Die Gartenlaube (1887)/Heft 53
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No. 53. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Jascha.
Jascha war nicht völlig ohnmächtig; sie hatte noch Besinnung; aber
bleich und entstellt lag sie ein paar Minuten später auf dem
Sopha. Frau Doktor wusch ihr die Schläfen mit Eau de Cologne;
sie wollte ihr das Kleid aufmachen; aber förmlich entsetzt stieß
Jascha die hilfreiche Hand zurück, sagte, es sei ihr schon besser,
und verlangte nach Ruhe und ihrem Bett. Ich führte sie hinüber;
wie eine Halbtodte hing sie an meinem Arme, und schwer und
schleppend war ihr Gang. Sie lag dann erschöpft auf
ihrem Lager, bis sie nach ein paar Augenblicken durch
das Zimmer eilte ans Fenster und von da zur Thür –
sie mochte unter einem unerklärlichen schrecklichen
Einfluß stehen. „Hinaus!“ hörte ich sie endlich murmeln, und
im nächsten Augenblick war sie schon aus der Thür und
wie ein Schemen im Korridor verschwunden.
Frau Doktor, die mir begegnete – sie wollte nach Jascha sehen – und nun ihr Davonlaufen erfuhr, eilte, so rasch ihre Fülle gestattete, die Treppe hinunter. Ich folgte ihr; die Flurthür war schon verschlossen; wir kamen in den Gartensaal; ein Fensterflügel stand weit geöffnet.
„Sie ist dort hinaus,“ bemerkte Frau Doktor, „Mary, da kann ich nicht mit, obgleich es sehr niedrig ist; – springe Du ihr nach, ich lasse mir indeß die Hausthür öffnen.“
Ich lief, „Jascha! Jascha!“ rufend, durch den dunklen nassen Garten. Das Gebüsch, das ich streifte, schleuderte mir feine Regentropfen ins Gesicht, und der Fuß glitt aus auf dem schlüpfrigen Wege. „Jascha! Jascha!“
Mich hatte eine Angst gepackt, von der ich mir keine Rechenschaft geben konnte. So kam ich bis zur Buchenhecke. Ein wildes leidenschaftliches Schluchzen drang in mein Ohr. „Jascha!“ schrie ich wieder, „Sie können ja bei der Dunkelheit ins Wasser fallen!“
Das Schluchzen verstummte; es war mir, als hörte ich Schritte, die sich eilig entfernten. „Jascha!“ schrie ich abermals, mich an der Hecke hintastend, „kommen Sie doch!“
„Ja!“ klang es fast demüthig, dicht neben mir; ich hörte das Rascheln der Blätter und sah im nächsten Augenblicke die schlanke Gestalt vor mir.
„O Jascha, es ist unverantwortlich, uns so zu erschrecken,“ schalt ich im Innersten empört, „Was haben Sie mit diesem unseligen Teich da immer vor? Es grenzt ja an Spleen!“
Sie antwortete nicht; sie ging wie ein Lamm neben mir. In der Nähe der Hausthür trafen wir auf Frau Doktor. Der Gartensaal war hell; die Mädchen standen neugierig und erschreckt auf der Treppe und im Flur.
„Gehen Sie sogleich zu Bette, Jascha,“ befahl Frau Doktor streng. „Johanne kocht Thee; ich bitte mir aus, daß Sie ihn trinken. Morgen werde ich den Arzt kommen lassen.“
Jascha schüttelte heftig und stumm den Kopf.
[882] „Es wird sich finden,“ antwortete Frau Doktor und zog
sich mit beruhigtem Gesicht in ihr Zimmer zurück.
Jascha behauptete wohl zu sein am andern Tage, dem großen feierlichen Balltage. Sie war aber von einer ungewöhnlichen Hast und Unruhe; sie holte selbst ihre Festtoilette herauf, erklärte aber, Nichts essen zu können, fuhr zusammen, wenn eine Thür ging, wechselte die Farbe und ihre Hände zitterten; sie war entschieden nervös.
Um sechs Uhr kam die Friseuse. In unseren Zimmern hatte sich ein reges Leben entfaltet, überall duftete es nach Eau de Cologne, frischen Blumen und neuen Handschuhen, lauter glückliche Mädchengesichter blickten sich an mit rothen Wangen und leuchtenden Augen. Jascha und ich waren so ziemlich die Letzten, die frisirt wurden. Die weiße Seide ihres Kleides raschelte bereits unter dem langen Pudermantel, den sie über ihre Toilette geworfen hatte. Sie war, während sie sich anzog, nicht vor den Spiegel getreten, und so kam es, daß ich nicht gesehen, wie sie ihr Kleid anlegte.
In der tiefen Fensternische stand sie, indessen ich frisirt wurde, und starrte in den Garten hinunter, in dem auch heute noch Regen und Wind ihr Wesen trieben. Ich konnte nur die Schleppe des weißen Seidengewandes sehen; die lag so unbeweglich auf dem getäfelten Fußboden, als sei sie nicht in Verbindung mit etwas Lebendigem.
Die Frau sprach mit halblauter Stimme; ich gab ihr leise Antwort, es ging so trübselig bei uns her, gar nicht wie in einem Zimmer, in dem sich zwei junge Mädchen zum Balle ankleiden. Endlich war ich fertig und Jascha saß auf dem Stuhl vor dem Spiegel.
„Wie befehlen das gnädige Fräulein?“
„Ganz offen das Haar,“ erwiederte sie. Die prachtvollen goldenen Wellen flossen über ihre Gestalt, ein paar Nadeln nahmen das Haar zum Hinterkopf zurück und festigten die Wasserrose, die förmlich versank in dieser Fülle. Es war im Umsehen geschehen. Dann erhob sich Jascha und zog den Pudermantel von den Schultern, sprachlos standen die Frau und ich vor ihr. Wie schön, wie märchenhaft schön! dachte ich. Auch sie starrte ihr Spiegelbild an wie überrascht, diese wundervolle Gestalt in der schimmernden Seide, diese schneeigen Schultern und die wunderbaren Arme, die aus den weit zurückfallenden Spitzenärmeln auftauchten.
So wie wir zuletzt mit dem Anzug fertig wurden, kam auch an uns zuletzt die Reihe, in einen der altmodischen großen Hofwagen zu steigen, die uns zum Feste abholten. An der Freitreppe hatte sich das halbe Städtchen eingefunden, und diese ganze große Treppe sollten wir vor Aller Augen ersteigen; eine bedeckte Rampe besaß das Schloß nicht.
Es war schon dunkel, das flackernde Licht der Pechpfannen streifte zauberhaft das Schloß, die Treppe und die dunklen Wipfel der Bäume und die Gesichter der Menschen. Mit einem Ruck hielt der Wagen; Lakaien rissen den Schlag auf und neben einander schritten Jascha und ich die Stufen empor. Hinter uns her scholl ein bewunderndes Flüstern; ich wußte, das galt ihr, und ich schaute sie an, und just in diesem Augenblick zögerte ihr Fuß und ihr Kopf wandte sich etwas zurück, ich folgte der Richtung ihres Blickes – da stand die Frau aus dem Park; ich erkannte die großen Augen, die scharfen verlebten Züge unter dem Tuch, das sie ums Haupt geschlungen, und langsam hob sie ihre Hand an die Lippen und, Jascha ansehend, küßte sie die Spitzen der Finger und winkte ihr kaum merklich, es war ein fast verzehrender Ausdruck in den Augen.
„Jascha!“ flüsterte ich athemlos. Aber da ging sie schon wieder neben mir, so ruhig, als wäre Alles nicht gewesen; es hatte ja auch kaum einen Moment gedauert, nicht länger, als man braucht, um langsam den Fuß auf eine höhere Stufe zu setzen.
„Jascha,“ wiederholte ich. „Wer ist’s?“
Aber sie antwortete nicht, und dann traten wir auch schon durch das Portal in die weite Halle, in deren riesigen Kaminen die Holzstöße flammten und in der Frau Doktor mit den Andern unser ungeduldig harrte, um uns die breite Treppe hinauf nach dem Saal zu führen, wo sich die Gäste versammelten.
Wir machten Aufsehen an diesem Abend; das heißt, nicht wir, sondern Jascha, nur Jascha. Als wir eintraten, flogen die Blicke Aller zu diesem schlanken, wunderbar schönen Geschöpf hinüber, es muß ausgesehen haben, als schwanke eine Lilie über einem Beete bunter Sommerblumen. Wer hätte das auch gedacht von Jascha?
Der Fürst war ganz elektrisirt von dieser Erscheinung, die Fürstin sprach ungewöhnlich freundlich mit ihr; Prinz Georg schwur Frau Doktor zu, Jascha sei der Stern des Abends, und Olga’s Adjutant ging mit fliegenden Fahnen in das feindliche Lager über. Ein dichter Kreis von Herren umstand sie plötzlich und ihre Tanzkarte wanderte von Hand zu Hand.
O, wir bekamen ja auch Tänzer, aber erst in zweiter Reihe. Es dauerte keine zehn Minuten, da flog Jascha’s weiße Seidenschleppe im Walzer über das Parkett des Saales, Prinz Georg war der Tänzer. Ich tanzte mit einem Jagdjunker von Göltz; er unterhielt mich auch vortrefflich in den Pausen, aber seine Augen waren wo anders – wo sollten sie wohl sein? – bei Jascha. Ein alter General, den ich vom vorigen Jahre kannte, trat herzu. „Also eine Studiengenossin von Ihnen?“ fragte er, zu Jascha hinüber sehend. „Polin? Wie? Ich hatte den Namen nicht recht verstanden.“
Ich nannte ihn.
„Aus O. doch nicht?“
„Ja, ich denke, so heißt die Besitzung.“
„Ei! ei! Hm! hm!“ brummte er, „hab’ die Mutter gekannt.“ Und ganz dicht an meinen Tänzer herantretend, wollte er ihm ins Ohr flüstern, aber das Flüstern des alten Herrn war so energisch, daß ich mir hätte die Ohren zuhalten müssen, um es nicht zu hören. „Schönes Weib war diese Mutter, aber rabiate Person; spielte toll, sag’ ich Ihnen, ihr halbes Vermögen verspielt, schließlich Scheidung, kurz ehe der Mann starb; Großmutter bestand darauf, sonst wäre Alles futsch gewesen. Habe sie selbst gesehen in Monte Carlo, verteufeltes Weib, übrigens Tochter ihr Ebenbild, ganzes Ebenbild.“
Erschreckt sah ich zu Jascha hinüber, unsere Blicke begegneten sich; es war mir, als habe sie geahnt, was hier gesprochen ward über sie; ihre rosige Farbe verschwand plötzlich und wich einer Marmorblässe.
„Was ist aus der Mutter geworden?“ hörte ich meinen Jagdjunker fragen, indem er sich anschickte, mich wieder durch den Saal zu wirbeln.
„Was wird aus ihr geworden sein? Verkommen irgendwo in Paris oder Nizza,“ flüsterte der alte Herr wieder hörbar. Und dahin flogen wir durch den Saal.
Gott im Himmel, wie schrecklich! Welch Elend lag in dem gleichgültig gesprochenen Worte: „Verkommen“! Und während des Tanzens dachte ich an den erstickten Aufschrei Jascha’s, als ich einmal ihre Mutter erwähnte, und ein unsägliches Erbarmen zog in mein Herz. Wie sehr, wie sehr mußte sie leiden!
Schon in der nächsten Pause eilte ich zu ihr.
„Nun?“ fragte Dora spöttisch, „der aufsteigenden Sonne nach?“
Ich überhörte es und trat neben Jascha. Sie stand im Gespräch mit einem jungen Manne in Frack und weißer Halsbinde, ein wunderschönes Paar. Jascha bemerkte mich kaum; ihre Augen glänzten, und sie redete mit ihrer langsam klingenden Weise und dem bewußten R. Ich wendete mich und ging. „Wer ist der Herr, der mit Jascha spricht, Liddy?“ fragte ich, da sie mir gerade in den Weg kam.
„Herr von Ahlfeldt, Rittergutsbesitzer in der Nähe hier,“ lautete die Antwort. „Reizender Mensch, nicht?“
Beim nächsten Tanze sah ich sie wieder zusammen, auch beim Souper, das an kleinen Tischen genommen ward, und beim Kotillon. Ich hatte Jascha noch nie lächeln gesehen, heute, als er ihr bei einer Tour den Rosenstrauß brachte, lächelte sie, es machte sie noch reizender.
Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich nicht froh werden konnte, daß ich immer und immer diese Jascha ansehen mußte, diese strahlende Jascha, und an die verkommene Mutter denken, und daß mir dabei die Frau nicht aus dem Sinn kam, dies elende Weib mit den großen Augen, die so sehnsüchtig zu Jascha hinüber blickten. Bah! Es war ja Unsinn – sie war ja verkommen in Paris oder Nizza – Gott wußte wo? Aber Jascha erschien mir so fremd in diesem Glanze, dieser Rosengluth, in diesen von Freude durchwehten Räumen.
[883] „Herr von Ahlfeldt völlig in Brand!“ sagte der alte General zu mir, der zufällig an meiner Seite stand, und sah zu Jascha hinüber, die neben ihrem Tänzer saß mit rosigen Wangen. „Reizendes Kind allerdings, diese kleine Polin! Fürstin hat ihn vorhin schon geneckt mit seiner Inklination.“
Nach Beendigung des Tanzes verabschiedete sich Jascha’s Tänzer, und sie kam zu mir herüber. Herr von Ahlfeldt trat zu Frau Doktor, zog einen Stuhl heran und vertiefte sich in eine längere Unterhaltung. Jascha verwandte kein Auge von ihnen; ihr Fächer war in fieberhafter Bewegung, ihre Lippen waren halb geöffnet.
Ich fragte sie Etwas, aber sie stand wie geistesabwesend neben mir. Erst als die fürstlichen Herrschaften, vom Spieltische kommend, sich zurückzogen und Herr von Ahlfeldt sich von Frau Doktor beurlaubte, schob sie ihren Arm unter den meinigen. „Es ist zu Ende,“ sagte sie halblaut.
Alles drängte in die Garderobe, am Fuße der Freitreppe rollten die Wagen vor, der Schwarm der Gäste stieg hinunter. Einen Augenblick bemerkte ich Herrn von Ahlfeldt neben Jascha; dann rollte ich mit einigen von uns dem Hause zu. Jascha war in einen andern Wagen gerathen.
Ich stand bereits in unserem Zimmer, als sie rasch eintrat, der Mantel glitt ihr von den Schultern, und mitten im Zimmer blieb sie stehen, die Hände gefaltet, und sah in das leere Nichts mit glückseligem Ausdruck. „O Miß Mary,“ rief sie endlich, „es war so schön!“ Sie kam herüber zu mir, knieete vor dem Stuhle nieder, auf dem ich saß, und schlang die Arme um mich. „Ich habe nie gewußt, daß es so schön sein kann im Leben,“ flüsterte sie, „ich darf es Ihnen doch sagen, ich kann es nicht für mich behalten.“
„Ich freue mich, daß Sie sich amüsirt haben, Jascha,“ erwiederte ich, fast erschreckt von dem Gefühlsausbruch des sonst so stillen Mädchens.
„Amüsirt?“ rief sie außer sich, „wie das klingt! Wie kleinlich, wie nichtssagend! Es – o Miß Mary, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten –“
In diesem Augenblicke hörten wir eiliges Thürenschlagen, das Rufen der Frau Doktor. „Johanne, Johanne!“ und im nächsten Moment war unsere Thür aufgerissen und die sonst so ruhige Frau erschien halb ausgekleidet, auf der Schwelle.
„Kinder! Mary! Denkt Euch, ich bin bestohlen. In meinem Schreibtische fehlen vierhundert Mark! Johanne, laufe zur Polizei!“
Wir standen Beide starr, Jascha und ich; aber Erstere sank schon im nächsten Augenblick auf den Stuhl, auf dem ich gesessen; ich kümmerte mich gar nicht um sie; ich lief hinter Frau Doktor nach deren Zimmer und betrachtete den Schub des Schreibtisches, in welchem vierhundert Mark in Kassenscheinen neben sechshundert Mark in Gold gelegen hatten, wovon nur die vier Kassenscheine verschwunden waren. Frau Doktor hatte ihre Brillantbrosche weglegen und für die Wirthschaft, die sie im Drange des Tages mit Geld zu versehen vergessen hatte, hundert Mark herausnehmen wollen und da die Entdeckung gemacht.
Das ganze Haus ward lebendig, Johanne, das Stubenmädchen, fing an zu weinen, als ob ihr der Strick schon an der Kehle saß; die Köchin stand kreidebleich und fragte, ob die gnädige Frau es auch ganz genau wisse. Diese armen Geschöpfe traf natürlich der erste Verdacht; denn Frau Doktor behauptete mit ziemlicher Bestimmtheit, es könne nur ein Hausdieb gewesen sein, Einer, der ganz genau Bescheid wisse, wie und wo. Olga erklärte, es sei unheimlich, vielleicht habe der Spitzbube sich noch im Hause versteckt. Dies bewirkte, daß keine von uns in ihr Zimmer zurückkehren wollte und im eifrigen Gespräche Muthmaßungen, Ausrufe hin und her flogen. Ueber eine Stunde verging so, bis Frau Doktor befahl, sobald der Tag graue, solle Johanne nach der Polizei gehen und wir jetzt ins Bette, denn augenblicklich sei Nichts in der Sache zu thun.
Zufällig war ich die Letzte, die das Zimmer verließ, Frau Doktor hatte sich abermals über das Schubfach gebeugt.
„Wenn ich nur begreifen könnte!“ sagte sie. Und als sie mich zögern sah, fügte sie hinzu. „Ein Dieb, ein professioneller Dieb, hätte wohl Alles genommen, sollte ich denken. Aber, Mary, ich begreife nur nicht; die Schlösser sind heil, niemals steht der Schub offen, ich bin doch immer –“
Plötzlich hielt sie inne und sah mich erschreckt an. „Um Gotteswillen, das ist ja Wahnsinn zu denken!“ flüsterte sie. „Ach, Mary, so Etwas weckt alles Schlechte im Menschen – nicht wahr, Mary?“
Ich wußte nicht, was sie meinte; ich kam herüber zu ihr und blickte sie fragend an.
„Die Johanne und die Rike sind immer so ehrlich gewesen; ich habe sie jahrelang, Mary –“
„Ich glaube auch nicht, daß eine von ihnen die Diebin ist, Frau Doktor.“
„Nicht, Kind, nicht? Was glaubst Du denn?“
Sie sah mich so fassungslos an, wie ich sie noch nie gesehen.
„Nichts!“ erwiederte ich ängstlich, „Nichts, Frau Doktor, ich habe keine Ahnung.“
„Mary, warum kam Jascha nicht mit herüber? Ihr waret doch eben Alle hier?“
Jascha? – Mir war es plötzlich, als preßte Etwas furchtbar mein Herz zusammen. Wir sahen uns Beide an; das Gebahren des Mädchens während der letzten Zeit zog blitzschnell vor mir vorüber. Aber, mein Gott, es war ja unmöglich! „Ich bitte Sie, Frau Doktor, liebe Frau Doktor!“
„Ach Kind! Kind! Ich bin eine alte Frau – ich kenne das Leben –“
„Nein, nein! Dieses nicht! Dieses nicht!“ rief ich weinend.
„Sei ruhig, Mary, es kann ja nicht möglich sein,“ sagte auch sie. „Geh hinüber, laß Dir Nichts merken! Es wird ja Alles aufgeklärt werden.“
Mit diesem furchtbaren Argwohn, der in mir rege geworden, kehrte ich zurück. Jascha saß nicht mehr auf dem Stuhle, sie lag davor, die Hände in das Haar gekrallt, ein Stöhnen klang mir ins Ohr.
„Jascha,“ rief ich, „was ist denn?“ Ich lief zu ihr, kniete neben sie und legte meinen Arm um ihren Leib. „Jascha, Sie haben Kummer, sagen Sie mir, was Sie drückt!“
„O, lassen Sie mich! Lassen Sie mich!“ schrie sie gellend auf und sprang empor, die gelösten Haare wild zurückschüttelnd. „Mir ist so schlecht, so angst!“
Ich weiß nicht, wie es kam, aber meine Zweifel waren augenblicklich zu Ende.
„Jascha,“ sprach ich fest, „warum sagten Sie es mir nicht, daß Sie Geld gebrauchen? Ich hätte es Ihnen von meinem Großpapa besorgt.“
Sie starrte mich mit einem Antlitz an, das sich zusehends verwandelte, mit Augen, so voll namenlosen Entsetzens, daß ich mich zu fürchten begann. Dann schwankte sie und würde zu Boden gefallen sein, hätte ich sie nicht gehalten. Und mit der fast Bewußtlosen im Arm saß ich auf dem Rand ihres Bettes, lange Zeit, und Nichts unterbrach die schreckliche Stille, als ihr regelmäßiges Aufstöhnen. Das erste Morgengrauen stahl sich durch die Vorhänge, unsere Kerze flackerte noch einmal auf, ehe sie erlosch, und noch immer saßen wir in der farblosen bleiernen Dämmerung des beginnenden Regentages, noch immer.
„Jascha,“ sagte ich endlich weinend und küßte sie auf die Stirn, „Jascha, wollen Sie sich nicht ein wenig legen?“
Da fuhr sie empor, und ihre Arme umklammerten mich: „Verlassen Sie mich nicht! Bleiben Sie – bleiben Sie bei mir!“
„Ich bleibe, Jascha, aber legen Sie sich, ziehen Sie das Kleid aus!“
„Das Kleid!“ rief sie, „das schreckliche Kleid!“ Und sie warf sich wild auf ihr Lager, und ihren leidenschaftlichen Schmerzensausbruch dämpften die Kissen, in die sie schrie.
„Ach Jascha, warum denn?“ sagte ich.
„O Gott im Himmel, was habe ich gethan!“ schrie sie auf.
„Jascha, fassen Sie sich, werden Sie ruhiger, gehen Sie zu Frau Doktor, noch ist Nichts verloren. Vertrauen Sie ihr die volle Wahrheit –“
„Ich kann nicht! Ich kann nicht! – Ist denn kein Ausweg?“
„Gut, wenn Sie nicht wollen, werde ich es thun, Jascha. Die Geschichte darf nicht erst beim Amte gemeldet werden.“
Sie war vom Bette geglitten und lag auf den Knieen, die Hände gefaltet. Und so sah sie mir nach, als ich hinauseilte, hinunter zur Frau Doktor. Die alte Dame schlief nicht, sie saß in ihrem Morgenkleide im Lehnstuhl am Fenster, sie schien sich nicht einmal zu wundern, als ich kam, und sah mich nur fragend an.
„Frau Doktor,“ sagte ich mit thränenerstickter Stimme, „helfen Sie ihr, sie ist unglücklich!“
[884] „Also doch!“ murmelte sie, sich erhebend, „bleib’ hier! Ich werde hinüber gehen.“
Ich blieb in dem Schlafzimmer der sorgsamen liebreichen Frau, die schon so manch Trauriges erfahren hatte in ihrem schweren Beruf; ob Schwereres als dieses?
Jascha, warum that sie es? War es ein Erbtheil der verkommenen Mutter? Was trieb sie zu dem niedrigen Verbrechen? Es war so dunkel, so unverständlich.
Eine Stunde verrann. Ich sah an mir herunter – noch immer war ich in dem rosa Tüllkleid der festlichen Nacht. Allmählich wurde es hell und heller, die Spatzen lärmten im Garten; drunten vom Hofe scholl das Plumpen der Mägde, die Wasser holten. Der Tag hatte begonnen. Ich zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster; gluthrothes schweres Gewölk lag im Osten, aber die Sonne vermochte nicht durchzudringen. Mich fror; ich war übermüde und mir war angst; wäre es doch erst Abend; was wird der Tag bringen? – Und dann trat Frau Doktor ein und ging an das Fenster.
„Johanne, das Geld ist da!“ rief sie hinunter, „ich hatte es in meine Brieftasche gelegt und ganz vergessen.“
Ein erleichterndes „Gott sei Dank!“ scholl herauf.
„Lege auch Du Dich, Mary,“ sagte sie mild, „aber laß Jascha allein, es wird das Beste sein. Dort mein Sofa, es läßt sich ganz gut ein Schläfchen darauf machen; ziehe Dich rasch um!“
Jascha ruhte auf dem Bette; Frau Doktor hatte sie wohl ausgezogen, sie war in ihrem Nachtkleide. Die Haare lagen wirr über den Kissen, bis auf den buntgestickten Bettteppich hingen die goldenen Strähne. Die Hände hielt sie vor dem Gesicht.
Ehe ich in ein Morgenkleid gehüllt das Zimmer verließ, trat ich zu ihr und beugte mich über sie: „Jascha, schlafen Sie?“
Keine Antwort. Sie wandte nur das Gesicht zur Seite.
„Arme Jascha!“ dachte ich, die Stube auf den Zehen verlassend.
„Sie verdient unser Mitleid, Mary.“ Das war Alles, was Frau Doktor mir mittheilte; dann schlief ich ein; die Müdigkeit kam mit zwingender Gewalt über mich.
Es war hoher Mittag, als ich erwachte. Jascha sei nicht wohl, erfuhr ich, aber jetzt schlafe sie, es solle auch Niemand zu ihr. In Frau Doktors Stube machte ich Toilette. Bei Tische ging es lebhaft zu, es gab soviel zu sprechen vom gestrigen Abend, zu lachen über den vermeintlichen Diebstahl, und gar daß Frau Doktor so Etwas passiren konnte, wie ein Uebersehen der Kassenscheine, oder vielmehr ein Vergessen, daß sie dieselben in ihre Brieftasche gelegt habe, wo sie nun gefunden worden!
„Ja, ja!“ lächelte die alte Dame – nur ich sah, wie schwer ihr dieses Lächeln wurde – „man kann sich irren; wir sind Alle schwache Menschen.“
Johanne, die gerade die Schüssel präsentirte, brummte respektwidrig: „Ja, es ist ein Glück, an Unsereinem wär’s doch hängen geblieben.“
Gegen Abend flatterte die ganze Schar spazieren; nur Frau Doktor und ich blieben daheim, Jascha’s wegen. Wir saßen im Wohnzimmer bei geöffneter Thür, um zu hören, wenn sie erwachte, und Frau Doktor erzählte mir flüsternd von Jascha’s Beichte. – Sie hatte das Geld genommen für ihre Mutter. Die Mutter lebte, sie war hier, ihr hatte das Mädchen das Kreuz gegeben, mit ihr sich getroffen am Weiher, ihretwegen Heimlichkeiten begangen und Mißachtung ertragen; der Mutter wegen, die sie liebte in der Erinnerung an Alles, was gut und lieb, zärtlich und theuer war in ihrem jungen Leben, an deren Schuld sie nicht glaubte in ihrem Kindersinn. Großmama mochte sie nie leiden, hatte sie nie geliebkost, sie nie „mein Glück, mein Sonnenschein“ genannt. Großmutter war nur immer bedacht gewesen, sie so streng wie möglich zu halten, weil sie der Mutter so ähnlich sei. Hier sollte sie sich fügen lernen; und hierher fand die Mutter, die längst Ausgestoßene, die man irgendwo in Paris oder Nizza vermuthete, den Weg zu ihrem Kinde als elendes, verlassenes, zerlumptes Weib, und Jascha gab Alles, was sie besaß, und bat um mehr Geld bei der Großmutter, um immer mehr. Niemals wollte es reichen, und endlich schöpfte diese energische alte Dame Verdacht, und Jascha bekam Nichts mehr. Und so dringend gebrauchte die Mutter Geld, ach so dringend! Nur dies noch, dann war es ihr möglich, still und ehrbar ein paar Jahre hier zu leben, vielleicht die letzten, hier in ihrer Nähe, und Jascha würde die Küsse haben können, nach denen sie sich gesehnt, und die weiche leise Mutterhand würde ihr über die Wange streichen – ach, es war so süß, dies zu denken!
Da log sie erst; sie wollte kein Ballkleid kaufen, nur um die vierhundert Mark war es ihr zu thun; und als dies fehlschlug, da kam der Fall!
Ach Jascha, wie habe ich Dir abgebeten, während ich dies hörte und die Thränen über die Wangen der Frau Doktor rinnen sah!
Drunten hatte es geklingelt; Stimmen schollen herauf, dann brachte Johanne ein wundervolles Bouquett getragen und einen Brief an Fräulein von Ponianska – eine Empfehlung von Herrn von Ahlfeldt.
„Es wird sie erheitern,“ sagte ich, „ich will sehen, ob sie wacht.“
„Meinst Du?“ fragte Frau Doktor unsicher. „Nun, wissen muß sie es ja.“
„O gewiß, beste Frau Doktor; warum nicht?“
„Der Diener wartet auf Antwort,“ fügte Johanne hinzu.
Ich nahm Strauß und Brief und drückte leise die Thür auf zu Jascha’s Zimmer. Die Vorhänge waren noch geschlossen; eine dumpfe Stubenluft wehte mir entgegen.
„Jascha!“ flüsterte ich und bog mich hinunter. Sie lag mit weit offenen Augen und sah mich an.
„Hier bringe ich Ihnen etwas Schönes,“ sprach ich weiter und hielt ihr den Strauß an die Wange. „Und da ein Brief – rathen Sie, von wem? Von Herrn von Ahlfeldt.“
Sie griff hastig zu. „O Gott!“ hörte ich sie sagen. Und während ich die Vorhänge zurückschob, zerriß sie das Kouvert, und als sie las, ward ihr Gesicht wie die Rosen des Straußes und dann todtenbleich, und halb aufgerichtet, den Kopf auf den Arm gestützt, starrte sie auf den Brief.
„Ist nicht Antwort, Jascha?“ fragte ich.
„Morgen! Morgen!“ stieß sie hervor.
„Soll ich so bestellen?“
„Ja!“
Es war das letzte Wort, das ich von Jascha gehört, das letzte Mal, daß ich sie sah, als ich, bevor ich die Thür schloß, noch einmal zu ihr hinüberblickte: das Gesicht in die Rosen gedrückt, den Brief in der Hand, die sie zur kleinen Faust geschlossen, das Ganze eingehüllt von dem goldigen Schleier der Haare.
Jascha Ponianska geht es schlecht, erzählten sich die jungen Mädchen Abends bei Tische, an dem ich zwischen ihnen saß, ohne einen Bissen genießen zu können; und an dessen oberem Ende der Platz der Frau Doktor heute leer geblieben war, sie weilte mit dem Arzte schon seit länger als einer Stunde an Jascha’s Bette.
„O hört doch! Hört!“ rief Olga bestürzt, „sie schreit!“
Ein ferner langgezogener Schmerzenslaut klang zitternd durch das Gemach.
„Das ist gräßlich! Wie kann man sich so gehen lassen!“ ärgerte sich Dora.
„Frau Doktor läßt bitten, die jungen Damen möchten den Abend im Gartensaal verbringen,“ bestellte das Mädchen.
Wir gingen hinunter. Und da saßen sie dann und lachten und sprachen, und ich stand am Fenster und wand die Hände in einander – – dort oben! Dort oben! Was war es nur? Einmal ging ich auf den Flur und lauschte, und da kam eben Johanne eilig zur vordern Thür herein, und hinter ihr schwankte eine Gestalt, eine sonderbare Gestalt, so verkommen, so komödiantenhaft, und im Schein der Flurlampe erkannte ich mit Mühe die Frau von der Treppe und aus dem Park: so schmerzverzerrt waren diese Züge, so voll brechender Angst diese Augen.
Jascha’s Mutter kam!
Und weiter plauderten sie unten und legten Patience und besprachen die Toiletten von gestern, und langsam schlich eine Stunde nach der andern hin, Niemand mahnte daran, die Ruhe zu suchen.
„Und ich sage Euch, Herr von Ahlfeldt denkt nicht daran,“ scholl es.
„Er wird Jascha Ponianska heirathen? Lächerlich!“ klang Olga’s Stimme.
In diesem Augenblick entstand eine Pause; Frau Doktor war eingetreten; aber so anders als sonst sah sie aus.
„Geht leise zu Bette,“ sagte sie, „Jascha Ponianska ist todt!“ – Und sie hielt ihr Taschentuch an die Augen und wandte sich.
Wie lähmender Schrecken flog es über alle die jungen Gesichter. Kein Laut, kein Hauch war hörbar. Auf Aller Mienen
[885][886] stand zu lesen: so plötzlich! So rasch! So furchtbar rasch! Kann denn der Tod so jäh hereinbrechen?
Es ist nicht wahr! Sie muß ja noch leben, noch athmen, dies schöne Geschöpf, das gestern Abend noch in Lebenslust glühte!
Frau Doktor hob die Augen, sie suchte mich, und als ich zu ihr trat, sagte sie: „Frage nicht, Mary, Gott wird ihr verzeihen!“
Sie nahm mich mit in ihr Zimmer. An Jascha’s Bette wachte die Mutter, diese armselige Mutter, die dennoch geliebt ward von ihrem Kinde, weil Nichts so weich ist wie die Mutterhand, Nichts so süß wie die Stimme, die das erste Liedchen singt.
Der Brief des Herrn von Ahlfeldt lag zerknittert auf dem Tische an Frau Doktors Bette, nach Jascha’s Wunsch sollte sie ihn an die Großmutter senden. Er enthielt die Frage, ob er bei der Großmutter um ihre Hand werben dürfe.
Seine Rosen wollte sie mit in den Sarg haben.
Woher sie das Gift bekommen? Wir haben es nie erfahren. –
Die Großmutter kam, in Krepp und Trauerschleier, und holte die Leiche ihrer Enkelin. Sie hielt sich aufrecht, aber sie sprach kaum ein Wort. – –
Nun saßen wir wieder zu Zwölf um die Tafel, aber lange blieb es stumm und still in unserm Kreise; es war, als getraue sich keine von uns zu lachen, und an der Stube, in welcher Jascha gestorben, schlichen wir Abends scheu vorüber. Der Tod ist so schrecklich, wenn er so plötzlich kommt, und man wußte nicht einmal, woran sie gestorben, es war so unheimlich gewesen.
Nur Frau Doktor wußte es, und ich und die Mutter.
Wo sie geblieben? Wir haben nie Etwas gehört von ihr. Verkommen in Paris oder Nizza, oder sonst wo in der weiten Welt. Wer weiß es!
Eine Wolfsjagd in den Vogesen.
Lange, ehe wir Deutschen im Besitze des jetzigen Reichslandes waren, führte mich eine dienstliche Veranlassung in die Vogesen. Ich war von einem Marquis von W., welcher dort große Forsten besitzt, aufgefordert worden, einen Wirthschaftsplan für dessen Privatwald aufzustellen, und folgte jenem Antrage um so lieber, als mir dadurch nicht nur eine günstige Gelegenheit zu meiner weiteren forstlichen Ausbildung, sondern auch die Gelegenheit zur Wolfsjagd gegeben wurde.
Zufälligerweise sollte mein Wunsch gleich bei meiner Ankunft in Erfüllung gehen. Es war schon dämmerig geworden, als ich an einem Novemberabend durch das hohe, mit dem gräflichen Wappen gezierte Thor in den Schloßhof einfuhr. Im ersten Stocke war eine große Anzahl von Fenstern hell erleuchtet, und das herzliche Lachen einer Anzahl von Herren verrieth mir, daß da oben eine Versammlung von Waidmännern stattfinde, die der Jagdgöttin Diana ein Trankopfer zu bringen im Begriff sei.
Als ich vom Jagdwagen abstieg, kam ein alter Portier an den Wagen, begrüßte mich höflich und eröffnete mir, nachdem er sich über meine Persönlichkeit orientirt, daß ich heute Nacht mit im großen Jagdsaale schlafen müsse, weil gegen dreißig Gäste zur Wolfsjagd eingetroffen seien, von denen einige ihre Frauen mitgebracht hätten, so daß alle Einzelzimmer bereits belegt seien. Für mich war das gleichgültig. Der Portier geleitete mich nach dem „Jagdsaale“ und wies mir ein Bett an; dann ging er, um meinen Koffer zu holen.
Ich befand mich in einem hohen gewölbten Raume, der einen außerordentlich malerischen Anblick bot. Das war ein Jagdlager, anders konnte man es kaum nennen. Die Wände waren über und über geziert mit Geweihen, Sauköpfen, alten Hörnern, Jagdwaffen und alten, ganz dunkel gewordenen Oelgemälden. In dem Saale standen in entsprechenden Abständen dreißig Betten, neben jedem ein Tisch und ein kleiner Sessel, vor welchem eine Wolfshaut lag. Mitten in dem Saale befand sich ein langer Tisch aus Eichenholz, in welchen gar mancher Jäger, der in diesen gastlichen Mauern geweilt, seinen Namen eingeschnitten hatte. Nun denke man sich noch, daß in malerischer Unordnung gegen dreißig Jäger ihre Jagdrequisiten, wo sich eben hierzu Platz fand, untergebracht hatten und man wird mir Recht geben, wenn ich dieses Gemach mit dem Namen „Jagdlager“ bezeichne.
Ich war eben im Begriffe Toilette zu machen, als der Herr des Hauses eintrat und mich begrüßte, man hatte ihm meine Ankunft gemeldet. Wahrlich! Die Gestalt paßte in den Raum, in welchem wir uns befanden. Eine große elegante Figur, breite Schultern, langwallender, schneeweißer Bart, feingeschnittene Gesichtszüge mit geradezu klassischer Nase: das Alles imponirte mir so sehr, daß ich im ersten Augenblicke nicht die rechten Worte für meine Empfindung fand. Der Marquis half mir darüber hinweg.
„Sie werden ermüdet sein, Verehrtester,“ sagte er in gebrochenem Deutsch, „da hilft zunächst mein Mittel, um die Geister wieder aufzufrischen“, und damit führte er mich an der Hand nach einem Eckschranke, der wohl zwanzig verschiedene - nennen wir’s mit dem deutschen Namen - Schnäpse barg, denn „Liköre“ waren’s wahrlich nicht. Er kredenzte mir ein Gläschen seines alten Zwetschenbranntweins, der berühmt ist wegen seines nachhaltigen Feuers, und es wurde mir thatsächlich ganz anders zu Muthe.
Als ich meine Toilette beendigt hatte, führte mich der Marquis in den Speisesaal und stellte mich jedem der dort in behaglichen Fauteuils um eine riesige Punschbowle ausgestreckten Waidmänner vor. Es waren alles Franzosen bis auf einen Holzhändler aus der Pfalz. Zu ihm gesellte ich mich und bald waren wir im eifrigsten Gespräche, das sich natürlich in erster Linie um die Wolfsjagd drehte. Inzwischen verschwand einer der Jagdgäste nach dem anderen und der Pfälzer schien sich auch zurückziehen zu wollen, weßhalb wir denn schließlich von der brillanten Bowle Abschied nahmen und nach dem Schlafsaale gingen. Dort schnarchten bereits Einige, daß es eine wahre Freude war; Andere lasen im Bette noch Briefe; Einige saßen auch noch an dem langen Eichentische und schrieben; der eine von diesen letzteren war kein Anderer, als der mehrere Jahre später so berühmt gewordene Gambetta.
Bald war ich eingeschlafen; im Traume schoß ich Wölfe und Bären. – –
Ein hellklingendes Trompetensignal vom Hofe her weckte uns am anderen Morgen. Schnell sprang Alles aus den Federn und nicht lange dauerte es, da fanden wir uns Alle im großen Eßsalon wieder zusammen. Auf dem Tische stand – ein echtes Jägeressen – eine Schüssel voll dampfender Erbsensuppe mit eingeschnittenen Schweinsohren, welche wir uns Alle vortrefflich munden ließen. Unter den Jägern bemerkte ich zu meinem Erstaunen auch den ziemlich beleibten Abbé des Marquis, der über den kurzen schwarzen Rock ein Bandelier mit anhängendem Hirschfänger geschnallt hatte und in eifrigem Gespräche mit seinem Nachbarn das Essen ganz zu vergessen schien. So sehr hatte ihn die Jagdleidenschaft erfaßt.
Als wir unser Frühstück beendet hatten, ging ein Flüstern durch die Menge; Einer sagte dem Anderen Etwas ins Ohr; jetzt raunte auch mir’s mein Nachbar zu. Ich verstand: „Auf, in die Messe!“
„Wie beliebt?“ fragte ich nochmals.
Als jener meine erstaunte Miene sah, klärte er mich auf: „Der Abbé thut’s nicht anders; ehe wir zur Jagd ausziehen, hält er uns erst eine Jagdmesse.“
Nach der Messe trafen wir uns Alle auf dem Hofe wieder. Die Wagen konnten nicht benützt werden, da wir gleich steil bergauf mußten, was gar manchem Aktenmenschen dicke Schweißtropfen kostete; aber unser Marquis bildete die Spitze und führte uns in einer so ruhigen, aber stäten Gangart den Gebirgspfad hinauf, daß wir nach etwa einstündigem Marsche unser Ziel – ein kleines Plateau - erreicht hatten. Dort erwartete uns der „Louvetier“. Diese Leute waren damals in Lothringen – und sind es in Frankreich heute noch – eigens zur Vertilgung der Wölfe angestellte Beamte, welche vom Staate ihre Besoldung beziehen. Der Louvetier hielt mit dem Marquis eine kurze Rücksprache, während welcher Zeit ich Muße hatte, mir die Hunde
[887] anzusehen, welche zu zwei und zwei gekoppelt von den Treibern gehalten wurden. Es waren sehr starke, der Bulldogge ähnliche Hunde, welche ein handbreites, mit scharfen Stahlstacheln besetztes Halsband trugen. Wird der Wolf nämlich von den Hunden attackirt, so greift er dieselben – falls er sich zur Wehr setzt – fast stets am Halse an und würde den Hunden unfehlbar die Pulsadern aufreißen, wenn diese nicht durch die Halsbänder geschützt würden. Ein Hund war anderer Rasse. Er war eine Art Schäferhund und diente dazu, die Wölfe aufzuspüren, während die schweren Doggen als „Packer“ benutzt wurden.
Inzwischen waren die Dispositionen getroffen worden. Das Treiben, welches wir zunächst vornehmen sollten, bestand aus einer steilen Bergwand, welche mit dichtem Weichholz und stellenweise fast undurchdringlichem Dorngestrüpp bewachsen war. Das sollte der Lieblingsaufenthalt jener rothröckigen Raubritter sein.
„Freiwillige vor,“ wandte sich der Marquis zu uns Jüngeren. „Sechs Herren müssen mit in die Bergwand hineinsteigen; es ist allerdings recht beschwerlich, aber dort sind die besten Stände, und man kommt dort am ersten zu Schusse.“
Die sechs Freiwilligen waren bald gefunden, ich war unter ihnen. Der Louvetier ging mit uns. Wir stiegen eine vier Meter breit aufgehauene Jagdschneise den Berg hinab. Freilich manchmal war es mehr ein Rutschen und Schieben über Felsgerölle, und nicht ohne Besorgniß dachte ich an den Rückweg. Dann aber tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß Diana ihrem Jünger wohl hold sein werde, wenn sie seine Mühen um den Preis sähe.
„Hier!“ flüsterte mir der Louvetier zu. „Ein trefflicher Stand, um einen Wolf zu schießen. Passen Sie also auf!“
Grüßend zog er das Käppi und ging mit den Anderen weiter.
Ich schaute mich auf meinem Stande um und machte mich schußfertig. Vor mir lag ein dichtes Dornengebüsch, und es schien mir unmöglich, daß ein Wolf sich durch dasselbe durcharbeiten könnte. Etwa vierzig Schritte unterhalb von mir war allerdings eine kleine Lücke, und die beschloß ich auch vor allen Dingen im Auge zu behalten.
So stand ich lange da; es mochte wohl schon eine Stunde verflossen sein. Nichts hörte ich als das Rauschen eines kleinen Gebirgsbaches. Meine Aufmerksamkeit wollte ab und zu erschlaffen; wenn ich mich über diesem Fehler, in welchen man auf dem Anstande sehr leicht verfällt, ertappte, dann verdoppelte ich meine Vorsicht, um einen vorsichtig anschleichenden Wolf ja nicht zu verpassen.
In weiter Ferne hörte ich jetzt den Schrei eines Treibers, dem gleich darauf das zornige Gebell eines Hundes folgte. Nicht lange darauf fielen auf der oberen Seite des Treibens in schneller Folge vier Schüsse.
Da! Knacks! Dicht vor mir krachte ein Zweig, als ob ein schweres Stück Wild auf denselben getreten wäre. Athemlos lauschte ich; meine Augen wollten das dichte Dornengestrüpp schier durchbohren – Alles umsonst! Ich hörte und sah Nichts. So mochte ich ungefähr fünf bis sechs Minuten verharrt haben – es mag wohl auch weniger gewesen sein, aber in solchen Augenblicken werden Sekunden zu Minuten – als plötzlich der Kopf eines Wolfes aus der kleinen Bestandeslücke vierzig Schritte unter mir herauslugte. Meine rechte Hand legte sich fester um den Hals der Flinte; jeden Augenblick durfte ich darauf gefaßt sein, daß der Wolf auf die Jagdschneise austreten würde, als derselbe – wahrscheinlich witterte er Unrath – Kehrt machte und mit einem gewaltigen Satze wieder in der Dickung verschwinden wollte. Jetzt gab’s kein Zögern mehr, im Moment lag die Flinte am Kopf, und ich kam mit meinem Schusse noch auf den eben verschwindenden Wolf ab. Freilich ziemlich weit hinten. Dann hörte ich noch einige Sätze desselben im Gebüsche und es wurde Alles ruhig. Ich wünschte mir die Treiber herbei, damit ich meinen Stand verlassen und mich auf dem Anschusse überzeugen könnte, ob ich den Wolf überhaupt getroffen habe. Aber die waren noch weit von mir weg, und schon glaubte ich, mich noch einige Zeit getrösten zu müssen, als plötzlich nicht weit von mir im Dickicht der zornige Standlaut eines der Packer an mein Ohr schlug. An den knurrenden und gurgelnden Lauten erkannte ich gar bald, daß der Hund mit dem von mir angeschossenen Wolfe im Kampfe sei, und nun gab’s für mich kein Halten mehr. Die Dornen, welche ich vor Kurzem noch für undurchdringlich gehalten hatte, waren für mich kein Hinderniß. Ich achtete nicht der Wunden, welche mir das Gestrüpp in Hände und Gesicht riß. Vorwärts! Vorwärts! war meine Losung. Nach ungefähr fünfzig Schritten erreichte ich eine kleine Blöße, und dicht daran hörte ich den Kampf toben. Vorsichtig schlich ich zum Rande der Lichtung, schob die Aeste des Unterholzes zur Seite und sah mich jetzt einer Scene gegenüber, die ich nie vergessen werde. Zu schwach sind Worte, um die bis zum Aeußersten getriebene Wuth auszumalen, welche in den Augen der beiden Kämpen lag. Der Hund und der Wolf standen auf den Hinterläufen aufrecht gegen einander wie zwei Männer, die im Zweikampfe mit einander ringen; der Rüde hatte den Wolf am rechten Schulterblatte gefaßt und dieser biß in ohnmächtiger Wuth in das Stachelhalsband seines Gegners. Mit gewaltiger Kraftanstrengung warf jetzt der Hund den Wolf auf den Rücken, im nächsten Momente hatte er ihn an der Kehle gefaßt, und nun dauerte es nur noch wenige Augenblicke, bis mir die konvulsivischen Zuckungen des Raubthieres verkündeten, daß es unter der Erdrosselung der Dogge verendet sei. Ich war gerade zur rechten Zeit gekommen, um der Schlußscene des mörderischen Duells beizuwohnen.
Der Hund hatte sich verbissen, das heißt, während des in blinder Wuth geführten letzten Angriffes hatte er den Krampf in die Kinnladen bekommen und mußte daher abgebrochen werden. Da ich Nichts bei mir hatte, womit ich dies hätte bewerkstelligen können – es gehört hierzu ein Knebel – so rief ich mit dem Horne einen Treiber herbei. Auf das Signal kam bald nicht nur einer der Treiber, sondern auch der Louvetier, welcher sich ebenfalls im Treiben befunden hatte. Die Dogge wurde angeleint, der Hebel in den Fang derselben gesteckt, und mit einem kräftigen Rucke war der Hund von seiner Qual erlöst. Aber er wollte so leicht von seiner Beute nicht ablassen und stürzte sich mit gewaltigem Satze zum zweiten Male auf den todten Wolf, so daß der Treiber, der sich eines solchen Ruckes nicht versehen hatte, der Länge nach hinfiel. Nur die ganze Energie und die kräftige Anwendung der Peitsche des Louvetier vermochte den Hund endlich zu beschwichtigen, der sich aber, so lange er den Wolf noch sehen konnte, in seiner Halsung fast erwürgte, um loszukommen und sich nochmals auf den todten Isegrim zu stürzen.
Inzwischen kamen die Treiber herbei. Es war kein Wolf mehr im Treiben, und das Signal rief zum Sammeln. Der mühsame Aufstieg ging viel leichter von Statten, als ich mir denselben vorgestellt hatte. Durfte ich mir doch an dem heutigen Tage mit stolzer Freude meinen ersten Wolf in das Jagdmanual eintragen.
Als wir oben ankamen, trafen wir die Jäger schon ziemlich vollständig beisammen und neugierig fragten uns alle nach dem Resultat.
„Ein starker Wolf liegt auf der Strecke!“ war meine Meldung und die Jägerei mochte es meinem erhitzten und freudestrahlenden Gesichte ansehen, daß ich der Schütze sei; denn Alle traten auf mich zu und gratulirten mir aufs Herzlichste.
Aber auch die übrigen Jäger waren nicht ohne Beute; eine alte Wölfin und ein junger Wolf lagen am Feuer, und mit Stolz sagte mir der Abbé:
„Hier der kleine fiel durch meine Hand, er ist auch mein erster; darum wird der heutige Tag für uns Beide in angenehmer Erinnerung bleiben.“
Mein Wolf war inzwischen gebracht worden und wurde wegen seiner Stärke allgemein bewundert. Derselbe wog 68 Pfund, und heute noch liegt die Decke desselben unter meinem Schreibtische – freilich sind fast alle Haare von derselben verschwunden.
Das gastliche Schloß in den Vogesen beherbergte mich noch über sieben Monate, und nur mit schwerem Herzen trennte ich mich von ihm und seinen Bewohnern.
Als ich dann wieder ins Schloß kam, war’s öde und leer dort. Statt der Jagdflinte hatte ich das preußische Zündnadelgewehr in der Hand und gehörte einem Detachement der preußischen Jäger an, welches dort zur Rekognoscirung weilte. Wie wir damals zwanzig Mann hoch einen ganzen französischen Fuhrpark von 60 Wagen aufhoben, erzähle ich vielleicht ein andermal. Für heute: Waidmannsheil!
Neujahr!
Sylvester-Nacht – vom Haupt zum Grunde
Der Thurm erdröhnt, die Glocke schlug;
Das Jahr verhaucht die letzte Stunde,
Die Zeit that einen Athemzug.
Da taucht der Geist vergang’ner Tage
Aus Nacht und Dämmer mir empor;
Das eigne Leben, gleich der Sage,
Umwebt ein träumerischer Flor.
Erinn’rung spricht mit leisem Munde
Und blickt ins Herz mir ernst und tief
Und jede gut’ und böse Stunde
Wacht auf, die halbvergessen schlief.
Geliebte Stimmen reden wieder,
Die Grabesschweigen längst bedeckt;
Ersehnte Augen blicken nieder,
Die mir kein Morgen mehr erweckt.
So manche Wunde voller Schmerzen
Bricht wieder auf, die halb vernarbt;
Ihr Jugendträume – meinem Herzen
Gespielen einst, ihr gingt und starbt!
Und dieses Herz, wo Well’ auf Welle
Sich sprudelnd hob in Schaffenshast –
Enttäuschung trat auf seine Schwelle,
Der graue Kälte Wintergast.
Da horch - was naht sich leise, leise?
Was dringt ans Herz mir sanft und warm?
O süßer Ton, vertraute Weise -
Im Busen schwillt mir Lust und Harm.
Ich blick’ hinweg, um nicht zu sehen,
Und dennoch reißt’s den Blick mir hin –
Seh ich dich wieder vor mir stehen,
Holdselige Bethörerin?
Liebreizend, so wie die Geliebte,
Als ich sie sah zum erstenmal –
O Hoffnung, die mich oft betrübte,
Kommst du zu neuer Täuschung Qual?
Dies Kindeslächeln, ist es Wahrheit,
Das um die süßen Lippen schwebt?
Und ist es der Verheißung Klarheit,
Dies Licht, das so dein Haupt umwebt?
Kommst du in heil’gem Liebesdrange,
Wenn du zur Menschheit niederschwebst?
Ach, oder bist du nur die Schlange,
Die du vom Blut der Herzen lebst?
Heut endlich sollst du Antwort geben,
Denn blindlings folg’ ich länger nicht
Da seh’ ich sie das Auge heben;
Im Auge schwimmt’s wie Thränenlicht:
„Willst mein Geheimniß du erzwingen?
Es giebt auch Räthsel ohne Trug –
Du frage nicht, was Götter bringen;
Wenn Götter kommen, ist’s genug.“
Ernst v. Wildenbruch.
Ueber Hypochondrie.
„Ich leide seit längerer Zeit an mannigfachen Verdauungsbeschwerden. Nach jeder Mahlzeit empfinde ich ein unerträgliches Gefühl von Druck und Völle in der Magengegend; der ganze Unterleib ist gespannt und höchst schmerzhaft. Ein eisernes Band umschnürt meinen Bauch. Dabei habe ich Schmerzen in allen Gliedern, ein Reißen und Ziehen in den Armen und Füßen wie mit tausend Zangen; Brennen und Hitze im Rücken und zwischen den Schultern, als ob daselbst mich ein wildes Feuer verzehrte. Im Kopfe habe ich häufigen Druck, der mir den ganzen Schädel einnimmt, mir ist ganz wüst in meinem Gehirne und trübe gestalten sich meine Gedanken. Der geringste Anlaß kann mich in größte Aufregung versetzen und dann hämmert mir das Herz in der Brust, daß diese zu zerspringen droht; es wird mir ganz dunkel und schwindlig vor den Augen, so daß ich hinzufallen fürchte. Mein Schlaf ist recht elend und böse Träume schrecken mich fast allnächtlich auf. Zur Arbeit bin ich nicht recht aufgelegt und die Ruhe bietet mir keine Befriedigung. Ich bin frei von Nahrungssorgen und meine Lebensverhältnisse sind vollkommen angenehm geregelt, ich liebe meine treffliche Frau und meine wohlgerathenen Kinder; dennoch habe ich im häuslichen Kreise keine Freude, und wenn ich in Gesellschaft gehe, halte ich es daselbst nicht aus. Meine Freunde, meine Frau schelten mich aus, ich sei ein Hypochonder; sie verlachen mich als eingebildeten Kranken, weil ich esse und trinke wie ein Gesunder und spazieren gehen kann und nicht fiebere. Aber ich habe doch jene Schmerzen und empfinde doch all die quälenden Empfindungen wahrhaftig und wirklich und rede sie mir durchaus nicht ein. Bitte, Herr Professor, sagen Sie mir, ob ich wirklich krank oder nur ein Hypochonder bin!“
Wie häufig erhalte ich Briefe solchen Wortlautes, wie oft vernehme ich derartige mündliche Klagen! Stets ist mir hierbei schon die überschwängliche Ausdrucksweise auffällig, mit welcher solche Patienten von ihren Leiden sprechen und in grellen Farben ihre Stimmungsbilder entwerfen – untrügliche Zeichen überempfindlicher Nerven und überreizten Geistes. Wahrlich, die Klagen stammen meistens nicht von Personen her, die von einer schweren bedrohlichen Erkrankung lebenswichtiger Organe betroffen werden, aber Unrecht thut man ihnen doch, sie als eingebildete Kranke hinzustellen; denn die Hypochondrie selbst ist ja eine Krankheit, allerdings eine solche, in welcher die wirklich vorhandenen körperlichen Leiden in keinem richtigen Verhältnisse zu der Fülle von stürmischen Erscheinungen stehen, die sie auf dem Gebiete des Nervensystems hervorrufen.
Der Hypochonder ist ein unglücklicher Mensch, der mit einer überaus zarten Empfindlichkeit für die geringsten Veränderungen seiner körperlichen Zustände begabt ist und in Folge dessen auch seine stäte Aufmerksamkeit dem eigenen Ich zuwendet, das ihm der unaufhörliche Anlaß zu trüben Stimmungen, unbegründeten Befürchtungen und Wahnvorstellungen wird. Ganz bezeichnend sagt der geistvolle Humorist Lichtenberg: „Es giebt große Krankheiten, an welchen man sterben kann, es giebt ferner welche, die sich, ob man gleich nicht daran stirbt, doch ohne vieles Studium bemerken und fühlen lassen; endlich giebt es aber auch solche, die man ohne Mikroskop kaum erkennt. Dadurch nehmen sie sich aber ganz abscheulich aus, und dieses Mikroskop ist – Hypochondrie.“
In der That verlegt sich der Hypochonder darauf, sein Befinden mit mikroskopischer Genauigkeit ängstlich zu studiren. Er besieht sorgfältig die Zunge, zählt genau die Schläge seines Pulses, betrachtet im Spiegel die Gesichtsfarbe und den Mienenausdruck und unterwirft die Absonderungen und Ausscheidungen des Körpers einer minutiösen Beobachtung.
Kein Wunder, daß diese stäte Selbstbeobachtung und diese unaufhörliche Beschäftigung mit dem eigenen Körper eine tiefe Verstimmung und starke Aengstlichkeit erzeugt, welche zumeist noch durch unklare Vorstellungen über die Krankheiten gesteigert wird. Ein leichter Kopfschmerz oder Rückenweh giebt zu der Besorgniß Anlaß, daß eine schwere Hirnkrankheit eintritt oder es zu einem Rückenmarksleiden kommt. Ist die Verdauung träge und der Unterleib empfindlich, so taucht gleich die Befürchtung auf, daß sich Magenkrebs entwickle. Ein leichter Katarrh des Kehlkopfes oder der Lungenschleimhaut wird mit tiefer Kümmerniß für beginnende Kehlkopf- und Lungenschwindsucht gedeutet. Das bei nervösen Personen so häufig jeder Erregung folgende Herzklopfen gilt als untrügliches Zeichen eines schweren Herzfehlers. Und so geht es mit wohlgefälliger Abwechslung fort ins Unendliche.
Diese Sorge um das allerhöchste eigene Befinden, diese Furcht vor jeder Möglichkeit zur Erkrankung giebt zu übertriebenen Vorsichtsmaßregeln Anlaß, welche jede Lebensfreudigkeit nothwendig benehmen müssen. Des Abends darf nicht ausgegangen werden, damit sich keine Gelegenheit zur Erkältung biete; die Kleidung wird besonders warm gewählt, der Hals und der Mund mit Tüchern geschützt, damit kein rauher Wind Schaden bringe; die Nähe von Kranken wird ängstlich gemieden, damit ja kein Ansteckungsstoff Eingang finde; kurz, alles Denken und Fühlen, Sinnen und Trachten, Thun und Treiben dreht sich um die Sorge für das eigene körperliche Wohl und Wehe. Bei einer gewissen allgemeinen Bildung besitzt der Hypochonder die moralische Kraft, sich noch einigermaßen zu beherrschen und in Gesellschaft seine trübe Stimmung zu verbergen; nur allein oder im Familienkreise, wo er sich keine Gewalt über die Aeußerung seiner traurigen Empfindungen anthut, ist er schwermüthig, sinnend, grübelnd. Der liebste Gesprächsgegenstand ist ihm sein eigener Krankheitszustand oder ein diesem ähnlicher Zustand, und mit großer Vorliebe weiß er, besonders wenn er eines Arztes habhaft werden kann, das Gespräch auf sein eigenes Leiden zu bringen, das er für unheilbar hält und von dem er baldigen Tod, Elend seiner Familie etc. befürchtet. Unter den Aerzten ist ihm derjenige am liebsten, der sich die Zeit und Mühe nimmt, seine stets wiederkehrenden Klagen mit sichtlicher Aufmerksamkeit anzuhören und den ganzen Körper einer recht gründlichen Untersuchung zu unterziehen.
Es ist kein lichtvolles freundliches Bild, das wir mit diesen wenigen Strichen skizzirten; aber es hat den Vorzug, getreu nach der Natur entworfen zu sein und wohl getroffen die düsteren Züge des Hypochonders zu geben, der mit seiner unsäglichen Besorgniß, mit seinen stäten Klagen sich und den Seinigen das Leben verbittert.
Fragen wir aber nach den Ursachen dieses qualvollen Zustandes, so muß vor Allem erwiedert werden, daß die Hypochondrie eine Tochter der Neurasthenie ist, der allgemeinen Nervenschwäche, welche sich durch erhöhte Reizbarkeit und herabgeminderte Leistungsfähigkeit des gesammten Nervensystems kundgiebt. Wenn gleich die anatomischen Veränderungen des Gehirns, welche der Hypochondrie zu Grunde liegen, noch nicht erforscht sind, so muß man doch annehmen, daß gewisse Veränderungen desselben daran die Schuld tragen, daß bei Hypochondrie alle die Nerven treffenden Eindrücke übermäßig stark empfunden werden und die Anregung zu Unlustgefühlen geben, welche die ganze Seelenthätigkeit, die Gedankenentwickelung und das Geistesleben beherrschen und gefangen nehmen. Zweifellos spielen hier angeborene Verhältnisse eine wichtige Rolle. Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher photographischen Treue zuweilen das Bild der hypochondrischen Erscheinungen bei dem Sohne gleich wie beim Vater zu Tage tritt, und in vielen Familien kann man leicht den schwarzen Faden der Hypochondrie verfolgen vom Großvater bis zu dem im Kindesalter befindlichen Enkel.
Dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgehen, daß manche Kinder, und zwar vorwiegend Knaben von schwächlichem zarten Körperbau, sich durch eine übergroße Empfindlichkeit auszeichnen wie durch eine merkwürdige Neigung, bei den geringfügigsten Anlässen ängstlich und besorgt zu werden. Solche Jungens benehmen sich schon von Kindesbeinen an weniger „männlich“, als ihre Altersgenossen; sie sind leicht eingeschüchtert und furchtsam. Wenn sie ein kleiner Unfall betroffen hat, wenn sie gefallen sind oder gestoßen wurden, kann sie der Anblick der Beule oder Schramme oder gar des fließenden Blutes in die größte Angst versetzen; sie jammern und klagen nicht allein wegen des körperlichen Schmerzes, sondern ganz besonders aus Furcht vor den Folgen der Verletzung. Als Jünglinge thun sich solche mit ererbter Neigung zur Hypochondrie Behafteten durch ihre Grübelsucht hervor, [890] indem sie bei dem geringsten Unwohlsein alle möglichen Krankheitssymptome an sich entdecken und ohne wirkliche Nöthigung über eine Fülle von Schmerzen klagen; sie fühlen sich bei jedem unbedeutenden Anlasse krank, meiden die lärmenden Vergnügungen der Altersgenossen, sind leicht launisch und mißvergnügt und haben oft das Bedürfniß, allein zu sein und sich auszuruhen. Das Mannesalter bringt dann die von den Eltern überkommene Krankheit zur vollen Entwickelung und geringfügige Gelegenheitsursachen geben den Anstoß, daß die Hypochondrie zum unverkennbaren Ausdrucke gelangt.
Alle Krankheiten, welche eine große Schwächung des Organismus und hiermit auch eine Herabsetzung der Energie, eine Ermüdung des Nervensystems bedingen, sei es durch Blutverluste, durch Fieber, sei es durch Beeinträchtigung der Gesammternährung, können, besonders bei erblicher Anlage, die Veranlassung zur Hypochondrie werden. Das Entstehen dieser Krankheit läßt sich oft ganz deutlich von einem überstandenen Typhus, einer schweren Lungenentzündung etc. her verfolgen, oder es lassen sich übermäßige geistige Anstrengungen, sinnliche Ausschweifungen, drückender Kummer und Sorgen als krankmachende Ursachen nachweisen. Bestimmte Beschäftigungsarten scheinen besonders die Hypochondrie zu begünstigen. Sitzmenschen, welche, an das Bureau gefesselt, eine mehr mechanische Schreibarbeit haben, die ihre Denkthätigkeit nicht vollständig in Anspruch nimmt, wie Kanzlisten, Rechnungsbeamte, und andrerseits Stubengelehrte, welche ihr Gehirn in eintöniger Weise anstrengen, aber auch Personen, welche in noch rüstigem Alter sich zur Ruhe setzen und eine rege, abwechselungsvolle Thätigkeit mit dem ungewohnten Nichtsthun vertauschen, das ihren Gedanken keinen genügenden Spielraum bietet – sind sehr häufig geneigt, ihren körperlichen Zuständen ganz besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und sich betrübenden Vorstellungen und ängstlichen Stimmungen hinzugeben. Daß eine Geistesbeschäftigung und Seelenthätigkeit, welche andauernd auf die Beobachtung von Krankheiten gerichtet ist, hypochondrische Empfindungen zu wecken vermag, ist leicht erklärlich, und in diesem Umstande liegt der Grund, daß der Studirende der Medicin sich so leicht alle möglichen Krankheiten einredet, die er gerade auf der Klinik vertreten findet; daß gebildete Krankenpfleger durch den Verkehr mit den Leidenden an hypochondrischer Stimmung leiden, daß das Lesen gewisser sogenannter populärer medicinischer Schriften beängstigende Vorstellungen zu wecken vermag und daß bei herrschenden Seuchen und ansteckenden Krankheiten so leicht Hypochonder auftauchen, welche grundlos an Cholera, Typhus, Scharlach, Blattern, Diphtheritis erkrankt zu sein fürchten.
Wenn in den besser situirten, wohlhabenden und gebildeten Gesellschaftskreisen die Hypochondrie weit häufiger auftritt als in den arbeitenden Klassen der Bevölkerung, so liegt der Grund hierfür darin, daß der geplagte Arbeiter, der auf seiner Hände Thätigkeit angewiesen ist, weder Befähigung noch Zeit hat, der Phantasie viel Spielraum zu gönnen und sich krankhaften Empfindungen hinzugeben. Aber ausschließliches Eigenthum der Reichen ist dieses hypochondrische Krankheitsgefühl keineswegs, und gar manche Handwerkersfrau weiß auch davon zu erzählen, wie ihr Mann sie mit seiner Hypochondrie, seiner Launenhaftigkeit und Griesgrämigkeit zu quälen versteht.
So stürmisch die Erscheinungen sind, welche die Hypochondrie hervorruft, so mannigfach die mit ihr verknüpften Leiden sind, so tief diese Nervenkrankheit in alle Lebensverrichtungen eingreift – so können wir doch sagen, daß in den meisten Fällen Besserung, ja Heilung erzielt werden kann. Ein denkender und fühlender Arzt wird zumeist ein lohnendes Feld seiner segensreichen Wirksamkeit finden, wenn er jeden Einzelfall zum genauen Gegenstande eingehenden Studiums macht, die veranlassenden krankhaften körperlichen Zustände erforscht und die ursächlichen seelischen Einflüsse ins Auge faßt. Mit ätzendem Spotte oder leichtem Achselzucken ist kein Hypochonder zu kuriren, wohl aber durch ernste Erforschung der Natur des betreffenden Individuums. Häufig sind Verdauungsstörungen die Ursachen der Hypochondrie. Geeignete Regelung der Magen- und Darmthätigkeit ist hier von unendlicher Wichtigkeit.
[891] Personen, die eine sitzende Lebensweise führen, können von ihrer Hypochondrie befreit werden, wenn zwischen Thätigkeit und Ruhe des Körpers und Geistes die richtige Abwechselung hergestellt wird, wenn sie für Bewegung in frischer Luft, für Zerstreuung und Unterhaltung Sorge tragen. Von dem großen Arzte Boerhave erzählt man, er sei brieflich von einem Hypochonder um Rath befragt worden. Aus dem Briefe entnahm er, daß der Verstimmte sich keine Bewegung gönne, sondern zu Hause dumpf hinbrütend hocke. Er antwortete daher, der Patient solle ihn persönlich aufsuchen, müsse aber die weite Reise zu Fuße zurücklegen. Unser Hypochonder machte sich auf die Wanderung, marschirte durch Wald und Flur, athmete die lang entbehrte schöne frische Luft in vollen Zügen ein, erfreute sich an dem herrlichen Grün der Wiesen und dem reinen Blau des Himmels und traf vollkommen – gesundet bei Boerhave ein.
Das Herausreißen aus der gewohnten Beschäftigung, die Entfernung aus der alltäglichen Umgebung, die Veränderung der ganzen Lebensweise, die Schonung des überreizten Gehirnes und der ermüdeten Nerven, die Verbesserung der gesammten Ernährung des Körpers, die Beruhigung des Gemüthes und Anregung der Willenskraft vermögen bei Behandlung des Hypochonders unendlich viel zu leisten.
Daher ist es erklärlich, welch günstigen Einfluß häufig gewisse Brunnenkuren auf das Befinden des Hypochonders üben; denn an den Heilquellen vereinigt sich die Wirksamkeit der Mineralwasser mit der Einwirkung der völlig veränderten Lebensweise und mit der wohlthuenden Macht, welche die ewig jungen Reize der Natur auch auf ein krankes Gemüth üben. Nicht allen traurig gestimmten, dabei aber sehr leicht erregbaren und gereizten Personen sagt jedoch das geräuschvolle, buntbewegte Treiben eines Weltkurortes zu; je frischer und froher das Leben rings um sie herumpulsirt, um so unglücklicher fühlen sie sich selbst. Solchen Hypochondern ist die geräuschlose, friedliche Stille eines minder belebten schönen Gebirgsortes zum Aufenthalte viel zuträglicher und die stille Abgeschiedenheit viel heilvoller. Das durch Erfahrung geschärfte Auge des Arztes muß hierüber die Entscheidung zu treffen wissen.
Unter allen Verhältnissen ist es wichtig, die Hypochondrie gleich in ihren ersten Anfängen zu bekämpfen, wo sie sich noch in anscheinend geringen Störungen des Nervensystems zu erkennen giebt, bevor sie noch zu immer höheren Graden krankhafter Gefühle und Stimmungen heranwächst und jene erschreckende Formen annimmt, welche die völlige Geistesumnachtung, eine schwere Geisteskrankheit zur Folge haben. Viel vermag hier eine zielbewußte erziehliche Thätigkeit, welche von Jugend an den kleinlichen egoistischen Sinn bekämpft, die wohlgefällige leibliche wie geistige Selbstbespiegelung hintanhält, den Gedankenkreis über die beschränkten eigenen Verhältnisse hinaus erweitert, die Empfindlichkeit für die Reize der Natur weckt, das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der ganzen Menschheit rege hält, Theilnahme an der Kunst wachruft. Ich behaupte, daß Ruhe, Zufriedenheit und Heiterkeit Gemüthseigenschaften sind, welche ganz wohl anerzogen werden können. Wer von seinen Kinderjahren an den Gedanken gewöhnt wird, daß das eigene Ich nicht das Höchste im menschlichen Leben ist, wer sich Ideale geschaffen, denen nachzustreben er als den Zweck des Daseins erkennt, wer sich selbst jederzeit zu beherrschen gelernt hat, wer seinen Willen zur Erreichung des Edlen, Guten und Wahren zu stärken weiß, wer das richtige Ebenmaß von Arbeit und Erholung einzuhalten versteht und vermag – der wird kein Hypochonder. Und ist ihm dennoch durch irgend eine körperliche Störung die seelische Harmonie getrübt worden und sind hypochondrische Bilder vor seinem Geiste aufgetaucht: die feste Willenskraft wird diese wieder bannen können und den Sieg über den Dämon der schwarzen Gedanken erkämpfen. Als Helfer und Beschützer soll dem Kämpfenden ein treuer Freund, ein fühlender Arzt zur Seite stehen.
Ein Jahr war übers Land gegangen. Wieder war ein früher Winter mit reichlichem Schneefall von den Bergen niedergestiegen ins Thal. Und wieder war Allerseelentag. Vom frühen Morgen an war der Kirchhof nicht leer geworden von Leuten, welche die geschmückten Gräber ihrer Todten besuchten.
Und auch jetzt noch, während es schon zu dämmern begann und der Schnee in großen Flocken fiel – auch jetzt war die ernste Stätte noch nicht vereinsamt. Männer und Frauen wanderten langsam zwischen den Kreuzen umher und verweilten hier und dort zu kürzerem oder längerem Gebete.
Vor einem eisernen Gitter, welches zwei reich gezierte Hügel umschloß, die Gräber der seligen Pointnerin und des Bygotters, standen drei Menschen – Karli mit seinem jungen Weibe und der Pointner.
Gar wenig hatte sich Karli in diesem Jahre verändert. Nur höher und stattlicher schien er geworden. Der Ausdruck des zufriedenen Glückes, welches aus seinen Augen und Zügen sprach, wurde durch den Ernst der gegenwärtigen Stunde kaum getrübt.
Recht merklich aber hatte der Pointner die entschwundene Zeit zu fühlen bekommen. Grauer und dünner war sein Haar geworden; die glänzende Röthe seiner Backen hatte sich sehr, recht sehr gemildert – und was diese Backen an Röthe eingebüßt, hatten sie an Furchen zugesetzt. Seine Schultern waren gesunken, und das unermüdliche Lächeln des sauber rasirten Mundes schien sich in den müden Zug verloren zu haben, der die Winkel kreuzte. Nur aus den kleinen blinzelnden Augen lugte noch ein wenig der Pointner vom letzten Jahre.
Wie der verkörperte Spätherbst neben dem sprossenden Leben des zum Sommer sich wandelnden Frühlings, so stand dieser Alte neben dem schmucken, vollerblühten jungen Weibe, in welchem man das zarte, schüchterne Ding von einst kaum mehr erkennen mochte. Und dieser weiche, frauenhafte Zug, wie paßte er so gut zu dem sanft gerundeten Gesicht! Wie paßte er so gut zu dem ruhigen Ernste dieser großen, blauen Augen, die jetzt mit regungslosen Blicken auf einem der beiden Gräber ruhten!
Während der Pointner immer wieder die weißen Flocken von seinen Aermeln schüttelte, während er ein um das andere Mal über die Schulter blickte, als dächte er vor den kalten Gräbern schon an die warme Stube zu Hause, verwandte Karli keinen Blick von dem jungen Weibe an seiner Seite.
Nun legte er die Hand auf ihre verschlungenen Finger und sagte: „Geh’ – so lang’ därfst mir fein net bleiben, in dem kalten, nassen Schnee daheraußen!“
„Ja, Recht hat er! Könntest Dir ja schaden!“ bestätigte der alte Pointner mit lautem Eifer und hauchte in die Hände.
Da schloß sie ihr stilles Gebet und bekreuzigte sich, während ein stockender Seufzer ihren Busen schwellte.
Als sie den Kirchhof verlassen hatten, öffnete Sanni einen dunkelblauen Regenschirm und sagte zu ihrem Manne:
„Geh’ nur heim derweil, Karli – ich hab’ mich zu der Frau Lehrerin noch auf an kurzen Plausch versprochen. Der Vater bleibt schon bei mir. Gelt, Vater?“
„Aber g’wiß!“
„No ja – da kann ich ja auch mitplauschen?“ meinte der junge Bauer.
Sanni erröthete. „Ah na – geh’ nur heim – ich kann Dich net brauchen.“
„Nix da – marsch weiter! Wir können Dich net brauchen!“ kicherte der Alte, während er den Sohn mit beiden Armen gegen die offene Straße drängte. „Gelt? Möchtest gern wissen, was ’s da zum Reden giebt – jetzt allweil – Du Nasenweis, Du! Marsch weiter!“
Mit glücklichem Lachen rückte Karli den Hut, und wohl ein Dutzendmal schaute er sich noch um, während er dahinstapfte [892] über die beschneite Straße. Als ihm dann das Lehrerhaus in der Dämmerung und in dem Gewirbel der Flocken verschwand, lachte er noch einmal auf. Was doch ein einziges, kurzes Jahr nicht Alles bringen kann! Und wie glatt sich das Alles gegeben hatte!
Gleich in den ersten Wochen nach jenen ereignißschweren Tagen hatte Karli mit festen Händen die Zügel im Pointnerhofe ergriffen. Und bei der vielen Arbeit, die es da gegeben, hatte er blutwenig Zeit gefunden, sich um das müßige Gerede der Leute zu kümmern, das den Pointnerhof umlagerte. Dem Vater freilich, dem hatte dieses Gerede leidige Sorgen geschaffen; und ein rechter Aerger war ihm der Spitzname gewesen, den ihm der Maurer-Hansl aufgebracht: der „ledige Hochzeiter“. Auch die stille Einsamkeit seiner Stube hatte ihn gar bitter bedrückt. Lange Stunden hatte er oft um den Götz gejammert. Der aber blieb verschollen. Was auch der Pointner, oder der Anwalt, an den er sich, und nicht nur wegen Götz allein, um Rath und Hilfe gewandt hatte, unternehmen mochte – von den beiden Flüchtigen war nicht die geringste Spur zu finden. Da gewöhnte sich’s denn der Pointner allmählich ab, von Götz zu reden. Um so häufiger war dieser Name in Karli’s Mund. Er schaffte den beiden neuen Dienstboten keine Arbeit, ohne beizufügen: „So hat’s der Götz g’macht, und so wird’s auch weiter g’halten!“
Und gegen Martl, Zenz und Stoffel hieß es: „Ihr wißt ja, wie’s der Götz allweil haben hat wollen!“
So kam es, daß Götz, trotzdem er in weiter Ferne weilte, das treibende und ordnende Mittelglied im Arbeitsgang des Pointnerhofes blieb. Und da ging nun Alles so frisch und eben vom Flecke, daß Karli seine helle Freude daran hatte.
Eine schwere Stunde war aber dennoch für ihn gekommen – als Sanni endlich über ihren Vater die Wahrheit hatte erfahren müssen. Aber der herbe Schmerz und die tiefe Trauer, welche diese Stunde über das Herz des Mädchens brachte, linderte und löste sich in dem traulichen Glücke des jungen Weibes.
Mit dem Tage, an welchem Sanni im Pointnerhofe ihren Einzug hielt, begann auch der verdrossene Alte wieder „aufzuschnaufen“. Und da er nun wieder Jemand hatte, der ihn vom Morgen bis zum Abend unterhielt und hätschelte, verging beinahe kein Tag, an dem er nicht unter Kichern und Thränen betheuert hätte: „Mit Dir, Sannerl, mit Dir is halt der Fried’ wieder ein’zogen unter mein Dach!“
Und Karli erst! Der kam nun schon gar aus dem Lachen nicht mehr heraus. Nur Eines fehlte noch, damit sein Glück „als a ganzer in’ Himmel wachsen“ könnte Aber auch dieses Einzige mochte wohl nicht allzu lange mehr auf sich warten lassen.
Diese wohlbegründete Hoffnung leuchtete und lachte aus seinen Augen, als er bei sinkender Dämmerung seinen Hof erreichte.
Unter der Thür begegnete ihm die neue Magd, die einen Zuber voll dampfenden Wassers nach den Ställen trug.
„Drinn in der Stuben is Einer,“ sagte sie im Vorübergehen, „der wart’ schon g’wiß a Stund’.“
„So? Wer denn?“
„Ich weiß net – es muß a Fremder sein.“
Karli zog die Brauen in die Höhe, pochte den Schnee von den Füßen, schüttelte die Flocken von seinem Gewande und trat ins Haus.
Als er in die Stube kam, sah er eine dunkle Gestalt neben dem Tische auf der Holzbank sitzen. Wortlos erhob sich der Fremde.
Karli zögerte einen Augenblick. Dann legte er den Hut ab, ging auf den Schrank zu und entzündete ein Talglicht, das er zum Tische trug. Nun musterte er den Fremden.
Es war ein alter Mann mit schneeweißen Haaren. Dunkle Augen glühten in dem blassen, hohlen Gesichte, das zur Hälfte unter einem weißen, struppigen Vollbart verschwand. In der Hand, mit welcher er sich auf die Tischplatte stützte, hielt er eine zerknüllte Pelzhaube – in der andern einen roh beschnittenen Stock. Er trug eine doppelt über einander geknöpfte Jacke, enge Lederhosen und graue Filzgamaschen über den schweren Schuhen, von welchen der Schnee zu einer kleinen Wasserlache auf die Dielen geschmolzen war.
„Wer bist denn, han? Und was schaffst?“
„Kennst mich ’leicht nimmer, Karli?“ frug eine zitternde, müde Stimme.
„Jesus Maria – Götz! Du!“ stammelte der junge Bauer und schlug die Hände in einander. „Ja wie schaust –“ Das brachte er nicht heraus. Er verschluckte, was er hatte sagen wollen, und stotterte: „Ja, wo kommst denn Du jetzt her? Was bringst denn Du?“
„Was ich bring’? Dei’m Vater sein’ Freiheit!“
Am nächsten Stuhle suchte Karli mit beiden Händen eine Stütze, so heftig zitterten ihm die Kniee. Er rührte die Lippen und starrte rathlos mit erschrockenen Augen auf Götz, der den Stock auf die Holzbank legte, langsam die Jacke öffnete und ein gefaltetes Blatt aus der inneren Tasche nahm.
„Da, Karli – da – gieb’s Dei’m Vater!“
Zögernd streckte der junge Bauer die Hand und verwandte, während er das dünne, knisternde Blatt entfaltete, keinen Blick von Götz. Seufzend schüttelte er den Kopf, näherte sich dem Lichte und begann zu lesen. Eine fahle Blässe überrann seine Züge. Er hielt in den Händen einen Todtenschein – auf den Namen Kunigunde Pointner, geborene Rauchenberger. Als Sterbetag war der 14. Oktober genannt, und darüber stand der Name eines Tirolerdorfes.
„Ja lieber Heiland – lieber, lieber Herrgott –“
Mehr brachte Karli nicht über die bleichen Lippen.
„Gelt? Gelt ja? So ’was! Auf so ’was hättst heut’ auch net aus’denkt!“ raunte Götz mit gebrochener Stimme vor sich hin. „Und um mich – um mich hat sie’s leiden müssen. Und ang’lacht hat s’ mich noch – ang’lacht im letzten Schnaufer. Hingeben hat sie’s müssen, ihr blutjungs Leben – und mich hat s’ übrig lassen! Zu was? Zu was denn hat’s mich übrig lassen? Schad’ is, Karli – schad’ is drum – mir kannst es glauben! Wann Du s’ nur sehen hättst können – Du und Dein Vater – wie s’ worden is und wie sie sich g’macht hat – so brav und richtig! Und wie lieb und gut als s’ g’wesen is zu mir! So z’frieden war s’ – und was hab’ ich ihr denn bieten können, als g’rad mein Bißl Lieb’? Kein’ Arbeit hat s’ verdrossen – ja – und wie wir erst a Platzl g’funden haben – im Tirol drin – so a Winter, Karli, wie das einer g’wesen is! Ich, Karli, ich – und sonst nix hat’s geben für mein Deandl! Und wann ich am Abend heim’kommen bin von der Holzarbeit – wie da unser Stüberl ausg’schaut hat! Und wie wir da bei ’nander g’sessen sind – g’wiß – unser Herrgott hätt’ mich neiden können!“
In Thränen erstickte seine Stimme, und wankend griff er mit zitternder Hand nach dem Tische.
„Aber, Götz – schau – so setz’ Dich doch g’rad a Bißl nieder!“ stammelte Karli.
Götz aber hörte nicht. Mit nickendem Kopfe stand er, ein schwerer Athemzug erschütterte seine Brust, und wieder begann er in abgerissenen Worten zu sprechen: „Und auf so an Winter, Karli – auf so an Winter so a Sommer! A Bauer hat uns ein’dingt g’habt – auf d’ Alm. Wir zwei – und ganz allein da droben! Die schönste Alm – a Vieh, wie’s keins mehr giebt – und so a Freud’, wie’s Deandl g’habt hat d’ran! Und wie ich s’ in die neue Arbeit eing’lernt hab’ – und gleich aufs erst’ mal hat s’ Alles verstanden! Und ein Tag wie der ander’ – so stad und heimlich! Und wie’s auf’n Herbst zu’gangen is, da hab’ ich mich schon wieder auf’n Winter g’freut! Ja – und jetzt is er da – der Winter!“
Götz verstummte und fuhr sich mit beiden Händen über die weißen Haare. Regungslos stand Karli vor ihm, bange Spannung in Augen und Zügen.
„Am zwölften in der Fruh, da hat der Sturm schon ang’fangt – und gleich hab’ ich g’meint, wir sollten heimtreiben. Und da hat s’ mich so viel bitt’, ich sollt’ mich nur g’rad a paar Tag’ noch halten – weil s’ gar so gern heroben war. Und ich – was hätt’ ich ihr denn abschlagen können! Wie’s aber zwei Tag’ lang allweil ärger worden is, und wie’s uns die Schindeln davon gefegt hat von der Hütten wie dürre Blätter, da hat’s halt doch kein Bleiben nimmer ’geben. ’s Vieh is auch schon verzagt und wild g’wesen – und beim Abtreiben erst – wie’s durch’s Holz durch’gangen is, wo die dürren Aest’ g’rad so um einander g’flogen sind – da sind die armen Viecher völlig narrisch worden, und g’rad laufen und schreien haben wir müssen, daß wir s’ zur Noth bei einander g’halten haben. Völlig aufg’schnauft hab’ ich, wie ich d’ Lichten schon g’sehen hab’ in der Tiefen. ‚Jetzt, Kuni, jetzt is gleich überstanden,‘ hab’ ich noch g’sagt – und kaum ich das sag’ – da fallt’s Dir auf amal ’rein übern Wald, wie wann der Himmel sein’ ganzen Luft mit ei’m Mal
[893][894] auslassen hätt’. Die stärksten Bäum’ hat’s Dir hing’worfen wie d’ Waizenhalm’ – und a Krachen war’s – zum Schaudern und Grausen. Und ich – ich will noch auf’s Deandl zuspringen – und da wirft’s mich über a Wurzen – an Kracher hör’ ich hinter mir – und hör’ an Schrei und g’spür’ noch, wie mich ’s Deandl auf d’ Seiten reißt – und da saust der Baum mit die ganzen Aest’ schon nieder neben meiner – und – wie ich aufschau’, fallt mir ’s Deandl schon in d’ Arm’ – kaasweiß im G’sicht – voller Blut am linken Schlaf – und aufg’schnauft hat s’ noch an einzigs Mal – und ang’lacht hat s’ mich noch im letzten Schnaufer. Und überstanden war’s – ja – überstanden!“
In tonlosem Gemurmel verloren sich seine letzten Worte, und seine Gestalt versank in sich, als hätte sich eine drückende Last auf seine Schultern gesenkt. Er schien es kaum zu merken, daß Karli unter stammelnden Worten seine Hände ergriff, daß er ihn niederzog auf die Holzbank, daß er sich an seine Seite setzte und unter Thränen unermüdlich auf ihn einsprach, bald in lautem Jammer und bald in herzlichem Troste.
„Und Recht, Götz, Recht hast g’habt, daß gleich auf uns ’denkt hast,“ so sprudelte es nach all diesen Reden von Karli’s Lippen. „Und jetzt bist da! Und da giebt’s kein Fortgehn nimmer! Der Vater und ich und mein’ Sanni – ja, denk’ Dir, Götz, am Lichtmeß hab’ ich g’heirath’ – und d’ Sanni, Du, da wirst schauen, wenn mein’ Sanni siehst – und g’wiß, Götz, g’wiß – wir Drei, wir werden’s an gar nix fehlen lassen, daß bei uns Dein’ Ruh wiederfindst, und a Trösten – Du armer Kerl, Du!“
Mit trübem Lächeln schüttelte Götz den Kopf und löste seine Arme aus Karli’s Händen.
„Ruh und Trost? Und bleiben? Na, Karli, das is a verlorenes Wort! Daß ich das Blattl dort ’bracht hab’, war mein’ ganze Schuldigkeit. Und jetzt liegt’s da – mein G’schäft is aus – und so kann ich ja wieder gehn!“
„Na, Götz, na, und tausendmal na! Ich laß’ Dich nimmer fort! Da giebt’s amal nix! Und wann der Vater mit meiner Sanni heimkommt –“
„Laß gut sein, Karli! Ich hab’ schon mein’ Platz. Mein Deandl und ich – wir g’hören z’samm! Und übrigens – ich kann net bleiben – ich hab’ ja noch an andern Gang. Mit mir hat ’s G’richt noch a Wörtl z’reden – von wegen mei’m falschen Nam’ und meine falschen Zeugniss’ –“
„Aber Götz! Götz! Ja was hast denn jetzt da im Sinn? Wer hat Dich denn g’fragt danach?“
„Ich will amal sauber machen mit mir! Und fertig will ich sein mit Allem, ehvor ich heimgeh’ zu mei’m Deandl.“
„So? Fortgehn? So? Jetzt sage ich Dir ’was! Da – da bleib’ ich sitzen, und nimmer laß ich Dich aus, bis der Vater und d’ Sanni heim kommt!“
„Dein Vater? Weißt es denn nimmer, wie er g’sagt hat? D’ Leut’ – d’ Leut’ halt, hat er g’sagt. Schau, Karli – und wann ich schon an sonst nix denken müßt’ – es wär’ a Sünd’ von mir, wann ich mein Elend und mein ’brochens Leben Dei’m Glück vor d’ Füß’ hinsetzen möcht’. Ich hab’ in der selbigen Nacht den Unfried’ mit fort’zogen aus Dei’m Haus – sollt’ ich ihn mit mir wieder ’reinführen jetzt? Unfried’ – ja – den Unfried’ habt’s mein Deandl g’heißen, ich aber, ich hab’ s’ mein’ Frieden g’heißen – mein lieben Fried’. No ja, der Herrgott wird schon wissen, warum er ihn mir net länger vergönnt hat – mein Fried’ – als g’rad a Jahr. Daß ich a Unrecht thu’ – ich hab’ mir’s g’sagt in der selbigen Nacht – aber daß ich gar so schwer drum büßen muß –“
Götz verstummte. Mühsam drückte er sich am Tisch in die Höhe, starrte mit nassen Augen gegen die Mitte der Stube, streckte die zitternde Hand und schluchzte: „Da – schau, Karli – g’rad an dem Fleckl da hat s’ gestanden, wie s’ mir selbigsmal ihr Hand hin’boten hat – die erste von allen –“
Seine Worte erloschen, und wankend tastete er nach dem Tische. Erschrocken sprang Karli an seine Seite. „Ja mein Gott – was is Dir denn auf amal?“
„Nix – gar nix! Müd’ bin ich halt a Bißl – müd’. Drei Tag schon bin ich am Weg’ – und heut’ – heut’ bin ich g’radaus ’gangen seit in der Fruh!“
„Jesses na! Ja wie hast denn so ’was vermocht? Und weßwegen hast denn nix g’sagt? So setz Dich doch nieder! Und geh – jetzt schau ich gleich um ’was z’essen und um an frischen Trunk.“
Unter diesen Worten rannte Karli schon der Thür zu: „Nannei! Nannei!“ schrie er in den Flur hinaus. Da draußen aber blieb Alles still. „Macht nix – so schau ich mich halt selber um!“ Er holte das Licht vom Tische, raffte ein Deckelgas vom Schranke und eilte aus der Stube.
In zitternder Hast erhob sich Götz. Er hörte die Kellerthür gehen und hörte Karli’s Tritte über die steinerne Treppe hinunter klappern.
„Fort – fort jetzt! Oder ich könnt’ die rechte Zeit verpassen – bei ihm – und ’leicht auch bei mir!“
So murmelte er in das Dunkel, das ihn umgab, tastete nach seiner Mütze, griff nach dem Stock und schwankte der offenen Thür zu.
Aufathmend trat er in den Hof. Schon wollte er sich gegen die Straße wenden, als er in der Nähe des Zaunes eine kichernde Stimme hörte. Erschrocken eilte er nach der Gartenseite am Haus entlang und drückte sich hinter eine Mauerecke.
Der alte Pointner und Sanni betraten den Hof. Unter der Hausthür stießen sie auf Karli, der eben aus dem Keller kam.
„Vater – so denk’ Dir g’rad – der Götz is da!“
„Was! Der Götz?“
„Ja – und – und kannst Dir auch denken, was er ’bracht hat –“ Da dämpfte sich Karli’s Stimme zu leisem Flüstern.
„Jesus Maria!“ hörte man den Pointner rufen. „Ja, kann’s denn wahr sein!“ Die Sprache verging ihm, bis er sie nach kurzem Schweigen unter schluchzendem Stottern wieder fand. „Der Herr gieb ihr die ewige Ruh’! Schad’, Karli – schad’ is dengerst drum!“
Götz trat aus seinem Versteck hervor.
„Ja – freilich schad’!“ stieß er mit gebrochenem Lachen vor sich hin. Einen letzten Blick noch warf er auf die helle Thür, dann eilte er mit hastigen Schritten dem Garten zu. Während er unter dem Schleier der stöbernden Flocken sich keuchend aufwärts mühte über den steilen, tief beschneiten Wiesenhang, hallte hinter ihm schon Karli’s Stimme: „Götz! Götz! Götz!“
Je lauter und dringender diese Rufe tönten, desto rascher flüchtete jener, dem sie galten, dem hohen Walde zu. In großen Klumpen hängte sich der Schnee an seine Füße; schwerer und schwerer ging sein Athem, immer wieder sank er in die Kniee, immer wieder raffte er sich auf und stürmte weiter, höher und höher, bis er den Waldsaum erreichte. Mit beiden Armen klammerte er sich an den ersten Baum, um vor Erschöpfung nicht umzusinken. Noch hatte er nicht ruhigen Athem gefunden, da stieg er schon wieder bergan, mühte sich durch wirres Gestrüpp und arbeitete sich von Baum zu Baum, überschüttet von den dicken Schneemassen, die aus dem schwankenden Gezweige klatschten. Auf seinem Gesichte stand der Schweiß, und dennoch fühlte er eine schauernde Kälte an seinem ganzen Leibe.
Nun erreichte er einen schmalen, quer über den Berghang ziehenden Pfad. Hier hielt er inne. Die Müdigkeit lag ihm wie Blei in den Gliedern. Und noch drei Stunden bis zu dem Dorfe, in dem er zu nächtigen gedachte! Er mußte eine Weile rasten, um seine schwindenden Kräfte wieder zu sammeln.
An der Stelle, auf welcher er stand, scharrte er den Schnee von der Erde, ließ sich nieder und lehnte den Rücken gegen einen Baum. Mit langsamen Blicken folgten seine Augen dem weißen Pfade.
Vor einem Jahr, da war er diesen gleichen Weg gegangen – mit ihr! Und damals hatte sein Weg ein Ziel gehabt, welches ihm das leere Herz mit stürmischem Leben füllte. Und nun!
Aufseufzend schlug er die Hände vor das Gesicht.
Dann wieder ließ er die Arme sinken. Er schloß die Lider – das kühlte ihm ein wenig die Augen, die wie Feuer brannten. Wie that seinem entkräfteten Körper diese Ruhe so wohl!
Er rührte sich nicht und athmete in langen, tiefen Zügen.
Und seltsam! Er wußte doch genau, woher er kam – vom Pointnerhofe – und dennoch war es ihm, als käme er aus dem winterlichen Bergwald, die Axt auf der Schulter, das Griesbeil in der Hand. Und wie leicht und flink sich auf dem weichen, weißen Schnee das Gehen machte! Er spürte kaum seinen Körper. Dieses Gehen war wie ein sanftes Gleiten, fast wie ein Fliegen. Wenn nur diese Flocken, diese riesigen Flocken nicht wären, die sich ihm mit so eisiger Kälte auf Hände und Wangen legen. Und von den Stellen aus, an denen diese Flocken schmelzen, geht es ihm wie scharfe, kalte Nadeln ins Blut. Wie macht es ihn da so froh, als er sein Haus erreicht und über und über beschneit in das matt erhellte Stübchen tritt.
[895] Da erhebt sich Kuni vom Tische und eilt ihm mit schmollendem Lächeln entgegen: „Aber, Vaterl, geh, wie kannst denn so viel Schnee in d’ Stuben tragen!“
Er schüttelt und schüttelt sich, aber diese Flocken hängen wie die Kletten an seinen Kleidern. Aber sie müssen ja schmelzen, wenn nur erst im Ofen ein Feuer brennen wird.
„Ja, Vaterl! Siehst es denn net – der Ofen glüht ja schon als a ganzer!“
Da macht er erstaunte Augen und murmelt: „G’spaßig, g’spaßig – was jetzt das für a Kälten is – in mir drin!“
„Geh, komm, da wird gleich g’holfen sein!“
Sie öffnet das Ofenrohr, aus dem es dampft und zischt, und stellt dem Vater die brodelnde Suppe hin.
Er nimmt die Schüssel auf und trinkt – er sieht die Suppe vor seinen Augen rauchen, und dennoch rinnt sie ihm wie Eiswasser durch die Kehle.
„G’spaßig – g’spaßig!“ murmelt er wieder.
„Mein Gott, Vaterl, jetzt krieg’ ich schon selber bald an Angst! Ja schau, da mußt Dich ja dengerst niederlegen!“
Sie rückt eine Bank hart an den Ofen, bereitet ihm darauf aus Kotzen ein Lager, löst ihm die Schuhe von den Füßen und bettet ihn, so gut und weich sie es nur vermag. Und wie ihm nun erst recht die Kälte durch die Glieder zittert, wie ihm die Zähne zu klappern beginnen, kauert sie sich vor ihm nieder, nimmt seine erstarrten Hände zwischen die ihrigen und haucht so lange ihren heißen Athem darauf, bis ihm eine seltsam süße Wärme aus den Fingerspitzen in die Arme rinnt, aus den Armen in die Brust und mitten hinein ins Herz. Da nickt er ihr dankbar zu, schließt mit einem langen Seufzer die Augen, und lächelnd schläft er ein. – – Und lächelnd schlief er – und erwachte nicht, als er im Schlaf sich streckte und von dem Baume seitwärts niederglitt in den weichen Schnee – und erwachte nicht, als über ihm die schwer gedrückten Zweige in leisem Winde sich rührten und sein Gesicht verschütteten mit ihrer kalten Last.
In dichter Menge fielen die Flocken, höher und höher mit jeder Stunde hob sich der Schnee über den Waldgrund, und was noch dunkel auf der Erde lag, verschwand allmählich unter dem Weißen Leichentuche, das die Winternacht dem starren Schläfer webte. Die Stunden verrannen, und mit bleichem Licht erwachte der Tag.
Tief im Gebüsche schnalzte eine Amsel, und auf dem Baume, welcher hart am verschneiten Pfade stand, huschte ein Fink aus seinem Schlupf und flatterte auf den seltsam geformten, schneeigen Hügel nieder, der dem Baume zu Füßen lag. Pispernd sträubte der Vogel sein Gefieder, bohrte sein Schnäbelchen in den kalten Schnee und badete sich in den flimmernden Krystallen. Dann schaute er mit kecken Aeuglein rings umher, schmetterte seinen hellen Schlag in den stillen, gleißenden Morgen, spannte die Flügel und schwang sich in die Lüfte.
So mannigfach der Menschen Sinn und Trachten: so mannigfach sind auch die Wünsche, deren Erfüllung sie vom Neuen Jahre hoffen. Zuerst an das Nächste zu denken, ist ja ihr gutes Recht, und so wünscht Jeder sich und den Seinen jenes Wohlbefinden, das aus der Harmonie der Seele und des Körpers hervorgeht. Diese Harmonie, den klaren, festen Blick ins Leben zerstört jede Krankheit, und zerrüttet wird das Haus, wenn die Lieben am häuslichen Herd ein schmerzlich Leiden plagt. Darum wird am heißesten der Segen der Gesundheit von Arm und Reich erfleht.
Dann aber der Segen der Arbeit; denn sie mag dem Schaffenden Befriedigung gewähren; aber nicht bloß für den Fleiß des Landmannes hängt viel von der Gunst der Gestirne ab. So in einander greifend ist heute das Räderwerk der Verhältnisse, daß, wenn ein großes Schwungrad im Verkehr der Politik und des Welthandels stille steht, auch die kleinsten Räderchen in ihrem Umschwung gehemmt werden. Der ehrlichste Fleiß wird um seinen Lohn betrogen; durch den Bankerott der Großen leidet der Kleinste. Die Arbeit bringt Segen, aber sie braucht ihn auch.
Alle, die da wirken und schaffen, wünschen vom Neuen Jahr fröhliche Förderung: der Fabrikherr weiterreichenden Absatz seiner Erzeugnisse, der Kaufmann größere Ausdehnung seiner Kundschaft und seiner die Völker verbrüdernden Thätigkeit, der Gelehrte allgemeine Verbreitung der Resultate seiner Forschung. Der Künstler aber, der Schönes und Großes schafft, hofft von dem Genius des Neuen Jahres, daß er ihm helfe, sich Bahn zu brechen durch das Gedränge des überfüllten Marktes. Der Beamte, der Officier sehnt sich nach Avancement: sie haben von Anfang an ferne Ziele im Auge, welche zu erreichen nur Wenigen vergönnt ist: doch jedes Jahr bildet eine neue Etappe für den Marsch dorthin.
Der Frieden – das ist der heiße Wunsch vieler Millionen; aber der Flug der Friedenstauben geht jetzt oft durch einen dicken schweren Nebel und man zweifelt oft, daß sie das Ziel erreichen. Hier oder dort ballt sich ein unheimlich Gewölk zusammen und fortwährend steckt irgend eine Kriegsdrohung in der Luft. Zwar die Kometen, die mit ihrer Feuerruthe früher das kommende Unheil verkündeten, versagen jetzt ihren Dienst. Sie erscheinen nicht mehr am Himmel – oder, wenn sie erschienen, man würde ihrer nicht achten. An ihre Stelle sind die Zeitungsartikel getreten; sie machen Ebbe und Fluth an der Börse, Ebbe und Fluth in den Herzen. Hier blitzt es im Osten auf, dort im Westen, und zwischen den beiden Gewittern fester schließt sich das deutsche Volk zusammen. Ob sie heraufkommen werden am Horizont? Es ist das Räthsel des Neuen Jahres und diese Sphinx allein vermag es zu lösen. Fest glauben wir an der deutschen Staatslenker unerschütterliche Energie und Weisheit, die den Frieden zu wahren suchen, soweit dies in menschlichen Kräften steht.
Noch mit einem Wunsch aber, in dem alle deutschen Herzen sich vereinigen, begrüßen wir das Neue Jahr: er gilt der Genesung unseres Kronprinzen, den ein so ernstes Leiden befallen. Mit tiefer Wehmuth denken alle des ritterlichen Helden und Schlachtenführers, der bei Königgrätz sein Schwert geworfen in die Wagschale des Sieges, der bei Weißenburg und Wörth die ersten ruhmreichen Schlachten des deutsch-französischen Krieges schlug, der mit seiner Armee die eherne Runde um Sedan abschloß und bei diesem großen weltgeschichtlichen Kesseltreiben den Sieg erringen half: ein Kriegsfürst, mit Lorbeer geschmückt wie wenige, aber im Schmucke dieser Lorbeern volksfreundlich und leutselig und trotz seiner Kriegsthaten, die seines Namens Ruhm verbürgen, in seinem Herzen nicht dem Krieg, sondern dem Frieden zugethan.
Auch die Großen der Erde sind dem allgemeinen Menschenlose verfallen; daß aber einem Prinzen, dessen ritterliche Heldengestalt noch bei der Jubiläumsfeier der englischen Königin, machtvoll hervorragend über die stolzen Lords der Insel, allgemeine Bewunderung erregte, ein so tückisches Leiden insgeheim sich nahen konnte: das erschien so unglaubwürdig, daß es der Bezeugung durch die ersten Aerzte Europas bedurfte, um die Zweifel daran zu verscheuchen. Wie der Prinz selbst in der Schlacht der Gefahr muthig ins Auge geschaut: so ringt er auch jetzt mit ungebrochenem Muthe und Gottvertrauen mit dem ihn bedrohenden Feinde. Wir haben uns bis jetzt nicht entschließen können, der trostlosen Berichte, welche während der letzten Wochen in allen Blättern erschienen, Erwähnung zu thun; wir haben im Hinblick darauf, daß die Natur, entgegen den Voraussetzungen der Aerzte, oft unerwartete Heilung bewirkt, eine Hoffnung nicht aufgeben wollen, welche durch manche neue Mittheilungen genährt wird; doch wir wissen, daß Millionen Herzen den Wunsch theilen, den wir jetzt bei der Jahreswende aussprechen, den Wunsch und die Hoffnung, daß das Neue Jahr dem Kronprinzen des Deutschen Reichs, einer der herrlichsten Gestalten unter den zeitgenössischen Ruhmesträgern, dem Lieblinge des deutschen Volkes, Heil und Genesung bringen möge!
Blätter und Blüthen.
Villa Zirio. (Mit Illustration S. 893.) Wir haben unsern Neujahrswünschen für die Wiedergenesung des deutschen Kronprinzen warmen Ausdruck gegeben: wir bringen S. 893 das Bild der Villa, in welcher derselbe gegenwärtig, und zwar seit dem 2. November dieses Jahres, verweilt: an diesem Tage ist er von Baveno an dem entzückenden Lago Maggiore nach San Remo übergesiedelt, jenem Städtchen an der Riviera, das in neuerer Zeit, hauptsächlich durch seine geschützte Lage zwischen zwei vorspringenden Kaps, einen großen Aufschwung als Luftkurort genommen hat. Die Altstadt von San Remo erhebt sich, malerisch ansteigend, am Südabhange eines Hügels. Die Neustadt erstreckt sich am Strande hin mit schönen Palästen und Villen, Gärten und Hôtels. An dem ruhigeren Ostende der Neustadt befindet sich die Villa Zirio, durch einen schönen Garten von der Straße getrennt, von den Fenstern der Südseite aus den Ausblick auf das Meer gewährend bis zu den fernen Bergen Korsikas, die an hellen Tagen dämmernd am Horizonte auftauchen. Die Villa hat zwei Stockwerke außer dem Erdgeschoß; sie ist im freundlichen Stil der italienischen Villen gebaut. Nach der Straße zu hat sie einen großen Balkon, darunter eine in den Garten führende Veranda. Im Garten selbst befindet sich ein Haus, in welchem das Gefolge des Kronprinzen wohnt. Möchte dies schöne Stückchen Erde, über das er rüstig und muthig wandelt, wo er mit den Seinigen das reinste Familienglück genießt, mit seinem üppigen Pflanzenwuchs einen heilkräftigen Lebensathem ausströmen, welcher die tückische Krankheit bannt und heilt! †
Dekoration zu Graun’s Oper „Orfeo“. (Mit Illustration S. 890.) Zum Glanz der italienischen Oper in Deutschland hat der Komponist Karl Heinrich Graun (1701 bis 1759) am meisten beigetragen. Die Graun’schen Opern beherrschten in Berlin das Repertoire; denn es war der Lieblingskomponist Friedrich’s des Großen. Wer kennt heut zu Tage die zahllosen Opern Graun’s? Sie sind alle der Vergessenheit anheimgefallen, auch sein „Orfeo“, der noch lange nach dem Tode des Komponisten auf Ordre des Königs in Berlin gegeben wurde. Im Jahre 1785 wurden von dem Maler Bartolomeo Verona neue Dekorationen zu dieser Oper gemalt, von denen wir eine Probe mittheilen. Die Unterwelt, in welche Orpheus seiner Eurydice folgte, ist hier mit ihren Höllengeistern und phantastischen Ungeheuern mit Gluthaugen anschaulich genug dargestellt. Obschon Friedrich der Große nach dem Siebenjährigen Kriege der italienischen Oper in Berlin nicht mehr die frühere warme Theilnahme zuwendete, so sorgte er doch, wie diese Dekorationen beweisen, noch stets für ihren dekorativen Schmuck und äußern Pomp. Wir entnehmen die Vorlage zu unserer Illustration dem Prachtwerke, welches Louis Schneider über die „Geschichte der Oper und des Königlichen Opernhauses in Berlin“ (Duncker und Humblot) herausgegeben hat: einem Werke, das auf den genauesten Forschungen beruht. Neben der glänzend ausgestatteten italienischen Oper führte die deutsche lange Zeit hindurch nur eine Aschenbrödelexistenz. †
Unterhaltungsabende für Arbeiter. Im zweiten Vierteljahrshefte des „Arbeiterfreundes“ berichtet Dr. Viktor Böhmert über eine Veranstaltung, welche vor der Hand noch in den Anfängen steht, aber einen so segensreichen Keim zu enthalten scheint, daß wir gern dem großen Leserkreis der „Gartenlaube“ darüber Bericht erstatten. Im vorigen Winter veranstaltete das „Komité für Volkswohl“ in Dresden eine Reihe von sonntäglichen Unterhaltungsabenden für Arbeiter und deren Angehörige, mit dem Bestreben, dadurch das Volk an reinere und mäßigere Sonntagsfreuden zu gewöhnen, als sie in dem Dunst der Bierhäuser und bei den Kouplets der Volkssänger zu finden sind. Man miethete die große Turnhalle des Turnvereins und kündigte eine Abendunterhaltung an, der sofort Scharen von Neugierigen zuströmten. Der Vorsitzende eröffnete die Versammlung mit einer Ansprache, worin er betonte, daß jeder thätige Mensch im Staate ein Arbeiter sei, einerlei, welchem Berufe er obliege, und daß die besten Eigenschaften des Arbeiters: Treue und Freudigkeit für sein Werk, Jedem gegeben sein können, der mit Gewissenhaftigkeit dasselbe verrichtet. Musik leitete darauf die gesellige Unterhaltung ein, welche an den verschiedenen Tischen in zwangloser, aber durchaus gesitteter Weise sich entwickelte. Es waren 2000 Menschen anwesend; während des ganzen Abends aber wurde kein rohes Wort gehört und Niemand gab durch sein Betragen irgend welchen Anstoß.
Das Hauptgewicht des Abends liegt in den volksthümlichen Vorträgen, welche die verdienten Männer des Komités abwechselnd mit anderen Arbeiterfreunden halten.
Die Gegenstände waren passend gewählt; das große Auditorium lauschte gespannt den Rednern und manche private Danksagung gelangte später an das Komité.
Mit sehr richtigem Takte wird jede politische oder kirchliche Färbung dieser Versammlungen vermieden. Die Wirkung auf das Gemüth ist die Hauptsache; daß sie erreicht wurde, dafür zeugt die wachsende und warme Theilnahme der Besucher, dafür sprechen vielfache Dankeszuschriften an das Komité. Möchten doch auch anderwärts in großen und kleinen Städten Menschenfreunde an die gleiche Aufgabe herantreten. „Der Mensch lebt nicht vom Brote allein“ und bedarf nach der mechanischen Wochenarbeit einer Erholungsstunde für Geist und Gemüth. Dieselbe ihm in edler und ansprehender Weise zu bieten und dadurch zur allmählichen Verbesserung und sittlichen Hebung ganzer Bevölkerungsschichten beizutragen: das ist sicher ein schönes und erstrebenswerthes Ziel!
Gedichte von Amélie Godin. Von den Lesern unseres Blattes geschätzt und geliebt ist Amélie Godin als Erzählerin; es wird Allen von Interesse sein, ihr auf dem Gebiete der lyrischen Dichtung zu begegnen. Ihre soeben erschienenen „Gedichte“ (München, Theodor Ackermann), denen ihr Bildniß vorangestellt ist, zeugen für das sinnige Naturgefühl der Dichterin und für die Innigkeit, mit der sie sich in das Familienglück am häuslichen Herd versenkt. Die Form der Gedichte ist anmuthend und gefällig; es sind meistens kleinere Liederblüthen, welche an diejenigen von Martin Greif erinnern. Als Probe theilen wir das Gedicht „Schläfer“ mit:
„Frühe Liebe – holder Traum
Einer Sommernacht,
Noch versteht das Herz sich kaum,
Als es schon erwacht
Und auf süße Lust und Qual
Lächelnd sich besinnt,
Wie der Thau im Morgenstrahl
Funkelt und zerrinnt.
Späte Liebe – Todesnacht,
Dunkel, still und tief;
Nie zur Tageslust erwacht,
Wer darin entschlief.
Traumlos sinkt der Schläfer hin,
Kennt nicht Welt noch Zeit,
Weder Ende noch Beginn,
Nur die Ewigkeit.“ †
Allerlei Kurzweil.
Weiß: | Schwarz: | |
1. | L h 6 – g 7 | K d6 – d 5 : |
2. | D g 1 – g 5 | d 7 – d 6 |
3. | L g 7 – e 5 : | d 6 – e 5 : a. B. |
4. | D 6 5 – d 8 matt. | |
Weiß: | Schwarz: | |
1. | … | L b 7 – d 5 : |
2. | L g 7 – e 5 : † | K d 6 – e 5 : |
3. | D g 1 – g 5 † | K e 5 – d 6 (d 4 :) |
4. | D 6 5 – f 4 (f 6) matt. |
Varianten: a) 1. … e 5 – d 4 :, 2. D g 1 – h 2 †, K d 6 – d 5:, 3. D h 2 – e 5 † etc. oder 2. … K d 6 – c 6, 3. D h 2 – c 7 † etc. – b) 1. … S b 1 – d 2 (a 3), 2. D g 1 – g 5, S d 2 – c 4 !, 3. d 3 – c 4 : etc. oder 2. … S d 2 – f 3, 3. D g 5 – e 7 † etc. oder 2. … e 5 – d 4 :, 3. D g 5 – e 5 † etc. – c) 1. … a 7 – a 5 2. D g 1 – g 5, a 5 – b 4 :, 3. D g 5 – e 7 † etc. – d) 1. … beliebig anders, 2. D g 1 – h 2 nebst 3. D h 2 – e 5 : matt. – Eine vorzügliche Arbeit! Der Ideenreichthum und die Formgewandtheit K. Erlin’s sind überraschend.
Der Spieler gewinnt sein Schellensolo, obwohl nur 2 Sieben liegen und keine Zehn blank sitzt, mit Schneider bei folgender Kartenvertheilung: Skat: e7, r7.
- Vorhand: gW, rW, sK, eZ, e9, rZ, r9, g9, g8, g7,
- Hinterhand: eW, sW, s9, eK, eO, rK, rO, gZ, gK, gO,
denn der Gang des Spiels wird folgender sein:
1. g9, gD, gO (+14),
2. s7, s9, sK (−4),
3. g8, r8! gZ (−10),
4. eK,[1] e9, e8! (−4),
5. gK, g7, sD (+15),
6. 8, sW, rW (−4),
7. eZ, eD, eO (+24),
8. sO, eW, gW (−7),
9. rK, r9, rD (+15),
10. sZ, rO, rZ (+23).
- ↑ Spielt Hinterhand sofort gK nach, so wirft der Spieler auch die e8 ab und das Resultat ist dasselbe.
Inhalt: Jascha. Von W. Heimburg (Schluß). S. 881. – Zum Neujahrsball. Illustration. S. 881. – Eine Wolfsjagd in den Vogesen. Von J. Weber. S. 886. Mit Illustration S. 885. – Neujahr. Gedicht von Ernst v. Wildenbruch. Mit Illustration S. 888. – Ueber Hypochondrie. Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad. S. 889. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Schluß). S. 891. – Neujahrswünsche. S 895. – Blätter und Blüthen: Villa Zirio. S. 896. Mit Illustration S. 893. – Dekoration zu Graun’s Oper „Orfeo“. S. 896. Mit Illustration S. 890. – Unterhaltungsabende für Arbeiter. S. 896. – Gedichte von Amélie Godin. S. 896. – Allerlei Kurzweil: Neujahrsglocken-Räthsel. S. 896. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 788. S. 896. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 17 auf S. 880. S. 896. – Auflösung des Neujahrsglocken-Räthsels. S. 896.