Die Gartenlaube (1886)/Heft 8
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No. 8. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
(Fortsetzung.)
„Nun, da finde ich Euch ja schon beisammen,“ sagte Adalbert, indem er mir zunickte und seiner Schwester über das dunkle wellige Haar strich: „habt Ihr Euch gut vertragen?“
„Vortrefflich!“ rief ich.
„Ich wußte es voraus, ‚denn: wo das Strenge mit dem Zarten –‘ das Zarte ist natürlich meine sanfte Maria, bei Leibe nicht Du.“
Er war an den Arbeitstisch getreten und hatte einen Blick auf die Schreibereien geworfen.
„Das ist nun schon der fünfte Bogen,“ murmelte er, „und doch wollte ich, sie brächte es auf fünfzig oder fünfhundert. – Wo ist die Mama ?“
Frau von Werin trat bei diesen Worten wieder herein, und Maria ging an ihrer Stelle hinaus; sie kam zu uns an das Fenster, einen Stuhl, den ich ihr bot, ablehnend.
„Ich habe den ganzen Tag gesessen,“ sagte sie; „ich stehe gern ein wenig. Ich fange so an, korpulent zu werden.“
Es war nicht der Fall, wie ich mich, sie jetzt zum ersten Mal aufmerksam betrachtend, überzeugte: eine hagere, magere Gestalt, wenig über Mittelgröße, mit einem kleinen Kopfe, der von sehr krausem und bereits stark ergrautem Haar bedeckt war, wie mit einer künstlichen Lockenfrisur. Das gab ihr ein fast noch jugendliches Aussehen, wie sie sich denn auch mit großer Lebhaftigkeit und Entschiedenheit bewegte und ebenso sprach. Ihr Gesicht konnte ich bei der hereinbrechenden Dunkelheit im Einzelnen nicht mehr erkennen; doch ähnelten ihr wohl ihre Kinder, so daß sie mir, alles in allem, nicht sowohl als die Mutter, sondern mehr als ein älteres Geschwister derselben erschien.
Auch sie mochte mich wohl zum ersten Male genauer ins Auge gefaßt haben.
„Sie sind jünger als mein Sohn,“ sagte sie.
„Zwei Jahre, Mama,“ erwiderte Adalbert statt meiner.
„Es ist nicht seine Schuld,“ fuhr sie zu mir gewendet fort. „Wir alle sind von einem und demselben Streiche zu Boden geschlagen worden und haben Zeit gebraucht, bis wir uns darauf besinnen konnten, daß es doch noch eine Gerechtigkeit auf Erden geben müsse.“
„Ich glaube, wir können zu Tisch gehen, Mama,“ sagte Adalbert, indem er zugleich aufzustehen versuchte, was aber nicht gelang, da seine Mutter ihre Hand nur noch fester auf seine Schulter drückte und in demselben Tone fortfuhr:
„Freilich ist die Gerechtigkeit auf Erden übel dran: sie findet so wenig würdige Vertreter. Aus einem einfachen Grunde: sie ist eben weitaus die
[134] schwierigste aller Pflichten, die wir zu üben haben, wie sie denn auch die heiligste ist. Denn das Gebot der Nächstenliebe, welches uns als das heiligste gepriesen wird, ist entweder ein Nonsens, oder ein Mißverständniß und irrthümlicher Ausdruck, der, richtig gestellt, lautet: Du sollst gerecht sein gegen Deinen Nächsten, wie gegen Dich selbst. Mehr kann kein Mensch und kein Gott von uns verlangen, denn eben dies geht fast schon über die menschliche Kraft. Gerecht sein, Gerechtigkeit üben – wißt Ihr, was das heißt? Das heißt, weise sein, denn Ihr findet sonst nicht heraus, wo das Recht liegt; das heißt, stark sein, oder Ihr seid dem Gegner nicht gewachsen; das heißt, bedächtig sein, oder Ihr fallt in seine Schlingen; das heißt, rasch sein, oder man kommt Euch zuvor; das heißt, milde sein, denn Ihr wollt ja Niemandem schaden; das heißt, streng sein denn Ihr wollt ja dem Recht zum Siege verhelfen. Vor allem aber heißt es, tapfer sein, wie eine Löwin, der man die Jungen geraubt; oder alle jene Tugenden, wenn Ihr sie hättet, und Ihr müßt sie haben, soll die Gerechtigkeit der Leitstern Eures Lebens sein, sind nichts als tönend Erz und klingende Schellen.“
Ein heller Lichtschein aus dem Nebenzimmer, dessen Thür eben von Maria geöffnet war, glitt über das Gesicht der Sprecherin und ließ mir ihre Augen in einem seltsam feierlichen Glanz erscheinen. Ich war ungehalten über die Unterbrechung: ich hätte der wunderbaren Frau nur immer so fort zuhören mögen. War mir doch, was sie da eben gesagt, wie eine Offenbarung gewesen, die mir die schwersten Zweifel zu lösen versprach, an denen sich meine Seele seit jener Nacht meines Geburtstages abarbeitete. Ich hatte damals den Himmel angefleht, mich alle Menschen lieben zu lehren, wie es der gute Vater that: mein Flehen war unerhört geblieben. Es hatte einer falschen Gottheit gegolten: dem Trugbild der Liebe, das ich auf den Thron gesetzt hatte, welcher der Gerechtigkeit gebührte. Gerecht sein – das war es! und alles Andere nur tönend Erz und klingende Schelle. Und diese Frau sollte an einer fixen Idee leiden? Und ihre eigene Tochter, die mir doch so klug und gut erschienen war, hatte es gesagt? Wie sollte ich das verstehen?
Maria war gekommen, uns zum Abendbrot zu holen. Die beiden Frauen gingen voraus; Adalbert hielt mich, während wir ihnen folgten, ein wenig zurück und flüsterte mir zu:
„Kein Wort weiter von diesem Thema! Nur harmlose Sachen – ich bitte Dich!“
Das Speisezimmer war noch kleiner und wo möglich noch dürftiger ausgestattet als das Wohnzimmer, aber alles in ihm, wie dort, von jener peinlichen Ordnung und Sauberkeit, welche Adalbert’s Anzug stets auszeichneten, und die ich nun auch in denen der Damen wiederfand. Beide trugen bis an den Hals geschlossene einfache Kleider von einem dunklen Stoff ohne den geringsten Schmuck an Busen, Ohren oder Händen. Die Mahlzeit bestand aus Kartoffeln in der Schale, frischer Butter und einem gebratenen Fisch, der seines harten Fleisches und der entsprechenden Billigkeit wegen nur von den ärmeren Leuten gegessen wurde. Eine Magd schien nicht im Hause zu sein: wenn es etwas zu holen oder wegzuräumen gab, erhob sich Maria leise, daß man es kaum merkte, und kam ebenso wieder. Bei mir zu Hause, wenn ich, wie ja nun schon seit langen Jahren, mit dem Vater allein war, ging es nicht einfacher zu.
Getreu der Mahnung Adalbert’s, die mir übrigens recht unnöthig schien, gab ich mir Mühe, in den Ton einzustimmen, den er in der Unterhaltung anschlug und bei dem es auf eine harmlose Neckerei zwischen ihm und seiner Schwester hinauslief, nicht ohne daß für mich einige Spöttereien abfielen. Da ich die schwere Waffe des leichten Scherzes nicht annähernd so gut führte, wie die Geschwister, so zog ich in dieser Plänkelei sehr den Kürzeren, trotzdem Maria, wenn sie mich bedrängt sah, mir immer bereitwillig zu Hilfe kam, bis Adalbert, wiederum im Spott, fragte, was denn um alles in dem famosen Nathan-Aufsatze gestanden habe, von dem Professor Willy so viel Schönes gesagt, nur beileibe kein Wort von dem Inhalt? Auch seine Schwester sei unendlich neugierig.
„Ich bin es in der That,“ sagte Maria.
Ich blickte ihr schnell in das Gesicht: die Oberlippe zuckte im mindesten nicht; sie hatte es also ernsthaft gesagt.
„Wenn das der Fall ist, Fräulein Maria,“ sagte ich, „Ihnen will ich die Arbeit gern geben, unter der Bedingung, daß Sie sie nicht ihrem Bruder zeigen, der doch nur seinen Spott damit treiben würde.“
„Das würde mir erstens die Höflichkeit verbieten,“ erwiderte Adalbert, „und zweitens die Bescheidenheit, welche mir, der ich die schlechteste Nummer erhalten, dem gegenüber geziemt, der so Mustergültiges geleistet.“
„Du wirst es auch wieder einmal darauf angelegt haben,“ sagte Maria.
„Durchaus nicht,“ erwiderte Adalbert; „ich habe weiter nichts behauptet und zu beweisen gesucht, als daß Lessing mit seinem Nathan ein großes Unheil angerichtet hat.“
„Und ist das nicht schlimm genug?“ fragte Maria.
„Daß er es gethan hat? oder daß ich es behauptet habe? Warum sollte ich das Letztere nicht thun, wenn das Erstere der Fall ist?“
„Und das willst Du bewiesen haben?“
„Der Beweis war gar nicht so schwierig. Man brauchte nur die Unzahl der Juden herauszurechnen, die sich, seitdem Lessing die Unvorsichtigkeit hatte, den Nathan zu schreiben, für einen Nathan gehalten haben, ohne etwas Anderes zu sein, als ganz Stockjuden, um mich eines Nathan’schen Ausdruckes zu bedienen.“
„Das ist doch natürlich wiederum nur Scherz?“ rief ich.
„Mir nicht, lieber Freund. Mir ist es bitterer Ernst. Es ist kein Spaß, so auf Schritt und Tritt einem Pseudo-Nathan zu begegnen: einem, wie er glaubt, noch besonders Auserwählten seines ohnehin schon auserwählten Volkes, und hinter dem, was noch weniger spaßhaft ist, Hunderte nicht bloß von seinen, sondern auch von den Christenleuten herlaufen, die es auch glauben.“
„Aber ist denn das der Fall?“ sagte Maria.
„Wenn Du mich nur recht verstehen willst, ja. Die Gestalt des Nathan ist nichts weiter als der Träger der Lessing’schen Humanität, richtiger: des von jeder geoffenbarten Religion, ja eigentlich auch jeder Nationalität losgelösten Weltbürgerthums der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, das heißt: des direkten Gegensatzes gegen die dogmatische und nationale Beschränktheit des Judenthums. Und wenn Lessing, trotzdem er deßhalb mindestens eben so gut einen Christen, Mohammedaner, Hindu, Feueranbeter, Wilden à la Seume, oder der Himmel weiß, welchen weißen, schwarzen oder rothen Menschenbruder zum obersten Repräsentanten seines Weltbürgerthumes hätte nehmen können, einen Juden nahm, so war das eine ganz specielle Malice gegen die Götze und Kompagnie – ein Lessing’scher Extrawitz, so zu sagen, der nur, wie andere seiner Witze, das Unglück hatte, nicht von den Zeitgenossen und den Folgenden verstanden zu werden, weder von den Juden, noch von den Christen. Man verwechselte die Schale mit dem Kerne, bekümmerte sich gar nicht um diesen, sondern nahm jene und putzte und emancipirte munter drauf los, bis sie so blitzblank war, daß sich die schönste Humanität darin spiegeln konnte. Und in der blitzblanken Schale steckte und steckt bis auf den heutigen Tag der uralte, vertrocknete, wurmstichige Kern des bornirten, vaterlandslosen, nur auf Gewinn spekulirenden, durch und durch materialistischen ganz gemeinen Juden, um für das mildere Nathan’sche Wort den derberen Al-Hafi’schen Ausdruck zu gebrauchen.“
„Aber das heißt doch wahrlich das Kind mit dem Bade ausschütten,“ sagte Maria.
„Und das hast Du in Deinem Aufsatze geschrieben?“ rief ich.
„Buchstäblich so, lieber Freund, und es hat mich zwei Nächte gekostet, bis ich die Tirade fix und fertig hatte,“ erwiderte er.
„Du maßt mir erlauben, davon Gebrauch zu machen,“ sagte Frau von Werin.
Die Dame hatte so scheinbar gar keinen Antheil an dem letzten Theile unseres Gespräches genommen, daß ich sie ietzt einigermaßen verwundert anblickte, um auch sofort über ihr verändertes Aussehen zu erschrecken. Das feine vornehme Gesicht, das so huldvoll zu lächeln wußte, war wie in feierlichem Ernste versteinert, mit starren Augen, aus denen ein unheimlich stechender Glanz leuchtete. Den Geschwistern war die Wandlung ebenso wenig entgangen, nur daß sie offenbar die Erklärung des unheimlichen Räthsels hatten. In Maria’s Augen lag ein stummer Vorwurf gegen Adalbert, als wollte sie sagen: Du hättest es wissen müssen, und Adalbert schien zu überrascht, um trotz seiner geistreichen Sicherstelligkeit sofort den Uebergang zu einem andern Thema zu finden und so den drohenden Sturm zu beschwören.
[135] „Die Sache kommt mir für meine letzte Instruktion gerade noch gelegen,“ fuhr Frau von Werin immer mit derselben Starrheit der Miene und der Augen fort; „ich bin ganz damit einverstanden, vielmehr, er folgt ja nur meinem Rath und Auftrage, wenn er sich trotz Arnim’s Drängen in der katholischen Frage zurückhält. Die Gefahr, daß die Kirche gegen den furchtbaren Schlag der politischen Konsolidirung Deutschlands, so weit sie bis jetzt im norddeutschen Bunde möglich geworden ist, einen Gegenschlag führen wird, liegt auf der Hand; aber sie ist in keiner Weise zu vermeiden. Wir können uns in dem Augenblicke, wo wir mit Frankreich abrechnen müssen, nicht einen zweiten Feind auf den Hals laden, und noch dazu einen so mächtigen wie die katholische Kirche. Sie möchte uns, wenn es zum Kampfe kommt – und ich habe dem Grafen geschrieben, daß er die nächste Gelegenheit benutzen muß, und sollte er sie vom Zaune brechen – sehr häßliche Diversionen in Italien, Oesterreich und sehr wahrscheinlich selbst in Süddeutschland machen. Das muß vermieden werden, und er sieht das ja auch hoffentlich ein. Aber das Ungück des Mannes und zugleich meine schwere Last – da ich doch nun einmal die Aufgabe habe übernehmen müssen, ihm seine Aufgabe klar zu machen – ist, daß er nur reale Kräfte gelten lassen will und ideale nicht eher in Aktion bringt, als bis ich ihn dazu zwinge. ,Begreifen Sie denn nicht, Herr Graf,‘ habe ich ihm in meiner letzten Instruktion geschrieben, ‚daß man einen Krieg gegen Frankreich nicht mit Kanonen und Bajonetten allein führen kann? Daß auch das patriarchalische Gottesgnadenkönigthum und eine Wiederholung der Legende von 1813 heut zu Tage nicht mehr ausreichen? Daß es mit einem Worte die höchste Zeit ist, an den Idealismus des Volkes zu appelliren, dem Sie so ungeheure Opfer zumuthen wollen? und die sonst Niemand zu Gute kommen werden, als dem Moloch des Materialismus, der in dieser Aera des Erfolges so schon breit genug unter uns sitzt und mit jedem Tage frecher sein gräßliches Haupt erhebt? Ich weiß, Herr Graf, wie Sie sich werden ausreden wollen: Sie brauchen flüssiges Kapital, und woher das nehmen, wenn Sie es vom Markte verscheuchen? Ich warne Sie, Herr Graf, ich warne Sie! Es wird ein Pyrrhus-Sieg, den Sie da mit Geld, Geld und abermals Geld erkämpfen werden und für den Sie dem Sieger, der doch Niemand ist, als das opferfrohe Volk, mit Geld, Geld und abermals Geld ablohnen wollen. Ein Pyrrhus-Sieg für das Königthum von Gottes Gnaden, dessen Erhalter und Mehrer Sie ja doch sein möchten und von Ihrem Standpunkte sein müssen. Glauben Sie mir, Herr Graf, noch einen solchen Sieg, und es ist verloren. Gegen den Drachen, den Sie haben wachsen lassen, schützen es nicht Roß und Reisige; er wird es verschlingen und Sie, uns Alle!‘“
Schon vor den letzten Worten, die sie mit wie beschwörend ausgestrecktem Arm und erhobener Stimme gesprochen hatte, war sie vom Tische aufgestanden, und jetzt schritt sie, feierlich mit dem Kopfe nickend und mit der Hand winkend, zum Zimmer hinaus, uns junge Leute in seltsamer Verfassung zurücklassend: die Geschwister traurig und beschämt, mich voll von einem Entsetzen, das ich doch in keiner Weise äußern durfte, um die Gefühle der Aermsten nicht noch tiefer zu verletzen. Freilich, im Grunde empfand ich nur für Maria, die ihrem Bruder nicht mit einem Worte, nicht mit einem Blicke das Unglück, das er doch heraufbeschworen, zum Vorwurfe machte. Wieder zuckte es in ihrer Oberlippe; aber diesmal wahrlich nicht, weil sie nicht lachen konnte, sondern weil sie nicht in Weinen ausbrechen wollte. Oder konnte sie auch nicht weinen?
Wir hatten uns vom Tische erhoben, schweigend und mit verlegenen Mienen. Ich sah es Adalbert an: es war ihm lieber, wenn ich blieb und that, als wäre nichts vorgefallen. Aber ich hatte nur die Empfindung, daß ich Maria’s Wunsch erfüllen müsse, und sie hatte mich sofort verstanden.
„Wir dürfen jetzt die Mama nicht stören,“ sagte sie leise mit einem Blicke auf das Wohnzimmer.
„Ich brauche meine Mütze nicht,“ flüsterte ich.
„Adalbert wird Ihnen eine leihen. Bitte, Adalbert!“
Er ging sofort hinaus; wir waren so stehen geblieben, ein paar Schritte von einander entfernt, sie mit niedergeschlagenen Augen, die sie jetzt langsam zu mir aufhob mit einem Ausdrucke, der mir durchs Herz schnitt.
„Sie werden nun nicht wieder kommen,“ sagte sie.
„Fräulein Maria –“
Mehr brachte ich nicht heraus; Thränen, die ich doch nicht weinen wollte, erstickten meine Stimme, aber sie hatte mich auch so verstanden.
„Ich danke Ihnen!“ sagte sie.
Wie viel hätte ich darum gegeben, ihr sagen zu können, was ich empfand; aber da kam Adalbert schon wieder zurück. Und dann war ich draußen auf der Gasse, in der es jetzt wirklich still war, und wo ich endlich weinen durfte um das holde Mädchen, das nicht lachen konnte.
Das holde Mädchen!
Ich möchte den Ausdruck nicht zurücknehmen und fühle doch, daß er nicht ganz der richtige ist. Jedenfalls war sie nicht hold in dem gewöhnlichen Sinne. Kann es ein Mädchen sein, aus dessen Kehle nie silbernes Lachen schallt? dessen bestes Lachen nur ein flüchtiges Zucken der Oberlippe ist? ja, das, weil ihm die äußeren Organe zum Lachen fehlen, auch innerlich zu lachen nicht recht gelernt oder wieder verlernt hat, ähnlich wie taub gewordene Menschen nach und nach das Sprechen verlernen? Nein, hold im gewöhnlichen Sinne war Maria nicht. Ich sagte es mir damals schon, wenn ich ihr in dem kleinen Wohnzimmer, das von dem breiten Gezweig einer alten Linde vor der Hausthür zu jeder Tages- und Jahreszeit überschattet wurde, gegenüber saß und ihr in die klaren Augen blickte, so oft sie dieselben von der Arbeit hob, oder auf die niedergesenkte reine Stirn, vor der sich das Halbdunkel zu erhellen schien, und fragte mich dann wohl, woher der Zauber komme, dessen Wirkung auf mich ich doch so deutlich spürte? Als ob ich die Antwort auf die Frage ihr nicht schon aus den klaren Augen, von der reinen Stirn gelesen hätte!
Und ich saß ihr jetzt oft so gegenüber, da sich Frau von Werin, die der Straßenlärm störte, mit ihrem Arbeitstisch in das nach hinten und einem kleinen Gärtchen hinaus gelegene Speisezimmer geflüchtet hatte, ihre „Bismarck-Instruktionen“ zu schreiben, welche Adalbert vor ihren Augen kouvertirte, mit dem Familienpetschaft der Werins versiegelte und – natürlich niemals abgehen ließ; und Adalbert selbst, den man, wie er sich ausdrückte, „mit Gewalt aus der Schule herauslobte“, für das Examen, welches im Herbst stattfinden sollte, „anstandshalber“ einiges „nachreiten“ mußte. Der Faden des halblaut geführten Gespräches riß selten ab, und wir hatten uns schon längst so in einander hineingelebt und hineingedacht, daß wir die Pausen, wenn welche eintraten, nicht mehr als solche empfanden. Es war wie auf einem sanft dahingleitenden Strom, der den Nachen weiter trägt, auch wenn die Ruderer sich für eine Zeit lässig auf die Ruder lehnen.
So hatten wir wieder einmal, indem jedes seinen Gedanken nachging, ein paar Minuten still einander gegenübergesessen, als Maria, die klaren Augen von der Arbeit hebend, fragte:
„Haben Sie sich jetzt über Nonnendorf entschieden?“
„Kommen Sie schon wieder auf dies Thema zurück?“ rief ich.
„So oft und so lange, bis Sie Ja gesagt haben,“ erwiderte sie ruhig.
Das Thema war in der That schon oft zwischen uns besprochen worden, besonders in den letzten Tagen, da ich mich in Kurzem entscheiden mußte. Schlagododro hatte seine Einladung von Zeit zu Zeit wiederholt, wie ein böser Gläubiger einen Schuldner mahnt. Nun war zu den Gründen, aus denen ich schon längst mein gegebenes Vesprechen bedauert hatte, nächst meiner offenbaren Entfremdung gegen Schlagododro noch ein besonders wichtiger gekommen: eben meine Freundschaft zu den Geschwistern Werin. Adalbert hätte mich kaum entbehrt – das wußte ich wohl, und Maria schickte mich sogar fort; aber gerade das war es, wenn ich auch klug genug war, es mich nicht merken zu lassen: ich wollte mich nicht fortschicken lassen; ich war außer mir, daß sie mich fortschicken konnte – auf vier Wochen, die mich eine Ewigkeit dünkten, wenn ich inzwischen von ihr getrennt sein, aus ihrem Munde keines jener klugen, feinen Worte hören sollte, die zu vernehmen für mich war, wie freies Athemholen nach langem Aufenthalt in geschlossenem Raume.
„Thun Sie es um unsert-, wenn Sie wollen meinethalben,“ sagte Maria. „Sie wissen, wie gütig der Major von Vogtriz, [136] den Sie ja auch so verehren, stets gegen uns gewesen ist, und wie wenig wir ihm seine Güte gedankt haben, danken konnten: der Mutter wegen. Sie scheut die Gesellschaft, die sie zu schmerzlich erinnert an das, was sie verloren, und wir Kinder dürften nicht wagen, ihr diese Menschenscheu auszureden, selbst wenn wir es könnten. Sie wissen, warum. Wie gut sie sich auch vor Fremden zu beherrschen weiß – Sie waren ihr vom ersten Augenblick kein Fremder – einmal würde der Moment doch kommen, wo sie – etwa durch Widerspruch gereizt, oder außer sich gebracht durch die sklavische Gesinnung, die in den vornehmen Kreisen am meisten grassirt – sich nicht mehr zu beherrschen vermöchte, ihr großes Geheimniß verriethe und eine Scene herbeiführte, vor der ich schon in der bloßen Vorstellung schaudere. So habe auch ich – von Adalbert spreche ich nicht: er würde sich doch durch Niemand und durch nichts in seinen einsamen Wegen stören lassen – die Liebenswürdigkeiten der Vogtriz, Vater und Tochter, für mein Theil ablehnen zu müssen geglaubt – so schwer es mir, offen gestanden, wurde. Ich bin keine geniale Natur wie Adalbert, aber ich möchte mich gern zu den edlen Menschen rechnen dürfen, und Sie wissen aus Ihrem Goethe, daß ein edler Mensch nicht einem engen Kreise seine Bildung danken kann. Und dann – nun aber merken Sie wohl auf! Eleonore, oder, wie sie sich lieber nennen läßt: Ellinor Vogtriz ist ein selten schönes und reizendes, ja geradezu bezauberndes Geschöpf, mit dem zu verkehren eitel Wonne ist, wie eine balsamische Luft zu athmen, oder eine schöne Musik zu hören – für ein klosterhaftes Mädchen wie ich. Was es für einen Jüngling sein mag, der mit tausend Masten in den Ocean hinausstrebt, wie Sie – oder streben sollte – das wage ich schon gar nicht zu denken, geschweige denn zu sagen.“
„Und nun bin ich vollends entschlossen, hier zu bleiben,“ sagte ich mit einem Ton der Leidenschaftlichkeit, der in unserem Verkehr ein ganz fremder war, sodaß Maria ihre klaren Augen mit einem seltsam fragenden, ja erschrockenen Ausdruck auf mich wandte.
Aber bevor sie das passende Wort fand, uns aus der Verwirrung, in die wir nun Beide gerathen waren, zu lösen, wurde an die Thür gepocht, und auf Maria’s halb unbewußtes Herein trat die hohe Gestalt des Major von Vogtriz in das niedrige Zimmer.
Ich hatte ihn seit Monaten, er mich nicht gesehen, seitdem er vor fünf Jahren an jenem Morgen in des Vaters Werkstatt trat. Was Wunder, daß er in dem lang aufgeschossenen Jüngling, auf den beim Hereintreien sein erster, wie mir schien, erstaunter Blick fiel, den kleinen Knaben von damals nicht wiedererkannte, als Maria ihm meinen Namen genannt hatte, der ihm übrigens geläufig war.
„Ich habe ein gutes Namengedächtniß,“ sagte er: „und überdies habe ich Sie in diesen Tagen oft nennen hören, als den jungen Freund, auf dessen Besuch in Nonnendorf sich alle freuen, nachdem mein Neffe so viel Gutes und Schönes von Ihnen berichtet.“
Er hatte mir dabei die Hand gereicht, die er länger festhielt, als ich erwartet hatte, während er mir dabei prüfend in die Augen zu sehen schien, was meine Verlegenheit nur vermehrte. Er mochte es bemerken, wenigstens ließ er mich los und sagte, nun vor sich niederblickend: „Wie geht es Ihrem Vater? Ich erinnere mich seiner sehr wohl, obgleich ich ihm seitdem meines Wissens nie wieder begegnet bin. Hoffentlich gut?“
Ich erwiderte, daß der Vater in letzter Zeit sehr gegen seine Gewohnheit häufig kränkle und die Arbeit ihm manchmal schwer falle, obgleich er es nicht Wort haben wolle. Der Major erwiderte darauf nichts, sondern fragte, nachdem er wieder so vor sich hingeblickt: „Erinnere ich mich recht, daß Herr Lorenz Ihr Stiefvater ist?“
Ich bejahte es.
„Wie ist Ihr eigentlicher Name?“ fragte er weiter.
„Ich nenne mich nach dem Vater,“ sagte ich, „er hat mich adoptirt.“
Ich wußte wohl, daß das nicht die rechte Antwort auf seine Frage sei; aber es hatte mich noch nie jemand nach dem Namen meines Vaters gefragt und ich selbst hätte ihn nicht gewußt, wäre er mir nicht an jenem Abend, als mir der Vater die Geschichte seines Lebens und der Heirath mit meiner Mutter erzählte, genannt worden. Nun war es zu spät, mein Versehen wieder gut zu machen, da jetzt Frau von Werin, die Maria holen gegangen war, mit dieser in das Zimmer kam. Der Major ging ihr lebhaft entgegen und küßte ihr die Hand. Frau von Werin bat ihn, Platz zu nehmen, während sie sich zugleich auf das Sofa setzte. Maria und ich wollten uns entfernen, als der Major sagte:
„Ich bitte, daß die jungen Leute bleiben, wenn Sie, gnädige Frau, nichts dagegen haben: Ich komme nämlich mit einer großen Bitte, in der Sie stark betheiligt sind und hoffentlich auf meiner Seite sein werden. Meines jungen Freundes hier bin ich sogar sicher und ich denke, auch Fräulein Maria wird nicht unerbittlich sein, wenn Sie, gnädige Frau, es nicht sind. Es handelt sich aber um nichts Geringeres, als Ihnen Ihr Fraulein Tochter auf einige Wochen zu entführen. Ich habe für meine Ellinor in Nonnendorf zugesagt, und nun läßt sie mir keine Ruhe, ich müsse es ins Werk setzen, daß sie die Zeit in Gesellschaft von Fräulein Maria dort verbringt. Auf Sie, gnädige Frau, dürfen wir ja leider nicht rechnen. Oder dürften wir? Nun, sehen Sie, es ist, wie wir fürchten, und Sie sind uns eine Entschädigung schuldig. Ich selbst würde die jungen Damen hinbringen und den größten Theil der Zeit, hoffentlich die ganze, dort verleben, da ich etwas angegriffen bin und mir Urlaub erbeten habe. Meine Schwägerin ist ganz glücklich bei dem Gedanken, die jungen Damen bei sich zu haben, und verspricht, ihnen nach Kräften eine gute, sorgsame Mutter zu sein. Sie hat ihr Versprechen mit der betreffenden Einladung in diesem Briefe niedergelegt, welchen ich hier, gnädige Frau, Ihnen zu überreichen die Ehre habe.“
Frau von Werin nahm den Brief entgegen, den sie, trotzdem er mehrere Seiten lang schien, in wenigen Sekunden überflogen hatte.
„Ein sehr gütiger Brief,“ sagte sie. „Ihre Frau Schwägerin beruft sich auf unsere alte Freundschaft, die ich gern gelten lasse: wir waren in der That in der Pension in Sundin die besten Freundinnen. Wir haben uns freilich seitdem nicht wiedergesehen; aber sie meint, daß ich ihr gerade deßhalb Maria schicken muß, damit sie in der Tochter die Mutter weiter lieben kann. Das ist hübsch gesagt und, ich bin überzeugt, ehrlich gemeint. Also, was denkst Du, Maria?“
Wir hatten während dieser Unterredung am Fenster gesessen, ich für mein Theil in großer Erregung, zuerst freudig überrascht von dem großen Glücksfall der Einladung, dann in banger Furcht, Frau von Werin möchte dieselbe rund abschlagen, und nun zuletzt wieder in großer Sorge, wie denn Maria selbst sich zu der Sache stellen werde. Hatte sie mir meine Dummheit von vorhin vergeben? würde sie mich jetzt dafür strafen und mich allein gehen lassen, da wir nun so schön zusammengehen konnten? In diesem Falle war ich entschlossen, meinerseits, nun aus schierem Trotz, der Einladung zu folgen. Wie aber, wenn sie dieselbe annähme, aber unter der Bedingung, daß ich zu Hause bleibe?
Das alles schoß mir durch den Kopf von dem Moment, als Frau von Werin zu reden anhob und ich sofort merkte, daß sie der Sache günstig gestimmt sei, bis zu der Schlußfrage, die ich hatte kommen hören: „Was denkst Du, Maria?“ Das Herz schlug mir bis in die Kehle; ich wagte nicht die Augen aufzuschlagen.
„Da Mama es erlaubt und mich entbehren zu können glaubt, komme ich sehr gern, sehr gern,“ sagte Maria.
„Bravo, gnädiges Fräulein!“ rief der Major aufstehend und Maria, die sich ebenfalls erhoben hatte, mit ritterlicher Artigkeit, die doch auch wieder etwas väterlich Gütiges hatte, die Hand küssend. „Ich danke Ihnen aufrichtig – beiden Damen – aufrichtig und herzlich: Ihnen, gnädige Frau, daß Sie uns – denn ich rede hier auch im Namen meiner Verwandten – das Opfer bringen wollen, Ihr Töchterchen so lange zu missen: Ihnen, gnädiges Fräulein, von der ich weiß, wie ungern Sie die Mama verlassen. Also abgemacht, meine Damen, abgemacht! Ich schreibe heute noch nach Nonnendorf, und Sonnabend, wenn es Ihnen recht ist, um neun Uhr Morgens hält der Wagen meines Bruders drüben an der Fähre. Selbstverständlich holen Ellinor und ich – Ellinor’s Gouvernante nicht zu vergessen – das gnädige Fräulein von hier ab. Die jungen Herren, die erst nach der Schule fort können, werden wohl etwas in die Hitze hineinkommen. Nun, das ist ihre Sache.“
Er plauderte so anmuthig – dazu war der Klang seiner Stimme – wie gut ich mich desselben von jenem Morgen her
[137][138] erinnerte! – noch derselbe bei aller Milde volle, sonore – ich hätte ihm nur immer so zuhören mögen, als plötzlich die Thür aufging und Adalbert hereintrat. ich erschrak ein wenig, da ich wußte, welchen großen Einfluß er auf Maria hatte, und gar nicht sicher war, daß er das Projekt gut heißen werde. That er es aber nicht, so trat Maria ganz sicher, trotz ihrer eben gegebenen Zusage, unter irgend einem Vorwande nachträglich zurück. Doch wurde ich über diesen Punkt bald beruhigt. Mit großer Zuvorkommenheit, wenngleich mit jener reservirten Haltung, welche er fremden Leuten gegenüber stets beobachtete, versicherte er, daß er Maria von Herzen eine Erholung gönne, deren sie sehr bedürfe, und die auch ihm zugute kommen werde, da er während der Abwesenheit der Schwester und des Freundes, dieser ewigen Störenfriede, doppelt fleißig zu arbeiten gedenke. Ich lachte, der Major lächelte, und selbst Maria’s Oberlippe zuckte, als Frau von Werin, die während dieses Intermezzo nachdenklich und augenscheinlich dessen, was um sie her gesprochen wurde, nicht achtend, dagestanden hatte, plötzlich den Kopf hob und den Major bat, ihr in das Nebenzimmer zu folgen, da sie ihm eine Mittheilung zu machen wünsche, die ihn interessiren werde. Sie ging voran, der Major folgte ihr auf dem Fuße, wir Zurückbleibenden sahen uns bestürzt an. Der Ausdruck ihrer Miene, vor allem ihrer Augen war derselbe gewesen, der mir von jenem ersten Abend in peinlichster Erinnerung geblieben war, und den die Geschwister von mehr als einer Gelegenheit her nur zu gut kannten.
„Ich denke, da intervenire ich,“ sagte der allzeit schnell gefaßte Adalbert, bereits mit einer Bewegung nach der Thür, welche sich hinter den Beiden geschlossen hatte; aber Maria ergriff ihn bei der Hand.
„Bleib’,“ flüsterte sie, „es ist zu spät.“
„Nur, wenn wir noch länger zögern.“
„Es ist zu spät,“ wiederholte Maria, seine Hand loslassend und nach dem Nebenzimmer deutend, aus dem man jetzt die Stimme der Mutter vernahm, leise zwar, so daß wir die Worte nicht verstehen konnten, aber eindringlich und in jenem herzbeklemmend rapiden Tempo, das ihre immer schnelle Rede in diesen verhängnißvollen Momenten annahm.
Maria hatte Recht: es war zu spät.
So standen wir Drei in dem halbdunklen Gemach regungslos, Adalbert düsteren Blickes vor sich hinstarrend, während die feine gerade Falte zwischen seinen scharf geschwungenen Brauen tiefer eingeschnitten war; Maria, auf deren zarten Wangen flammende Röthe und tiefe Blässe jäh wechselten, mit gesenkten Augen, ich verstohlen jetzt sie, jetzt den Bruder beobachtend, das Herz voll innigen Mitgefühls mit der Qual der lieben Beiden.
„Es ist ein Trost,“ flüsterte Maria, „er ist ein edler Mann.“
Ich stimmte ihr, lebhaft nickend, zu; um Adalbert’s Lippen zuckte ein spöttisch abweisendes Lächeln.
Er schien mir eine bittere Bemerkung folgen lassen zu wollen, aber bereits wurde die Thür wieder geöffnet, und der Major trat herein ohne Frau von Werin. Die Haltung, in welcher er uns traf, die gespannten Blicke, mit denen wir im ersten Moment unwillkürlich in sein Gesicht spähten, sagten ihm sofort, daß wir Mitwisser der grausamen Thatsache waren, deren Vorhandensein er soeben erst schaudernd erfahren hatte. Aber es hätte dessen für den zartfühlenden Mann sicher nicht bedurft, sein Benehmen gegen uns in diesem kritischen Augenblicke zu regeln. Mit einer Miene, die nicht ernst genug war, um uns zu erschrecken, und nicht so lächelnd, daß wir sie hätten für gezwungen halten können, sagte er, sich dabei an Adalbert wendend: „Ihre Frau Mutter hat mich auf einen Umstand hingewiesen, von dem sie fürchtet, daß er störend in unsere Ferienprojekte eingreifen könne. Ich hoffe, es werde nicht geschehen, obgleich ich den Ueberblick Ihrer Frau Mutter über unsere politische Lage – um die handelt es sich – bewundern muß. Also nur Muth, meine jungen Herrschaften, und auf Wiedersehen am Sonnabend!“
Er hatte uns bei diesen letzten Worten, einem nach dem anderen, die Hand gereicht, zuletzt Maria.
„Meine Ellinor wird überglücklich sein; sie darf Sie doch noch vorher besuchen? Ihr jungen Damen werdet noch so manches zu besprechen haben. Und nicht wahr, gnädiges Fräulein, keine Toilettenkünste, deren Sie nicht bedürfen, und durch die Sie mich beschämen würden, der ich mit Ihrer Erlaubniß in einem Räubercivil zu erscheinen gedenke.“
Er verbeugte sich in der Thür noch einmal gegen uns alle. Ich hatte das Gefühl, daß, wie bei seinem Eintreten sein erster, so jetzt, als er ging, sein letzter Blick auf mir ruhte mit einem Ausdruck, den ich mir nicht zu erklären vermochte.
Briefliche Kuren.[1]
Die Frage, was von brieflichen Kuren zu halten sei, muß auf das Absprechendste beantwortet werden. denn mit geringen Ausnahmen lernt man in dieser Beziehung nur Trauriges und geradezu Verderbliches kennen. Viele Kranke kommen erst in die Hände gebildeter Aerzte, nachdem sie mit brieflichen Kuren und anderen Pfuschereien den letzten Sparpfennig ohne den geringsten Nutzen verschwendet haben. Die Meisten von ihnen flüchten sich zwar gerade, um zu sparen, zu brieflichen Kuren, werden aber gewöhnlich bitter getäuscht. Wieder Andere waren zur Zeit ihrer Erkrankung nicht in der Lage, ohne große Umstände den weitentfernten Arzt zu sich zu rufen, und bei einem großen Theile war es falsche Scham über ihre Krankheit, oder die Sorge, daß von den Angehörigen ihr bisher verheimlichtes Leiden erkannt würde, wenn sie sich einem bekannten Arzte anvertrauen würden. Dieselben vergessen, daß jeder anständige Arzt das Geheimniß seines Amtes zu bewahren weiß.
Denke ich an Alles zurück, was ich in meiner dreißigjährigen praktischen Thätigkeit in dieser Angelegenheit erfahren habe, so fand ich sehr wenige Kranke, welche mit ihren brieflichen Kuren zufrieden waren. Es waren nur einige wenige, wo es sich um deutlich in die Augen fallende Krankheiten handelte, oder um die Beschreibung einer typischen Kur, und dieses fiel gewöhnlich nur dann zum Vortheile aus, wenn ein Arzt, der den Kranken selbst untersucht hatte, die Korrespondenz besorgte.
Recht traurige Folgen sah ich hingegen, wenn Kranke, ohne sich ärztlich untersuchen zu lassen, briefliche Kuren unternahmen, etwa weil sie an dieser oder jener Krankheit zu leiden glaubten Man muß wissen, welche Macht die Einbildungskraft auf die Menschen ausübt, um die Schädlichkeit solcher Kuren zu beurtheilen. Viele hielten sich für herzleidend oder leberleidend und nahmen monatelang die schädlichsten Mittel, welche ihnen brieflich verschrieben wurden.
Oft habe ich mich überzeugt, daß solche eingebildete Kranke weder herz- noch leberkrank waren und daß ihnen die erhaltenen Arzeneien auch nicht geholfen hätten, wenn sie an ähnlichen Leiden erkrankt gewesen wären. Entweder wurden die armen Kranken mit recht drastischen Abführmitteln bedient, die auf ihre eingebildete Stimmung einen tiefen Eindruck machten, aber nur schaden konnten, oder die Kurpfuscher waren schlau genug und gaben ganz wirkungslose Zucker- und Aschenpulver etc., womit nichts verdorben werden konnte. In vielen Fällen macht ja die gütige Mutter Natur früher oder später doch gesund, und der gutmüthige Kranke dankt dies dann seinen unschuldigen Mitteln. Dutzende von Kranken fand ich, welche steif und fest behaupteten, einen kranken verschleimten Magen zu haben, und überall nach Magenmitteln herumschrieben, während ihr Leiden in den Lungen oder woanders begründet war; die Appetitlosigkeit, welche aber fast alle ernsten Krankheiten begleitet, hatte sie auf die falsche Magendiagnose gebracht, und sie hatten sich nun mit brieflich verschriebenen Arzeneien sehr geschwächt und geschadet, während sie der Stärkung so sehr bedurft hätten.
- ↑ Der Umstand, daß bei uns täglich Briefe einlaufen, in welchen wir oder unsere ärztlichen Mitarbeiter um Heilmittel gegen diese oder jene Krankheit ersucht werden, veranlaßte uns, einen der hervorragendsten Aerzte Deutschlands um ein Urtheil über den Werth der brieflichen Kuren zu bitten. Wir erhielten als Antwort den obenstehenden Artikel, den wir mit dem Wunsch abdrucken, daß er einen weitverbreiteten Wahn zerstören und Tausende vor Unheil behüten möge. Die Redaktion.
[139] Geradezu lächerlich fand ich mehrere Bandwurmkuren. Nachdem ein großes Glas voll häßlicher Arznei verschluckt worden war und nichts geholfen hatte, kam von einer andern Weltgegend eine Schachtel voll Pulver , welches für den Bandwurm ganz passend gewesen sein mag, den betreffenden Kranken brachte es aber nur Schaden, denn als ich die Ausleerungen derselben genau untersuchte, fand ich, daß das, was die armen Märtyrer mit Sicherheit als Bandwurm ansahen und mit schrecklichem Abscheu in Weingeist aufbewahrten, nur sehnige Theile des genossenen Rindfleisches waren. Die Täuschung war bei Laien sehr verzeihlich, denn die Aehnlichkeit mit Bandwurmstücken war manchmal recht groß. Man sieht aber daraus, in welche Gefahren sich Kranke begeben, welche Arzneien für Krankheiten gebrauchen, die sie nur vermuthen, ohne je von einem ordentlichen Arzt untersucht worden zu sein. Den Bandwurm wird kein gebildeter Arzt verkennen.
Den größten Schaden sah ich von brieflichen Kuren bei chirurgischen Leiden.
Bei einem Knäbchen, dessen Haltung sich täglich verschlimmerte, dessen Rücken sich krümmte, dessen Kniee sich bogen, wurde brieflich gerathen, mit Strenge auf gute Haltung zu sehen und täglich Gymnastik zu treiben. Da aber darauf hin das kranke Kind täglich schlechter wurde, brachte man es zu mir, und ich fand, daß die angewandte Gymnastik in traurigster Weise den Beinfraß der Rückenwirbel zum vollsten Ausbruche brachte, während wir Aerzte uns in solchen Fällen Tag und Nacht mühen, dieses schreckliche Leiden durch Ruhe und Schonung zu verhüten.
Bei einem andern Kranken, welcher seit einem Sturze vom Pferde kaum mehr gehen konnte und dessen rechter Fuß im Hüftgelenke nur mit ziemlichem Schmerz bewegt wurde, war brieflich der Rath gegeben worden, den Schmerz zu verbeißen und den Fuß kräftig täglich ein paarmal hin und her zu rotiren. Schon nach wenigen Tagen steigerten sich die Schmerzen so, daß man den Fuß nicht mehr berühren, viel weniger zum Gehen benutzen durfte. Der herbeigeholte Arzt erzählte mir, daß das erkrankte Hüftgelenk trotz sofort angewandter größter Ruhe alsbald aufgebrochen sei und solche Massen von Eiter abgeflossen seien, daß der Kranke rasch einem hektischen Zustande erlag.
Wenn es nun bei so einfachen sichtbaren und greifbaren Uebeln solch unglückliche Irrungen giebt, wie wird es erst bei Krankheiten, deren Symptome schwerer von einander zu unterscheiden sind! Es gehört oft das ganze ärztliche Wissen und ein geübter Verstand dazu, um zu unterscheiden, ob ein schmerzhaftes Kopfweh von Blutüberfüllung oder Blutmangel, von überreizten Nerven oder einem leidenden Magen, oder von gichtischen Einflüssen herrührt, und jede Irrung, jede Verwechselung ist von gefährlichen und schweren Folgen, denn was bei dem einen Uebel nützt, kann bei dem andern sehr schaden. Aerzte, welche 10 und 12 Jahre fleißig gelernt und das Lesen und Studiren nie aufgegeben haben, müssen alle ihre Sinnesorgane anstrengen, Gesicht, Gehör und Gefühl im höchsten Maße ausnützen und nebst sorgfältiger Beobachtung mit mikroskopischer und chemischer Untersuchung nachforschen, um die krankhaften Veränderungen des komplicirten, wunderbar organisirten menschlichen Körpers richtig herauszufinden.
Wer es weiß, welche Schwierigkeiten hierbei zu überwinden sind, der kann von brieflichen Kuren mit sehr wenig Ausnahmen nur mit Abscheu sprechen und wird darin meist nur eine verbrecherische Ausbeutung der armen Kranken erblicken. Die lukrativsten brieflichen Kuren sind aber jene armen Hypochonder, die in ihrer Ueberspannung einen Jugendfehler irrthümlicher Weise als die Ursache aller ihrer Leiden und Schmerzen betrachten, von jedem ehrlichen Arzte aber nach kurzer Besprechung und Untersuchung erfahren würden, daß ihre Uebel damit in keinem Zusammenhange stehen und vielleicht sehr einfach zu heben sind.
Das Gefühl, eine Krankheit selbst verschuldet zu haben, die Sorge, bei den umgebenden Verwandten verrathen zu werden, führt oft selbst vernünftige Leute zu brieflichen Kuren oder gar zur Selbstbehandlung, nachdem sie sich durch die Lektüre von Büchern, die in bekannter Weise in den Inseratenspalten der Zeitungen angepriesen werden, belehrt zu haben glauben.
Daß damit noch Niemand gesund gemacht wurde, kann man auf das Bestimmteste behaupten. Nach meinen Erfahrungen ist dies der beste Weg, auf eine Bahn der Verirrung zu kommen, aus welcher man sich nicht so schnell wieder heraus findet. Die in solchen Briefen und Büchern ausgenützte Angst der Patienten trägt reichliche Früchte. Jedes rothe Fleckchen, jede unangenehme Empfindung wird mit Sorge betrachtet, und jahrelang lassen sich solche Leute an Krankheiten kuriren, die sie in der That gar nie hatten.
Mit Recht theilen wir die Aerzte in gute und schlechte. Wir nennen jene, welche gut diagnosticiren, welche nichts zu untersuchen vergessen und mit der chemischen Retorte und mit dem Mikroskop ergänzen, was ihren geübten Sinnesorganen entgehen möchte, die guten Aerzte. Jene, welche sich aus Unwissenheit oder strafbarer Faulheit mit dem oberflächlichen Blicke begnügen, nennen wir die schlechten, die gewissenlosen und gefährlichen Aerzte. Machen wir nun schon bei den Aerzten einen so großen Unterschied, klagen wir schon eine oberflächliche Untersuchung so schwer an, um wie viel gefährlicher müssen wir deßhalb erst im Allgemeinen die brieflichen Kuren bezeichnen, bei denen jede Beobachtung, jede Untersuchung gänzlich ausgeschlossen ist!
Gebrüder Grimm.
Man hat unser Jahrhundert das Zeitalter der Elektricität und des Dampfes genannt und damit die regste Entwickelung, welche die technische Anwendung der exakten Naturwissenschaften in unserer Epoche genommen hat, als das eigentlich Charakteristische des modernen Lebens bezeichnen wollen. Und wer wollte leugnen, daß die gewaltigsten Veränderungen unseres ganzen Verkehrs- und Erwerbslebens eben durch jene großen Erfindungen hervorgerufen worden sind? Doch liegt jener Bezeichnung eine ziemlich oberflächliche, das Wesen der Dinge keineswegs erschöpfende Anschauung zu Grunde. Und wahrlich, traurig würde es um ein Volk stehen, dessen Dichten und Trachten ausschließlich auf die Sorge um die Existenz und alles, was damit zusammenhängt, gerichtet wäre: die einzelnen Individuen könnten dabei bestehen, der Staat aber würde sich in seine Atome auflösen. Die Form würde zerschellen weil ihr der Inhalt mangelte. Wohl mag hier und da ein Zaghafter, welchen das kühne Vordringen unserer naturwissenschaftlichen Erkenntniß mit unheimlichem Grauen erfüllt, diese Gefahr als nahe bevorstehend wähnen. Aber ist das wirklich der Fall? Zeigt sich nicht vielmehr gerade in unserer Zeit, parallel mit der Zunahme des Interesses an den realen oder materiellen Elementen des staatlichen Lebens, ein ähnliches Wachsen der allgemeinen Theilnahme an den rein idealen Bestrebungen auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft? Beschränkt sich denn diese Theilnahme wirklich auf diejenigen Gebiete des Wissens, welche in ihren Resultaten für das materielle Leben der Gegenwart unmittelbare Verwendung finden? Nein und tausendmal nein! Unser Zeitalter ist keineswegs ein so materialistisches, wie man es oft gescholten hat. Sehen wir doch unbefangen um uns; wie regt sich’s und webt sich’s doch auf allen Gebieten des menschlichen Wissens, wie wächst die Theilnahme der Nation an philosophischen, historischen und künstlerischen Dingen! Gerade das „materialistische“ 19. Jahrhundert ist es gewesen, in welchem die großen rein idealen Probleme der menschlichen Erkenntniß hinausgelangt sind aus der verstaubten Gelehrtenstube in das frische, fröhliche Leben des Volkes!
In wie hohem Grade das Verständniß für rein ideale Bestrebungen der Wissenschaft gerade in unserer Zeit gewachsen ist, dafür liegt ein Beweis unter vielen auch in dem pietätvollen Andenken, welches unser ganzes Volk jenem edlen Brüderpaar bewahrt hat, das sein Leben dem wahrlich doch rein idealen Streben gewidmet hat, in unserem Volke Sinn und Theilnahme für seine eigene litterarische Vergangenheit zu wecken, [140] ihm die Schätze wieder zu erschließen, welche jahrhundertelanger Schutt bedeckt und dem Blick der Nachlebenden entzogen hatte, den wunderbaren und eigenthümlichen Wandlungen nachzugehen, welche Sprache und Sitte, religiöse und rechtliche Vorstellungen des Volkes im Laufe der Jahrhunderte durchgemacht haben. Das, was jene Beiden, die wir mit Recht zu den Besten und Edelsten der Nation zählen, in jahrzehntelangem eifrigen Forschen der deutschen Wissenschaft und dem deutschen Volke geleistet haben, läßt sich doch wohl nicht in Zahlen ausdrücken, kann doch wohl keine unmittelbare praktische Verwerthung für unser materielles Leben finden. Und doch, wie lebendig lebt ihr Bild in dem Herzen des Volkes, doch blickt dasselbe mit Stolz und Freude auf sie, obwohl sie nicht mehr unter uns weilen, doch fühlt ein jeder von uns, daß sie uns einen köstlichen Schatz hinterlassen haben, nicht freilich von materiellen Gütern, aber von nationalen Erinnerungen, einen Schatz für unser Gemüth, den sie aus dem Schachte des Gemüthslebens unserer Altvordern hervorgeholt haben an das helle Tageslicht unserer schaffensfrohen, aber darum keineswegs gemüthsarmen Zeit. Glaubt man denn wirklich, daß die beiden Brüder einen großen Theil ihrer Popularität nur ihrem praktischen Auftreten auf politischem Gebiete, ihrer Theilnahme an der großen Mannesthat der „Göttinger Sieben“ verdanken? Aber warum sind dann Albrecht und Ewald, die ja auch zu diesen Sieben gehörten, nicht ebenso populär? Nein, es ist nicht anders: der ideale Sinn des Volkes hat ihr ganzes großes wissenschaftliches Schaffen mit begeistertem Verständniß begleitet, und wenn er die Einzelheiten dessen, was sie schufen, nicht immer verstand, so ahnte er die höhere Bedeutung ihres Wirkens. Vor Allem aber war es Ein Werk von ebenfalls rein idealer Bedeutung, das ihnen im Sturme die Herzen des Volkes eroberte: das war die Sammlung der deutschen Haus- und Kindermärchen, die sie recht eigentlich dem Munde des Volkes abgelauscht hatten und in denen sie demselben auf Grund gewissenhafter und sorgfältiger Forschung gleichsam ein Stück seines eigenen Gemüthslebens wiedergaben!
Das eben war es, was ihrem Schaffen seine großartige Bedeutung gab: das geniale Finden, der kühne Blick für das scheinbar Unbedeutende, das doch durch seine Vereinigung zu einem wesentlichen Förderungsmittel für die Erkenntniß der Volksseele wird. Und wie sie hier die im Verschwinden begriffenen, verstreuten Reste der Vergangenheit, die gleichsam noch in unserer Mitte fortlebten, zu neuem Leben zu erwecken verstanden, so haben sie auf der andern Seite durch ihre unermüdliche Forschungsthätigkeit den fast völlig in Vergessenheit gerathenen unerschöpflichen Schatz unserer nationalen Poesie des Mittelalters uns wieder erschlossen und so das Meiste dazu beigetragen, daß dem deutschen Volke, welches bis dahin mit den großen Epen der Griechen und Römer vertraut war, von seinen eigenen Volksepen aber so gut wie nichts wußte, die großen Gestalten der Nibelungenhelden und der Gudrun liebe Bekannte geworden sind.
Nur flüchtig hinweisen können wir auf ihre großartigen Leistungen auf dem Gebiete der deutschen Sprachforschung, die ihnen in erster Linie ihre Entstehung verdankt und sich dann namentlich auf dem Gebiete der historischen Grammatik und der Sprachvergleichung zu ihrer gegenwärtigen Blüthe entwickelte; es hieße eine Geschichte der germanischen Philologie schreiben, wollte man hier den Wirkungen, welche die deutsche Grammatik, das deutsche Wörterbuch, die deutsche Mythologie und Anderes geübt haben, in ihrer Entwickelung nachgehen. Nicht jede einzelne Seite ihres großartigen Schaffens vermag der Laie zu ermessen, und Vieles, was sie geleistet, wird immer nur von den Fachgenossen voll und ganz gewürdigt werden können; aber ihr ganzes Bild, die Gesammtheit dessen, was sie dem deutschen Volke und der deutschen Wissenschaft gewesen sind und noch sind, wird bei ihrem Volke fortleben, so lange es in demselbeu Männer giebt, die berufen und befähigt sind, den Sinn für Großes und Ideales zu erwecken und zu erhalten.
Daß dies gegenwärtig noch in weit höherem Maße der Fall ist, als die Tadler unserer „materialistischen“ Zeit annehmen, das hat die allgemeine Theilnahme gezeigt, mit welcher am 4. Januar vorigen Jahres in ganz Deutschland der hundertjährige Gedenktag der Geburt des älteren der Brüder begangen worden ist. Wie damals nicht bloß unsere Gelehrten durch Herausgabe besonderer Festschriften oder von Akten zur Lebensgeschichte der Brüder die allgemeine Kunde über ihr Leben und Wirken zu bereichern suchten, wie ferner nicht bloß alle den weiteren Kreisen der Gebildeten gewidmeten Zeitschriften Festartikel brachten, sondern auch das Volk selbst namentlich durch zahlreiche Beiträge für das in Hanau zu errichtende Denkmal der Brüder seine Theilnahme kundgab, so ist das auch jetzt der Fall, da wir (am 24. Februar) dieselbe Feier für den jüngeren der Brüder, für Wilhelm Grimm, zu begehen haben. Von gelehrter Seite ist schon vor einigen Wochen dem Volke eine neue, wichtige und interessante Festgabe im Hinblick auf diese Feier dargeboten worden: von dem idyllischen Musensitze im schönen Lahntal, dem altehrwürdigen Marburg, her ist ein Festgruß ausgegangen, der sich wiederum nicht nur an die gelehrte, sondern auch an die gesammte gebildete Welt wendet, indem er uns durch eine Fülle bisher unbekannter, vertraulicher Briefe der Brüder an hessische Freunde einen neuen Blick in das reiche Geistes- und Gemüthsleben derselben eröffnet und uns zugleich manche willkommene Notiz über ihr Leben beibringt.[1]
Aber das Volk wird wieder wie damals hinter den Gelehrten nicht zurückstehen, sondern dem stillen Forscher, welcher zu seinem Lebzeiten im besten Sinne sein Liebling war, auch über das Grab hinaus gerade an diesem Tage eine stille Feier pietätvoller Erinnerung weihen. Unwillkürlich wird wiederum diese Erinnerung nicht dem Gefeierten allein, sondern beiden Brüdern geineinsam gelten, deren Leben und Schaffen zu einer wunderbaren Einheit verschmolzen war und in dieser Vereinigung auch im Andenken der Epigonen fortlebt.
Diese Gemeinschaft selbst ist etwas so Eigenartiges und ideales, daß sie in der Geschichte der wissenschaftlichen Bewegung geradezu einzig dasteht. Wie sie im Leben unzertrennlich von einander waren, so haben sie sich in ihren Studien stets in so ähnlichen Bahnen bewegt, daß bei vielen ihrer Werke geradezu nicht mehr festgestellt werden kann, was von dem Einen, was von dem Andern herstammt. Diese Gemeinsamkeit des Strebens und Schaffens aber hat allen ihren Werken einen eigenthümlichen Zauber verliehen und ihren Werth erhöht, weil dieselben dadurch zugleich ein Spiegelbild ihrer dem innersten Wesen nach verwandten, aber doch wieder im Einzelnen abweichenden Geistesanlagen geworden sind.
Man hat sich daran gewohnt, den älteren der Brüder für den geistig bedeutenderen zu halten: uns will es scheinen, als wenn man dem jüngeren unrecht thut, ihn mit dem älteren zu vergleichen. Wohl war der letztere produktiver und großartiger in seinem Schaffen, dem gegenüber aber kommen dem anderen wieder andere Vorzüge zu, welche dem älteren nicht in demselben Maße eigen waren, so vor Allem jenes liebevolle Versenken in das Einzelne, jene Durchgeistigung des Isolirten mit allgemeinen Ideen und das feine Verständniß für eine in edelstem Sinne populäre Form. Am klarsten treten die Vorzüge beider wiederum in der Sammlung der Märchen hervor. Während Jakob hier vor Allem seine ganze Kunst des Findens und Sammelns entwickelte, war es dann Wilhelm, welcher namentlich bei der erneuten Durcharbeitung in den späteren Auflagen den einzelnen Märchen jenen eigenthümlich poetischen und echt volksthümlichen Hauch verlieh, der sie zu dem gemacht hat, was sie sind: zu einem echten und rechten Volksbuch. Während Jakob dann ferner mehr befähigt war, seine Forschungen in einem großen und umfassenden System zusammenzufassen und gleichsam zu organisiren, wie denn die Begründung der historischen Grammatik fast ausschließlich auf ihn zurückgeht, war es auf der andern Seite wieder Wilhelm, dem es gelang, durch die sorgfältige Liebe, mit der er sich der Herausgabe mittelalterlicher Poesien widmete, diese wieder in das litterarische Leben der Gegenwart einzuführen.
Verzichten wir also darauf zu entscheiden, welcher von ihnen der Bedeutendere war, und freuen wir uns, sie beide zu den unserigen zählen zu dürfen; gerade in ihrer Vereinigung stellen sie den echten Typus der beiden geistigen Fähigkeiten dar, denen die deutsche Wissenschaft den Glanz ihrer Entwickelung verdankte: das kühne und großartige Finden und die liebevolle Versenkung ins Einzelne.
- ↑ Es ist die Festschrift von Prof. E. Stengel: „Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen“. Marburg, Elwert’sche Buchhandlung 1886.
[141]
Die Andere.
(Fortsetzung.)
Als Frau Roden das Zimmer verlassen hatte, da kam es über mich wie wilde Verzweiflung.
„Lotte,“ jammerte ich, „Lotte, besinne Dich doch! Noch ist es Zeit, rufe sie zurück. Sage, daß Du zu rasch gesprochen –. Du kannst nicht so entsetzlich hart und grausam sein! Du hieltest ja immer Dein Wort, mach’ ihn nicht so unglücklich!“
„Eben, weil ich das nicht will!“ sagte sie fest und kalt.
Ich lief auf den Balkon. Ganz weit schon dort unten ging die Mutter; nicht zögernd, langsam – nein, rasch und fest schritt sie dahin, als fürchte sie eingeholt zu werden. Nie in meinem Leben kam ich mir unglücklicher, gedemüthigter vor, als in dieser Stunde. Das war der Dank für alle Wohlthaten!
Aber Lotte blieb ruhig; sie begann sogar Toilette zu machen. Zwar die Hände zitterten ein wenig und auf den Wangen brannten ein paar rothe Flecken, aber sie holte tief Athem und das klang, als sei eine Bergeslast von ihrer Seele genommen. Als sie fertig war, kam sie zur Großmutter herüber.
„Großmama,“ sagte sie, mit fester Stimme, „ich habe meine Verlobung aufgelöst.“
Die alte Frau starrte sie verständnißlos an. „Scherze nicht,“ sagte sie streng.
„Ich scherze nicht; ich kann ihn nicht heirathen.“
„Warum nicht?“
„Ich liebe ihn nicht.“
„Und was für ein Recht hattest Du zu solcher Komödie?“ rief die Greisin, und die matten Augen sprühten förmlich auf. „Ist ein ehrliches Männerherz grade gut genug, um mit ihm zu spielen, wie Du mit Deinem Hunde spielst? – O nein, mein Kind, so war das nicht gemeint; noch habe ich ein Wort mitzureden! Und wenn Du vorhin in kindischem Uebermuth Unverantwortliches gesprochen, so gehst Du jetzt sofort zu ihm und bittest Deinen Bräutigam um Verzeihung! Sofort!“
Die zitternde Frau hatte sich halb im Lehnstuhl erhoben und zeigte gebieterisch nach der Thür. Eine namenlose Angst lag in den alten Augen, trotz aller Strenge.
„Großmama,“ rief Lotte außer sich, „das kannst Du nicht wollen, darfst Du nicht wollen!“
„Ich will, daß Du ein Wort hältst, das Du freiwillig gegeben hast!“ klang die Antwort. „Geh!“
„Ich gehe, aber ich komme nie wieder,“ drohte das Mädchen; „ehe ich ihn heirathe – lieber todt!“
„Geh!“ wiederholte die alte Frau noch einmal. Da wandte sich Lotte trotzig; aber ehe sie die Thür erreichte, ehe ich ihr nacheilen konnte, war der Kutscher eingetreten und reichte ihr ein Päckchen. Hastig griff sie darnach, und als ihre Hände das Papier auseinander rissen, da erklang es hell auf der Diele und rollte durch das Zimmer und blieb zu meinen Füßen liegen – ein einfacher goldener Reif.
„Zu spät!“ sagte die Großmutter und sank zurück; wie geschlagen lehnte das alte kummervolle Gesicht in dem Polster des Stuhles; und ich bückte mich, hob den Ring auf und legte ihn auf das Spiegeltischchen.
Dann fand ich mich plötzlich auf dem Wege zur Domaine; ich ging nicht, ich flog. Ich mußte ein freundliches Wort sprechen, das fühlte ich, und dennoch bangte mir. Ich meinte, sie müßten mich hinausstoßen mit Haß und Verachtung – um meiner Schwester willen. Als ich athemlos an der Gartenpforte anlangte, sah ich Anita plötzlich vor mir stehen. Ach so, der Tag der italienischen Stunde! „Ich glaube nicht, daß meine Schwester heute im Stande ist,“ stotterte ich –. Sie sah mich forschend an und sagte: „Ich werde fragen; ich kann ja wieder gehen, wenn es nicht paßt.“
Ich eilte an ihr vorüber, den Hof entlang, dem Hause zu. Im Flur stand Frau Roden, so ruhig wie immer; sie beobachtete, wie eben ein Mädchen frische schäumende Milch in einen großen Steintopf goß. Die alte Frau sah mich erst, als ich dicht neben sie trat, und sie reichte mir sofort freundlich die Hand. Dann deutete sie nach seiner Zimmerthür, legte den Finger auf den Mund und führte mich die Treppe hinauf. Ich folgte ihr auf den Zehen gehend; es war, als sei ein Sterbender im Hause, und so schwer lag es mir auch auf dem Herzen.
In das Stübchen, wo wir zuerst geschlafen in Rotenberg, hatte sie mich geleitet. „Dort unten könnte er doch in mein Zimmer kommen, und er würde es nicht ertragen, Sie heute zu sehen,“ erklärte sie halblaut. Dann zog sie mich auf das kleine Sofa zwischen den Fenstern.
„O, sagen Sie mir, wie erträgt er es?“ bat ich.
[142] Bis jetzt hatte sie die Thränen herzhaft verschluckt; nun liefen ihr doch ein paar helle Tropfen über die Wangen. „Er hat’s wohl kommen sehen,“ sprach sie, „aber trotzdem –. Zuerst wollte er hinüber, er konnte es nicht fassen; nun hat er sich eingeschlossen. Ich sage auch weiter nichts jetzt, was soll Trost und Zureden in solchen Augenblicken? Aber –“ und es zuckte wieder um ihren Mund, „ich habe an der Thür gehorcht, es war als ob – doch ich habe mich wohl geirrt, es klang wie Weinen.“ Sie sah mich an, als wollte sie mich fragen, ob sie wohl recht gehört habe? „Nachher hat er David hinüber geschickt; er brachte den Ring, nicht wahr?“
Ich bejahte.
„Nun ist’s am Ende,“ sagte sie. „Wozu dies Alles erst? – Sein ganzes Herz hing an ihr –.“
Dann sprang sie auf. „Das war seine Stimme; er rief wohl nach seinem Pferde?“
Wir standen athemlos an der etwas geöffneten Thür und lauschten. Er sprach ruhig zu dem Verwalter, dem alten Müller, die Worte drangen bis zu uns hinauf: „Zeitung – Benedetti – unerhört – der Krieg ist da, eh’ man es denkt!“ – „Mir soll es recht sein,“ hörten wir den Verwalter sagen.
„Ei, großer Gott, der sitzt freilich im Trocknen,“ flüsterte die alte Frau; aber dann ward sie still, denn Fritz sprach. „Mir auch, Müller, sehr!“ – Gleich darauf tönte der Hufschlag des Pferdes zu uns herauf.
Ich eilte zurück ans Fenster. Dort ritt er, grade die Straße hinauf an unserem Hause vorüber, ruhig, aufrecht wie immer. Mit schimmernden Augen sah ihm die Mutter nach.
„Gott sei Dank!“ sagte ich, „er scheint ruhig.“
„Er scheint!“ erwiderte sie, „Sie kennen meinen Jungen nicht.“ Und nach einer Pause setzte sie hinzu: „Da fliegt die erste Botschaft von dem Bruch in die Welt hinaus,“ und sie deutete auf Anita, die beflügelten Schrittes unter den Kastanien dahin eilte. „Hui! da giebt’s etwas für die Klatschbasen, und wie wird Se. Durchlaucht sich freuen!“
„Der Prinz?“ rief ich verletzt. „Was geht es den Prinzen an?“
Da legte die alte Frau ihre Hand auf meine Schulter: „Gebe Gott, daß es nicht mit Thränen endet!“
„Aber Lotte denkt nicht an ihn,“ versicherte ich. Doch sie wandte sich um und antwortete nicht; sie drückte mir nur stumm die Hand, und als sie die Thränen sah in meinen Augen, klopfte sie mir freundlich auf die Wange. „Wir bleiben uns gut, Kindchen; – ich bin keine von denen, die ihren Groll auf unschuldige übertragen. Kommen Sie wieder, kommen Sie nur recht oft und grüßen Sie mir meine alte gute Werthern.“
„Sollte das Ernst sein mit dem Kriege?“ fragte ich.
„Wie’s Gottes Wille ist,“ erwiderte sie; „an Gutes glaube ich nicht mehr!“
Als ich heimkehrte, fand ich Lotte am Fenster der Vorderstube; sie rührte sich nicht, und ich ging an ihr vorüber zur Großmutter. Die alte Frau saß am Schreibtisch vor ihrem geöffneten Schmuckkästchen und betrachtete ein Paar köstliche Brillantohrringe.
„Das ist das Letzte,“ flüsterte sie, und die länglichen Tropfen funkelten in der zitternden Hand. „Packe sie ein, Tone, und schicke sie an ‚Friedberg und Söhne‘ unter den Linden; und da das Briefchen. Ich kann so schlecht damit fertig werden; meine Arme sind wie gelähmt.“
„Was willst Du thun, Großmutter?“ fragte ich ängstlich. Ich kannte die Ohrringe; sie waren ein Andenken aus den Tagen des Glückes und der Jugend; die alte Dame hatte sie nie ohne Thränen angeschaut. „Die schenkte mir mein Mann, als der Junge geboren ward,“ hatte sie uns oft erzählt. Der „Junge“ war mein Vater; er lag auf dem Garnisonkirchhof in Berlin – aber bis heute hatten diese Steine ihr immer und immer wieder jene Stunde zurückgezaubert, die allerschönste, da er in der Wiege schrie und dieses alte Antlitz so jung, so selig lächelnd auf Mann und Kind geblickt. „Was willst Du thun?“
„Dem Fritz Roden die Summe zurückerstatten, die er auf ihren Wunsch für den Hans geliehen –. Was geht ihn Hans an?“
„Es wird ihn verletzen,“ wandte ich ein.
„Ich kann und will keine Almosen nehmen,“ erwiderte sie stolz; „Lotte selbst bat darum.“
Ich that ihren Willen; das alte Gesicht sah so furchtbar entstellt aus. Da waren sie wieder, die Sorgen, die quälenden Sorgen! „Was wird aus Euch, aus Lotte?“ flüsterte sie. „Und dazu die Wolken, die von Frankreich herüber ziehen! Tone, komm nachher wieder, lies mir vor; der König schon in Berlin, die Stadt in ungeheurer Aufregung; der Thiers hatte zwar zum Frieden gesprochen, als ob das etwas helfen könnte! Mir ist schrecklich Angst, Tone – ich dachte doch, ich könnte ruhig sterben –. Nun, ich erlebe das Ende nicht mehr!“
„Ach, Großmutter,“ bat ich, „sprich nicht so!“ Mir fiel nichts ein; womit sollte ich sie trösten? Ich siegelte das Päckchen und wollte es, auf ihren Wunsch, selbst nach der Post tragen, dann stockte mein Fuß auf der Schwelle der Verbindungsthür – Lotte stand noch immer am Fenster, aber sie hielt ihr Tuch in der Hand und machte eine leise, grüßende Bewegung, und als meine erstaunten Blicke hinausflogen, da fiel eben der gelbe Vorhang drüben vor einer rasch zurücktretenden Gestalt zusammen.
„Lotte!“ rief ich vorwurfsvoll.
Sie wandte sich. Ein rosiges, selig lächelndes Mädchengesicht blickte mich einen Moment an, dann wurden die Züge augenblicklich ernst. „Was willst Du?“ fragte sie finster.
„Nichts!“ stieß ich hervor und eilte an ihr vorüber. Auf der Straße sagte ich mir ein „Nein!“ nach dem anderen; ein „Unmöglich!“ nach dem anderen. Ich mußte mich geirrt haben!
Am Abend blieb es dunkel im Schlosse; aber in der zehnten Stunde rollte ein Wagen rasch auf unserer Straße dahin, und in dem blassen Dämmerlicht, das der Mond trotz verhüllender Wolken gewährte, flatterte ein weißes Tuch zu unserem Fenster empor; – oder hatte ich mich wiederum getäuscht?
Ich wollte ehrlich fragen, ob ich recht gesehen heute Nachmittag und vorhin? Aber als ich unser Schlafzimmer betrat, lag sie schon im Bette, und als ich näher hinsah, schlief sie, und um ihren Mund zog sich ein Lächeln. Ich ging zur Großmutter und las ihr vor; die alte Dame ruhte in ihren Kissen, die Hände gefaltet. Ihre blassen Lippen bewegten sich leicht. „Gott gebe das Beste! Er schütze unseren König und unser Vaterland,“ sagte sie zuletzt, als ich ermüdet innehielt. „Es kommt eine große Zeit, eine gewaltige Zeit, Tone; aber, denk an mich – wir siegen, wir siegen!“
Ich sah sie fragend an. Ich hatte ganz mechanisch gelesen, meine Gedanken waren bei Lotte; wie ein leerer Schall waren die Worte von meinen Lippen gekommen. Krieg! Er wünscht sich ja Krieg, er wollte vergessen! –
Gegen Morgen kam ein heftiges Gewitter; ein furchtbarer Donnerschlag weckte Lotte und mich zu gleicher Zeit, prasselnd schlug der Regen auf die Blechplatten des Balkons und gegen die Fensterscheiben. Ich stand auf und schickte mich an, zu Großmutter zu gehen; sie hatte immer Angst beim Gewitter. Ich mußte hart an Lotte’s Bett vorüber; sie blinzelte unter den langen Wimpern hervor, und nun streckte sie die Hand aus und hielt mich an den Kleiderfalten, wie schon einmal.
„Tone, bist Du mir böse?“ Und als ich sie ernsthaft ansah, ließ sie mich los und sagte: „Ach, ihr seid Alle so anders als ich; Du bist so vernünftig, so kalt, so ewig gleich –. Hast Du schon jemals Herzklopfen gehabt, Tone? Athemloses, erstickendes Herzklopfen? Ist Dir schon jemals schwindelig gewesen vor lauter Glück und Lust?“
– „Laß mich!“ rief ich empört und gereizt. „Vielleicht versteh’ ich Dich noch einmal, jetzt vermag ich es nicht. Ich bin zu traurig, zu sorgenvoll! Und nun laß mich zu Großmama; sie war gestern so aufgeregt.“
„Ich stehe auch auf!“ rief Lotte mir nach; „ich glaube, nach dem Regen sind alle Rosen im Garten aufgesprungen.“ Das klang so frisch, so jubelnd; wie lange hatte ich sie nicht so gehört!
Die alte Frau schlief. Regungslos lag sie in den Kissen; auch jetzt noch, als ein erneuter heftiger Donner das Haus erbeben machte. Leise schlich ich mich an ihr Bette und bog mich über sie; ein seltsam ruhiges weißes Antlitz ruhte auf dem weißen Pfühl. In athemloser Angst griff ich nach der Hand – eiskalt durchschauerte es mich, und entsetzt schrie ich auf –; das war kein Schlaf!
Ich erinnere mich nicht mehr genau, was ich that und begann, ich fühlte nur Eins deutlich, wir waren nun ganz verlassen!
Lotte, die meinen Schrei gehört, kam, noch im Nachtkleide, herübergestürzt. ihre angstvollen Augen erfaßten mit einem Blick das Schreckliche. „Todt?“ fragte sie, und ein nervöser Schauer schüttelte ihren Körper.
[143] „Todt! Todt!“ jammerte ich, „und Du bist schuld daran! Unser einziger Schutz, unsere einzige Zuflucht!“
Und diesmal war Lotte die Stärkere, die Gefaßte. „Tone, sei ruhig! Tone, gieb mir die Hand, stehe doch auf; – wir sind nicht schutzlos; denke doch nicht gleich das Schlimmste,“ bat sie. Und an mir vorüber beugte sich ihr warmes junges Antlitz auf die kleine welke Hand der Todten. „Vergieb mir, Großmama!“ – Und während ich wie zerschmettert liegen blieb vor dem Bette, eilte sie, sich anzukleiden. Im Nebenzimmer hörte ich, wie sie die Aufwartefrau mit der Trauerbotschaft zu Anita sandte. Es dauerte auch nicht lange, und die kleine schwarze Person war in dem Sterbezimmer.
Lotte und sie richteten mich empor und führten mich in unsere Wohnstube, ich fühlte Kölnisches Wasser an meinen Schläfen und trank bitteren schwarzen Kaffee, den Lotte mir vorhielt, und dazwischen klang wie im Traume ihre Stimme an mein Ohr: „Sorgen Sie, Anita, daß man es sofort schreibt –.“
„Sehr wohl, gnädiges Fräulein! Gnädiges Fräulein brauchen sich um nichts zu kümmern, ich sorge für Alles. Und jetzt werde ich drinnen die Fenster öffnen und die gnädige Frau Großmama so schön, so schön legen und das Zimmer aufräumen und Blumen aus dem Garten holen, und wenn das gnädige Fräulein etwas zur Trauertoilette befehlen – und den Sarg –“
Da richtete ich mich auf. „Sie rühren Frau von Werthern nicht an!“ rief ich.
„Aber Tone, das kannst Du nicht Alles übernehmen,“ beschwichtigte Lotte. Doch schon hatte ich die Thür des Sterbezimmers hinter mir geschlossen. Sie kamen nicht nach, und ich saß da am Bette der alten Frau und dachte weiter nichts, als daß wir den letzten Halt unseres jungen Lebens verloren hatten, ich und Lotte.
Die sanfte Berührung einer Hand, die sich auf meine Schulter legte, ließ mich emporfahren. „Armes Kind!“ sagte die weiche Stimme der Frau Amtsräthin. „Meine gute alte Werthern!“
Und sie strich über die runzelige Wange der Verblichenen, legte ein Leinwandtuch über die todten Augen, fügte die Hände über der Brust zusammen und strich die Falten der Decke glatt.
„Kommen Sie, Tone,“ bat sie dann, „hier will ich die Vorhänge schließen und die Fenster dahinter öffnen. Kommen Sie aus dem dumpfen Zimmer; sie schläft still und friedlich hier –. Ich gehe mit Ihnen in Ihr Schlafstübchen oder in die Küche, dort sind wir allein.“
Ich folgte ihr; wir mußten durch das Wohnzimmer. Lotte saß am Schreibtisch, völlig in Toilette und schrieb; Anita hatte am Fenster Platz genommen und hantirte in schwarzem Krepp und Flor umher. Großer Gott! Ja, es mußte sein! Wohl dem, der so stark ist, die Aeußerlichkeiten nicht zu vergessen in solchen Stunden –. In der Küche sank ich auf den nächsten Stuhl; ich war wie betäubt.
„Ei, Tone, nicht so den Muth verlieren!“ mahnte die kleine gute Frau. „Denken Sie, wie hoch betagt unsere alte Werthern war, es ist gar natürlich, daß sie die Augen schloß –“. Sie verstummte, sie mochte wohl fühlen, es sei kein Trost, was sie sagte.
„Es ist zu viel auf einmal!“ stieß ich hervor, „zu viel! Was soll aus Lotte werden? Ach, Lotte!“
„Der liebe Gott verläßt Niemand, Tone.“
Ach ja, wenn mir der liebe Gott das nur selber sagen wollte, laut und deutlich; aber es blieb Alles stumm auf mein verzweifeltes banges: Was nun?
So saßen wir eine lange Zeit; dann erhob sich Frau Roden. „Ich will nun gehen, Tone,“ flüsterte sie, „und alles Nöthige besorgen, Sarg und Todtenfrau – auch Mittagessen und Wein schicke ich herüber.“ Sie brach plötzlich ab, denn Lotte hatte die Thür geöffnet und schaute herein.
„Ist es Dir recht, Tone, wenn wir das Begräbniß auf deu neunzehnten Juli festsetzen?“ fragte sie. Ich hob den Kopf und dachte nach; wir hatten den Siebenzehnten heute.
„So rasch?“ fragte ich.
„Aber wozu dieses Zögern, Tone? Sag doch selber, der Tischler muß es wissen.“
In der That erschien hinter ihr der Kopf eines Mannes. Frau Roden stand mit der Miene des höchsten Erstaunens dabei.
Ich nickte stumm, und Lotte verschwand.
„Ich bin wohl überflüssig, Tone?“ Die Stimme der alten Dame bebte. „Anita besorgt schon Alles? Das will ja nichts weiter sagen, aber Tonchen, wenn Sie ein Herz brauchen und ein gutes Wort, dann kommen Sie zu uns.“ Sie strich mir mit der Hand über den Scheitel und ging.
Lotte handelte für mich oder – ließ handeln. Es geschah Alles, was in solch traurigem Falle geschehen muß, still und geräuschlos. Und als der Abend kam, flammten die Kerzen aus dem ernsten Grün, mit dem man das letzte Bett der Großmutter umstellt hatte. Inmitten des Zimmers war sie aufgebahrt, und sie ruhte dort so friedlich in dem weißen Gewand, das man ihr angethan, und dem klaren Häubchen um das stille Antlitz. Lotte und ich hatten dort gestanden und sie angeschaut, als Anita uns rief. Nun saßen wir im Wohnzimmer, ohne Licht, und sprachen kein Wort.
Dann fing sie an, umher zu wandern, lautlos, auf dem Rande des Teppichs; ihre dunkle Gestalt glitt vor meinen Blicken hin und wieder, und leise rieselte die Trauerschleppe hinter ihr.
„So sprich doch eine Silbe!“ redete sie mich endlich an.
„Mir ist sehr bange,“ sagte ich.
„Es wird auch wieder anders!“
„Woher hast Du diesen Muth, Lotte? Wir sind schlimmer dran, als die Bettlerin am Wege!“
„Nous verrons!“ sagte sie. „Ich verzweifle nicht so leicht.“
„Die einzige Zuflucht hast Du uns verscherzt –.“
„Es giebt mehr als eine; ich fürchte mich nicht!“ das klang so hell, so siegesgewiß. Ich fragte unwillkürlich noch einmal: „Woher dieser Muth?“ Und als sie schwieg, fuhr ich fort: „Meinetwegen ist es ja nicht; mit vierzig Jahren habe ich eine Stiftsstelle in Berlin, und bis dahin werden die Kräfte ja wohl ausreichen zur Arbeit. Aber Du, Lotte, wie willst Du es anfangen unter fremde Leute zu gehen? Es ist so schwer im Banne der Dienstbarkeit.“
„Ich?“ das klang wie ein belustigter Aufschrei. Sie verstummte aber gleich, und wieder begann sie ihre Wanderung. Zuweilen trat sie an das weit geöffnete Fenster, wie horchend. Vom Schloßthurm schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde, endlich elf Uhr. „Komm,“ sagte ich, „laß uns zu Bette gehen, vielleicht erbarmt sich der Schlaf über uns.“
„Nein, ich kann nicht schlafen, noch lange nicht,“ erwiderte sie hastig. „Bleibe bei mir, Tone, ich bitte Dich.“ Ich lehnte den Kopf zurück, und meine Angen hafteten wieder auf dem schmalen Lichtstreif, der sich durch die Thür des Sterbezimmers drängte.
„Ein Todter ist so furchtbar unheimlich im Hause, man meint beständig die bekannten schweren Athemzüge zu hören, ein Aechzen, ein Rascheln; – hörst Du nichts?“ flüsterte Lotte.
„Ja, aber es ist Täuschung.“
„O nein, es kommt ein Wagen, horch! Ich habe mich nicht getäuscht.“ Und sie eilte zum Fenster und bog sich weit hinaus.
Ich hörte im schlanken Trabe einen Wagen vorüber fahren: nach wenig Sekunden war das Rasseln verstummt, er mußte sein Ziel erreicht haben. „Was ist Dir, Lotte?“ fragte ich sie, die noch immer hinausschaute, und ich kam herüber und faßte nach ihrer Hand. Sie antwortete nicht, aber ich fühlte, wie sie zitterte und wie ihr Athem schwer ging. Nach der Richtung ihres Kopfes zu schließen, blickte sie unverwandt zum Schlosse hinüber. Aus dem Zimmer des Prinzen drang matter Lichtschein durch die Vorhänge; nun theilten sich diese, eine Männergestalt erschien auf dem hellen Hintergrunde und das Fenster öffnete sich –. Lotte war unbeweglich wie eine Statue. – Dann ein Ton, wie wenn zwei Hände leicht zusammengeschlagen werden, und die Vorhänge fielen zurück; regungslos hingen die Falten hernieder.
„Tone! Tone!“ flüsterte Lotte und schlang ihren Arm um meinen Hals; „ach, Tone!“ Und dann zog sie mich in das Zimmer hinein, und indem sie mich anf das Sofa drückte, kniete sie vor mir und barg ihr heißes Gesicht in meinen Schoß. „Gräme Dich nicht, sorge Dich nicht, es wird Alles gut!“
Mir fielen plötzlich Frau Roden’s Worte ein: „Ei, wie wird Se. Durchlaucht sich freuen über Lotte’s Freiheit!“ Sollte sie dennoch Recht haben? „Um Gotteswillen, Lotte, woran denkst Du? Lotte, es wäre entsetzlich – auch das noch!“
„Ich weiß nicht, was Dir einfällt!“ erwiderte sie erregt; „frage mich nicht und ängstige Dich nicht. Ich bin nicht zu bedauern; bitte, schweige.“
„Lotte,“ sagte ich und faßte ihre Hand, „ich kann arbeiten, ich werde für Dich sorgen, versprich mir nur – –“
[144] „Gar nichts!“ rief sie stolz. „Ich wiederhole Dir, ich werde Dir nie zur Last fallen, lieber ginge ich zu Hans nach Amerika. Aber höre doch auf, ich bin nicht im mindesten verzweifelt.“ Und sie zündete Licht an, ging ins Schlafzimmer und begann ihre Nachttoilette zu machen.
Ich blieb allein in der finsteren Stube. Unaufhörlich ging es mir durch den Kopf: Und was nun? – Nach Berlin zurück! Lotte mußte Unterkunft finden im Hause ihres Vormunds, und ich – ach, für mich war ich ja nicht besorgt! Und endlich versank der rastlose Wirbel der Gedanken in eine nicht zu bewältigende Müdigkeit; ich tastete mich durch den finsteren Raum und warf mich angekleidet auf das Bett.
Mit schweren Gliedern und schmerzendem Kopf erwachte ich am andern Morgen, und wie mit Centnergewichten fiel die Gegenwart auf mein Herz.
Ich richtete mich empor, ein wunderbarer blaugoldener Schimmer drängte sich durch die Vorhänge. Lotte hatte schon ihr Lager verlassen; im Nebenzimmer hörte ich leise sprechen und erkannte Anita’s Stimme. Es kam mir vor, als habe sie einen gewissen demüthigen Tonfall, den ich früher nicht bemerkte. Als ich nach einer Weile in das Wohnzimmer trat, stand Lotte fertig angekleidet vor ihrem Schreibtisch und betrachtete wie verlegen ihre schmale weiße Hand. Sie kam mir nicht entgegen, sie nickte nur stumm mit dem Kopfe. Anita war verschwunden.
O, diese erdrückende Stille und Schwüle in dem Zimmer, trotz der kühlen Morgenluft! Neben Lotte’s Theetasse lag ein Strauß stark duftender Orangeblüthen; sie machten meinen Kopfschmerz nur noch weher.
Der Vormittag ging stumm vorüber; ich hatte keinerlei Energie mich empor zu raffen. Lotte schrieb; ich dachte nicht darüber nach, an Wen? Im Nebenzimmer hörte ich dann schwere Tritte und Flüstern – der Sarg ward gebracht. Ich hatte nicht das Herz, das stille Antlitz noch einmal zu sehen.
Und derweil begann schon der Sturm durch die Welt zu brausen, der herrliche, der furchtbare Sturm. Auf den Gassen standen die Menschen beisammen und sprachen von „Kriegserklärung“, die stündlich kommen müsse. Von Haus zu Haus, von Herz zu Herz flog der eine Gedanke: „Der alte Feind! Auf, gegen ihn mit Gut und Blut, mit Allem was wir haben!“ Keiner, Keiner dachte noch an eignen Kummer, als hätten die Hunderttausende deutscher Herzen nur einen Schlag, den für des Vaterlandes Ehre! – Ach, wer da so unsichtbar hätte wandern können durch Deutschlands Städte und Dörfer, hinein blicken in Haus und Hütte, wie viel edle Begeisterung, wie viel freudigen Opfermuth, wie viel Hochherzigkeit und Selbstverleugnung hätte er zu schauen bekommen! Und nur ich saß da und konnte mich nicht fassen!
Krieg! Wirklich Krieg! Das heißt doch – Thränen und Leid, und Leid und Thränen? Als ob es noch nicht genug des Jammers! Das war Alles, was ich zu denken vermochte.
Und der Tag verging und ein zweiter brach an, der Begräbnißtag. Gegen elf Uhr brachte man den Sarg das Treppchen hinunter; er mußte durch den Domainengarten getragen werden, am Thore des Gutshofes wartete der Leichenwagen. Ich habe nichts von Allem gesehen und gehört, denn ich saß an dem einzigen Orte, wo ich ungestört verweilen konnte, in der kleinen Küche, nach dem stillen Garten hinaus. Nur das Geläut der Glocken, das die alte gute Frau zum Kirchhof begleitete, scholl in mein Ohr.
Und mitten hinein in dieses Friedensgeläut tönte der Ruf: „Zu den Waffen! der Krieg ist erklärt, die Einberufungsordre da!“
Ich wußte es nicht, da stürzte Lotte in mein Zimmer. – Der vom Begräbniß heimkehrende Prediger hatte die Nachricht mitgebracht. Sie war blaß, sie rang die Hände, sie zitterte an allen Gliedern. Es war, als ob ihr Anblick mich gewaltsam emporrüttelte.
„Tone, das ist furchtbar!“ stammelte sie.
Ich folgte ihr in das Vorderzimmer, wo der Geistliche noch stand. Von der Straße her schallten Rufe und ungewohnter Lärm. „Ihre Trauer wird milder werden in dem großen allgemeinen Leid,“ sagte der alte Mann, „helfen auch Sie mit tragen; Gemeinsamkeit giebt vielen Trost, viel Freudigkeit.“
Als er gegangen, trat ich zu Lotte, und einen Augenblick hielten wir uns fest umschlungen; ich fühlte ihr klopfendes Herz an dem meinen und hörte ihre bangen schluchzenden Athemzüge.
„Es ist furchtbar!“ flüsterte sie. „Ich glaubte noch immer, der Sturm ziehe vorüber.“
„Aengstige Dich nicht, Lotte, wir sind ja beisammen, wir haben uns!“ Nun sie zitterte, kam mir der alte Muth wieder.
„Wir sind ja Soldatenkinder, Lotte,“ fügte ich noch hinzu und gab sie frei aus meinen Armen, „und wir haben Beide leider Keinen, der da mit hinausziehen darf. – Wenn der Vater noch lebte, wenn Hans noch hier –“
Aber sie achtete meiner Worte nicht; sie lief nach der Thür, und dort blieb sie stehen, die Hände an die Schläfen gepreßt; und dann kam sie wieder ans Fenster. Sie stand offenbar unter dem Banne einer furchtbaren Gemüthsbewegung.
Dann stürmte es draußen die Treppe empor und ohne anzuklopfen ins Zinimer; Anita war es, athemlos. Ihre Augen suchten Lotte, und Beider Blicke trafen sich; es war, als ob sie Beide sprechen wollten und meine Gegenwart ihnen die Lippen schloß.
„Sie wissen es schon,“ begann endlich die Italienerin verlegen, „der Krieg – auch Se. Durchlaucht reisen morgen schon.“ Ich sah Lotte’s Antlitz nicht, sie hatte sich abgewandt; aber mir ward es mit einem Male leichter ums Herz, und still ging ich aus dem Zimmer. Wenn wirklich der lustige Prinz ein Tendre für Lotte gefaßt, so brach dieses Kriegsgewitter segensreich in den schwülen Liebestraum hinein. Ich wunderte mich, als ich Anita sofort nach mir das Wohnzimmer verlassen hörte und sie mit Windeseile durch den Gartenweg fliegen sah. Und als ich sogleich zu Lotte zurückkehrte, fand ich sie mitten in der Stube, die Hände vor das Gesicht geschlagen.
„Was ist Dir, Lotte?“
Da sanken ihre Arme herunter; ich sah Thränen in ihren Angen, und seltsam zuckte es um ihren Mund, wie, glückliches Lächeln, und doch schmerzverzogen.
Genau weiß ich nicht mehr, wie es in den nächsten Stunden ward; bei großen Ereignissen ist der Sinn wie trunken. Ich dachte nicht mehr an unsere bange Zukunft, was galt des Einzelnen Sorge noch? Die alte Aufwartefrau, die uns das lauwarme Mittagessen aus dem Speisehause brachte, hatte drei Söhne, die „mitmußten“, und der Aelteste besaß schon Weib und Kind und Geschäft. Aber die Alte klagte nicht.
Sie setzte die Schüsseln auf den Tisch und sagte: „Herr Roden hat eben die Leute auf dem Hofe versammelt und ihnen eine Rede gehalten. Er muß auch mit,“ setzte sie hinzu und heftete einen Blick auf Lotte, der nicht allzu freundlich war; „und Niemand kann wissen, wer wiederkommt!“
Ach, Er! Ich hatte seiner noch nicht gedacht heute, und ich sah Lotte an bei diesen letzten Worten, ob ihr das Herz nicht schlug in Reue, ob sie ihn lassen würde, ohne ein Wort, ohne eine Bitte um Verzeihung. Aber Lotte hatte gar nicht zugehört. Den Kopf auf die Hand gestützt, rührte sie das Essen nicht an. Draußen auf der Gasse lärmten die Jungen aus der Nachbarschaft und spielten Krieg mit den Franzosen; in unserem Zimmer war es desto stiller; ich saß dann am Fenster, Lotte am Schreibtisch. Sie kraulte hastig in den Kästen herum, zerriß Briefe und band andere zusammen, – ich begriff ihr Thun nicht. Ein paarmal that ich den Mund auf, um ruhig mit ihr noch einmal über Fritz Roden zu sprechen, aber ich wußte nicht, wie beginnen. Ein paarmal wandte sie sich, als wollte sie reden, einmal trat sie sogar dicht zu mir heran, aber auch sie schwieg; in jähem Wechsel kam und ging die Farbe auf ihren Waugen. Sie warf keinen Blick nach den Fenstern drüben, obgleich von Zeit zu Zeit der Prinz dort sichtbar wurde.
„Ich ersticke hier fast,“ sagte sie endlich, „ich wünschte, es wäre Abend.“
Als es dämmerte, erhob ich mich und fragte sie, ob sie mich auf den Kirchhof begleiten wolle.
„Morgen! Morgen!“ erwiderte sie, „heute laß mich; ich werde ein wenig im Garten auf- und abgehen.“ Und als ich zur Thür hinausschritt, kam sie mir hastig nach. „Tone!“
Wieder war es, als wollte sie sprechen, aber sie brachte weiter nichts heraus als: „Wenn Du dort betest, vergiß mich nicht! – Wann kommst Du zurück?“
„Ich weiß es nicht, Lotte – bald.“
[145]
[146] So trennten wir uns. – Lotte hat nie Vertrauen zu mir gehabt; sie kannte nur ihren eignen Willen. „Ich lasse mich nicht schieben!“
Da draußen kontrastirte der Lärm seltsam mit unserem stillen Trauerhause. Aus dem Domainenhofe standen die sämmtlichen Pferde; ich hörte Fritz Roden’s Stimme aus den Ställen erschallen, die Knechte liefen geschäftig ab und zu, und der alte Schafmeister, der noch von Anno 13 war, stand eifrig sprechend vor dem Küchenfenster. So rasch wie möglich ging ich über den Hof.
In den sonst so ruhigen Straßen das aufgeregteste Leben; vor den Thüren die Weiber in Angst und Unruhe, in den Schenken die Männer, die Kinder in vollster Begeisterung vaterländische Lieder singend. Erst auf dem Friedhof ward es stiller. Ich habe lange da draußen vor dem frischen Hügel gesessen; als ich aufstand, war es um mich her fast dunkel.
In der Stadt noch dasselbe Leben und Treiben, ferne Musik klang herüber und Hurrahrufen; nur unsere Straße lag jetzt in tiefster Ruhe. Ich warf einen Blick zu den Fenstern des Schlosses hinauf, es schimmerte Lichtglanz hinter den Vorhängen; bei uns drüben war es dunkel. Lotte saß wohl noch im Finstern! Dann schoß mir einen Augenblick der Gedanke durch den Kopf, was wohl Anita heute Nachmittag gewollt hat? Ob der Prinz etwa herübergekommen, sie zu sehen? Es wäre schrecklich peinlich, hätte er sie allein gefunden; – oder doch nicht? Er war Kavalier, er würde heute, am Begräbnißtage uns nicht stören, er hatte ja der Form genügt und mit dem prachtvollen Kranze ein paar theilnehmende Zeilen geschickt. Arme Lotte, sie war so ganz allein!
Ich beschleunigte meinen Schritt und langte athemlos in unserer Wohnung an. „Verzeihe, Lotte!“ sprach ich beim Hereintreten in das finstere Zimmer, „ich habe mich verspätet.“
Keine Antwort! Ich öffnete das Schlafzimmer – „Lotte!“ rief ich – kein Laut. „Lotte!“ schallte meine Stimme in den Garten hinaus. – Vergebens! Eine seltsame Angst überkam mich, mit bebenden Fingern zündete ich Licht an und trat ins Wohnzimmer zurück. Da lag mitten auf dem Tische ein Brief:
„An meine Schwester!“
Und im nächsten Augenblick lasen meine erschreckten Augen die wenigen Worte:
- „Ich werde noch heute Prinz Otto’s Weib, denn schon morgen scheidet er. Die Trauung findet um acht Uhr in aller Stille in seinen Gemächern statt. – Ich hatte nicht den Muth, es Dir heute Mittag zu gestehen, denn ich hätte einen Widerspruch nicht ruhig ertragen, und die Stunden des Glückes sind uns karg genug bemessen. Verzeihe Deiner Lotte.“
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
In Nr. 50 Jahrg. 1885 der „Gartenlaube“ haben wir das Nordenfelt’sche Unterseeboot beschrieben, welches damals als das beste unter seinen zahlreichen Konkurrenten vielfach anerkannt wurde. Inzwischen wurde es aber durch eine neue Erfindung des französischen Ingenieurs C. Goubet übertroffen. Dasselbe ist schon darum dem Nordenfelt’schen vorzuziehen, weil bei ihm die Feuerung mit dem störenden Rauchfang durch die Elektricität ersetzt ist und zwei Behälter mit auf 50 Atmosphären zusammengepreßter Luft der Mannschaft einen achtstündigen Aufenthalt unter Wasser ermöglichen.
Wir wollen den Mechanismus und die Handhabung des nur fünf Meter langen Fahrzeuges dem Leser klar zu machen suchen, wobei wir, um nicht zu weitläufig zu werden, von der Beschreibung einer Anzahl nicht wesentlicher Theile des beifolgend abgebildeten Bootes absehen.
Soll das Goubet’sche Fahrzeug seine verhängnißvolle Fahrt antreten, so steigen der Führer und der Steuermann und Maschinist in das Innere, durch die Kuppel a, welche hierauf luft- und wasserdicht wieder verschlossen wird. Diese Kuppel ist mit sieben Gucklöchern von starkem Glase versehen, wovon eins auch oben angebracht ist, so daß die Mannschaft sich bequem nach allen Seiten umsehen kann. Anfangs fährt natürlich das Boot, wie das Nordenfelt’sche, an der Oberfläche, wobei es bis zur angedeuteten Wasserlinie auftaucht. Auf das Kommando des Führers stellt zunächst der Matrose die elektrische Verbindung zwischen der vorne sichtbaren Akkumulatorenkammer und der mit der Schraube S verkuppelten Dynamomaschine (Motor) her, worauf diese und damit die Schraube sich zu drehen beginnen und das Fahrzeug Fahrt bekommt. Unsere Leser werden vielleicht die Abwesenheit eines Steuers bemerkt haben. Die Rolle desselben übernimmt in der That die Schraube dadurch, daß sie sich nach rechts und links mittelst des Rades verstellen läßt, welches der Steuermann mit der rechten Hand erfaßt hat.
Gelangt nun das Boot in den Schußbereich des anzugreifenden Fahrzeuges, so öffnet zunächst der Steuermann einen Hahn und gestattet damit der in dem Preßluftbehälter eingeschlossenen Luft den Austritt durch die Röhre k in die Kuppel, also in unmittelbare Nähe der Athmungs-Organe der Mannschaft. Zugleich dreht der Führer den Hahn P und bewirkt damit das Einströmen des Seewassers in die unteren Behälter h, während er umgekehrt mit dem Hebel r, den er in der linken Hand hält, die Pumpe c in Thätigkeit versetzt und damit das eingedrungene Wasser wieder hinaustreibt. Dadurch hat es der Officier vollständig in der Hand, das Boot im Nu sinken oder aufsteigen zu lassen, während der Matrose es nach seinen Anordnungen steuert und die Fahrt auf die einfachste Weise von der Welt dadurch beschleunigt oder verlangsamt, daß er eine größere oder geringere Zahl Akkumulatoren einschaltet. Trifft das Fahrzeug auf Leitungen, die nach Unterseeminen führen, so werden diese Leitungen mit dem durch eine elektrische Glühlampe beleuchteten, vorne aufragenden Messer abgeschnitten, welches der Officier mit dem Hebel T handhabt.
Man denke sich nun, das Boot befinde sich unter einem feindlichen Schiffe. Auf Geheiß des Führers wird es in eine solche Lage gebracht, daß der becherartige, hinten befindliche Torpedo auf den Schiffsboden treffen muß. Dieser steigt dann durch seinen natürlichen Auftrieb und heftet sich mit den sichtbaren Zähnen – wie das geschehen soll, verschweigt leider die uns vorliegende Beschreibung des Erfinders – an den Rumpf des Schiffes. Sofort tritt nun das Unterseeboot den Rückweg an, wobei es durch die sich aufrollende Drahtleitung mit der Sprengwaffe verbunden bleibt, und [147] es erfolgt auf Kommando des Führers die Zündung der letzteren auf elektrischem Wege.
Es erübrigt nur noch die Beschreibung einzelner Vorrichtungen, die wir bisher nicht erwähnt haben. Zunächst der beiden Behälter A und der Linse A zwischen den beiden Seeleuten. Durch diese Linse und die damit verbundenen Vorkehrungen, auf die wir nicht näher eingehen wollen, wird bewirkt, daß sich der Wasserstand in den Behältern sehr schnell verändern läßt. Es erhöht sich somit die Last bald hinten, bald vorne, und es wird der stampfenden Bewegung des Bootes wirksam vorgebeugt. Die Pumpe d dient, in Verbindung mit Chlor- und Aetzkali, zur Reinigung der ausgeathmeten Luft. Das Bleigewicht X endlich spielt die Rolle des Ballastes und soll die schlingernde Bewegung des Fahrzeuges verhindern. Der Erfinder hat aber auch dafür gesorgt, daß das Gewicht sich vom Innern des Bootes aus loslösen läßt, und zwar für den Fall, daß die Aussaugepumpen den Dienst versagen. Das Fahrzeug steigt dann von selbst wieder an die Oberfläche.
Die elektrische Kraft soll ausreichen um das Goubet’sche Boot vierzehn Stunden lang mit einer Geschwindigkeit von fünf Knoten (etwa neun Kilometer in der Stunde) zu treiben.
Sehr anerkennenswerth ist es, daß Goubet nicht bloß die Zerstörung feindlicher Fahrzeuge, sondern auch friedliche Zwecke ins Auge faßt. Sein Unterseeboot soll ebenfalls zur Untersuchung des Meeresbodens dienen und, an Stelle der dem Wellengang ausgesetzten Rettungsboote, gestrandeten Schiffen Rettungsleinen überbringen, die, an Bojen befestigt, in der Nähe
derselben an die Oberfläche steigen und leicht ergriffen werden können.Blätter und Blüthen.
Das Beschlagen des Faschingspferdes im Gailthale. (Mit Illustration S. 137.) Am Faschingsonntag geht es hoch her in den sonst stillen Dörfern des Gailthales. An diesem Tage muß sich ja in jedem reichen Hause beim Mittagsmahle „der Tisch biegen“, und in allen Häusern werden „Krapfen“ in solchen Mengen gebacken, als gälte es heimkehrende Sieger zu bewirthen. Abends beschließt der Tanz die Freuden des Tages und
„Es schmettert das Blech, es rumpelt der Baß,
Die Geigen tönen ohn’ Unterlaß – –“
bis in die späte Nachtstunde hinein.
Dies Alles bildet jedoch nur ein Vorspiel zu dem letzten Scherz in dieser tollen Zeit, zum Beschlagen des Faschingspferdes, welches am Dienstag nach dem Karnevalssonntag stattfindet. Einige Auserwählte der muthigen Dorfjugend zimmern in einem Stalle aus Holz, Pappe und Stroh das wunderliche trojanische Pferd und vermummen sich für den drolligen Umzug. Ihre Garderobe ist von Groß und Klein dicht umschart wie ein Theater in der Großstadt – alle harren ungeduldig auf das Erscheinen der jungen Faschingsnarren. Endlich sind sie kostümirt, der kleine Tambour schlägt die große Trommel und schreitet gravitätisch aus der aufspringenden Stallthür; ihm folgt das weiße Roß auf vier jungen Menschenfüßen; seine Strohmähne flattert im Winde, froh wiehert es aus einer Oeffnung des langen Papierhalses. Ein stattlicher Soldat in einer Uniform aus den Franzosenkriegen führt es am Zügel. Hinterdrein kommt ein großer Schmied mit Hammer und Zange; seine riesige Blechnase glänzt wie das Eisgefilde des Glockners im Morgenlicht; ihm zur Seite gehen Buben als Bajazzos gekleidet mit großen Sammelbüchsen. Ein hundertstimmiges Freudengeschrei begrüßt diesen Zug, der sich nun unter allerlei Possen und Schnacken zuerst vor das Wirthshaus begiebt, wo der Schmied der Wirthin eine launige Anrede hält, die darauf hinzielt, sie möge ihre Hand aufthun, das Faschingspferd wolle beschlagen sein, denn es hätte auf dem Weg zu ihrem Hause einen Huf verloren. Lachend steckt die Wirthin jedem Bajazzo einige Sechserln in die Sparbüchse und bringt Wein und Krapfen für das Roß und sein Geleit.
Der Schmied hebt nun einen Hinterfuß des Pferdes auf und hämmert so tapfer darauf los, daß es sich bäumt und ausschlägt. Ein schallendes Gelächter begrüßt seine Sprünge, und währenddessen raubt der Soldat der nächsten schmucken Dirne einen Kuß, und wenn sie ihn dafür schlägt – einen zweiten und dritten. Und die Bajazzos sind auch nicht faul, sie üben hundert Bosheiten, bis endlich der Schmied seine Arbeit beendet und der Hausfrau prophezeit, es werde der Segen Gottes nicht von ihrem Hause weichen, weil sie das Faschingspferd mit Silber hat beschlagen lassen. Und unter Trommelschall und Gelächter und Jubelgeschrei ziehen sie mit ihrem Roß von Haus zu Haus, bis der Abend einbricht und der Zug ins Wirthshaus zurückkehrt.
Ob der Gebrauch des Pferdebeschlagens germanischen oder wendischen Ursprungs ist, ob das weiße Roß an Odin’s oder Triglav’s Opferthiere gemahnen soll – wagen wir nicht zu entscheiden; doch freuen wir uns, daß solche Feste die wenigen Wenden, die im Gailthale wohnen, mit den deutschen Bewohnern in traulicher Gesellschaft vereinen – und daß sie
dabei lieber und leichter deutsch als „slovenisch“ sprechen.Honoaratiorenball. (Mit Illustration S. 145.) Es liegt schon in
dem Klang des Wortes etwas Respekteinflößendes, zur Ehrerbietung
Nöthigendes. Wenn ein neudeutscher Bürger aus Kamerun eine Reise durch
deutsche Städte und Städtchen machte und dort auf einen „Honoratiorenball“
geladen würde, wer weiß, ob ihn nicht schon das Wort, der bloße
Klang des Wortes in die Flucht jagte. Mancher von den jungen Leuten,
die in den Tanzsaal geladen werden, folgte wohl gerne seinem Beispiel,
er darf es aber nicht, denn er ist nicht so unabhängig wie sein schwarzer
Landsmann, seine ganze Existenz hängt vielleicht von dem größeren oder
geringeren Geschick ab, mit dem er heute die Honoratiorentochter im Takte
drehen wird. Und es gehört nicht nur großes Geschick, es gehört auch
ein festes, gut versichertes Herz dazu. In vielen Fällen wenigstens, was
jeder zugeben wird, der den armen Jüngling im Mittelpunkt unseres
Bildes betrachtet. Ein herrliches Geschöpf mit einem Sirenengesichtchen
und einer entzückenden Gestalt im Arm zu halten und dabei zu wissen,
daß man nichts als eine Art Rotirmaschine, daß kein Blick der Holden
dem Tänzer lohnt, daß ihre Augen nur auf den Papa gerichtet sind,
der, sein erhabenes Honoratiorengesicht zu einem wohlgefälligen Lächeln
verziehend, würdevoll mit den Händen den Takt giebt – den Duft des
verführerischen Goldhaars zu athmen, die rothen Lippen in so gefährlicher
Nähe zu sehen und zu wissen, daß dieser stolze Backfisch „Honoratiore“
vom Scheitel bis zur Zehe ist und sich hoch über allen Nichthonoratioren
fühlt – gewiß, es ist keine Kleinigkeit, da Tänzer zu sein. Aber die
Probe wird bestanden, und wenn der Tanz zu Ende, lohnt wohl ein
Knix der Schönen, ein herablassendes Kopfnicken des Papa, der ganz
glücklich ist, daß sein Töchterlein sich als brillante Tänzerin erwiesen hat.
Derselben Ansicht sind ja auch die älteren Damen der Gesellschaft, die
mit kritischen Blicken die Tanzenden verfolgen, und der „gewichtige“
Honoratiore – Gemeinderath ist er ohne Zweifel – der mit einer
so graziösen Handbewegung auf das Pärchen deutet, ist sicher auch
der Anschauung, daß der stolz dahinschwebende Backfisch die Königin des
Festes ist. Wie lange wird die arme Rotirmaschine noch von ihr
träumen?! E. P.
Durch schwerer Wolken trübe Schar
Irrt flammend greller Blitzesschein. –
Wo weilst du, mein verwegner Aar?
Komm heim, komm heim, wir sind allein! –
Sturmlaut und sternlos ist die Nacht
Und schreckensvoll des Wetters Wuth.
Komm heim! Bei deinem liebsten Gut
Sitz ich bewehrt und halte Wacht.
Das Lämplein vor dem Gottesbild
Verlischt. – O bittre Sehnsuchtspein!
Mein Herze ruft dich laut und wild:
Komm heim, komm heim, wir sind allein!
Ich seh dich wie in wachem Traum,
Du Trotzigster der tapfern Zahl, –
Dein Angesicht ist starr und fahl,
Und blutig ist der Heide Saum.
Dein Heim einst nanntest du mein Herz;
O komm; – mit meiner Küsse Gluth
Still’ ich des kühnen Helden Schmerz,
Still’ ich der Wunden rinnend Blut.
Ich schaute tapfer lang darein, –
Nun ist mein Muth, mein Stolz vorbei!
Hörst du der Sehnsucht bangen Schrei?
Komm heim, komm heim, wir sind allein! –
Frida Schanz.
„Die Anwesenden ausgenommen!“ Wenn man etwas sagt, das
Einen in der Gesellschaft verletzen könnte, dann muß man hinzufügen:
„Natürlich immer die Anwesenden ausgenommen.“ Diese Regel hatte der
junge Baron Harald von Sinnen von seinem Hofmeister eingeprägt erhalten,
und er hatte auch schon bei verschiedenen Gelegenheiten mit gutem Erfolg von
derselben Gebrauch gemacht. Eines Tages hatte er nach beendigtem Diner
unter den älteren Damen Platz genommen, welchen er allerlei Geschichten
erzählte. Die Geschichten fanden großen Beifall. Natürlich: der junge Baron
war sehr liebenswürdig und hatte die nächste Anwartschaft auf ein großes
Majorat. Der Beifall der Damen ermuthigte ihn immer mehr, und er
ließ eine Geschichte auf die andere folgen. Darunter auch eine, deren
Heldin eine Dame war, die sich ebenso sehr durch ihren Geist wie durch
ihre Häßlichkeit hervorthat. Der junge Baron betonte wiederholt die
Häßlichkeit der Dame. Da bemerkte er zu seinem Schrecken, daß dies bei
seinen Zuhörerinnen, die alle über die erste Jugendblüthe der Schönheit
schon mehr oder weniger hinaus waren, einen unangenehmen Eindruck
machte. Doch er wußte sich zu helfen, in Erinnerung an die ihm von
seinem Hofmeister eingeprägte Regel schloß er seine Erzählung mit den
geflügelten Worten: „Ja, ja, meine Damen, so ist es, die Häßlichen sind in Regel nicht dumm, – natürlich immer die Anwesenden ausgenommen.“ B.-W.
[148] Deutschlands merkwürdige Bäume. Nr. 6. Die Kaisereiche zu Eppelborn. Unsere Altvordern huldigten mit Vorliebe der Sitte, in den Kronen breitästiger Bäume Bänke und Tische aufzuschlagen und dort in freier Luft in der natürlichen Laube geselligen Freuden sich hinzugeben. An Dorffesten thronte in solchen Linden und Eichen die Musik und ließ von dem hohen Podium ihre rhythmischen Klänge zum Tanze der Jugend erschallen. Daß diese Sitte noch nicht ganz vergessen wurde, beweist uns die originelle Eiche zu Eppelborn im Regierungsbezirke Trier, die in jüngster Zeit zu jener merkwürdigen und interessanten Schöpfung umgestaltet wurde, die uns die nebenstehende Abbildung vorführt.
Seit den Septembertagen 1870 enthielt diese Eiche, die eine Höhe von 15,6 Meter erreicht, nur einen einfachen Tisch nebst einer Bank in ihrer Krone, bis der Bürgermeister E. Schwan in Eppelborn im Jahre 1882 die primitive Anlage zu erweitern beschloß.
Eine massive Holztreppe, die bis zur Krone hinaufführt, umgiebt jetzt den Stamm, an welchem sieben Podestböden mit Blumengeländer angebracht sind. Die Hauptsache bildet ein durch zweckmäßiges Binden und Schneiden der Aeste hergestellter, 10 Quadratmeter weiter und 3 Meter hoher Bodenraum, in dem ein Tisch, Kaffeeschrank, Spiegel und eine Bank
aufgestellt sind. Als Schmuck erblickt man in ihm verschiedene
in Spiritus eingesetzte Thiere und Mörser mit vollständigen Lafetten, während ein Faß, aus dem vier verschiedene Getränke verzapft werden können, praktischeren Zwecken dient. Ein Taubenschlag, Käfige mit Edelfalken und sonstigen Vögeln, ein Eichhornkasten, Wettersignale
vervollständigen die bunte Ausstattung des merkwürdigen Baumes.
In höchster Höhe ist noch eine Aeolsharmonika angebracht und „sendet“, wie die uns vorliegende Beschreibung berichtet, „ihre melodischen Klänge ins Thal, besonders den nächtlichen Wanderer überraschend.“
Größere und kleinere Photographien der Kaisereiche zu Eppelborn sind von dem genannten Bürgermeister E. Schwan zu beziehen, der den gesammten Reinertrag aus dem Verkauf derselben für die Ortsarmen bestimmt hat. *
Nationaler deutsch-amerikanischer Schulverein. In Chicago hat sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahres ein Verein gebildet, der es verdient, auch diesseit des Oceans mit besten Wünschen für ein ersprießliches Gedeihen begrüßt zu werden: ein deutsch-amerikanischer Schulverein, welcher in ähnlichem Sinne in Amerika wirken will, wie dies der allgemeine deutsche Schulverein in Europa schon seit einigen Jahren gethan hat.
Das Programm des Vereins ist ein so klares und verständiges, daß ein erfreulicher Erfolg seiner Bestrebungen kaum fraglich sein durfte. Die amerikanische Nation zu einem einheitlichen Ganzen auszugestalten, ist das Ziel, welchem auch der Deutsch-Amerikaner zustrebt; aber zur Erreichung dieses Zieles, bis zur Verschmelzung der verschiedenen Nationalitäten zu einem einzigen großen amerikanischen Volke soll das Hauptstreben des Einzelnen wie der Gesammtheit darauf gerichtet sein, das neue Volk mit den besten Charakterzügen und Errungenschaften auszustatten, welche die verschiedenen Völker der alten Welt sich mühevoll im Laufe der Jahrhunderte angeeignet haben. Da nun aber das deutsche Volk vor anderen reich ist an Eigenschaften, welche zur Hebung und Festigung der jungen werdenden Nation geeignet sind, so ist die Erhaltung, Kräftigung und Ausbreitung des deutschen Elementes in der amerikanischen Bevölkerung aus diesem Grunde – im wohlverstandenen eigenen Interesse – nicht eine bloße Anhänglichkeit an die vertraute Sprache und das alte Vaterland und seine Kultur, sondern eine Pflicht. „Das deutsche Volk,“ heißt es diesbezüglich in dem Programm des Vereins, „besitzt treffliche Eigenschaften des Herzens und Geistes, und insbesondere haben ihm seine Arbeitstüchtigkeit, sein wirthschaftliches Talent, seine Erziehungsmethoden, wissenschaftliche und künstlerische Erfolge, sowie seine reiche klassische Litteratur den Beifall und die Anerkennung aller andern Kulturvölker eingetragen. Wir Deutsch-Amerikaner sind aber natürliche Erben dieser Vorzüge des deutschen Volkes, und da wir zugleich unter all den hier eingewanderten Bevölkerungselementen das zweitmächtigste sind, so würden wir uns an unserer Abstammung und dem Wohle unseres Adoptiv-Vaterlandes versündigen, setzten wir nicht all unsere Kräfte ein, unsere Nachkommen und so zugleich die werdende amerikanische Nation jener Vorzüge theilhaftig zu machen.“ Zur Erreichung dieses Zieles ist in erster Reihe die Erhaltung der deutschen Sprache in Schule und Haus nothwendig; und die thatkräftige Pflege derselben insbesondere durch Gründung deutscher Schulen und Beibehaltung des Deutschen als Verkehrssprache ist es, welche sich der deutsch-amerikanische Schulverein zur Aufgabe gestellt hat.
Hierzu ein aufrichtiges „Glückauf!“ auch von den Stammesbrüdern im alten Vaterlande! * *
Friedrich Wilhelm Gubitz. Der Name des ausgezeichneten Künstlers und Schriftstellers ist in der „Gartenlaube“ kein fremder. Als im Jahrgang 1867 (Nr. 9.) aus der Feder Max Ring’s ein Artikel über „Die Berliner Presse“ erschien, mußte auch Gubitz’ in ehrenvollster Weise gedacht werden, und der Artikel „Moderne Kunstindustrie“ (1874 Nr. 32) beschäftigt sich gleichfalls mit ihm. Er war befreundet mit Heinrich Heine, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Karl Maria von Weber sowie anderen bedeutenden Männern und stand in den zwanziger und dreißiger Jahren durch seine seit 1817 herausgegebene Zeitschrift „Der Gesellschafter“ – in welchem auch Heine’s früheste Gedichte erschienen – mit den hervorragendsten Schriftstellern in reger Verbindung. Große Verdienste erwarb er sich aber namentlich durch seinen gehaltvollen „Volks-Kalender“ und um die Förderung der Holzschneidekunst, in welcher letztern er so Vorzügliches leistete, daß seine Arbeiten noch heute mit Auszeichnung genannt zu werden verdienen, und daß es nur gerecht erscheint, das Andenken an den Künstler gelegentlich der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages – am 27. Februar d. J. – durch einen Hinweis auf seine Leistungen ehrend zu erneuern. Gestorben ist Gubitz in Berlin am 5. Juni 1870, und manchem Berliner Schriftsteller oder Künstler ist der kleine ernste Herr mit dem vollen schneeweißen Haar noch in lebhafter Erinnerung. * *
Kleiner Briefkasten.
G. R. in K. Der am 4. Februar verstorbene frühere Abgeordnete Hans Victor von Unruh, 1848 letzter Präsident der preußischen Nationalversammlung, war von 1863 bis 1871 Mitglied des Abgeordnetenhauses und gehörte von 1867 bis 1879 auch dem Reichstage an. Geboren war v. Unruh am 28. März 1806 in Tilsit.
A. G. in Gyon. Die Adresse des Malern Richard Püttner ist: München-Neuhausen-Neuwittelsbach 22. Derselbe ist gern bereit, nach Angabe Ihrer vollen Adresse die vorliegenden Fragen ausführlicher zu beantworten, als es an dieser Stelle bei dem knapp bemessenen Raume möglich ist.
Alter Abonnent W. im Harz. Die Beantwortung Ihrer Anfrage würde uns zu weit führen. Wir empfehlen Ihnen jedoch das nicht zu umfangreiche Buch „Der Kaffee in seinen Beziehungen zum Leben, geschildert von Dr. Heinrich Boehnke-Reich“ (Leipzig, Fr. Thiel), in welchem Sie auch über Surrogate und Zusätze zum Kaffee, Ermittelung von Verfälschungen desselben etc. eingehende Auskunft finden.
Inhalt: Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 133. – Briefliche Kuren. Als Warnung mitgetheilt von einem langjährigen praktischen Arzte. S. 138. – Gebrüder Grimm. Zum hundertjährigen Geburtstage Wilhelm Grimm’s. Von Dr. Georg Winter. S. 139. Mit Portraits S. 134. – Die Andere. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 141. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Das neueste Unterseeboot. Mit Abbildung. S. 146. – Blätter und Blüthen: Das Beschlagen des Faschingspferdes im Gailthale. Von Thomas Schlegel. S. 147. Mit Illustration S. 137. – Honoratiorenball. S. 147. Mit Illustration S. 145. – Die Wacht der Montenegrinerin. Gedicht von Frieda Schanz. S. 147. Mit Illustration S. 141. – Deutschlands merkwürdige Bäume. Nr. 6. Die Kaisereiche zu Eppelborn. Mit Illustration S. 148. – Nationaler deutsch-amerikanischer Schulverein. – Friedrich Wilhelm Gubitz. – Kleiner Briefkasten. S. 148.