er sich in San Terenzo seinen Herd gegründet hat. Jetzt sagt er, die Erde sei eigentlich doch gar zu klein, es gebe nichts mehr zu sehen.

Wäre dieser Weltumsegler nur ein besserer Schriftgelehrter, so hätte er es mit Leichtigkeit zum Kapitän gebracht; aber die Buchstaben haben ihn stets gelangweilt. In dem großen Buche des Lebens aber, in dem so viele verschollene Generationen ihre Erfahrungen niedergelegt haben und das vor jedem hellen Auge aufgeschlagen liegt, hat er geblättert wie Wenige. Wenn er mir Mittags das Fleisch aufträgt, das er selbst gebraten hat, und von dem Weine einschenkt, den er auf dem Kastell zieht, so scheint es mir nicht anders, als ich sei landfremd bei dem vielgewandten Beherrscher von Ithaka zu Gast. Und dann erzählt er mir von seinen Abenteuern unter den Beduinen, den Indianern, den [415] Chinesen, von Kämpfen an fernen Küsten mit Haisfischen und Klapperschlangen, mit eingeborenen wilden Völkern, von Inseln, die er mit Feuer versengte, um sich vor den Raubthieren zu schützen, von zerbrochenen Schiffen auf dem Eismeere und nicht die kleinste Rolle in diesem vielbewegten Leben spielen Frauen aus allen Menschenrassen.

Das Meer singt dazu seine eintönige Begleitung, vier weißliche Möwen tauchen über dem Wasser auf und nieder und ziehen große langsame Bogen durch die Luft, als ob sie zusammen einen feierlichen Tanz aufführten. Die Schiffer im Hafen unten liegen in ihren schaukelnden Kähnen ausgestreckt und schlafen, Dutzende halb nackter Kinder spielen in dem seichteren Wasser und wälzen sich im Sand. Hier oben aber schmettern die Cikaden, die Käfer und Mücken schwirren und taumeln umher wie trunken von Sonne und Seligkeit. Einzelne Luftwellen tragen von dem Bergabhang den heißen würzigen Pinienduft herauf, der wie ein warmer Strom durch die kühlere Luftregion zieht.

Das ist der Sommer im Süden, das ist die wonnige Faulheit des italienischen Badelebens.

Da plötzlich ein starker Donnerschlag. Der Himmel ist dunkel verhangen und schwere Tropfen fallen. Giacomino ist aufgesprungen; mit kundigem Auge wirft er nur einen Blick auf Himmel und Meer und eilt dann mit seinen bloßen Füßen die Stufen des Kastells hinunter. Eine Minute später sehe ich ihn schon unten am Hafen, wo er seine verschiedenen Barken losbindet und ins Trockene bringt. Eine Menge brauner Gestalten läuft geschäftig durch einander, überall werden die Anker gelöst, und bald sind über vierzig Kähne hoch ans Land hinaufgezogen.

Jetzt bläst der Wind von Süden her, das Meer hebt sich höher, die Nachen, die noch draußen sind, suchen das Land, denn sie werden schon herumgeworfen wie Nußschalen. Breite Wellen kommen wie Mauern heran und werfen sich mit Brüllen und Zischen an den Hafendamm, andere schwellen hoch auf wie einzelstehende Thürme, indem sie um sich her Abgründe aufreißen, dann schlägt ihre Spitze über, sie brechen in sich zusammen, und wehe dem Schiffchen, das ihnen ungeschickt entgegen käme! Es ist ein Krachen und Donnern wie auf einem Schlachtfelde. Der Regen schlägt mir ins Gesicht, der Sturm rüttelt an mir, als ob er mich von meinem luftigen Standorte ins Meer herunterschleudern wolle, und unversehens mit einem zweimaligen Rucke bricht die Dunkelheit herein. Ich flüchte mich auf mein Zimmer, wo mich das Toben des Meeres die ganze Nacht nicht schlafen läßt.

Am Morgen, der trüb und neblig heraufkommt, kann ich in der grauen zischenden Wassermasse zu meinen Füßen die freundliche klare Fluth nicht mehr erkennen, der ich mich noch vor Kurzem so zutraulich überlassen habe. Der Tag schleicht griesgrämlich hin, erst gegen Abend treten die Wolken aus einander, der Regen hört auf und die Sonne lacht einen Augenblick hervor, als wolle sie der Welt noch vor Schlafengehen kund thun, daß sie jetzt ausgeschmollt hat. Nur das Meer wüthet immer weiter und kann sich nicht zufrieden geben.

Reine Regenluft, vermischt mit dem köstlichen Duft frisch durchnäßter Erde, dringt mir von außen entgegen, und ich eile, im Freien Athem zu schöpfen. Auf der Rückseite des Kastells, wo die Schießlöcher einen Ausblick auf Portovenere und die Inseln gewähren, war um die hohen Klippen eine prächtige Brandung. Das kleine Thörchen in der Schloßmauer war vom Winde aufgerissen, der die Fichten und immergrünen Eichen an diesem Abhang wie Weiden zusammenbog.

Hier tritt das schroffe Felsengestade zu einer kleinen Bucht aus einander und bildet zugleich nach innen eine naturliche Grotte mit einem kleinen halbmondförmigen Strand, auf dem das Meer immerwährend Kies und Muscheln ablagert. Aber der Ausgang ist heute abgeschnitten, denn das Wasser spritzt jetzt hoch uber die Felsen weg, von denen man nach dieser Bucht hinabklettern muß. Noch immer nimmt der aus Südwesten kommende Libeccio seine Backen voll, hundert Blasebälge arbeiten in der Fluth, und ich meine, den Erderschütterer Poseidon zu sehen wie er mit seinem Dreizack die Tiefen aufwühlt und unter Sprudeln des Wassers allerlei fremde Gegenstände herausschleudert, die schon seit Jahren friedlich auf dem Grund geruht haben. Kork, Stücke Holz, vielleicht die Ueberreste zerschmetterter Schiffe, treiben vermischt mit Seetang, auf der Fluth und werden mit Muscheln und Kieseln an den Strand geworfen. Aber die Welle, die sie eben hergewälzt hat, reißt sie auch wieder zurück, wie einen Ball, den eine kundige Hand wirft und hascht, und so kann das Spiel stundenlang dauern, bis ihm einmal ein stärkerer Wasserschwall ein Ende macht, indem er das Spielzeug aufs Trockene schleudert. Ein seltsam geformter dunkler Gegenstand besonders, an dem es zuweilen aufblitzt wie von Silber, kann gar nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder angeschwemmt, wird er stets aufs Neue zurückgerissen. Einmal hing er schon an einer Klippe fest, aber eine nachstürzende Welle warf ihn wieder herunter. Gar zu gern möchte ich wissen, was das für ein Ding ist, aber seine Form läßt sich nicht unterscheiden, nur will es mir scheinen, als sei es ein Werk von Menschenhand. Darüber fängt es zu dunkeln an, heute Abend kann ich meine Neugier nicht mehr befriedigen. Unten ist schon Vieles angehäuft, vielleicht liegt morgen früh auch der räthselhafte Gegenstand auf dem Sande der Bucht. –

In dieser Nacht beruhigte sich endlich das Meer, und heute früh liegt der alte Ländererstürmer wieder so friedfertig da, als ob er nie ein Wässerchen getrübt habe. Nur der Wasserstand ist noch höher als sonst, und ein leises Wallen läuft von Zeit zu Zeit über den Spiegel, wie die Brust eines Kindes, das vom Schreien müde ist, sich noch eine Zeitlang in krampfhaften Stößen hebt. Auch bei den Klippen an der kleinen Bucht ist das Wasser gefallen.

Ich lasse eilig die Leiter an die kleine Pforte legen und steige auf den ersten Rasenvorsprung hinab. Ueber die Felsen rutschend und kletternd gelangte ich in die Tiefe, aber hier begann erst der mühselige Theil der Wanderung. Die höchsten Klippen, die mir im Wege lagen, mußte ich hinauf. Und hinunterklettern, häufig durch den heraufschlagenden Wasserschaum von der einen zur andern springen, bis ich endlich mit nassen Schuhen und zerrissenen Kleidern auf der kleinen Bucht stand.

Ich sah jetzt, daß sie bedeckt war von Holzsplittern, die die Fluth zerrieben hatte, von angebrannten Kohlen, zertrümmertem Geräth, von Bimsstein, weißgewaschenen Thierknochen – darunter vielleicht auch menschliches Gebein. Ich zweifelte keinen Augenblick, daß ich die Trümmer eines Schiffbruchs vor mir hatte. Als ich eine zerfetzte, von Wasser schwere Strohmatte aufhob, blitzte mir etwas Blankes entgegen, und ich zog einen ganz durchweichten kleinen Schuh hervor, an dem eine feine silberne Agraffe nur noch lose hing. Es war ein schmaler winziger Frauenschuh, wie ich noch sehen konnte, vom feinsten Leder und der zierlichsten durchbrochenen Arbeit, mit rothem Saffian gefüttert und vielfach mit Seide durchsteppt; kleine Quästchen, die jetzt zu Klumpen zusammengeballt waren, hatten ihn verziert. Der hohe Absatz war gleichfalls lose. Ich betrachtete nachdenklich die schmale hochgewölbte Sohle und stellte mir den hübschen Fuß vor, dem dieser Schuh gepaßt hatte. Wer weiß, wo jetzt die Haifische an dem nagen? mußte ich mit Grausen denken.

Ich kletterte über die Klippen zurück ins Kastell, zeigte Giacomino meinen Fund und sprach meine Vermuthungen aus. Der aber schüttelte den Kopf.

„Der Schuh kann keiner Ertrunkenen gehören,“ sagte er, „denn wenn das Leder einmal in Wasser eingeweicht ist, so bringt es keine Gewalt mehr vom Fuße. Eher glaube ich, daß ein Schiff mit solcher Waare beschädigt worden ist und seine Befrachtung über Bord geworfen hat. Es braucht darum noch nicht gerade untergegangen zu sein. In unserem Golf kommen, wie Sie wissen, selten Unglücksfälle vor.“

„Aber was bedeuten denn die vielen Holzsplitter, die zusammengewickelten Stiele, die Küchengeräthe, wie z. B. ein völlig erhaltener zinnerner Seiher und ein Theelöffel von Neusilber, die ich gefunden habe?“

Der Seemann zuckte die Achsel.

„Diese Gegenstände müssen nicht nothwendig mit dem Schuh in Verbindung sein. Da die Küste hier überall felsig ist, so treibt das Meer solche Dinge oft von weit her zusammen und wirft sie dann alle mit einander an irgend einer flachen Stelle aus. Und wer weiß, wie manches noch da unten ruht von langer Zeit her! Dort hinter dem Tino liegt ja der ‚Oncle Joseph‘ auf dem Grund mit Mann und Maus. Da mag wohl hier und da von den Fischen etwas herausgezerrt werden und an die Oberfläche kommen.“

„Uebrigens unmöglich ist es ja nicht,“ fügte er, auf meine Vermuthungen zurückkommend, hinzu. „Das Meer ist diese letzten Tage wild genug gewesen.“

[416]

Das Fest der Rosenkönigin.
Originalzeichnung von F. Schlegel.

[417] Er hielt den Schuh in der Hand und betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten.

„Eine reizende Arbeit,“ sagte er. „So etwas wird nicht hier zu Lande gemacht.“

Ich nahm ihm den Schuh wieder ab und stellte ihn zum Trocknen auf das Gesimse.

Giacomino ging gleichmüthig seinen Geschäften nach und legte sich dann mit den andern Schiffern auf die Marina in den Sand, um sich zu sonnen.

Ich sprach ihm den ganzen Tag nicht mehr von dem Schuh, aus Furcht, er möchte mich auslachen.

Aber ich hatte gar keine Ruhe mehr. Immer betrachtete ich den Schuh, der räthselhaft und geheimnißvoll dastand und keinen Aufschluß gab.

O, wenn du reden könntest, dachte ich immer, was würdest du für eine Geschichte erzählen!

Unablässig irrt meine Phantasie mit ihm auf der Wasserwüste herum nach der Stelle zurück, wo er ins Meer geschleudert wurde, und diese Stelle kann nur ein sinkendes Schiff sein. Aber ob er in der letzten Todesangst von einem schönen Fuße abgestreift worden ist, der sich zum Schwimmen rüstete – ach, zu einer hoffnungslosen Verlängerung des Kampfes – ob er nur zufällig von den krachenden, berstenden Planken weggespült wurde, darüber wird mir keine Auskunft.

Tausend schmerzliche Bilder stehen mir vor der Seele, ich kann mich nicht wie sonst zum Träumen unter meinen Baum setzen, unruhig gehe ich hin und her und denke an den geheimnißvollen Schuh.

Endlich, um mich zu zerstreuen, griff ich nach dem einzigen Buche, das mich an das brausende Meer begleiten durfte. Da las ich die Stelle:

„Schon zween Tag’ und der Nächte soviel in dem wogenden Aufruhr
Irrt er umher und oft umschwebte Tod ihm die Seele.“

Diese Verse klangen wie ein Orakelspruch und vermehrten meine Unruhe. War es nicht gerade vor zwei Tagen, daß der große Sturm begonnen hatte? Wie wenn am Ende gar ein menschliches Wesen eben jetzt hilflos da draußen umhergetrieben würde, immer die Küste in Sicht, die es nicht erreichen kann? Und dann kommt die Nacht, Haifische tauchen aus der Tiefe, schwimmen neben dem Boote her und warten ruhig auf den Fang, der ihnen nimmer entgehen kann. Denn das Boot ist vielleicht schon leck oder die nächste Welle kann es umwerfen, und dann die Kälte, wenn es dem Morgen zugeht. –

Hier merkte ich erst, wie weit sich meine Phantasie schon verirrt hatte. Ich mußte selber lachen, und alsbald verschwanden die Spukbilder. Was ist denn daran so Besonderes, daß ich einen Schuh am Strand gefunden habe?

Als mir Giacomino das Nachtessen auftrug, sagte er ruhig:

„Mit Ihrer Vermuthung könnten Sie doch Recht haben. Es wird ein spanischer Küstenfahrer vermißt, der am 22. mit vielen Waaren von Barcelona abgefahren ist. Am Ersten sollte er hier sein, aber seit Genua weiß man nichts mehr von ihm. Ein Mann aus Lerici hat es mir heute erzählt.“

„Ich wußte es ja,“ rief ich, und die Befriedigung des Rechtbehaltens übertäubte fast für einen Augenblick das menschliche Mitgefühl.

(Fortsetzung folgt.)

Was will das werden?

(Fortsetzung.)


Ich hatte es ja aus dem Munde des Polizisten, daß dies ein „Verbrecherkeller“ sei, und um hier einzudringen, „mehr gehöre“, und darunter verstanden: mehr Muth, als er mir zutraue. Nun, ich hatte den Muth gehabt und war auf Alles gefaßt; vielmehr ich glaubte es zu sein. Auf das hier war ich nicht gefaßt gewesen: nicht auf das scheusälige Elend, das hier zusammengehäuft war, wie der Kehricht einer Gasse, und über das die Laterne des Wirthes schauerliche Streulichter warf, wie er jetzt vor mir her durch diese entsetzlichen Höhlen schlurfte, hier und da das Bein, den Arm eines der auf dem faulenden Stroh rechts und links Schlafenden mit dem Fuße bei Seite stoßend, einmal auch über einen Haufen Lumpen, der mitten in dem schmalen Gang lag, und in dem ein Menschenleib steckte – ich weiß nicht, ob eines Mannes oder Weibes – ruhig wegschreitend, wie ich es, ihm nach, auch thun mußte, während Ekel mir das Herz zusammenschnürte und Entsetzen mir die Glieder wie im Fieberfrost schüttelte. Ich hatte vorhin geschaudert bei der wüsten Orgie in der Matrosenkneipe und gemeint, das sei die äußerste Tiefe, bis zu welcher das Laster sinken könne; und war doch Alles nur kaum getrübtes Wasser gewesen, in Vergleich zu dem stinkenden Schlamm, durch den ich jetzt zu waten hatte. O, der grauenhaften Stunde, die mir noch jetzt nach Jahren in ihren gräßlichen Einzelheiten dann und wann ein Traum zurückbringt, aus dem ich, in Angstschweiß gebadet, erwache! Und mir einreden möchte, es sei eben nur ein Traum und nicht denkbar, daß so wahnsinnig Scheußliches in der Wirklichkeit existire. Und das ich deßhalb weiter zu schildern nicht versuchen will, da man mir doch nicht glauben und, vermöchte ich das Entsetzliche Zug für Zug wiederzugeben, nun erst recht annehmen würde, ich habe nur eben der Phantasie die Zügel der Vernunft abgestreift und lasse sie dahinrasen, Kinder und Thoren zu schrecken. O Kinderweisheit, o Thorenklugheit, die sich schrecken lassen. O Aberwitz, der die Gefahr nicht sieht! unselige Verblendung, welche die Augen vor dem Abgrund schließt, dem klaffenden Höllenrachen dem nimmersatten, der Jahr aus Jahr ein und Tag für Tag seine Speise in sich schlingt, hungrig nach mehr und immer mehr – die ekle Speise, die doch nur Stücke sind, so er von dir losriß mit gierig giftigen Zähnen von deinem Leib, o Menschheit!

Ich erinnere mich genau, daß es gerade dieser Gedanke war, an dem sich mein betäubtes Gehirn abquälte, als ich, die Augen mit der Hand bedeckend, vor einem Glase Schnaps saß, das der Wirth ungeheißen vor mich hingestellt hatte, nachdem wir aus den Schlafhöhlen heraus in einen Raum gelangt waren, welcher die Gaststube dieser fürchterlichen unterirdischen Herberge zu sein schien. Ein etwas größerer Raum, von dessen schmutzigen, nackten Wänden das Wasser in dicken Tropfen rann, die hier und da aufglitzerten im trüben Schein der Talglichter, welche vereinzelt auf den von übergegossenem Schnaps und Bier klebrigen Tischen qualmten. Es waren nur noch wenige Gäste da, wohl die zuletzt gekommenen, oder solche, die noch ein paar Pfennige dran zu wenden hatten, den letzten Rest von Verstand und Besinnung vollends zu ersäufen; aufgedunsene, todtbleiche oder gräßlich geröthete Gesichter, aus denen die verglasten Augen stumpfsinnig ins Leere stierten oder wie im Wahnsinn brannten. Ich hatte den Anblick nicht länger ertragen können und zwang mich nun doch, wieder hinzusehen, als sei es meine Pflicht, mich, bevor ich ausbräche, noch einmal zu überzeugen, daß dies Fürchterliche wahr und wahrhaftig sei, und ich es sei, der es gesehen und erlebt – derselbe Mensch, der vor noch nicht acht Tagen den Wind hatte rauschen hören durch die Riesentannen oben „auf dem Walde", und von der Freiheit geträumt hatte, die er sich erringen müsse um jeden Preis. Nun, dies hier war der Preis: die Gesellschaft der Elendesten der Elenden – ein grausamer Hohn scheinbar, und der doch die Rechtfertigung dessen, was ich gethan, in sich barg. Der mir sagte: ja, du thatest recht, als du eine Herrlichkeit von dir wiesest, welche sich auf diesem Schlammgrund aufbaut, und deßhalb nicht sein sollte, ja, in Wirklichkeit gar nicht ist, nur ein Schein ist, wie Irrlichttanz auf einem faulen Sumpfe. So hatte Adalbert die Welt gesehen, in deren Glanz beim Sonnenuntergang ich mich berauschte. Ich hatte ihn einen Pessimisten gescholten. Jetzt wußte ich es besser. Es ist leicht, Optimist sein, wenn man nicht sehen will oder – sehen kann.

Der Wirth war eben einmal wieder in den Raum gekommen; ich erhob mich, an allen Gliedern wie geschlagen, und trat zu ihm heran und fragte, was ich zu zahlen habe? Er [418] sah mich verwundert mißtrauisch von der Seite an und versetzte brummend: „Das hat Zeit bis morgen früh.“ – Ich erwiderte, ich müsse fort; ich habe keinen Augenblick zu verlieren.

„So!“ sagte er gedehnt. „Und vorhin hatte man’s so eilig? Wer ist man denn eigentlich?“

„Das gehört nicht hierher,“ erwiderte ich trotzig.

„Nicht hierher? so? Vielleicht gehört man überhaupt nicht hierher unter ehrliche Leute?“

Er sah mir starr in die Augen mit einem Ausdruck im Blick, vor dem mir schauderte. Offenbar hielt er mich – und hatte er nicht Grund dazu? – für einen Verbrecher, der eben von der frischen That kam. Schwerlich wurde ich dadurch schlechter vor diesen gräßlichen, blutunterlaufenen Augen, wohl nur kostbarer. Er hatte mich in seiner Gewalt. Wie hoch war der Preis, für den er mich losgeben konnte?

Ich bin überzeugt, daß der Mensch in diesem Moment sich das fragte, wie ich mich fragte, was ich ihm wohl bieten dürfe? Es war ein harter Schlag für mich, dessen Barschaft so schon gering genug war. Aber was sollte ich thun? Eine halbe Stunde mochte ich doch wohl schon in dieser Hölle zugebracht haben. Ich mußte fort, oder das Passagierbillet in meiner Tasche wurde zu einem werthlosen Stück Papier, und dann war ich ganz verloren.

„Wieviel?“ sagte ich.

„Taxiren Sie sich selbst,“ sagte der Wirth „werde dann schon sagen, ob’s langt.“

Ich war im Begriff, eine für meine Verhältnisse thörichte Summe zu nennen, bei der es doch schwerlich sein Bewenden gehabt hätte, als ein Mann, der in dem äußersten, dunkelsten Winkel des Raumes, das Gesicht in beide Hände gedrückt, an einer Tischecke gefesselt und, wie ich meinte, geschlafen hatte, plötzlich den Kopf hob und nach uns stierte. Mir war, als müßte ich das Gesicht schon gesehen haben; aber der aus Tabaks- und Torfrauch gemischte bläuliche Qualm, welcher den Raum, wie das ganze gräßliche Lokal füllte, war zu dicht – ich konnte es nicht herausbringen, und was war auch daran gelegen? Dennoch hatte der Anblick meine Aufmerksamkeit auf einen Moment in Anspruch genommen und meine Antwort verzögert; im nächsten war der Mann von seinem Sitze aufgetaumelt und hatte ein paar Schritte auf uns zu gemacht. War es möglich? konnte das mein Bruder August sein?

Der Mann war stehen geblieben und fixirte jetzt mich, wie ich ihn. Auf einmal flog ein Lachen über das verwilderte bärtige Gesicht, und einen gurgelnden Laut des Wiedererkennens ausstoßend, der in einen gräulichen Fluch endete, stürzte er auf mich zu und riß mich in seine Arme: „Muttersöhnchen, Zuckersöhnchen! kennst Du mich denn nicht mehr?“ – Und derselbe gräuliche Fluch noch einmal.

Es war ein schlimmes Wiedersehen und das mir doch das Herz seltsam bewegte. Nicht bloß, weil ich in dieser äußersten Noth einen Menschen fand, der zu mir stehen würde. Er hatte mich stets mißhandelt, und ich war froh gewesen, als er aus dem Hause kam; aber er war der Sohn des Mannes, den ich Vater nannte; ich hatte ihn wie einen Bruder geliebt – trotz alledem. Das alte Gefühl der Zugehörigkeit, das ich längst erloschen glaubte, wallte mächtig in mir auf, und so erwiderte ich seine Umarmung.

„Na, was heißt denn das?“ sagte der Wirth verwundert.

„Das heißt, daß Du dich zum Teufel scheeren kannst, anstatt hier zu stehen und Maulaffen feil zu halten,“ schrie August den Kerl an „Oder ja, geh’ hin und mach’ uns einen Grog, Peter – halb und halb! und von Deinem Besten, Du …“ hier folgte ein wüstes Schimpfwort „oder ich komme Dir auf Deine Glatze. Du kennst mich.“

Der Wirth murmelte Unverständliches in seine Bartstoppeln, aber schlürfte gehorsam davon. August hatte mich zu sich an einen Tisch gezogen, der jetzt, wie auch so ziemlich die übrigen, leer geworden war, – von den trunkenen Gästen waren die meisten einer nach dem andern in die gräßlichen Hinterräume getaumelt.

„So,“ sagte er, „wir sind hier ganz unter uns, von den … hört uns keiner. Nun erzähle einmal, Brüderchen, was Du dem Peter nicht auf die Nase zu binden brauchtest – war ganz recht von Dir! Mir kannst Du’s ruhig erzahlen. was hast Du ausgefressen?“

„Nichts, August,“ erwiderte ich, „oder es wäre doch eine lange Geschichte, zu der ich keine Zeit habe. Ich muß fort von hier, auf der Stelle, und ich bitte Dich, hilf mir dazu!“

„Wo willst Du denn hin?“

„Nach Amerika, und das Schiff segelt um zwei.“

Ich sah nach der Uhr. Es war bereits über halb eins.

Ich wollte erschrocken aufspringen; August hielt mich fest.

„So eilig wird’s nicht sein.“

„Ja, es ist!“ rief ich; „ich habe höchstens noch anderthalb Stunden, und ich weiß nicht, wie ich an Bord komme. Ich bitte Dich, halt’ mich nicht auf.“

Der Wirth war wieder hereingekommen, in jeder Hand ein dampfendes Glas, die er vor uns auf den Tisch stellte.

„Trink!“ rief August mir zu.

„Ich kann nicht,“ sagte ich schaudernd.

Er nahm das Glas an den Mund und leerte es bis zur Hälfte in langsamen Zügen. Ich blickte ihn während er trank, stumm flehend in die Augen.

„Na,“ sagte er, das Glas niedersetzend, „meinetwegen.“

Und dann auf französisch – und einem guten Französisch dazu, das mir aus seinem Munde gar seltsam klang: – „Hast Du Geld?“

Ich nickte.

„Dann“ – er sagte das wieder französisch – „gieb dem Kerl –“

Er nannte eine kleine Summe und sagte, als ich ihn unsicher anblickte, lachend hinzu: das sei genug, ich könne aber ein paar Groschen mehr geben, wenn ich wollte.

Ich that, wie er geheißen, und zählte das Geld auf den Tisch, von dem es der Wirth in seine hohle Hand strich, augenscheinlich wenig erbaut von diesem Ausgang des Handels, aber ohne Widerrede, von der er sich keinen Vortheil versprechen mochte.

August hatte unterdessen sein Glas vollends geleert, sich erhoben und mit dem Wirth, den er ein wenig auf die Seite zog, ein paar Worte geflüstert. Dann wandte er sich wieder zu mir und sagte, abermals französisch: „Wenn Du aber denen in die Hände läufst, die Dich suchen?“

„Es ist mir Alles eines,“ erwiderte ich ebenso; „aber fort muß ich.“

„Dann komm!“

Der Wirth war mit uns auf einen schmalen Flur hinausgetreten, wo eine Laterne an der Wand schwälte, und an dessen Ende es eine Reihe Stufen hinaufging bis zu einer Thür, die er aufschloß. Wir gelangten in ein Gäßchen, das ziemlich steil abfiel. Nach der abfallenden Seite sah ich gegen den helleren Himmel die dünnen Linien der Schiffsmasten. Der Anblick und die frische Luft, die von dort heraufstrich, erfüllten mich nach dem Grausen dieser letzten Stunde mit einem unendlichen Dankesgefühl, das ich doch ihm schuldete, der mich aus jener Hölle erlöst hatte. Die Thränen stürzten mir aus den Augen, während ich, unfähig zu sprechen, August an beiden Händen faßte.

„Ja, ja,“ sagte er. „Du bist das nicht gewohnt; unser einer schüttelt das ab, wie der Hund die Flöhe. Wir sind ja nur Hunde, und das Hundeleben, das ich schon seit vierzehn Tagen führe – Tag und Nacht in der Spelunke, und nur des Nachts einmal eine Stunde draußen, wie jetzt, um ein Bischen frische Luft zu haben, immer in Gefahr, abgefaßt zu werden, wie jetzt. Und dann ein paar Jahre Festung und hinterher noch ebenso viele Zuchthaus. Und das Alles, weil man kein Tyrannenknecht ist und sich für die Tyrannen nicht die Knochen entzwei schießen lassen will, daß sie ihre schönen Siege gewinnen und sich Retter des Vaterlandes schelten lassen, damit’s doch hübsch beim Alten bleibt. Vereinigtes Deutschland – ich pfeife darauf! Schönes vereinigtes Deutschland da unten in der Spelunke, he? mit dem braven Peter als souveränem Herrscher. Möchte nur alle Fürsten und Minister da mal auf eine Nacht zusammen haben, damit sie wenigstens wissen, wie das Leben der Armen riecht! Sie scheert’s nicht. Beim Teufel, mich scheert’s auch nicht, wenn ich so wollte. Könnte da ruhig unten in der Schweiz sitzen und von anderer Leute Fett leben. Aber wir sind ehrlich und tragen unsre Haut zu Markte, wenn’s für die Brüder sein muß. Hätten mich ums Haar abgefaßt in Berlin; bin nur noch eben mit heiler Haut davongekommen – just das nackte Leben – [419] zwei Treppen hoch zum Fenster hinaus – hoffe, daß ich sie noch alle einmal an dem Strick baumeln sehe! Gehetzt von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, wie sie ihre Sauen hetzen, die Herren im rothen Frack – hinter den Hecken geschlafen, auf einem Heuboden, wenn’s hoch kam, bis hierher, wo sie mir auch schon wieder auf den Hacken sind, daß ich wohl nächstens das Quartier werde wechseln müssen, obgleich Peter soweit ein ehrlicher Kerl ist und so leicht keinen von der Partei verräth. Siehst Du, Brüderchen, das nennt man in der Patsche sitzen! Weiß nicht, in welcher Du sitzest; schlimm wird’s just nicht sein, wie ich Dich kenne. Aber, schlimm oder nicht, Du bist besser dran als ich. Denn Du hast Geld und hast ein Billet nach Amerika.“

„Da hast Du es!“ sagte ich.

Ich hatte das Papier aus meiner Brieftasche genommen und drückte es ihm in die Hand – „Und da hast Du Geld – hier und hier und hier! Du siehst, ich behalte nur den einen Schein für mich, und würd’ Dir auch den geben, wenn – willst Du ihn haben?“

„Gar nichts will ich,“ sagte August, „bist Du betrunken?“

Er war es bis zu diesem Augenblicke gewesen; ich hatte es wohl aus seinem Schwanken und an der schweren Zunge gehört, mit der er mir die konfuse Geschichte seiner Mission nach Berlin und seiner Flucht nach Hamburg erzählte. Jetzt war der Rausch mit einem Male verflogen. Er stand fest auf den Füßen und blickte mich, wie ich im fahlen Licht des Mondes wohl bemerken konnte, mit prüfenden Augen an.

„Ich bin nicht betrunken,“ sagte ich; „aber Du brauchst es notwendiger, als ich. Nimm, und mach’, daß Du an Bord kommst. Es ist die höchste Zeit.“

„Und Du? kannst Du denn noch einen Platz bezahlen?“

„Nein, ich bleibe hier. Es war das nur so ein Einfall. Ich habe drüben nichts zu suchen. Du mußt fort. Und ich geb’s Dir von Herzen gern. Nimm, nimm!“

Ich drückte ihm nun noch die Scheine in die Hand; er zögerte, sie einzustecken.

„Das habe ich nicht um Dich verdient,“ murmelte er.

„Du hast Dich ja schon meiner annehmen wollen, – nach des Vaters Tode – erinnerst Du Dich nicht? und mir eine Zuflucht bei Dir angeboten. Wollte ich hätt’s angenommen und nicht zu erleben brauchen, was ich jetzt erlebt habe. Komm! komm! oder es ist zu spät!“

„Wenn Du wenigstens von der Partei wärest,“ sagte er durch die Zähne.

„Und bin ich’s nicht?“ erwiderte ich in athemloser Hast, „von der Partei der Armen und Elenden, so gut wie Du? Die uns zu Brüdern machen würde, wenn wir es nicht schon wären? Bei dem Andenken an unseren Vater beschwöre ich Dich, thu’ mir den Willen! Ich habe keine ruhige Stunde im Leben wieder, wenn Du es nicht thust!“

Ich weiß nicht, wie es gekommen war, aber wir hatten uns auf einen Haufen Bretter gesetzt, der in der Gasse in einem wüsten Winkel lag, ein paar Schritte vor dem Ausgang der Gasse auf den Hafenquai. Der Mond schien hell in den Winkel, und in dem Licht des Mondes betrachtete August das Papier, das er noch in den Händen hielt.

„Ist denn das ein richtiges Passagierbillet?“ fragte er.

Es war in der That nur ein Blatt Papier, auf welchem in des Kapitäns Karl Haltermann steifer Hand geschrieben stand, daß er den Inhaber dieses für so und so viel nach Rio in seinem Barkschiffe „Cebe“ mitnehmen wolle – Verköstigung inklusive – und daß Inhaber die Summe bezahlt habe.

Ich erklärte das Alles, und wie gut es sich treffe, daß es ein Segelschiff sei und der Kapitän keine Legitimation verlange, die ich meinerseits auch nicht habe. Und weiter, wie Fritz Brinkmann, den August ja so gut und besser noch kannte, wie ich, mich habe an Bord schaffen wollen, und wie ich von dem Fritz auf so unglückliche Weise fortgekommen sei. Zu dieser Auseinandersetzung hatte ich nur wenige Minuten gebraucht, indem ich mich auf das durchaus Nothwendige beschränkte. Ich konnte die Zeit von der Uhr lesen: es war in fünf Minuten ein Uhr.

„Nur noch eine Stunde,“ rief ich aufspringend.

Er erhob sich langsamer.

„Es wird nichts helfen,“ sagte er; „wir kommen – oder ich komme nicht an Bord ohne Fritz. Sie halten scharf Wache am Hafen. Und wenn nicht wenigstens Einer dabei ist, der selbst unverdächtig, den Anderen legitimiren kann, geht es nicht.“

„Versuchen müssen wir’s,“ sagte ich; „auf alle Fälle.“

„Nun denn: auf alle Fälle,“ sagte er.

Er hatte schon vorher den Rock über dem Billete, das er mit dem Gelde in eine schmutzige Brieftasche gesteckt, zugeknöpft. Bei den letzten Worten hatte er in eine Seitentasche gegriffen und Etwas hervorgezogen, das er mir hinhielt. Es war ein langes Dolchmesser.

„Hast Du auch so was?“ sagte er mit finsterem Lächeln, das Messer halb aus der Scheide ziehend.

„Nein,“ sagte ich, „wozu?“

„Eben auf alle Fälle!“ erwiderte er, das Messer wieder in die Tasche gleiten lassend.

Ich weiß nicht, was ich zu einer andern Zeit, in anderer Stimmung dabei empfunden haben würde. Jetzt sah ich nichts als einen wilden Eber, den die Hunde verbellt haben und der seine Hauer wetzt. Und wahrlich, das Bild mußte mir wohl kommen, als im Scheine des Mondes das Messer in der Hand dieses finsteren, breitschulterig-stämmigen Mannes blinkte, dem ein stachliger schwarzer Bart bis beinahe in die funkelnden Augen starrte. Ich hatte immer einen tiefen Respekt vor seiner Alles wagenden Kühnheit und seiner schier übernatürlichen physischen Kraft gehabt, und die knabenhafte Bewunderung solcher Eigenschaften war dem Jüngling noch unverloren. Er wird’s schon durchwettern, sprach ich bei mir, besser, als Du’s irgend gekonnt hättest. Und so gebührt ihm die Fahrt ins Land der Freiheit und nicht Dir.

Wir waren eben aus unserem Winkel herausgetreten, als ein eiliger Schritt das Gäßchen herabkam.

„Es ist nur Einer,“ sagte August ruhig, mit der Hand in die Tasche fassend, wo das Messer stak. Ich reckte meine waffenlosen Arme – gutwillig gab ich mich nicht, das stand bei mir fest.

Da war der Eilige schon bei mir.

„Hollah! Lothar, bist Du’s?“

„Fritz!“

„Dammi! das war zur rechten Zeit. Ich lauf’ schon seit einer Stunde Gass’ auf, Gass’ ab. Wo zum Teufel hast Du denn gesteckt? Wer ist das?“

„Ein alter Freund, Fritz: der August!“

„Dammi! welcher Satan führt denn Dich hierher?“

„Er geht statt meiner mit Dir, Fritz.“

„Dammi! Warum?“

„Das kann Dir gleich sein und Deinem Kapitän auch. Mach nur, daß wir fortkommen!“

Fritz hatte als Junge stets Alles gethan, was ich gewollt, und an jenem Herbsttage, als wir auf dem wackligen Boot jene unsinnige Probefahrt machten, sein Leben für ein Gelüst von mir in die Schanze geschlagen. Es bedurfte auch diesmal nur weniger Worte, den Gutmüthigen unter meine Autorität zu beugen. Wenn ich darauf bestehe, nun, er hätte mich dammi gern mitgehabt, aber der August sei ihm auch recht, und der Kapitän wolle nur sein Geld. Das habe er, und einen tüchtigen Schlosser an Bord, das sei auch nicht bitter auf einer Fahrt von sechzehn Wochen – bi Gott! Das Boot liege schon seit einer Stunde da gerade vor uns. Aber ich solle nun zurückbleiben. Einen könne er schon herausreden, im Fall wir angehalten würden: zwei – dammi! das gehe über den Flaggenstock.

„Gut denn! so geht Ihr Beide. Leb’ wohl, August! leb’ wohl, Fritz!“

Ich hatte August umarmt und Fritz die große harte Hand gedrückt; zu langem Abschied war nicht die Zeit. Ich begleitete sie ein paar Schritte, bis zum Ausgang des Gäßchens; da blieb ich im Schatten der Häuser stehen. Sie huschten über den mondbeschienenen Quai schräg weg nach der Stelle, wo unten an der Treppe, deren oberes Geländer ich noch eben sehen konnte, das Boot lag, und verschwanden hinter der Brüstung. Würden sie unbehelligt fortkommen? ich stand da, spähend, mit hochklopfendem Herzen. Eine Militärpatrouille kam den Quai herauf gleichmäßig [420] hallenden Schrittes: ein Officier auf der Ronde mit seinen Leuten. Sie konnten eben so wohl in mein Gäßchen biegen; mochten sie den Vagabunden mit zur Wache nehmen! Ich hatte nur Aug’ und Ohr für meinen Flüchtling.

Die Patrouille war vorüber, Alles war wieder still. Da der dumpfe, mir so wohl bekannte Ton, wenn die Riemen eines Bootes gegen die Pricken drücken. Und noch ein paar bange Minuten, dann gleitet über die offene Stelle des Hafens, welche ich gerade von meinem Standpunkt überblicken kann, zwischen den großen Schiffen ein Boot. Ich sehe es deutlich in dem hellen Mondschein, und daß Zwei die Riemen führen, während ein Dritter am Ruder sitzt. Es gleitet pfeilschnell dahin und ist im nächsten Moment hinter dem dunkeln Schiffskörper rechts verschwunden. Die „Cebe“ liegt weiter draußen; aber einmal in dem Außenhafen, sind sie vor jeder Verfolgung sicher. Gott sei Dank!

Und dann saß in dem Gäßchen, in dem Winkel auf dem Bretterhaufen, auf welchen der Mond schien, ein armer Junge, den Kopf in die Hand gestützt. Er hatte gethan, wozu ihn sein Herz getrieben, und er bereute es nicht. Aber, als jetzt eine benachbarte Thurmuhr zwei schlug und von den andern Thürmen es weiter hallte in der großen fremden Stadt, die ihm nach dem, was er hier durchlebt, als ein schlingendes Ungeheuer erscheinen mußte, und er nun im Geist die Ankerketten des Schiffes rasseln hörte, das einen Geretteten in das Land der Freiheit trug – es wird wohl Keiner so grausam sein, den armen Jungen zu verachten, wenn er da das Gesicht in die Hände drückte und bitterlich weinte.

(Fortsetzung folgt.)

Vom Jubelfest der Berliner Dienstmannschaft.

Zur Erinnerung an die Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Dienstmanns-Institute.


 „Ne, ne, der Nante is nich dumm,
 Nachjrade kriegt er Bildung,
 Er dient mit Fleiß det Publikum. –
 Des sieht man an die Schildung.“
     „Eckensteher Nante“ von Friedrich Beckmann.

Eine interessante Erinnerung taucht mir jedesmal auf, wenn ich über den Dönhoffsplatz von Berlin gehe und in der Nähe der gewaltigen Erzsäule, welche die dankbare Nachwelt dem großen Bürger Stein gesetzt hat, mich umblicke; ich muß dann eines längst verstorbenen Mannes gedenken, dessen Thätigkeit recht bedeutungsvoll für das Wohl und Wehe einer Anzahl seiner Mitmenschen gewesen. Hier auf den Bänken lagern nämlich die sogenannten Sonnenbrüder, jene Bummler und Tagediebe, in denen wir die alten Eckensteher, wie sie dereinst Friedrich Beckmann so gemüthlich und urkomisch geschildert und wie sie uns Eduard Jakobson im „Lachenden Berlin“ jetzt wieder vor Augen führt, wenigstens einigermaßen lebenstreu vor uns haben. Vergleichen wir nun aber mit dem Eckensteher Nante seine Nachfolger, die Dienstmänner von Berlin, so finden wir wohl ernste Veranlassung dazu, uns den zu vergegenwärtigen, der in humanem Streben und mit genialem Weitblick jene Einrichtung, welche man als die Dienstmanns-Institute bezeichnet, ins Leben gerufen und diesen Leuten also dazu verholfen hat, daß man sie nicht mehr bloß als gemächliche Bummler ansehen darf, sondern als gewissenhafte und treue, geschickte und kenntnißreiche Arbeiter schätzen muß.

Nur zu oft im Leben bringt das Columbus-Ei einer guten, hochwichtigen Idee dem, der es zuerst thatsächlich fest auf die Spitze gestellt, leider nur geringen oder gar keinen Nutzen; so auch hier. Der Kaufmann Eduard Berger in Bromberg, dessen Portrait in dem Medaillon unserer Anfangsvignette unter dem Dienstmann aus der guten alten Zeit wiedergegeben ist, war ein reichbegabter und strebsamer Mensch; trotzdem ließ ihn einerseits ein ruheloses und unstätes Wesen und andrerseits ein unheilvolles Geschick keineswegs zum Genuß der Früchte seines Strebens gelangen. Den höchsten Lohn, welcher ihm zu Theil geworden, fand er in der Ehre, daß die von ihm ins Leben gerufenen Dienstmanns-Institute sich rasch von Ort zu Ort verbreiteten und daß städtische Behörden von weit und breit her sich an ihn wandten mit der Bitte um Belehrung über die Grundzüge dieser für die dienenden Leute so wohlthätigen, wie für das große Publikum vortheilhaften Einrichtung. Im Uebrigen fand er keine thatsächliche Belohnung, sondern er ging elend zu Grunde und starb im Schuldgefängnisse.

Nach meiner Ueberzeugung führte Berger zur Errichtung dieser Institute viel weniger das Streben nach Erwerb und Reichthum, als der leider nur nicht genug geklärte und solid begründete Drang, seinen Mitmenschen zu nützen. Ed. Berger hatte beim Magistrat von Bromberg nach und nach die Pläne für siebzehn verschiedene Unternehmungen eingereicht, darunter: Vertretung der Bürger beim Feuerlöschen durch Dienstmänner (Feuerwehr gab’s damals noch nicht), Einrichtung von Stadttelegraphen, Vermittelung von Vermiethung aller dienenden Personen (Dienstboten-Vermiethungsbureaus waren ja auch noch nicht vorhanden) u. A. m.

Berger selbst gab seiner Schöpfung den Namen Gepäckträger-Institute. Die mit gleichmäßigen Abzeichen versehenen Angehörigen derselben hießen jedoch in Bromberg, wo das erste Gepäckträger-Institut begründet wurde, dann auch in Posen, Schneidemühl, Danzig, Königsberg u. a. O. Bergersleute; erst seitdem solche Einrichtungen auch in Berlin ins Leben getreten, wurden sie Dienstmänner genannt.

Die Organisation der Dienstmanns-Institute wurde von folgenden Grundsätzen aus festgestellt. Jeder dieser Arbeiter muß eine durchaus zuverlässige Persönlichkeit sein; das Polizeipräsidium von Berlin ist gegenwärtig bei der Ertheilung der Berechtigung so streng, daß ein Führungszeugniß für die letzten zehn Jahre verlangt wird. Ferner muß jeder Dienstmann eine gewisse Summe, die sogenannte Kaution, niederlegen, mit welcher er für jeden von ihm etwa verursachten Schaden, durch Vernachlässigung, Verlieren, Veruntreuung etc. aufzukommen hat. In der Regel beträgt diese Summe 75 Mark, in der Gesellschaft der selbständigen Dienstmänner von Berlin aber für jedes Mitglied 1000 Mark. Jeder Dienstmann hat seine bestimmte Nummer, sein Dienstbuch mit einer Uebersicht aller Verrichtungen, die er übernehmen muß, mit Angabe der Preise für seine Leistungen, einem sogenannten Wegmesser, und Alles dies ist durch eine ausführliche „Polizeiverordnung betreffend den Betrieb des Dienstmanns- Gewerbes“ geregelt; außerdem hat jeder seine bestimmten Abzeichen, insbesondere ein Schild mit seiner Nummer an der Mütze zu tragen, und schließlich muß er gedruckte Marken mit Nummer und Preis bei sich führen.

Wenngleich alle diese Vorschriften im Laufe der Zeit allerdings auch immer weiter ausgebaut und vervollkommnet wurden, so waren sie im Wesentlichen doch bereits sämmtlich von Berger aufgestellt: Zu den wohlthätigsten Einrichtungen gehören auch die damit verbundenen verschiedenen Kassen, wie Kranken-, Altersversorgungs- und Wittwenkasse. Die Grundzüge der Dienstmanns-Institute beruhten also von vornherein auf den mehr [421] oder minder wohlthätigen socialen Ideen, deren Erörterung und Verwirklichung unsere Gegenwart so mächtig bewegt. Die staatliche Oberaufsicht führt die Polizeibehörde, und gegenwärtig steht die Dienstmannschaft von Berlin unter dem Polizeihauptmann Maurer. Die Gesammtzahl aller Dienstmänner hier beträgt etwa 1000 Köpfe, und zwar vertheilt in mehreren sogenannten Instituten, deren zwei älteste bereits im Jahre 1861 begründet worden, während das letzte, die „Genossenschaft selbständiger Dienstmänner“, seit 1877 besteht. Bekanntlich haben sich die Dienstmanns-Institute über die ganze civilisirte Welt verbreitet – und dieser Erfolg seiner Idee würde den Begründer, falls er ihn eben erlebt hätte, sicherlich hoch beglückt haben.

Berliner Dienstmann.

Das Jubelfest fand in Kellers Hofjäger, einem der in den weitesten Volkskreisen sehr beliebten Vergnügungslokale der Hasenhaide von Berlin, statt und war von etwa 500 Personen besucht. Als Volksfest im vollen Sinne des Worts bot es: „Von Nachmittags 4 Uhr ab großes Gartenkoncert, Familien können Kaffee kochen, Tanz ohne Pause nach der wechselnden Musik einer bürgerlichen und einer Soldatenkapelle, Vorträge des Gesangvereins ‚Modestia‘, Festrede und in der Kaffeepause zwischen 12 und 1 Uhr noch einen Festprolog.“ Zu Nante’s Zeit hieß es:

„Un wenn ich denn nach Hause konnn’,
Thut mene Olle brummen,
Da reich ich ihr die Pulle hin,
Sogleich dhut se verstummen.“

Heut zu Tage aber ist es anders; da gehen in Berlin mit dem Mann zusammen gemüthlich Weib und Kind in die Kneipe, und zwar eben so wohl zum Münchener und Nürnberger Bier, als dorthin, wo die Familien Kaffee kochen.

Da der eingeladene Festredner, Abgeordneter Albert Traeger, dnrch dringende Abhaltung im letzten Augenblick verhindert worden, so trat ich ein, erinnerte die Versammelten an den verdienten Begründer ihrer Institute, hob den Unterschied hervor zwischen ihrer Thätigkeit und der ihrer Vorgänger, der Eckensteher, schilderte die hohe Bedeutung und den Werth der Arbeit für das Menschenleben und schloß mit einem Hoch auf Alle, die tüchtig arbeiten können und wollen.

Zum Schluß muß ich es mir gestatten, noch auf eine absonderliche Seite der Dienstmannschaft hinzuweisen – was sich der Volksmund nämlich von ihr erzählt. So gar manche gesunkene, verkommene Persönlichkeit hat hier den letzten Halt gefunden, und nachdem sie aus Glanz und Ehren, Wohlleben und Vergnügen durch eigene Schuld oder Schicksalstücke hinausgestoßen worden, konnte sie sich noch retten in den Hafen, der für Tausende allein noch im Leben Schutz und Heil gewähren kann: die Arbeit. Da, flüstert uns unser Gewährsmann zu, der große, stattliche Mensch an jener Straßenecke ist ein früherer Gymnasial-Oberlehrer; der dort auf dem Platz war einst Kavallerie-Officier, ein dritter denkt mit Wehmuth daran, daß er auf einem großen Rittergut das Licht der Welt erblickt hat etc. Das sind so genannte gescheiterte Existenzen, die dem Blick des Eingeweihten hier – wie in den Reihen der Droschkenkutscher, Straßenkehrer u. A. – nur zu zahlreich entgegentreten. Kaum erfreulicher ist der Gedanke an die jungen Männer, welche, um zeitweiser Noth und der Verzweiflung zu widerstehen, hier vorübergehend Zuflucht suchen, gleichsam untertauchen in den Wogen des Lebens, sich verbergen mit ihrem Leid und Ungemach, bis es ihnen gelingt, wieder emporzukommen und einen festen Halt im bürgerlichen Leben zu gewinnen. So haben wir hier und da einen Studenten oder Kandidaten, einen Referendar, zahlreiche junge Kaufleute oder auch Handwerker u. A. im Dienstmannskittel vor uns, die darin den einzigen Weg finden, um ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Dr. Karl Ruß.     




Verlorene Briefe.

000000 Doch nun, lieber Neffe, komme ich zu dem eigentlichen Gegenstande meines heutigen Briefes.

Gewiß erinnerst Du Dich noch, daß, als Du uns vor drei Jahren besuchtest, Du Dich öfters mit meinem braven alten Nachbarn und Freunde Werner unterhalten hast, wenn dieser nach vollbrachtem Tagewerk Abends auf ein Plauderstündchen zu uns herüber kam.

Du äußertest damals wiederholt Deine Freude darüber, in dem alten Werner ein Prachtexemplar unseres westfälischen Bauernstandes mit allen seinen Licht- und Schattenseiten kennen gelernt zu haben.

Kurz nach Deiner Abreise fanden in unserer Gegend die Herbstmanöver statt. Das ganze große Dorf war mit Einquartierung überfüllt. Für den Frieden des Werner’schen Hauses sollte diese Einquartierung verhängnißvoll werden. Ein schmucker Unterofficier verliebt sich in Werner’s einziges Kind Marie. Die Neigung war gegenseitig. Paul Kunze, so hieß der unternehmende Kriegsmann, war nach seinem bürgerlichen Berufe ein tüchtiger Schlosser, der in wenigen Wochen – nach Ablauf seiner Militärdienstzeit – eine gut bezahlte Stelle in einer größeren Maschinenbauanstalt der Hauptstadt übernehmen sollte. Dann, so hofften die jungen Leute, würde der Hochzeit nichts weiter im Wege stehen. Doch wie so oft im Leben erwiesen sich auch diese Hoffnungen als trügerisch.

Vater Werner wollte durchaus nichts davon wissen, daß seine Marie einen städtischen Handwerker heirathen sollte.

Um es kurz zu machen – es wiederholte sich wieder einmal die alte Geschichte von dem hartherzigen Vater und dem standhaften Liebespaare. Nach langem vergeblichen Ringen, nach vielen kummervollen Tagen, fruchtlosen Thränen, Bitten und Vorstellungen von beiden Seiten zerriß endlich das Band zwischen Vater und Tochter. Marie heirathete gegen den Willen des Vaters den Mann ihrer Wahl und zog mit ihm in die entfernte Stadt. Ein Verkehr zwischen Vater und Tochter fand nicht statt. Der alte Werner ließ die Briefe seiner Kinder, in deren letztem Marie ihm die erfreuliche wirthschaftliche Lage der jungen Leute und den Erwerb eines eigenen Häuschens in der Vorstadt mittheilte, unbeantwortet.

So vergingen mehrere Jahre. Da plötzlich, vor etwa vier Wochen, wurde der alte Werner von einem Schlaganfalle betroffen. Der Arzt erklärte, es sei bei einer leicht möglichen Wiederholung des Anfalles Lebensgefahr vorhanden. Ich bat den Kranken, seiner Tochter schreiben zu dürfen und sie zu seiner Pflege kommen zu lassen. Ich stieß jedoch auf den entschiedensten Widerspruch. Wie sehr freute ich mich dagegen, als mir der alte Werner, der inzwischen auch geistlichen Zuspruch empfangen hatte, einige Tage später mittheilte, er selber habe an seine Tochter geschrieben und sie zu sich eingeladen.

[422] Groß war die Ungeduld und der Aerger des Alten, als selbst nach Verlauf einer Woche noch keine Antwort auf den Brief eingetroffen war. Auf mein Zureden und meine bestimmte Erklärung, der Brief könne unmöglich in die Hände der Adressatin gelangt sein, entschloß Vater Werner sich endlich, nochmals zu schreiben. Um völlig sicher zu gehen, wurde der Brief unter „Einschreiben“ abgesandt. Unbegreiflicherweise ist auch auf diesen vor länger als acht Tagen abgesandten Brief eine Antwort nicht erfolgt. Der alte Werner ist vor Kummer und Zorn außer sich. Heute nun hat er vor Notar und Zeugen ein Testameut errichtet, durch das seine Tochter auf den Pflichttheil gesetzt wird und das ganze nicht unbedeutende Vermögen entfernten Verwandten zufällt.

Vermag ich nun auch nicht, mir das Schweigen der Tochter zu erklären, so bin ich doch gewiß, daß keine Absicht zu Grunde liegt. Als alter Freund der Familie habe ich den dringenden Wunsch, den Sachverhalt schleunigst aufzuklären, um dadurch hoffentlich nicht nur die junge Frau vor einem höchst empfindlichen Vermögensnachtheil zu bewahren, sondern auch zugleich Kummer und Zorn von den letzten Lebenstagen meines alten getreuen Nachbars zu verscheuchen.

Zu diesem Zwecke nun, mein lieber Neffe, wende ich mich an Dich, da Du ja Deiner Stellung als Postbeamter am ehesten wirst beurtheilen können, was hier zu thun ist. In dem letzten Briefe, den Frau Kunze vor cirka zweieinhalb Jahren ihrem Vater geschrieben hat, theilt sie mit, daß sie ihr eigenes Haus, Auguststraße 17, bewohnten. Von einem Bekannten, der vor einigen Monaten dort war, habe ich gehört, daß die Familie Kunze ihr inzwischen durch einen Anbau vergrößertes Besitzthum auch jetzt noch inne hat. Ich bitte Dich, mir sobald als möglich mitzutheilen, ob es Dir gelungen ist, die Sache aufzuklären. Inzwischen . . . Dein Onkel 


 Liebster Onkel!

Dein Brief traf gestern zu gelegener Zeit ein. Ich war am Nachmittage dienstfrei und dadurch in der Lage, mich sogleich der Angelegenheit widmen zu können. In Auguststraße 17, wohin ich mich zunächst begab, war ein Schlosser Paul Kunze gänzlich unbekannt. Mit Hilfe des Adreßbuchs ermittelte ich jedoch, daß der Genannte in derselben Straße zwar, aber in Nr. 38 wohnhaft sei. Ich traf demnächst nicht den Mann, wohl aber Frau Marie geborene Werner zu Haus. Ich theilte ihr den sie interessirenden Abschnitt Deines Briefes mit. Frau Kunze war vor Ueberraschung und Aufregung fast außer sich. Die beiden Briefe des alten Werner sind nicht in die Hände seiner Tochter gelangt. Es ist dieses völlig begreiflich, da die Adresse unrichtig war. Die Briefe werden als unbestellbar an den Aufgabeort zurückgeschickt sein. Frau Kunze sagte mir, daß vor zwei Jahren aus Anlaß zahlreicher Neubauten die Häuser neu numerirt seien, und daß ihr Haus damals in Stelle von Nr. 17 Nr. 38 erhalten habe. Da Frau Kunze noch mit dem Abendzuge nach dort abreisen wollte, so wird sie vermuthlich noch vor diesen Zeilen dort eingetroffen sein.

Was wegen Wiedererlangung der beiden Briefe des alten Werner zu geschehen hat, darüber ist Frau Kunze von mir genau unterrichtet. Dein Neffe. 


Die junge Frau traf noch rechtzeitig am Krankenlager ihres Vaters ein. Eine völlige Aussöhnung fand statt. Das Testament des alten Werner wurde zurückgenommen. Acht Tage später wurde Vater Werner zur ewigen Ruhe bestattet. Die durch Vermittelung der Ausgabepostanstalt zurückerlangten beiden Briefe, die „An Frau Marie Kunze in B. Auguststraße 17“ adressirt waren, trugen auf der Rückseite den Vermerk: „In der angegebenen Wohnung gänzlich unbekannt, daher zurück.“ Bei der Aufgabe-Postanstalt, wohin die Briefe seiner Zeit zurückgelangt waren, konnte der Absender aus Handschrift oder Siegel nicht erkannt werden. Die Briefe wurden daher an den bei der Ober-Postdirektion des Bezirks bestehenden „Ausschuß zur Eröffnung der unbestellbaren Briefe“ eingesandt.

Nun hatte aber der alte Werner die Briefe nur mit „Dein Vater“ unterzeichnet.

Der Ausschuß, der sich lediglich auf die Prüfung der Unterschriften beschränkt, konnte also nach Wiederverschluß der Briefe nur die für die Ermittelung des Absenders in den meisten Fällen und so auch hier ungenügende Angabe niederschreiben.

Die Aufgabe-Postanstalt vermochte nun nicht, hiernach den Empfänger zu ermitteln. Nachdem auch die vorschriftsmäßige Nachfrage bei der Ortspolizei-Behörde erfolglos geblieben war, wurden daher die Briefe als endgültig unanbringlich der Oberpostdirektion wieder eingesandt. Hier würden sie, wäre nicht der vorstehend erwähnte Zwischenfall eingetreten, nach vierteljährlicher Lagerfrist und – bezüglich des Einschreibbriefes – Erlaß einer meist wenig beachteten amtlichen Bekanntmachung im Amtsblatt, mit vielen andern Schicksalsgenossen dem Flammentode geopfert worden sein.


Im Jahre 1884 ist im Deutschen Reichspost-Gebiete (zu welchem bekanntlich Bayern und Württemberg nicht gehören.) eine Viertelmillion unanbringlicher Briefe und Postkarten durch Feuer vernichtet worden. Selbst die Phantasie eines Dante müßte erlahmen, wollte sie versuchen, in Worte zu fassen, welche Wirkungen – von der Qual vergeblichen Wartens, der Bitterkeit der Enttäuschung, dem Aerger über vermeintliche Vernachlässigung, den oft bedeutenden Vermögensnachtheilen bis zu den kummervollen Nächten, den zahllosen Thränen und dem verzehrenden Gram so mancher Mutter oder Braut – mit der Vernichtung dieser Viertelmillion Briefe, die nie in die Hände der Empfänger gelangten, in der kurzen Frist eines Jahres verknüpft sind.


Die Zahl dieser unanbringlichen Sendungen steigt mit der Zunahme des Briefverkehrs von Jahr zu Jahr. (Wie erheblich diese Verkehrssteigerung ist, geht daraus hervor, daß, während 1871 die Reichspostanstalten 319 Millionen Briefe absandten, diese Zahl 1884 bereits auf 785 Millionen gestiegen war. Verbrannt wurden 1871 – 171000 Briefe.)

Thatsächlich vergegenwärtigen sich wohl nur sehr wenige Briefschreiber die Möglichkeit, daß der Brief, den sie gerade unter der Feder haben, aus irgend einem Grunde (z. B. der Empfänger ist verstorben, abgereist ohne Angabe einer Adresse, in der angegebenen Wohnung nicht aufzufinden, hat die Annahme verweigert, in X. wohnen mehrere Adressaten gleichen Namens, welcher von diesen ist gemeint? etc.) unbestellbar werden könnte, und unterlassen es daher, den Brief oder noch besser die Rückseite seines Umschlages mit ihrem vollen Namen nebst Wohnungsangabe zu versehen.

So wird denn, wohl dem Empfänger, nicht aber dritten Personen verständlich, der Brief mit: Deine Tante Anna, Freundin Auguste, Dein Onkel Karl, treuer Schwiegerpapa etc. unterzeichnet.

Diese ungenügende Angabe des Absenders verhindert die sonst sichere Rückkehr der sich etwa als unbestellbar erweisenden Briefe in die Hände ihrer respektiven Verfasser und zieht, wie so oft im Leben, so auch hier, eine anscheinend geringfügige Unterlassung häufig die schmerzlichsten Folgen nach sich.

So einfach und selbstverständlich bei der geringsten Ueberlegung der hier eben geschilderte Vorgang und Zusammenhang erscheint, so zeigt doch die Erfahrung, daß das Bewußtsein desselben noch lange nicht genügend in das Verkehrsleben eingedrungen ist, Beweis eben jenes alljährliche Brandopfer von einer Viertelmillion unanbringlicher Briefe.

Die Erfahrung lehrt aber auch ferner, wie schwer es ist, auf die breite Masse des Volkes, aus welcher die weit überwiegende Mehrzahl der in Flammen aufgehenden Briefe stammt, belehrend einzuwirken.

Hier giebt es, da der Einfluß einer auch noch so verbreiteten Zeitschrift naturgemäß immerhin ein enger, begrenzter und auch flüchtiger ist, wohl nur ein zuverlässiges, wenngleich langsam wirkendes Mittel, die Belehrung der Schuljugend.

Daß an entscheidender Stelle diese für die Volkswohlfahrt gewiß nicht ganz unwichtige Angelegenheit in Erwägung genommen und daß demnächst die Schulbehörden mit entsprechendem Hinweis versehen werden möchten, dies ist der Zweck und hoffentlich auch die Rechtfertigung dieser Zeilen.

Eisleben. W. P. 


[423]

Ein Fest des deutschen Buchhandels in Leipzig.

Am Sonntage Cantate, dem 23. Mai d. J., bewegte sich ein Festzug durch die Straßen Leipzigs. Trotz der sengenden Sonnenhitze marschirten die 4000 Theilnehmer freudig, mit sichtbarem Stolze inmitten der fahnengeschmückten Häuserreihen. Waren es doch zumeist Buchhändler oder Freunde des Buchhandels, die nach der Oststadt hinauszogen, um dort den Grundstein zu einem neuen deutschen Buchhändlerhause zu legen. Wer die Bedeutung des Buchhandels „in seiner Ehrenarbeit für des Vaterlandes Gesittung, Wissenschaft und Kunst“ zu würdigen weiß, dem wird auch die Bedeutung dieser Feier nicht entgangen sein, und er wird in ihr ein sichtbares Zeichen der erfreulichen Entwickelung eines der edelsten Zweige unserer Nationalindustrie erblicken.

Auf dem weiten Augustusplatze, welchen der Zug durchschritt, herrschte gerade das Meßgewühl, standen die bunten Buden der Verkäufer, ein Stück Vergangenheit, welches aus früheren Jahrhunderten sich noch in die Zeit des Dampfes hinübergerettet, und zugleich die sinnreichste Dekoration für den imposanten Zug. Unwillkürlich mußte man bei diesem Anblicke daran denken, daß in diesen Messen einst die Wiege des deutschen Buchhandels stand, und mit aufrichtiger Freude die Thatsache wahrnehmen, daß, während das Meßwesen früherer Zeit altersschwach geworden ist und einem neuen mächtigeren Verkehre weichen muß, der deutsche Buchhandel gleichfalls mit der Zeit fortzuschreiten wußte, mit Jahrzehnten und Jahrhunderten erstarkte und heute so lebenskräftig auftritt, wie noch niemals in der Kulturgeschichte unseres Volkes.

Das neue deutsche Buchhändlerhaus in Leipzig.
Nach dem preisgekrönten Entwurf der Architekten Kayser und von Großheim.

Langsam nur brach sich die „schwarze Kunst“ Gutenberg’s am Ende des 15. Jahrhunderts Bahn. Der Handel mit Büchern, eine seltsame Neuerung, mußte sich an den gewöhnlichen Weg des übrigen Handels und Wandels halten und an dessen Stapelorten sich ein bescheidenes Plätzchen zu erringen suchen. Und so kamen denn die Leute, welche Bücher druckten oder drucken ließen, mit ihrer gelehrten „Waare“ zur Messe wie die anderen Kaufleute. Hier tauschten sie ihre „Neuigkeiten“, neu verlegte Werke, mit ihren Standesgenossen aus und zogen reich beladen mit den Schätzen der Weisheit nach allen Richtungen der Windrose in ihre Heimath, um dort als vermittelnde Kräfte in der Ausbreitung der Aufklärung zu wirken.

Anfangs ließ man sie gewähren, und so zogen sie alljährlich mit Vorliebe nach der alten Krönungsstadt Frankfurt am Main, wo der Mittelpunkt geistiger Regsamkeit und nationalen Lebens sich befand. Aber die Zeit der Prüfung kam schneller, als man es erwartete. Die „schwarze Kunst“ erschien gefährlich und mußte beobachtet werden. Man setzte in Frankfurt am Main eine kaiserliche Bücherkommission ein, welche den Auftrag hatte, alle Buchläden in Frankfurt zu untersuchen, verbotene Bücher wegzunehmen und von jedem neuen Werke sieben Exemplare zu reklamiren – eine lästige Polizei, gegen welche wiederholte Beschwerden nichts fruchteten.

Da vernahmen die nach Frankfurt ziehenden Buchhändler, daß in Kursachsen ein milderer Geist herrsche, daß auf den Leipziger Messen dem Buchhandel größere Freiheiten eingeräumt würden, und sie beschlossen, Frankfurt zu meiden und Leipzig zu besuchen. Allmählich gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts vollzog sich diese Wandlung, die für den deutschen Buchhandel dort von großem Nutzen begleitet war, denn die Leipziger nahmen die Vortheile dieser für sie so erfreulichen Wandlung wahr und setzten Alles daran, um für den Buchhandel in ihrer Stadt einen wichtigen Centralpunkt zu schaffen.

Zu diesem Zwecke rief der Buchhändler Philipp Erasmus Reich im Jahre 1765 den ersten deutschen Buchhändler-Verein ins Leben, dessen Statuten von 59 Buchhandlungen unterzeichnet wurden. Der Verein sollte zur Kräftigung des deutschen Buchhandels beitragen und war namentlich gegen den Nachdruck gerichtet, welcher in jener Zeit, wo nur in einem einzigen Staate, in Sachsen, gesetzlicher Schutz dagegen bestand, den Büchermarkt unsicher machte.

Aus der Schöpfung Reich’s ging nach den Stürmen der napoleonischen Kriege der Börsenverein der deutschen Buchhändler hervor, welcher im Jahre 1825 in Leipzig begründet wurde. Man darf ohne Zweifel behaupten, daß durch diesen Verein der deutsche Buchhandel ungemein gehoben wurde und jene feste Organisation erhielt, welche seine Leistungsfähigkeit zu dem erstaunlichen Umfang gesteigert hat, welchen er heut zu Tage zum allgemeinen Nutzen entwickeln kann. Die Betheiligung an dem Börsenverein wuchs so schnell, daß man schon in dem nächsten Jahrzehnt an den Bau eines eigenen Heims denken konnte, und in der That wurde am 26. April 1836 die deutsche Buchhändlerbörse feierlich eingeweiht. Zu jenem Jahre zählte der Verein schon 570 Mitglieder, „welche“, wie der damalige Vorsteher des Vereins hervorhob, „nicht nur über Deutschland, sondern von der Themse bis zum Ursprung des Rheines, von der Seine bis zur Newa sich erstreckten.“

Aber mit der zunehmenden Bildung der Nation, mit dem gewaltigen Aufblühen der Kunst und Wissenschaft wuchs auch der Buchhandel an Macht und Größe; ja er beschränkte sich nicht mehr auf die Vermittlerrolle zwischen dem Schriftsteller und seinem Publikum, sondern er begann selbst Anstoß zu neuen litterarischen Schöpfungen zu geben und dadurch mächtig auf die weitesten Volkskreise zu wirken. Zahlreiche hervorragende Mitglieder des deutschen Buchhandels schufen Unternehmungen, welche die Vereinigung vieler wissenschaftlicher und künstlerischer Kräfte erforderten, riefen illustrirte Zeitungen ins Leben, gaben Konversationslexika heraus, stellten Volks- und Jugendbibliotheken zusammen oder wußten den Werth der Werke durch reichen Schmuck prachtvoller Kunstblätter zu erhöhen. Immer fühlbarer wurde der Einfluß des Buchhandels im nationalen Kulturleben, das Kapital, mit dem er arbeitete, immer größer, zu Millionen wurden endlich die Summen, mit welchen alljährlich auf der Leipziger Ostermesse die Buchhändler mit einander abrechneten.

[424] Die Zahl der Börsenvereinsmitglieder wuchs auf 1610 heran, und da wurde das alte Heim zu eng, zu unscheinbar; man beschloß, einen neuen Bau aufzuführen, und bewilligte zu diesem Zwecke die Summe von 900 000 Mark. Aus der Konkurrenz, die für den Plan des monumentalen Gebäudes ausgeschrieben wurde, gingen die Berliner Architekten Kayser und von Großheim als Sieger hervor, und nach ihren Entwürfen wird in der nächsten Zeit das neue deutsche Buchhändlerhaus auf dem Grund und Boden errichtet werden, welchen die Stadt Leipzig dem deutschen Buchhandel als Ehrengeschenk überlassen hat.

Unter solchen Auspicien, in der pietätvollen Erinnerung einer ruhmreichen Vergangenheit und in der frohen Zuversicht einer glücklichen Zukunft, wurde die Feier der Grundsteinlegung in herkömmlicher Weise abgehalten. Und wenn die Festfreude auch schnell verrauscht ist, lange noch werden in den Herzen der Theilnehmer als ernste Mahnung die Worte erklingen, welche den Schluß der Urkunde, die nunmehr in Leipzigs Boden ruht, bilden, die Worte, die auch als Weihe bei den ersten drei Hammerschlägen gesprochen wurden:

„Gott schütze das neugeeinte Reich, Gott schütze dieses blühende Land Sachsen und die gastliche Hauptstadt des deutschen Buchhandels, Er schirme diesen Bau, die Bauleute und die Bauherren, Er segne unseren Buchhandel in seiner Ehrenarbeit für des Vaterlandes Gesittung, Wissenschaft und Kunst.“ C. Siegfried.     


Blätter und Blüthen.

Das Fest der Rosenkönigin in Ungarn. (Mit Illustration S. 416.) Seit alter Zeit bestand in vielen Ortschaften Ungarns die Sitte, um die Pfingstzeit, wo die Rosen am herrlichsten blühen, eine Dorfschöne zur Rosenkönigin zu erwählen und sie im festlichen Zuge in dem Orte umherzuführen. Allmählich war diese Sitte während der Türkenherrschaft in Vergessenheit gerathen, und erst in neuester Zeit wurden Versuche gemacht, sie von Neuem zu beleben. Unter Anderem wußte der vor einem Jahre verstorbene ungarische Magnat Graf Guido Karácsonyi das Fest der Rosenkönigin in sinniger Weise mit einer Hochzeitsfeier zu verschmelzen. Er hat zu diesem Zwecke für die Einwohner seiner großen Besitzungen eine Stiftung von 20 000 Gulden gemacht, deren Zinsen alljährlich einer tugendhaften und armen Braut aus Vörösvár, Solmár und Szent-Iván als Heirathsgut zum Geschenke gemacht werden. Die Freude des Hochzeitstages soll nach seiner Bestimmung noch dadurch besonders erhöht werden, daß die glückliche Braut an demselben als Rosenkönigin gefeiert wird.

Eine Scene aus diesem seltenen Feste führt uns unsere Illustration vor.

Sonnig, heiter ist der Tag, ein echter Festtag! Alles ist fröhlich, übermüthig gestimmt! Wie stolz und stattlich sitzt der junge Brautführer auf seinem Rappen, der den alten Gutsherrn durch Scharren zu begrüßen scheint, wie munter schaut der Bräutigam drein, wie hoch heben sich die Spitzen seines schwarzen Schnurrbartes bei dem überlauten „Eljen“, das er seiner gütigen Herrschaft zuruft! Und wie freundlich lächeln uns die schonen Freundinnen der rosengekrönten Braut an, die neben ihrem Triumphwagen schreitend Rosen streuen. Sie haben ihre Gärtchen wohl ganz beraubt, um den Wagen ihrer Freundin so herrlich zu schmücken; sie selber haben sich nicht minder geschmückt, ihre schönste Tracht angelegt, und diese bunte Tracht ist so malerisch, daß uns daneben die modische der beiden eleganten Edeldamen nicht mehr in das Bild passen will, und wir wünschten, sie hätten sich, wie der alte Gutsherr, auch mit dem Nationalkostüm bekleidet. Und die Braut – sie senkt ihr liebliches Köpfchen, als sei sie beschämt durch die ihr erwiesene Ehre; sie träumt wohl von vergangenen Tagen und kommenden Freuden – sie lauscht der herzbewegenden Streichmusik der Zigeuner, die wirklich Zauber ausüben können durch ihre wunderbaren Melodien.

Unmittelbar nach der Trauung wird der jungen Frau das Heirathsgut ausgezahlt und ein Festgelage, welches gleichfalls aus der Stiftungskasse bestritten wird, beschließt die Feier des Tages. T. S.     

Die Erbgroßherzogin von Baden in Miesbacher Tracht. (Mit Portrait Seite 409.) Am 20. September des vorigen Jahres wurde auf dem Schlosse Hohenburg bei Lenggries (Oberbayern) eine Hochzeit gefeiert, welche in der ländlichen Bevölkerung eine besonders lebhafte Freude hervorrief. Die junge Braut war Hilda, die am 5. November 1864 geborene Tochter des Herzogs von Nassau, welche sich auf dem väterlichen Schlosse mit dem Erbgroßherzog Friedrich Wilhelm von Baden vermählte. Durch ihr heiteres liebenswürdiges Wesen hatte sich die junge Fürstin in den ländlichen Kreisen eine aufrichtige Liebe und Verehrung erworben, und die ländliche Jugend von Lenggries, Miesbach, Tölz erzählt es mit Stolz, daß die jetzige Erbgroßherzogin mit ihren Hofdamen noch vor Kurzem in dem kleidsamen Kostüm der Miesbacher und Tölzer Landmädchen sich froh an ihrem Sang und Tanz betheiligte. In Nr. 30 des Jahrgangs 1884 brachte die „Gartenlaube“ eine Abbildung der Miesbacher Tracht; wer jenes Bild vergleicht, wird in dem Kostüm der jungen Erbgroßherzogin leicht das Miesbacher Vorbild erkennen. * *     

Für die Reisezeit. Mit dem Wiederbeginn der eigentlichen Reisezeit hat die geschäftsführende Direktion des Vereins deutscher Eisenbahn-Verwaltungen eine neue Ausgabe des Verzeichnisses der im Jahrgang 1884 S. 440 der „Gartenlaube“ erwähnten kombinirbaren Rundreisebillette veranstaltet, welches nebst der zugehörigen in Farbendruck ausgeführten Uebersichtskarte zum Preise von 50 Pfennig durch die Eisenbahnstationen zu beziehen ist. Die kombinirbaren Rundreisebillette werden nunmehr das ganze Jahr hindurch ausgegeben; die Gültigkeit derselben ist bei einer Rundreise von mindestens 600 Kilometer auf 45 Tage, und wenn mindestens 2000 Kilometer benutzt werden, auf 60 Tage erweitert. Auch die Zahl der einzelnen Kouponstrecken ist auf 1349 vermehrt worden, von denen 896 auf das Deutsche Reich, 341 auf Oesterreich-Ungarn, der Rest auf die Niederlande, Luxemburg und Rumänien entfallen. Verschiedene Strecken am Rhein, an der Donau, am Bodensee etc. können nach Belieben mit der Bahn oder mit dem Dampfschiff befahren werden, auch ist für Gebirgstouren und Ausflüge zur See, so z. B. nach Helgoland, Föhr oder Sylt, durch Einschiebung entsprechender Koupons gesorgt, ebenso kann das Vereinsgebiet verlassen und wieder betreten werden, ohne daß es der Rückkehr über dieselbe Ausgangsstation bedarf. Es ist ferner in das Belieben des Reisenden gestellt, Koupons verschiedener Wagenklassen für bestimmte Strecken zu vereinigen, und werden für die erste Klasse gelbe, für die zweite grüne, für die dritte Klasse braune Koupons ausgegeben, die zu einem Hefte vereinigt sind. Kinder von 4 bis 10 Jahren zahlen die Hälfte des Preises für Erwachsene. Freigepäck wird nicht gewährt. ....d.     

Emil Rittershaus, der beliebte Sänger aus dem Wupperthal, bringt sich den zahlreichen Freunden seiner Muse von Neuem in willkommene Erinnerung. Nicht nur sind seine „Neuen Gedichte“ (Leipzig, Ernst Keil’s Nachfolger) in fünfter, vermehrter und verbesserter Auflage erschienen, ein schöner Erfolg in der heutigen, der lyrischen Muse allzusehr abgewendeten Zeit; auch eine neue Sammlung: „Das Buch der Leidenschaft“ (Oldenburg, Schulze’sche Buchhandlung) hat Emil Rittershaus so eben herausgegeben. Hier sind zum Theil Töne angeschlagen, welche bisher dem Sänger der schlichten Empfindung und des patriotischen Aufschwungs ferner lagen. Die größere Hälfte der Sammlung besteht allerdings aus Liebesgedichten der Jugendzeit – und hier ist Alles schlicht und innig, in liederartigen Klängen austönend, bisweilen in eine wehmüthige Beleuchtung gerückt. Dieser Abschnitt macht den Eindruck einer lyrischen Nachlese, wobei auch manches weniger Hervorragende mit aufgenommen wird, weil es für den Dichter selbst ein pretium affectionis besitzt, ihm ans Herz gewachsen ist. Dagegen sind die „Bilder“ mehr in düstere Farben getaucht: die Nacht- und Schattenseiten der Empfindung und der Leidenschaft treten vor uns hin. Haß und Rache, zerstörtes Leben, zertrümmertes Liebesglück. Des Dichters Eigenart hat keinen dämonischen Zug, der sonst leicht zu Ausschreitungen und Ueberschwenglichkeiten verführt. Davon hält sich unser Dichter frei, indem er auch bei solchen Schilderungen ein anmuthiges Maß bewahrt. G.     

Das Testament einer Zwergin. Zu den großen Berühmtheiten gehörte lange Zeit die Zwergin Kate Bowsand, die in Europa unter dem Namen Madame la Marquise in allen Hauptstädten zur Schau gestellt wurde. Sie kam, sah und siegte – und trug nie Begehren, sich größer zu machen, als sie war. Dadurch unterschied sie sich von vielen namhaften Künstlern und Künstlerinnen; doch da sie so wenig unsterblich war, wie die mit Lorbeer überschütteten Tragödinnen, so mußte sie auch an ihren Tod denken. Sie machte daher ihr Testament, ohne aus ihrer Rolle zu fallen, das echte Testament einer Zwergin; sie bestimmte darin, daß 25 Puppen ganz nach jenem Körpermaße, welches ihre Erwerbsquelle gewesen, angefertigt werden sollten. Sie hatte wie alle Künstlerinnen eine sehr reichhaltige Toilette, obschon dieselbe nicht so viele Kisten in Anspruch nahm, wie etwa die Garderobe der Frau Geistinger. Madame la Marquise hatte nie unter enormen Transportkosten zu leiden. Mit den besten Kleidern ihres Nachlasses sollten nun jene 25 Puppen bekleidet und dann an arme Waisenmädchen vertheilt werden. G.     

Allerlei Kurzweil.

Astronomisches Problem.


Auflösung des Rebus auf Seite 392: 0 „Jugendreize“



Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner. S. 409. – Der Phönix. Gedicht von Franz Herzfeld. S. 412. Mit Illustration S. 413. – Der kleine Schuh. Skizze aus dem italienischen Badeleben von Isolde Kurz. S. 414. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 417. – Vom Jubelfest der Berliner Dienstmannschaft. Zur Erinnerung an die Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Dienstmanns-Institute. Von Dr. Karl Ruß. S. 420. Mit Illustrationen S. 420 und 421. – Verlorene Briefe. S. 421. – Ein Fest des deutschen Buchhandels in Leipzig. Von C. Siegfried. Mit Illustration S. 423. – Blätter und Blüthen: Das Fest der Rosenkönigin in Ungarn. S. 424. Mit Illustration S. 416. – Die Erbgroßherzogin von Baden in Miesbacher Tracht. S. 424. Mit Portrait S. 409. – Für die Reisezeit. – Emil Rittershaus. – Das Testament einer Zwergin. – Allerlei Kurzweil: Astronomisches Problem. – Auflösung des Rebus auf Seite 392. S. 424.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Nach einem Bericht in Gustav Freytag’s: „Aus dem Jahrhundert des großen Kriegs“.