Die Gartenlaube (1888)/Heft 16
Frühling.
Frühlingshauch durchweht die Lande,
Fröhlich rauscht der Wasser Lauf,
Und es gehn am Bachesrande
Helle Blumensterne auf.
Kindheit flattert um die Blüthen,
Jugend träumt von Liebeslust;
Glücklich, wer den Lenz zu hüten
Weiß in seiner tiefsten Brust!
Alle Rechte vorbehalten.
Claudine ließ den Wagen am Eingange der Neuhäuser Lindenallee halten; sie wollte unbemerkt ins Haus, in Beatens Stube treten. Die Halle vermeidend, gelangte sie ungesehen durch die Hinterthür, huschte leise durch den Korridor und pochte kaum hörbar an die Wohnstube. Ein Schritt kam durch das Zimmer und die Thür wurde geöffnet.
„Ich bin’s, Beate“ flüsterte sie, „störe ich Dich nicht? Nur einen Augenblick.“
„Also wirklich, Du!“ rief die Kousine und zog das Mädchen in das noch finstere Gemach und zu einem Sessel.
„Laß nur, laß,“ wehrte Claudine; „ich wollte Dir nur sagen, daß ich übermorgen dennoch komme, wenn Du erlaubst.“
Beate lachte herzlich und küßte sie.
„Nun,“ rief sie in die Dunkelheit hinein, „wer hat denn Recht, Lothar? Mein Gang ist gar nicht einmal nöthig.“
Claudine erschrak; am Fenster hatte sich eine Gestalt erhoben. Um ihre Stirn flatterte es heiß. „Die Herzogin befahl,“ sagte sie stotternd.
„Es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihrer Hoheit,“ sprach er, und seine Stimme klang sonderbar heiser, „soeben erwies auch Se. Hoheit mir die Ehre, die bereits erfolgte Absage zurückzuziehen.“
Claudine griff in das Polster des Sessels; sie zitterte plötzlich, aber sagte kein Wort. Welch peinlicher Zufall!
„So setze Dich doch,“ drängte Beate, „man sieht und hört so jetzt nichts mehr von einander. Ich habe begreiflicherweise wenig Zeit; aber da Du einmal hier bist, hilf mir die Tischplätze ordnen; ich kenne ja alle diese Menschen nicht, die da eingeladen sind und zugesagt haben.“
„Verzeih, Beate; ich habe etwas Kopfweh und der Wagen wartet draußen,“ sagte Claudine ablehnend und wandte sich zum Gehen. „Laß doch losen,“ setzte sie dann hinzu, als empfinde sie die Unart, Beaten diese kleine Gefälligkeit zu versagen.
„Natürlich!“ pflichtete Lothar bei; „mitunter bringt der Zufall das große Los und erhört fromme Wünsche. Darf ich mir gestatten, Sie zu Ihrem Wagen zu geleiten? “
Beate schmollte wirklich ein wenig; sie blieb zurück. Lothar schritt neben dem erregten Mädchen durch die erleuchtete Halle in den Garten hinaus. Sie sprachen nicht miteinander.
Im Schlosse war die ganze Fensterreihe des ersten Stockes erleuchtet; Prinzeß Helene liebte Licht, viel Licht. Sie hatte sich früh von der Tafel zurückgezogen, „um Kostüme anzuprobiren“. Der Schein, der von dort hernieder fiel, verbreitete sich noch bis unter das Dunkel der Bäume. Die Lindenblüthe duftete betäubend , es war ein warmer feuchter Sommerabend, der Mond verbarg sich hinter dunklen Wolken.
Sie kamen raschen Schrittes neben einander daher; vor ihnen huschte ein Schatten hinter einen der riesenhaften Bäume, ein zweiter folgte nach. Er hatte es wohl nicht bemerkt, Claudine aber war unwillkürlich stehengeblieben. „Sehen Sie nichts?“ fragte sie ängstlich.
„Nein!“ erwiderte er.
„So war es wohl eine Sinnestäuschung?“ entschuldigte sie sich.
Und nun ging sie rascher vorwärts bis zu dem Wagen, neigte den kleinen Kopf mit einem kühlen „Gute Nacht“ und schlüpfte hinein.
Das Rollen verklang in dem schweigenden Garten; der Mann dort, der dem Wagen nachgeschaut hatte, schritt nun langsam auf dem Fußwege außerhalb der Parkmauer dahin, dem Walde zu, als wollte er sich auf einsamen Pfaden Ruhe erwandern.
„Alice,“ flüsterte leidenschaftlich Prinzeß Helene und kam hinter dem Baumstamm hervor, „Alice, er ist mit ihr gefahren!“
„Durchlaucht, nur eine Kavalierpflicht.“
„O, ich kann das aber nicht ertragen, Alice, was thut sie hier? Was wollte sie? Alice, so sagen Sie doch ein Wort!“
Das erregte Flüstern der Prinzeß war in heftiges Sprechen übergegangen.
„Aber mein Gott, Durchlaucht,“ begann die schöne Frau, als könne sie vor schmerzlichem Staunen nicht Worte finden, „was soll ich sagen? Ich bin selbst konsternirt und fassungslos!“
Die Prinzeß eilte vorwärts bis zum Parkthore; dort stand eine alte Sandsteinbank und sie knieete hinter derselben im Dunkeln zur Erde und wartete, wartete mit fiebernden Pulsen – auf seine Wiederkehr. Frau von Bergs Stimme erschallte vergeblich durch den dunklen schwülen Garten. Sie ging endlich hinauf und lächelte in ihren großen Stellspiegel, indem sie das kokette Tuch um ihr volles Haar schlang, das sie übermorgen tragen wollte als Italienerin. Die Prinzessin kam erst nach Stunden zurück, mit bleichem Gesicht und verweinten Augen. Sie schlief nicht einen Augenblick in dieser Nacht.
Das Fest in Neuhaus war auf seinem Höhepunkt angelangt. Der warme Sommerabend, ohne jede Zugluft, machte es selbst der leidenden Herzogin möglich, im Freien zu bleiben. Die Purpurvorhänge des Zeltes, das unter den Linden unfern des Tanzplatzes stand, waren weit zurückgenommen; sie lehnte dort im bequemen Sessel, umgeben von einem dichten Kreis von Damen und Herren. Das wunderbare Licht, welches Dämmerung, Mondschein und Hunderte von farbigen Laternen schufen, ließ ihr schmales Gesicht unter der schwarzen mit Brillantnadeln befestigten Spitzenmantille noch blasser erscheinen als sonst, und die Augen größer noch und gluthvoller. Sie trug ein granatrothes kurzes Atlaskleid mit dem Spitzenvolant und das schwarze goldgestickte Jäckchen der Andalusierin. Man hatte ihr ein weißes flockiges Bärenfell zu Füßen gebreitet; auf den schmalen schwarzen Atlasschuhen blitzten Brillantschnallen. Sie sah schön aus heute Abend, sie wußte es, die Augen des Herzogs hatten es ihr verrathen, und das machte sie glückstrahlend.
Prinzeß Thekla in grauer Moirérobe saß neben ihr.
Vor ihnen breitete sich das reizvollste Bild aus unter den Zweigen der hundertjährigen Linden, deren Blätter smaragden schimmerten in dem Lichte zahlloser Flammen. Eine Fülle von Jugend und Schönheit wogte dort: blitzende Steine, leuchtende Schultern, brillante Farben und seltsame Beleuchtungseffekte. Die Gruppen dieser phantastischen, wie aus dem Feenreiche entstammenden Gestalten waren umschmeichelt von dem betäubenden Duft der Lindenblüthe, umrauscht von den elektrisirenden Klängen eines Straußschen Walzers.
„Ein Fest, wie zu Goethes Zeit in Tiefurt,“ sagte die Herzogin.
„Besonders, wenn man die schöne Gerold sieht; bitte, Hoheit, betrachten Sie diese Gestalt – wahrhaft klassisch! Wunderbar!“
Der Sprechende, ein kleiner aristokratischer Herr, dessen schmales Gesicht eitel Entzücken verrieth, stand hinter dem Stuhl Ihrer Hoheit und seine Blicke deuteten auf Claudine.
„O ja, mein lieber Graf,“ erwiderte die Herzogin und betrachtete ihren Liebling mit leuchtenden Augen, „sie ist, wie immer, der Stern des Abends.“
„Hoheit sind allzu bescheiden,“ sagte Prinzeß Thekla und ihre kalten Augen blickten wahrhaft vernichtend nach der bezeichneten Richtung.
Claudine stand außerhalb des guirlandenumschlungenen Tanzplatzes auf dem Rasen. Der alte Herr hatte nicht zuviel behauptet; nie war wohl ihre eigenartige Schönheit mehr zur Geltung gekommen, als an diesem Abend in der Tracht der Urgroßmutter. Sie trug das prachtvolle Blondhaar zu einem antiken Knoten am Hinterkopf zusammengebunden; einige kleine Löckchen krausten sich im Nacken und über der Stirn; ein schmales Diadem, in dessen Mitte ein Brillantstern funkelte, krönte den schönen Kopf. Die kurze Taille zeigte wundervoll geformte Arme und Schultern, nur leicht von einem seidenglänzenden Flor umhüllt. Ein kurzes enges Unterkleid aus weißem durchsichtigen Seidengewebe, am Saum mit breiter Silberstickerei verziert, ließ kleine rosa Schuhe mit kreuzweis gebundenen Bändern sehen. Und dieses duftige Kleid ward vervollständigt durch eine mattrosa Schleppe aus schwerer Seide, von breiter Silberstickerei umrandet. Ein rosa silberdurchwirktes Band, das in flatternder Schleife zur Seite endigte, war um die Taille befestigt; ein Strauß frischer Centifolien, der gefeierten Rose jener Zeit, schmückte die Brust. Die [263] ganze berückende Schönheit und Grazie dieses Mädchens kam zur Geltung in dem alten Gewand, das einst die Urgroßmutter getragen, die, damals ebenfalls Hofdame in X., mit ihrer Gebieterin bei einem der Feste in Weimar zugegen gewesen, einer jener zwanglosen, witzdurchwobenen Redouten, die Karl August und Herzogin Amalie so liebten und die ein unsterblicher Geist verherrlicht hat.
Ja, an diesem Kleide hingen unvergeßliche Erinnerungen! Diese Schleppe war neben Goethe über das Parkett geglitten, damals, als er noch der Schönheit „unendlich“ huldigte. Er hatte entzückt von den Augen der jungen Baronin gesprochen und das war lebenslang der Stolz der klugen Frau geblieben In ihrem Tagebuche stand noch heute zu lesen: „Der junge Goethe, des Herzogs Freund, schäkerte sich mit allen hübschen Gesichtern herum und sagte mir etwas Liebenswürdiges über meine Augen.“ – Aus den Falten dieses Gewandes wehte noch heute ein feiner Lavendelduft, das Parfüm jener geistesvornehmen, lebensvollen, sprühenden Vergangenheit.
Es mochte wohl Se. Hoheit förmlich berauschen; denn der Herzog stand bereits seit einer Viertelstunde vor dem schönen Mädchen, das, die schweren Falten der Schleppe in der Hand, wie fluchtbereit mit unruhigen Augen an ihm vorüber spähte, als suche sie nach einer Gelegenheit zu entschlüpfen. Man hatte einen förmlichen Respektkreis um sie und den Herzog gebildet, als wollte man Sr. Hoheit um jeden Preis Gelegenheit geben, unbelauscht mit der schönen Gerold zu plaudern Und dennoch, während man dort, scheinbar mit sich selbst beschäftigt, fragte, plauderte, neckte, waren aller Augen verstohlen auf jenes unvergleichlich reizende Mädchen gerichtet, welches von herzoglicher Huld und Gnade so auffallend ausgezeichnet wurde.
Prinzeß Helene, die als Griechin gekleidet mit dem Adjutanten Sr. Hoheit in eine Quadrille eingetreten war, sah es mit heimlicher Freude; sie wandte ihr dunkles Köpfchen so energisch herum, daß alle Goldmünzen des blauen Sammetkäppchens klirrten und blitzten. Sie mußte doch sehen, wie der Baron dieses tête-à-tête vor aller Augen beurtheilte. Eben stand er noch an jenen Baumstamm gelehnt, ein Glas eisgekühlten Champagners in der Hand, mit welchem er einige Kelche berührt hatte, die ihm zwei oder drei Herren entgegenhoben. Jetzt war er verschwunden. Blitzschnell drehte sich das Köpfchen nach jener Seite, wo Claudine stand, und ihre Lippen preßten sich auf einander – denn jetzt schritt Baron Lothar auf das Paar zu.
„Verzeihung, Hoheit! Ihre Hoheit die Frau Herzogin wünschen Fräulein von Gerold zu sprechen. Darf ich bitten, Kousine?“
Der Herzog fuhr rasch mit der Hand über seinen Bart; er war gerade in einer angelegentlichen Auseinandersetzung über Kostüme und Haartrachten begriffen gewesen und schien ungern abzubrechen.
Claudine verbeugte sich tief und legte ihre Fingerspitzen auf Lothars Arm, der sie langsam dem Zelt der Herzogin zuführte.
„Treten Sie einen Moment zu Ihrer Hoheit,“ sagte er ruhig, „es möchte sonst auffallen. Nachher –“
Sie blieb stehen und sah ihm in das unbewegte Gesicht. „Ich denke, Ihre Hoheit will mich sprechen?“
„Nein,“ erwiderte er gelassen; „ich sah nur, daß Sie wie auf Nadeln standen, und erblickte hundert lauernde Augen auf Sie gerichtet. Ueberhaupt,“ fuhr er fort, „da ich Sie doch einmal hier sehen muß heute Abend, würde ich Sie am liebsten in der Nähe Ihrer Freundin bewundern. Ich denke, Sie in Ihrer blonden Schönheit neben der Andalusierin würden das reizvollste Bild des Abends sein – gönnen Sie es uns!“
Sie zog die Hand von seinem Arm zurück. Die Erleichterung, mit der sie seiner Aufforderung gefolgt war, wich einer heißen Empörung; aber sie vermochte nicht mehr zu erwidern, schon stand sie vor der Herzogin.
„Claudine,“ sagte diese und reichte ihr die Fingerspitze, „ warum tanzen Sie nicht? Ich möchte Sie in dieser Quadrille sehen; ich glaube, in jenem Karree fehlt noch das vierte Paar. Herr von Gerold, bitte!“
Sie konnte sich nicht weigern; mechanisch nahm sie seinen Arm; man hatte rasch einen Platz geschafft für den Hausherrn und seine Dame. Claudine stand Prinzeß Helene und dem Rittmeister gegenüber. Lothar blieb schweigend; es war ein merkwürdig stummes Paar, gleichwohl das schönste von allen.
Das himmelblaue Atlasröckchen der Prinzeß streifte knisternd an ihr vorüber in den Touren, eine zitternde eiskalte Hand berührte zuweilen die ihre, sie merkte es kaum. Sie sah nur einmal in das Gesicht der Prinzeß und erblickte darin eine tödliche Nichtachtung. Die schwarzen Augen bohrten sich wahrhaft grausam in die ihrigen. Es ward ihr unheimlich; sie hob wie fragend die Blicke zu dem Rittmeister, er sah sie an mit einem beredten vorwurfsvollen Ausdruck. Stolz warf sie den Kopf in den Nacken zurück, und kaum war die Schlußverbeugung des Tanzes geschehen und Lothar hatte ihr den Arm geboten, so fragte sie: „Wo ist Beate?“
„Sie wird im Schlosse sein,“ erwiderte er.
Sie dankte und schlug eilig den Weg dorthin ein. In der großen Halle hatte man, der leidenden Herzogin wegen, die Tafel gedeckt für einige wenige Auserkorene; die mächtigen Flügelthüren waren zurückgeschlagen und ließen den Blick in den erleuchteten Garten frei; die Tafel war wie hineingebettet in die Orangerie. Wirkungsvoll drapirten Joachims Teppiche, vermischt mit Waffen und Fahnen, die Wände; auch die Stufen der alten schönen Treppe waren bedeckt mit köstlichen Geweben. Die prosaische Beate hatte ein wahres dekoratives Meisterstück geschaffen.
Sie stand an der Tafel und wiederholte ihre Instruktionen einem halben Dutzend Lakaien zum so und so vielten Male. Claudine mußte lächeln, als sie sah, wie gehorsam die Leute sich dem derben Bauernmädchen gegenüber betrugen, in welch unscheinbare Tracht die Gestrenge heut geschlüpft war. Die schlug fröhlich in die Hände, als sie Claudine erblickte.
„Wahrhaftig, Herzenskind,“ rief sie; „Du bist unheimlich reizend heute in Deinem vorweltlichen Kleide da. Und wie gut sich der Urgroßmutterstaat konservirt hat, nicht einmal das Silber ist schwarz geworden!“
Sie klopfte der Kousine die Wange und küßte sie, und auf die Tafel zeigend, die blitzte und funkelte, fragte sie: „ Ist’s recht so, Claudinchen? Von dort oben, wo Ihre Hoheit sitzt, kann man das Feuerwerk am besten sehen. Du kommst hier etwas weiter unten her, diese zwölf Gedecke sind für die Prinzessinnen und ihre Kavaliere. Die Andern müssen sich an allen den kleinen Tischen im Garten oder im Saale vertheilen, wie das Geschick sie zusammenführt; dort stehen die Körbchen mit den Losen, ich habe Deinen Rath befolgt.“
„Ich bitte Dich, Beate, laß mich von der herzoglichen Tafel weg,“ rief Claudine flehend, „ich sitze irgend wo anders lieber.“
„Damit mir Deine Hoheit den ganzen Abend ein böses Gesicht zieht! Nein, mein Schatz, daraus wird nichts; beiße nur in den sauren Apfel. Wer Dein Nachbar wird, weiß ich allerdings nicht. Aber verzeih, ich muß noch einmal zu der Mamsell.“
„Beate!“ rief Claudine und suchte den blüthenweißen Aermel der Bäuerin zu fassen; aber diese war schon hinter dem Teppich verschwunden, der den Korridor heute von der Halle abschloß. Sie blieb allein und schritt zögernd wieder dem Ausgang zu; sie stand dann draußen auf der Plattform und schaute in den Garten. Am liebsten wäre sie noch in dieser Minnte auf den dünnen Sohlen die steinigen Waldwege entlang gewandert nach ihrem friedvollen, weltabgeschiedenen Heim. Drüben klangen jetzt die Töne eines Walzers; ihr war so bitter zu Muthe. Sie wußte sich frei von Schuld, und dennoch wich ein beklemmendes Gefühl nicht von ihr. Sie wußte, daß thatsächlich der Herzog deshalb noch zugesagt hatte, weil die Durchreise des Großherzogs von Z., den zu begrüßen er nach der nächsten Bahnstation hatte fahren wollen, abgemeldet war. Und dennoch, auf all diesen Gesichtern hatte sie einen so sonderbaren Ausdruck gelesen, devot, neugierig, lüstern. Man war so beflissen gewesen, zurückzutreten, als Seine Hoheit sich näherte, und er hatte sie aus der Nähe des Herzogs entfernt mit einer Bemerkung, so unartig, so unritterlich wie möglich!
Sie preßte die Lippen auf einander; das bittere Lächeln war erstorben, dem alten herben stolzen Ausdruck gewichen.
Sie hob plötzlich den Kopf. Ein eigentümlicher Laut, der grell über der gedämpften Musik schwebte, ließ sie aufhorchen; sie wußte nicht, kam er aus der Halle oder von draußen. Es klang wie der ängstliche Schrei eines Thieres. Aber jetzt – nein, das war eine Kinderstimme – angstvoll, gellend scholl sie herunter von dort oben. Im nächsten Augenblick flog Claudine die Stufen empor, eilte durch den breiten oberen Korridor und trat in die weit geöffnete Thür, aus der die Klagetöne erschollen.
[264] Der rosa Schein der leise schwankenden Ampel erhellte nur matt das Gemach. Zunächst sah Claudine nichts als den großen weichen Spielteppich der Kleinen mit durch einander geworfenen Puppen und anderem Spielzeug, und das leere Bettchen, dessen Vorhänge weit zurückgeschlagen waren. Das Zimmer schien völlig verlassen; das Weinen war verstummt, nichts rührte sich. – Claudinens Blicke forschten umher, dann trat sie einen Schritt näher und ihre Augen wurden starr vor Entsetzen. Dort – im weit geöffneten Fenster, nicht mehr auf der inneren Fensterbank, nein, auf der Steinbrüstung außen kauerte das Kind! Sein langes Nachtkleid hatte sich hindernd um die Beinchen gewickelt; die Angst mochte es wohl plötzlich erfaßt haben; es saß da ganz frei, den Rücken nach der Tiefe gewendet, und starrte mit seinen thränenerfüllten Augen die unerwartete Erscheinung der fremden Dame an. Die geringste Bewegung, und das Kind mußte hinunter stürzen.
Athemlos stand das junge Mädchen einen Augenblick, kaum die Seide ihres Kleides knisterte; blitzschnell kreuzten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Würde das Kind erschrecken, wenn sie näher trat? „Barmherziger Gott, hilf mir!“ flüsterte sie.
Ueber ihr starres Gesicht glitt plötzlich ein Lächeln, sie hatte mit raschem Griff ihr Armband abgenommen und drehte es spielend und lockend hin und her, während sie einen Schritt vorwärts that – und noch einen und noch einen. Jetzt erfaßte sie das lange Kleidchen, ein schwacher Schrei entrang sich – der kleine Körper schlug rückwärts, aber kraftvoll griff die zweite Hand nach, und im nächsten Augenblick knieete sie auf dem Teppich, das zum Tode erschreckte lautlose Kind im Schoß; die zitternden Kniee hatten ihr den Dienst versagt, halb ohnmächtig sank ihr Kopf gegen den Pfeiler eines Spiegeltisches, während ihre blauen großen Augen wie erloschen aus dem kreideweißen Antlitz blickten.
Es knieete jemand neben ihr, genau so erschreckt, so blaß, so zitternd; zwei heiße Lippen preßten sich aus ihre Hände und auf des Kindes Gesichtchen.
„Lothar!“ murmelte sie und strebte zitternd empor.
Er nahm ihr das Kind vom Schoß, trug es ins Bettchen und trat dann zu ihr, die hoch aufgerichtet dort stand und nun mit schnellen Schritten an ihm vorüber strebte.
„Claudine!“ scholl es bebend, und seine Gestalt vertrat ihr den Weg.
„Es war beinahe zu spät,“ sagte sie und versuchte zu lächeln, aber fast verzerrte sich noch ihr entfärbtes Gesicht.
Er faßte ihre Hand und führte sie zu dem Bettchen. Die Kleine saß aufrecht darin und lachte; er hob sie empor und hielt des Kindes Gesicht an die blasse Wange des Mädchens.
„Bedanke Dich!“ sagte er mit seltsam bewegter Stimme, „Dein Vater darf es nicht.“
Claudine sah, wie die Hände, die das Kind hielten, zitterten. Sie küßte flüchtig die kleine Wange.
„Ich war vorher sehr zornig auf mich,“ sprach sie kühl, „daß ich Ihre Einladung doch noch acceptirte, Vetter – ich darf es mir jetzt wohl verzeihen.“
Eine schwüle Pause entstand. Die Kleine hatte jauchzend nach dem Stern in dem blonden Haar gegriffen, Claudine mußte den Kopf neigen, um die Fäustchen zu lösen; es dauerte eine ganze Weile. Draußen flog eben mit zischendem Laut eine Rakete empor, das Zeichen für den Beginn des Soupers. Musik, Lachen, plaudernde Stimmen drangen deutlicher herauf, und ein gluthrother Schimmer brach durch die Fenster.
Sie war vor den Spiegel getreten, um die zerzausten Löckchen etwas zu ordnen. Sie sah nicht den leidenschaftlich schmerzlichen Blick der dunklen Männeraugen, die ihr folgten, wie sie nicht gesehen, daß vor ein paar Minuten in der weit geöffneten Thür eine zierliche Gestalt im blaßblauen Seidenröckchen wie hingeweht gestanden hatte, um gleich wieder zu fliehen, als sei dort etwas Entsetzliches zu erblicken gewesen in dem dämmernden Zimmer, während es doch das entzückendste Genrebild war, eines Meissonnier würdig, ein schlankes Mädchen an der Seite des Barons, der sein spielendes Kind auf den Armen hält.
„Ich werde veranlassen, daß die Wärterin kommt,“ sagte Claudine jetzt im Hinausgehen; „die kleine Unternehmungslustige möchte sonst zum zweiten Male aus dem Bettchen echappiren.“
In diesem Augenblicke erschien zwar nicht die unzuverlässige Kinderfrau, wohl aber Frau von Berg.
„Sie werden die Güte haben, Frau von Berg, an Leonies Bett zu bleiben, bis die Kinderfrau, die Sie übrigens vortrefflich instruirt zu haben scheinen, zur Stelle ist. Ich möchte nämlich nicht gern, daß die Kleine noch einmal in die Gefahr kommt, dort hinaus zu stürzen, wie sie es tatsächlich eben war.“ Er hatte das gelassen, beinahe sarkastisch gesprochen.
Claudine war rasch auf den Korridor getreten; sie konnte nicht mehr das namenlos bestürzte Gesicht der schönen Italienerin erblicken, die auf ein paar verzweiflungsvoll geflüsterte Worte der Prinzeß Helene über das befremdende Schauspiel kraft ihres Amtes einmal in der Kinderstube nachschauen wollte. Claudine schritt schon am Ende des Ganges, als Lothar sie einholte. Neben einander betraten sie die Treppe, die in die Halle führte.
Es ging wie staunende Bewunderung einen Augenblick durch alle die Menschen, die den Raum füllten oder draußen vor der Halle standen. Wie ein Bild erschien diese schöne Frauengestalt auf der reichgeschmückten Treppe in dem alten Urgroßmuttergewand.
„Magnifique! Entzückend!“ murmelte der Herzog, und sein Blick trübte sich etwas. Die Herzogin aber winkte mit ihrem Granatstrauß empor.
„Claudine,“ sagte sie, als das Mädchen vor ihr stand. „Wir haben beschlossen, mit zu losen, warum sollten der Herzog und ich nicht auch dem Zufall heute einmal vertrauen? Unsere liebenswürdige Wirthin hat noch rasch unsere Namen hineinwerfen müssen.“
Und als jetzt Komtesse Moorsleben in einem blumigen Rokokokostüm mit kokettem Knix Ihrer Hoheit die silberne Schale präsentirte, welche die goldgeränderten Zettelchen enthielt mit den Namen der Kavaliere, griff die schmale Frauenhand keck hinein und entnahm eine der kleinen Rollen. Prinzeß Thekla dankte. Die Hand der Prinzeß Helene , die einen Schritt hinter Ihrer Hoheit stand, zitterte, als sie den kleinen Zettel nahm. Es war, als ob die Komtesse absichtslos unbemerkt an Claudine vorüberschreiten wollte, aber die Herzogin berührte lächelnd die Schulter der jungen Dame mit dem Strauß, sie mußte anhalten.
„Liebste Claudine,“ sprach die fürstliche Frau, „Ihr Schicksal winkt,“ und die Angeredete ergriff nun auch eines der Zettelchen.
„Noch nicht lesen!“ sagte die Herzogin, die außerordentlich erheitert schien von diesem Spiel. Ihre großen dunklen Augen glänzten freundlich; sie stützte sich leicht auf Claudinens Arm. „Sieh, Dina,“ sagte sie leise, „mit welch neugierigen Gesichtern die Kavaliere die Damen mustern! Mich dünkt, selbst Adalbert wirft einen komisch fürchtenden Blick auf meine gute Katzenstein; wie sie drollig aussieht in dem Kostüm der Frau Rath Goethe.“
Das weiß gepuderte Köpfchen der hübschen Hofdame war hin und wieder aus der Menge aufgetaucht; jetzt hielt sie das geleerte Silberkörbchen in die Höhe und im nämlichen Momente begann die Kapelle die Ouvertüre aus dem „Sommernachtstraum“.
Die Damen sollten die ihnen durch das Los zugetheilten Herren zur Tafel führen; so war es von Prinzeß Helene bestimmt. In die weichen Töne der Musik mischte sich das Knistern der Zettelchen; Lachen, Ausrufe wurden laut.
Ihrer Hoheit Augen leuchteten. Sie hatte den Namen eines blutjungen schüchternen Lieutenants auf ihrem Zettel gefunden.
„Nun, Claudine?“ fragte sie, indem sie in das Papier der Freundin blickte. „O!“ machte sie dann – „Seine Hoheit!“
Claudine war bleich geworden, der Zettel in ihrer Hand bebte. „Eigenthümlicher Zufall!“ flüsterte eine leise Stimme hinter ihr.
Die Herzogin wandte sich langsam um und maß Prinzeß Helene mit einem kühlen Blick von oben bis unten. Aber aus ihren Augen war plötzlich die harmlose Freude gewichen. Stumm legte sie ihren Arm in den Claudinens und zog das Mädchen vorwärts durch alle die suchende, wogende Menge, die ehrerbietig zurückwich.
„Hier, mein Freund,“ sagte sie zu dem Herzog, der noch immer neben Palmer stand, „Deine Tischnachbarin, die Dir ein gütiges Geschick bestimmte. Mein Herr von Palmer, bringen Sie mir den Lieutenant von Waldhaus; er wurde mir durch das Los zugetheilt.“
Herr von Palmer flog davon. Die fürstliche Frau stand, das Antlitz lächelnd in dem Granatstrauß geborgen, neben Seiner Hoheit und Claudine. Dann kam athemlos, dunkelglühend, ein schlanker blonder Husarenoffizier und verneigte sich tief vor Ihrer Hoheit.
Die durch Deutschlands weise Friedenspolitik herbeigeführte Isolierung Frankreichs zwang dasselbe, die Erfüllung seiner Revanchehoffnungen immer wieder zu verschieben. Als der Zar Alexander III., der nach seines Vaters schmählicher Ermordung durch Nihilistenhände am 13. Mai 1881 den Thron Rußlands bestiegen hatte, das Bedürfniß empfand, sich ebenfalls dem Zweibunde wieder zu nähern, wurde die Vereinsamung der französischen Republik eine vollständige. Die Zusammenkunft von Skierniewice vom 15. bis 17. September 1884 stellte das Dreikaiserverhältniß bis zu einem gewissen Grade wieder her, wenn auch im übrigen die engere Allianz zwischen Oesterreich-Ungarn und Deutschland in Kraft blieb. Das etwas künstliche Gebäude der Verständigung von Skierniewice hielt jedoch nicht allzulange stand. Der Wirbelsturm der bulgarischen Frage warf das Dreikaiserverhältniß abermals über den Haufen. Das besonnene, streng vertragsmäßige und selbst gegen die Sympathien des deutschen Volkes den im orientalischen Kriege erworbenen Ansprüchen Rußlands gerecht werdende Verhalten des deutschen Reichskanzlers während der ganzen Krisis konnte nicht verhindern, daß der Panslawismus den Fürsten Bismarck und das Deutsche Reich gemäß den Traditionen Gortschakows und Katkows für die Mißerfolge Rußlands verantwortlich machte und der Gegensatz der Ostmächte im Orient sich immer schärfer zuspitzte. Vielfache Fäden zwischen Moskau, Petersburg und Paris wurden abermals angesponnen, um einer russisch-französischen Allianz die Wege zu bahnen.
Den wegen seiner naturgemäßen Abneigung gegen die Republik vor solchem Bündniß noch zurückschreckenden Zaren veranlaßte man sogar – wie sich bei der späteren Durchreise desselben durch Berlin und bei der berühmten Auseinandersetzung zwischen ihm und dem deutschen Reichskanzler am 18. November 1887 herausstellte – durch gefälschte diplomatische Schriftstücke, sich von einer Begegnung mit seinem kaiserlichen Großoheim in Stettin fernzuhalten.
Alle diese Vorgänge bestimmten die Regierung Kaiser Wilhelms, das Bündniß mit Oesterreich-Ungarn unter erneutem Zutritt des Königreichs Italien, dessen rückhaltloser Anschluß aller Welt durch des Ministerpräsidenten Crispi Besuch beim Fürsten Bismarck in Friedrichsruh bekundet wurde, im Jahre 1887 auf eine längere Zeit hinaus so fest zu knüpfen, daß diese drei starken Mächte sich dadurch verpflichtet haben, beim Angriff auf eine von ihnen den Kriegsfall für alle drei als gegeben zu erachten. Wie fern der hierdurch im Herzen Europas geschaffenen gewaltigen Friedensliga die ihr von russisch-französischer Seite verleumderisch zugeschriebenen Angriffsgelüste liegen, bewies die am 3. Februar 1888 gleichzeitig in Berlin, Wien und Pest erfolgte und in ganz Europa, namentlich aber in Rußland großes Aufsehen erregende amtliche Veröffentlichung des das Datum des 7. Oktober 1879 tragenden, grundlegenden Bündnißvertrages zwischen Deutschland und Oesterreich-Ungarn. Im Eingange desselben versprechen die beiden Monarchen „einander feierlich, daß sie ihrem rein defensiven Abkommen eine aggressive Tendenz nach keiner Richtung jemals beilegen wollen.“
Das aus diesem „Bunde des Friedens und der gegenseitigen Vertheidigung“ entspringende Gefühl der Sicherheit, aber auch der festen Entschlossenheit angesichts der drohenden Weltlage spiegelte sich in der Sprache wieder, mit welcher der Deutsche Reichstag am 24. November 1887 im Auftrage des Kaisers eröffnet wurde: „Das Deutsche Reich hat keine aggressiven Tendenzen und keine Bedürfnisse, die durch siegreiche Kriege befriedigt werden könnten. Die unchristliche Neigung zu Ueberfällen benachbarter Völker ist dem deutschen Charakter fremd, und die Verfassung sowohl wie die Heereseinrichtungen sind nicht darauf berechnet, den Frieden unserer Nachbarn durch willkürliche Angriffe zu stören. Aber in der Abwehr solcher und in der Vertheidigung unserer Unabhängigkeit sind wir stark und wollen wir mit Gottes Hilfe so stark werden, daß wir jeder Gefahr entgegensehen können.“
Von demselben Willen wie die Regierung des Kaisers zeigte sich in der Folge auch der Deutsche Reichstag beseelt, als er nach der großartigen Rede des Fürsten Bismarck in der denkwürdigen Sitzung vom 6. Februar 1888 einmüthig und ohne jede weitere Verhandlung die neue Wehrvorlage genehmigte. Durch diesen von größtem Patriotismus zeugenden Beschluß der deutschen Volksvertretung wurden gleichzeitig die durch Ausführung dieses Gesetzes erwachsenden Kosten in Höhe von 280 Millionen bewilligt, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Wehrhaftigkeit der deutschen Nation wurde durch diesen historisch unvergeßlichen Akt auf die denkbar höchste Stufe erhoben.
Den Propheten von der Seine und Newa, welche in Hoffnung einer französisch-russischen Allianz den Zusammenbruch des Deutschen Reiches für nicht gar zu ferne Zeit weissagen, kann daher das deutsche Volk ohne Ueberhebung, aber im Bewußtsein seines guten Gewissens, seines Rechts und seiner durch treue Bundesgenossen verdoppelten Stärke zurufen:
Und schürt ihr fort in Ost und West,
Und züngeln auf des Hasses Flammen:
Schließt sich vom Rhein zur Donau fest
Des Deutschthums Riesenwall zusammen.
Wir zagen nicht vor eurer Wuth –
Stürmt an, ihr wilden Völkerwogen!
Machtlos am Fels zerschellt die Fluth –
Und der Prophet, er hat gelogen!
Es erübrigt noch, aus den letzten beiden Jahrzehnten die mehr persönlichen Erlebnisse des Kaisers Wilhelm, sofern sie nicht schon im Zusammenhang mit der vorstehenden Darstellung erwähnt wurden, kurz vor unserem Auge vorüberziehen zu lassen.
Der 10. März 1876 brachte den hundertjährigen Geburtstag der deutschen Frau und Königin, welche die ersten Keime nationalen Fühlens und Denkens in das Kindesherz ihres Sohnes, des späteren Kaisers pflanzte. Vier Jahre darauf, am 10. März 1880, trug der im Sinne der Mutter zur höchsten Vollendung in seinem Herrscherberuf gestiegene Sohn durch Errichtung des schönen Marmordenkmals der Königin Luise im Thiergarten, nahe dem entsprechenden Denkmal Friedrich Wilhelms III., seine Dankesschuld erneuert ab.
Am 9. Februar 1877 hatte er die Genugthuung, seinen ältesten Enkel im Mannesstamm, den Prinzen Wilhelm, der am 27. Januar, seinem achtzehnten Geburtstage, großjährig geworden war, persönlich in das 1. Garderegiment zur Dienstausbildung einführen zu können. Mit den schlichten Worten: „Nun gehe und thue Deine Schuldigkeit, wie sie Dir gelehrt werden wird. Gott sei mit dir!“ - entließ der Monarch seinen Enkel.
Bei Gelegenheit seines achtzigsten Geburtstages, 22. März 1877, wurde Kaiser Wilhelm seitens der deutschen Fürsten in sinnigster Weise durch Überreichung der von Anton von Werner gemalten Darstellung der Kaiserproklamation in Versailles überrascht. Ende April 1877 wohnte er der Feier des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums seines Schwiegersohnes, des Großherzogs von Baden, bei.
Wie mit seiner Tochter, der Großherzogin Luise, so verbanden den Kaiser stets die innigsten Beziehungen auch mit dem kronprinzlichen Hause. Kein schöneres Bild herzlichsten Familienlebens konnte es geben, als wenn die kronprinzlichen Eltern mit der Enkelschar im Palais erschienen, dem kaiserlichen Vater und Großvater zum Geburtstage oder einem der zahlreichen Jubelfeste, welche dem Kaiser beschieden waren, Glück zu wünschen und seinen Tisch mit Blumen und Geschenken zu schmücken. Andererseits ließ es sich der Kaiser nie nehmen, den Seinigen, wie auch den Personen des Hofstaates, am Weihnachtsheiligenabend unter dem Christbaum, der im königlichen Palast so wenig wie im deutschen Bürgerhause fehlen durfte, die eingekauften Geschenke persönlich zu bescheren. Wie großer Schmerz ihn daher erfüllte, als aus der Schar seiner Enkel am 27. März 1879 ein hoffnungsvoller Sproß, der dritte Sohn des kronprinzlichen Paares, Prinz Waldemar, durch den Tod geraubt wurde, läßt sich ermessen.
Ein für viele herbe Stunden entschädigendes seltenes Familienfest sollte dem Kaiserpaare noch im Frühling desselben Jahres zu Theil werden: die Feier der goldenen Hochzeit am 11. Juni 1879.
[267] Fürwahr, höchste Gunst war dem Kaiser und seiner Gemahlin in fünfzigjähriger Ehe zu Theil geworden, auf dem Thron wie in der Familie. In der letzteren stieg dieselbe aber noch höher, als des Kaisers ältester Enkel, Prinz Wilhelm von Preußen, sich am 27. Februar 1881 mit Prinzessin Auguste Viktoria, der anmuthigen und liebenswürdigen Tochter des verstorbenen Herzogs Friedrich zu Schleswig-Holstein, des einstigen Thronprätendenten dieser Herzogtümer, vermählte und diesem Bunde im Verlauf der folgenden Jahre eine Schar blühender Kinder entsproß, so daß Wilhelm I. schon am 6. Mai 1882 den ältesten Urenkel des direkten Mannesstammes, den nach seinem Urgroßvater genannten jüngsten Prinzen Wilhelm, in die Arme schließen konnte.
In die Reihe schöner Familienfeste schob sich am 2. oder vielmehr, da der Kaiser aus Pietät für seinen verstorbenen Bruder diesen Tag nicht feiern wollte, am 3. Januar 1886 das fünfundzwanzigjährige Regierungsjubiläum Wilhelms I. als König von Preußen, welches jedoch schon deshalb gerade hier von uns mit genannt wird, weil es sich im Grunde auch als ein „Familienfest“ erwies, nur daß an die Stelle der engeren Familie diesmal das ganze Volk trat, welches den ehrwürdigen Herrscher wie einen Vater liebte und verehrte.
Zahlreiche deutsche Fürstlichkeiten waren wiederum zur Theilnahme an der Feier erschienen, welche wesentlich einen kirchlichen Charakter trug. Nach dem Tedeum fand große Kour im Weißen Saale des königlichen Schlosses statt. Ergreifend und erhebend war der Augenblick, als an der Spitze des diplomatischen Korps Fürst Bismarck herantrat, um gleich den übrigen Würdenträgern seinem kaiserlichen Herrn die ehrfurchtsvollsten Glückwünsche darzubringen.
Im Jahre vorher, am 1. April 1885, war die Reihe des Glückwünschens am Kaiser gewesen. Zum siebzigsten Geburtstage seines Kanzlers war er persönlich an der Spitze sämmtlicher Glieder des Kaiserhause erschienen und hatte als gemeinsames Geschenk des letzteren dem Fürsten eine Wiederholung der bildlichen Darstellung der Kaiserproklamation von Anton v. Werners Hand in köstlicher Umrahmung gewidmet. Es galt ja, den Minister zu ehren, welchem der Kaiser auf ein wiederholtes Abschiedsgesuch einst erklärt hatte, sich „niemals“ von ihm trennen zu wollen.
Als nun heute dieser Mann an den Thron herantrat, streckte der Kaiser dem Fürsten die Hand entgegen; letzterer beugte sich nieder, um die Hand des greisen Monarchen zu küssen. Da aber breitete Kaiser Wilhelm bewegt die Arme aus, zog den Reichkanzler an seine Brust und küßte ihn auf die Wange.
Keiner von allen Treuen hatte den Dank seines Kaisers und Königs aber auch mehr verdient als Bismarck. Seit einem Vierteljahrhundert ungefähr hatte er sich schon dem Dienste des Königs und Staates geweiht, die nicht zum geringsten Theil seinem genialen Rath und seiner staatsmännischen Leitung die Höhe verdankten, aus welcher beide zur Zeit standen.
Niemand wußte das besser als Wilhelm I. selbst. Viele sprechende Belege sind uns hierfür aufbewahrt; als sprechendster unserer Ansicht nach aber folgender. Bei der Enthüllung des herrlichen Denkmals der neu errungenen Größe des Reiches auf dem Niederwalde hatte Fürst Bismarck gefehlt. Ob er auch diesmal seines Gesundheitszustandes wegen fern blieb? Ob er seinem kaiserlichen Herrn allein die Ehren des Tages überlassen wollte? Wir wissen es nicht. Das aber wissen wir, daß der Kaiser dem Reichskanzler zum nächsten Weihnachtsfeste nach der Enthüllung einen vortrefflichen Bronzeabguß des Niederwalddenkmals schenkte, welches nachmals im Rauchzimmer zu Friedrichsruh Ausstellung fand, und diese Gabe mit folgenden eigenhändig niedergeschriebenen Worten begleitete:
„Zu Weihnacht 1883. Der Schlußstein Ihrer Politik; eine Feier die hauptsächlich Ihnen galt und der Sie leider nicht beiwohnen konnten.“
Wenn es noch eines Zeugnisses für die edle Charaktergröße Kaiser Wilhelms, noch eines Beweises für die Natur des in der Geschichte nicht wiederkehrenden Verhältnisses zwischen Herrscher und Minister bedurfte, so ist derselbe in diesen einfach rührenden, das Verdienst für alle Errungenschaften bescheiden dem anderen Theile zuweisenden Worten gegeben!
Allgemach, mit den immer höher vorschreitenden Jahren wurde es einsam um den Monarchen. Dahingegangen waren die meisten der berühmten Feldherren und Männer, die ihm bei den großen Ereignissen während seiner Regierungszeit helfend zur Seite gestanden. Und nun sollte nach Anzeichen, welche schon während des Winters zu 1887 mahnend auftraten und im Laufe des Jahres immer ernstere Gestalt annahmen, selbst das Leben des einzigen herrlichen Sohnes, des damaligen Kronprinzen, des Siegers von Königgrätz und Wörth, der als zweiter Kaiser des neuen Reichs das Werk des Vaters schützen und bewahren und immer vollkommener ausgestalten sollte – durch ein schleichendes Leiden bedroht sein!
Dieser Kummer bedrückte das Herz des Kaisers, der gleich seinem heldenmüthigen Sohne seine Hoffnung in erster Linie auf die rettende Hand einer höheren Macht setzte, deren Eingreifen von ihnen schon so oft im Leben des Kaisers erkannt worden war. Kein Wunder, wenn das Befinden des greisen Herrschers unter den Einwirkungen der Gemüthserregung den kleinen Leiden des Alters, welche schon in den letzten Jahren immer häufiger auftraten, zugänglicher als sonst wurde. Dazu kam, daß der Kaiser in seiner unentwegten Pflichttreue, trotz aller Einsprache seiner Umgebung, noch während seines letzten Lebensjahres stets darauf bestand, bei großen Staatsakten thunlichst auch die ganzen Lasten der ihm als Staatsoberhaupt obliegenden Repräsentation auf sich zu nehmen.
So setzte er sich z. B. noch bei der mit der Einweihung des Nord-Ostseekanals verbundenen Flottenschau in Kiel am 3. Juni 1887 [268] den Einflüssen einer stürmischen Seefahrt aus. Eine Erkältung und Erkrankung waren Folge davon, welche jedoch, dank der glücklichen Natur unseres Kaisers, noch einmal durch die alljährlich üblichen Badereisen nach Ems und Gastein beseitigt wurde, an welchem letzteren Orte auch diesmal, wie gewöhnlich, und zwar am 6. August, eine Zusammenkunft – die letzte! – mit seinem Freunde und Bundesgenossen, dem Kaiser Franz Joseph, stattfand.
Als Kaiser Wilhelm vor seiner Abreise nach Ems zum ersten Male nach der Erkrankung mittags beim Aufziehen der Schloßwache wieder an dem Eckfenster seines Arbeitszimmers erschien, wurde ihm von der täglich des Anblickes harrenden Menge eine jener stürmischen Huldigungen der Volksliebe zu theil, die trotz regelmäßiger Wiederkehr bei ähnlichen Anlässen auf jeden, der einmal Zeuge derselben gewesen, einen unauslöschlichen Eindruck machte.
Vor dieser Erkrankung hatte der neunzigste Geburtstag des Kaisers am 22. März 1887 – der letzte, welchen zu begehen ihm beschieden war! – den Höhepunkt des unmittelbaren Ausbruchs der allgemeinsten Volkssympathien gesehen. Die Vorgänge dieses unvergeßlichen, von der ganzen civilisierten Welt mitgefeierten Tages, an welchem nicht weniger als fünfundachtzig Mitglieder souveräner Häuser Wilhelm I. umgaben und er auch noch die Freude hatte, die Verlobung des Prinzen Heinrich mit der Prinzessin Irene von Hessen zu verkündigen, leben noch im Gedächtniß aller Leser.
Und was das Tröstlichste und Erhebendste bei dem Volksdanke war, welcher dem Kaiser an seinem 90. Geburtstage zu theil wurde: alle Stämme, Stände und Parteien wetteiferten – ohne Rücksicht aus die heftigen politischen Kämpfe, welche sie noch soeben wegen der Militärvorlage und des wieder zu bewilligenden Septennats in zwei Lager getheilt hatten – unter einander in der Wärme, mit welcher sie dem geliebten Kaiser ihre Gefühle kundgaben. Hier, am Kaiserthron war die Einigkeit der Nation wieder voll und ganz hergestellt – eine Einigkeit, in welcher auch dem feindlichen Auslande gegenüber stets die sicherste Bürgschaft für die Zukunft des Deutschen Reiches gegeben sein wird!
Kaiser Wilhelm aber sprach seinem Volke, „tief ergriffen von solcher durch alle Schichten der Bevölkerung gehenden Bewegung“, in einem Erlaß vom 23. März seine „innigste Dankbarkeit für alle diese patriotischen Kundgebungen“ in den ergreifenden Worten aus: „Es giebt wahrlich für mich kein größeres Glück, kein erhebenderes Bewußtsein, als zu wissen, daß in solcher Weise die Herzen meines Volkes mir entgegenschlagen. Möge mir diese Treue und Anhänglichkeit als ein theures Gut, welches die letzten Jahre meines Lebens hell erleuchtet, erhalten bleiben! Mein Sinnen und Denken aber soll wie bisher, so auch ferner für die Zeit, welche mir zu wirken noch beschieden sein wird, darauf gerichtet sein, die Wohlfahrt und Sicherheit meines Volkes zu heben und zu fördern.“
Eine der letzten öffentlichen Kundgebungen Kaiser Wilhelms über seine hohe Auffassung des ihm zugefallenen Herrscherberufs und über die innigen Beziehungen, welche zwischen ihm und seinem Volke bestanden, ist die schöne, uns heute doppelt ergreifende Erwiderung, welche er unter dem 4. Januar 1888 dem Glückwunschschreiben des Berliner Magistrats zu theil werden ließ. Es heißt darin:
„Nicht oft genug aber kann ich Gottes Gnade dankend rühmen, welche Mir in der Erhaltung Meiner Kräfte zugleich den Willen der Vorsehung kundgiebt, auch noch in Meinem hohen Alter Meines fürstlichen Amts zu walten. In der Erfüllung dieser Mir obliegenden Pflicht liegt die höchste Befriedigung Meines Lebens. Gestützt auf festes Gottvertrauen, gehört Mein ganzes Streben, Meine unablässige Sorge allein dem Wohle Meines geliebten Volkes. Ich gebe Mich vertrauensvoll der Hoffnung hin, daß unter dem Schutze dauernden Friedens, welchen Gott unserem Vaterlande erhalten wolle, infolge der auf wirthschaftlichem und sozialem Gebiete getroffenen gesetzlichen Maßnahmen die Wohlfahrt der Nation sich ferner kräftig entwickeln und daß durch eine billig angemessene Vermittelung der in den gesellschaftlichen Klassen bestehenden Verschiedenheiten eine ausgleichende Zufriedenheit gefördert werde.“
Lesen sich diese Sätze nicht wie ein wehmüthiger und doch von vollem Vertrauen für die Zukunft seines Reiches und von harmonischer innerer Befriedigung getragener Scheidegruß des Kaisers an sein Volk?
Welcher Herrscher aber auch hätte mehr Ursache gehabt, als Kaiser Wilhelm, am Ende seiner Regentenlaufbahn mit beglückender Befriedigung auf die Summe des von ihm erreichten zurückzuschauen und mit beruhigtem Ausblick auf das nach ihm Kommende sein Haupt zur letzten Ruhe zu legen!
Der rasche Verlauf der letzten Krankheit des geliebten Kaisers, die bange Sorge um sein Leben, welche ganz Deutschland ergriff, als man erfuhr, daß dasselbe in Gefahr schwebe, und die tiefe Erschütterung, als die Nachricht von seinem Tode durch die Welt flog, sind in der frischen schmerzlichen Erinnerung aller [269] Dieser Schmerz wird noch lange nachzittern im Herzen des deutschen Volkes.
Aber auch der Segen, welchen Kaiser Wilhelm seinem Volke hinterlassen, wird auf ihm ruhen bleiben, und im Geiste des Hingeschiedenen wird es unverzagt und in ruhiger Pflichterfüllung weiter arbeiten an seiner Entwicklung. Ein würdiger Nachfolger, Kaiser Friedrich, zu welchem das deutsche Volk mit Liebe aufblickt, hat den deutschen Kaiserthron bestiegen und wird das Werk seines großen Vaters mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte fortsetzen.
Vertrauensvoll darf das deutsche Volk der Zukunft entgegensehen: der Friede mit seinen unschätzbaren Gütern erscheint auf lange Zeit hinaus gesichert durch den in Europa maßgebenden Einfluß der weisen auswärtigen deutschen Staatskunst und eine Entwickelung der deutschen Wehrkraft, die ohnegleichen dasteht, so daß die Machtstellung unserer Nation zur Zeit des Hinscheidens Kaiser Wilhelms nicht besser gekennzeichnet werden kann als durch das markige Wort des Reichskanzlers in seiner gewaltigen Rede vom 6. Februar 1888: „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst niemand auf dieser Welt!“
Alle Rechte vorbehalten.
Es war im Konservatorium zu Wien. In dem sogenannten „kleinen“ Saale fand eben die Prüfung statt, welche über die Ausnahme der Zöglinge in die Schauspielschule entscheidet. Die Richter waren theils Künstler und Professoren, Praxis und Theorie vertretend, geniale und gelehrte Männer, theils Gönner der Kunst mit warmen Herzen und offenen Händen. Und in schöner Mischung saß da die Strenge neben der Milde, rasches Zugreifen mit bedächtiger Erwägung sich heilsam ausgleichend, daß sie so recht eine ideale Vereinigung bildeten, um über das Geschick der jugendlichen Menschenkinder abzuurtheilen. Da sich alle der Schwere ihrer Verantwortlichkeit wohl bewußt waren, so trugen sie dieselbe mit ernster Gewissenhaftigkeit; Erfahrung sowie die weise Einsicht in Kunst und Leben gab ihrem Urtheile die würdige Sicherheit. Im ganzen überwog dabei die Milde, wie immer unmittelbar nach den Ferien. Es ist in der Seele noch ein gewisser großer Zug haften geblieben von den hoch und kühn schweifenden Berglinien dort draußen, so daß man sich nicht an Kleinigkeiten klammert, um sie zu beanstanden; weitsichtig ist noch der Blick, der kaum erst abgelassen hat, an den Riesengipfeln des Gebirges in die Wolken emporzufliegen. Sie hatten es gut, alle die künftigen Bühnengrößen – man nahm sie auf.
Da war es plötzlich aus mit der harmonischen Stimmung, die bis jetzt den Richterkreis beherrschte, gerade so als habe ein plötzlicher Mißton aller Ohren erreicht. Da jedoch dieser Kreis aus einer Mischung verschiedenartiger Temperamente zusammengesetzt war, so entspannen sich aus der plötzlichen Verdüsterung vielgestaltige Folgen. Der Heftige schleuderte mit der Bewegung eines antiken Diskuswerfers den Zwicker von der Nase, der Gutmüthige nahm langsam sein Augenglas herab und wischte es mit einem erstaunlichen Kraftaufwand von den Stäubchen rein, die nicht da waren, der Melancholische ließ die Augenlider wie Vorhänge über die schwermuthvollen Blicke niedersinken, der Bedächtige rieb sich gelassen die Augen und die Anderen sahen einander verwundert an. Ein Lächeln aber stieg in aller Antlitz empor, halb mitleidig über die menschliche Beschränktheit, welche da noch zweifeln konnte, halb entrüstet ob der lächerlichen Lage, über Selbstverständliches noch einen Richterspruch abgeben zu sollen.
Sie stand da und sah einen nach dem Anderen an. Sie verstand das Lächeln und wußte, was nun kommen würde. Sie faltete die Hände; der Kopf neigte sich leise zur Erde, um den Todesstreich geduldig zu empfangen.
„Eine unerhörte Zumuthung!“ rief der Heftige.
Der Bedächtige sagte ruhig und in gemessenem Tone. „Wir wollen Ihnen die Mühe eines Vortrags ersparen. Sie haben doch wohl Einsicht genommen in die Vollzugsvorschrift zum Statute der Grundverfassung des Konservatoriums? Unter den unerläßlichen Vorbedingungen zum Eintritt in die Schule für darstellende Kunst ist daselbst ausdrücklich angeführt: eine entsprechende Bühnengestalt. Diese fehlt Ihnen – Sie sind zu klein.“
Der Gutmüthige erhob sich, strich ihr über das glatte Haar und sagte lächelnd: „Das ist ein Fehler, der sich selbst verbessert, nicht wahr, liebes Kind? Wachsen Sie noch ein paar Jährchen und kommen Sie uns dann als ein stattliches großes Fräulein zurück! Sie haben noch rechtschaffen viel Zeit – Sie sind ja blutjung, viel zu jung!“
Sie hob sanft den Kopf und blickte ihn mit thränenden Augen an. „Achtzehn Jahre,“ sagte sie ganz leise mit zitternder Stimme.
Er zog hastig die Hand von ihrem Haare. Dann schüttelte er den Kopf, wandte sich zu den Uebrigen und flüsterte: „Achtzehn Jahre schon! Unglaublich! Ich hätte sie höchstens auf vierzehn geschätzt. Nun, was meinen Sie? Wenn wir sie also doch … wenn wir sie etwas vortragen ließen … wie?“
„Aber … “
„Etwas Kurzes wenigstens – natürlich etwas ganz Kurzes bloß! Sie kennen doch etwas recht Kurzes, liebes Fräulein?“ wandte er sich rasch an sie, um die unausweichliche Widerrede von seiten der Anderen bei Zeiten abzuschneiden.
Sie nickte und trat auf die Uebungsbühne.
„Die reine Kinderkomödie!“ brummte der Heftige halblaut. Jedoch ihr feines Ohr hatte es erfaßt, und nun stand sie plötzlich weinend da, und ein krampfhaftes Schluchzen durchbebte ihren kleinen Körper.
„Auch das noch!“ murmelte der Heftige, im Grunde nur zornig auf sich selbst, daß er so vernehmbar gesprochen hatte.
Das Tagewerk war zu Ende.
Die Talentprüfung mußte auch noch am folgenden Tage fortgesetzt werden, denn es gab der vermeintlichen Talente viele, zu viele. Endlich war auch das abgethan. Es war ein heißer Nachsommertag gewesen, alle athmeten erleichtert auf; als sie sich erhoben und sich verabschieden wollten – da stand sie wieder vor ihnen. Sie hatte schon lange gewartet, den ganzen Nachmittag, man hatte sie nur nicht bemerkt hinter allen den hoch emporgeschossenen Genossinnen.
Sie stand da wie am Vortage, sagte nichts und hielt die Hände gefaltet.
„Wir haben es ihr gestern zugesagt, also …“ sprach der Gutmüthige in etwas verzagtem Tone.
Alle waren abgespannt und müde, zu abgespannt selbst für ein Lächeln, zu müde sogar für eine Widerrede. So kehrten sie denn mit einer verhaltenen Gereiztheit zu ihren Plätzen zurück. Jedoch bloß der Gutmüthige ließ sich wirklich auf seinen Sitz nieder und streckte sich darin bequemlich mit jener wohlwollenden Nachsicht aus, welche er gegen sich selbst wie gegen alle Welt bethätigte. Alle Anderen lehnten herum oder blieben stehen, gleichsam halb im Fortgehen begriffen, den Hut in der Hand, mit wortlosem Widerwillen; man ließ es eben über sich ergehen als eine jener unausweichlichen Widrigkeiten, die glücklicherweise in sich selbst bald ein Ende finden müssen.
Die Augen waren den lächerlichen Anblick schon gewohnt; nun lauschten noch die Ohren nach dem unfehlbar heranzirpenden hohen fadendünnen Kinderton. Er mußte das Bild der verkümmerten Gestalt ergänzen; denn auch das Lächerliche strebt nach einer gewissen künstlerischen Abrundung und klassischen Vollendung. Die Selbstberäucherung freut sich darauf, dann schmunzelnd sagen zu können: „Das habe ich ja von vornherein gewußt!“
Die Sehnsucht nach dem Mißton war schon so groß, daß plötzlich in dem hallenden Saale eine fast unheimliche Stille eintrat.
Welch ein Ton! Tief ansetzend im Contra-Alt, schwoll er an und empor und hinaus durch den weiten hohen Raum. Die Richter sahen sich um und dann einander an. Die da gelehnt und gestanden waren, saßen auf einmal ganz stille; nur der Heftige fuhr sich zuweilen mit einer zuckenden Bewegung durch die Haare. Vor einem Augenblicke noch war die Leere des Saales durch das spärliche Häuflein der Richter erst recht auffällig merkbar gemacht worden; jetzt schien die Halle auf einmal [270] durch jene Stimme angefüllt, und ihr Ton durchfluthete die ganze Weite zugleich mit den hereinspielenden Abendlichtern.
Sie stand da, schmal und dünn wie die Heiligen, welche zwischen zwei Säulchen einer gothischen Münsterverzierung eingeengt sind, und dabei doch wieder so klein und verschrumpft, daß sie eher unter den gedrückten Rundbogen der altromanischen Basilika taugte. Und auch sonst zeigte sich an ihr eine Vermischung zweier Stile, etwas Ungleichmäßiges, Unfertiges, Unzusammenhängendes. Die Glieder waren zierlich gedrechselt, das Gesichtchen ein feines Kinderoval, nicht schön, aber ausdrucksvoll; die Wucht der Haare dagegen und die Wucht des Blickes gehörten ganz einer erwachsenen, ja einer sehr großen Person an. Es waren röthliche Haare mit einem metallischen Schimmer wie Gold; ein Metallschimmer brach auch aus den grauen Augen hervor, seit sie dort oben stand und vortrug, während er früher nicht sichtbar gewesen war – man mußte dabei an Stahl denken. Und die Wucht einer erwachsenen, einer mächtigen Persönlichkeit lag in diesem Organ, in diesem Vortrage – es war die Gewalt eines großen Wassers, das widerstandslos alles mit sich fortreißt, mag es jetzt in breitem großen Fließen langsam einherziehen oder dann plötzlich in Stromschnellen niederrasen.
Die Richter sahen nicht mehr einander an, sondern nur sie, und wenn sie nicht selbst abgebrochen hätte, keiner von ihnen würde sie aufgehalten haben. Dann standen sie auf – keiner sprach.
„Ein Phänomen!“ murmelte endlich der Gutmüthige.
Als die Anderen zustimmten, fuhr er fort. „Unter allen, die wir heute und gestern aufgenommen haben, ist keine solche geniale Begabung aufgetaucht.“ – Es war die volle Wahrheit, alle mußten es zugeben.
„Das ist in der That traurig, sehr traurig!“ sagte er kopfschüttelnd und tief verstimmt. „Von einer Aufnahme kann natürlich jetzt keine Rede mehr sein.“
„Das ist so der reine … das ist aber doch eine ganz … wunderliche Schlußfolgerung!“ fuhr der Heftige auf und warf seinen Zwicker wild in die Luft hinaus. „Sie muß unbedingt aufgenommen werden!“
Die Anderen nickten dem Heftigen eifrig zu, sie waren empört! Er – der Gutmüthige! Es war ganz unfaßbar. Aber sie beruhigten sich schließlich: seine Stimme war eben nur eine Stimme, sie standen alle gegen ihn.
Er sah wehmüthig vor sich hin, dann sagte er.
„Ich war für einen Vortrag, weil ich ein kindliches Organ und eine kindische Auffassung sicher voraussetzte. Sie sollte aus unseren Urtheilen die gänzliche Hoffnungslosigkeit ihres Vorhabens so unzweifelhaft ersehen, daß sie fortan ihr Sinnen und Streben anderen Dingen zuwende und sich entschieden von etwas abwende, was bei ihrer Größe doch nur eine Thorheit ist. So aber … nun, Sie sind anderer Meinung, meine verehrten Freunde und Kollegen! Sie finden, daß ich unbarmherzig bin, weil ich den Dolch mit einem Stoß geradezu in das Herz bohren will. Sie dagegen wollen jenes zarte Figürchen aufnehmen, zwei Jahre lang ausbilden, und … und dann? Was dann? – In Mailand hat einst ein Mann eine ganz merkwürdige Erfindung gemacht, wie man nämlich einen zum Tode Verurtheilten stückweise nach einander verstümmeln könne, so daß er genau am vierzigsten Tage erst stirbt. Diese vierzigtägige Marter, die Quaresima genannt, begann damit, daß man dem Verurtheilten ein Auge ausriß, worauf man ihn einen Tag in Ruhe ließ; dann kam das andere Auge an die Reihe und abermals eine Pause von einem Tage. Das ging so fort, abwechselnd ein Glied und ein Ruhetag, bis am vierzigsten Tage die Verstümmelung gerade bis zu dem Herzen reichte und der Tod eintrat. Ganz so gedenken Sie zu verfahren – Sie brauchen über diese Gleichstellung nicht zu erschrecken: der jene Quaresima erfand und an seinen Opfern anwandte, war kein Barbar, sondern ein mächtiger Fürst, Galeazzo Visconti, der Herrscher von Mailand, dessen Nichten die Frauen deutscher und italischer Herrscher wurden, und eine derselben heiratete den Herzog Rudolf den Vierten von Oesterreich – sollte etwa durch diese Nichte die Quaresima auf den Wiener Boden verpflanzt worden sein und sich etwa hier im Konservatorium … doch ich betone nochmals, Galeazzo Visconti war ein frommer Christ, fastete, vertheilte Almosen, schwärmte für Kunst und Wissenschaft – ganz wie Sie, meine verehrten Freunde und Kollegen.“
Mit bekümmerter Miene setzte er sich nieder, tief aufathmend und aufseufzend.
Man schritt zur Abstimmung. Das Resultat lautete: „Fräulein Jakobäa Almer ist in die Schule für darstellende Kunst am Konservatorium aufgenommen mit allen gegen eine Stimme.“
Die eine Stimme war die des Gutmütigen.
Damit war das nächste höchste Ziel erklommen; aber sehr angenehm war es auf dieser Höhe durchaus nicht für sie. Es werden in der Schauspielschule jahraus jahrein Proben aufgeführt zu dem künftigen Intriguenstück „der Künstlerneid“. Beneidet im engsten Sinne wurde zwar Fräulein Almer nicht: sie erschien in ihrem Aeußeren für die Bühne unmöglich und darum unschädlich, so daß man sie eben nur belächelte und verspottete, sowohl ins Gesicht als auch hinter dem Rücken. Sie besaß jedoch eine geniale Begabung, und deshalb wurde sie von ganzem Herzen gehaßt, ganz wie der schwächliche Reiche von einem starken Armen gehaßt wird, der im Bewußtsein und Vollgefühl seiner physischen Kraft vermeint, mit dem Reichthum, welchen jener nicht genießen kann, alle Freuden und Wonnen der Welt erschöpfen zu können. Ueberdies entwickelte sie einen so rastlosen Fleiß, als ob sie nicht im mindesten begabt wäre. Sie verstand auch in der Schule alles, sie wußte alles, während die Anderen oft wenig verstanden und nichts wußten; darauf geberdete sich die verletzte Eitelkeit ungemein erfinderisch in allerlei Rachethaten und Rachereden. Zu solchen geflissentlichen Nadelstichen und Beilhieben kam dann noch das Unbeabsichtigte: man übersah sie auch, sah über sie hinweg, schob sie bei Seite, setzte sie hintan, weil man sie bei ihrer Kleinheit buchstäblich übersah.
Sie war ein fremdgeartetes kleines armes Huhn in einem großen Geflügelhofe voll herumstolzirender Pfauen, aufgeblasener Truthähne, hochstelziger Kalkuttahühner und zischender Gänse. Wie sachte es auch dahinschleicht, wie bange es auch ausweichen mag: rechts droht und links hackt schon ein bissiger Schnabel nach ihm. Treibt aber der Hunger das arme gescheuchte und wund gebissene Ding doch endlich dorthin, wo der Ueberfluß der Anderen ungenützt liegen geblieben ist, von dem es sich verstohlen ein Körnlein aufpicken möchte – da von allen Seiten ein wildes Zischen, Kollern, Gackern, und in gemeinsamem Ansturme stürzt alles auf dasselbe los.
Sie dagegen war freundlich gegen alle, fast unterwürfig; es war ein demüthiges Emporblicken, ein leises Auftreten, wie sich in einer stolzen reichen Familie die vom Gnadenbrot zehrende arme Verwandte geberdet.
Zu dem berühmten Eingang in das Burgtheater unter dem Burgthor eilte sie, wenn sie eine Freikarte erhalten hatte, früher als alle, da sie zu klein war, um auf der Galerie hinter den Anderen etwas sehen zu können. Kurz nach dem Mittagläuten kam sie mit einem Buch, stellte sich an die verschlossene Paradiesespforte und wartete sechs Stunden lang, indem sie während dieser Zeit einige Rollen lernte. Oft genug gelang es denen, die erst gegen Abend gekommen waren, auf der Stiege oder auf der Galerie das kleine Figürchen durch einige rohe Stöße schließlich zurückzudrängen, so daß jenes sechsstündige Warten unter allen Unbilden des Wetters ganz umsonst gewesen war. Behauptete sie aber einmal den Vordergrund der Galerie, dann sah man von unten ihre Augen herabbrennen: die Augen eines ekstatischen Kindes, das alles um sich her vergaß!
In der Schule während der Vorträge saß sie gedeckt durch die größeren Genossinnen, so daß ihr Kopf allein sichtbar blieb, weil er sich weit vorbeugte in jener Höhe, in welcher ihre Nachbarin erst die Hände hatte, es war, als säße jemand dort neben den Stühlen auf der Erde. Die grauen Augen waren unverwandt auf den Professor gerichtet. Sie merkte sich nie etwas an, sondern schrieb den ganzen Vortrag daheim nach, es fehlte nichts darin; selbst unwesentliche Bemerkungen und Nebensächliches fanden sich wieder. Aber das Prüfen des Lehrstoffes am Schlusse jedes Vierteljahres gestaltete sich qualvoll. Sie wußte alles, sie hatte alles begriffen und durchdacht, aber anstatt es nun schlicht auseinanderzusetzen, verfiel sie sofort in den Bühnenton; selbst bei der Darlegung nüchterner Thatsachen oder bei trockener Beweisführung brach unhemmbar das Pathos und die Wucht der Tragödie hervor.
Die Professoren gingen durchweg mit ihr behutsamer um als mit den Anderen. Sie warfen eben alle das Vollgewicht gerechten hilfreichen Wohlwollens auf ihre winzige Wagschale, [271] sei es instinktartig, sei es in der bewußten Absicht, um das Uebergewicht auszugleichen, welches jede ihrer Genossinnen äußerlich besaß und innerlich sich anmaßte. Auch das Mitleid mochte dabei ins Spiel kommen: einen Leidenden berührt man mit linderen Händen, spricht man mit sanfterer Stimme an; man dämpft auch den gewohnten festen oder harten oder dröhnenden Schritt und die sonst spröde Geduld wird zähe im Anhören und Nachgeben. Und eine Leidende war sie ja, eine schmerzlich Leidende, wie jeder, bei dem sich ein einzelnes Organ unnatürlich vergrößert und erweitert – ihre Seele war zu groß gerathen für den Körper, der sie fassen sollte.
Wo aber überdies noch die Sorge um den täglichen Lebensbedarf an einen Kranken tritt, da hält sie ihm ein Vergrößerungsglas vor die fiebernden Augen und sein Leiden erscheint ihm dann im erhöhten Grade schwer, schmerzlich, gefährlich. Fräulein Almer war auch recht arm als die Tochter einer in dürftigen Verhältnissen lebenden und außerdem kränklichen Witwe; beide lebten von einer Jahrespension, die beiläufig der Monatsausgabe einer einfachen bürgerlichen Familie entsprach. Dies war es wohl auch gewesen, was auf dem armen Kind von früh auf gelastet hatte. Die Noth daheim, der Druck draußen – das war wie der unfruchtbare Steinboden unten und der Sturm oben, welche das Nadelholz niederzwingen. So war sie an den Boden gedrückt geblieben und wäre doch an sonniger Lage vielleicht als ein schlanker Baum emporgewachsen. Da sie jetzt den Sturm der Kunstbegeisterung, welcher ihre Seele durchbrauste, aus sich hervorrauschen lassen wollte durch den weiten Menschenwald, daß alle die hohen Wipfel von ihm durchschüttert in Erregung geriethen, schwankend, bebend, sich neigend – da war sie ein kümmerlich Krummholz geblieben. Das Leid hierüber sowie das Weh über die Stichelreden ihrer Umgebung kam jetzt noch dazu, und aus alledem entstand eine Herbigkeit, welche sie von innen heraus zusammenzog und nicht weiter gedeihen ließ.
Aeußerlich freilich merkte man ihr das nicht an; höchst selten und auch da jedesmal nur wider Willen entschlüpfte ihr ein Wort über ihr Mißgeschick. Das sah dann aus wie ein winziges Wölklein, das zufällig oder muthwillig mitten an einen blauen Himmel gerathen war; wer indeß näher zuschaute, merkte, daß nur ein einziger Sturmstoß herüber zu blasen brauchte, und im Umsehen war diese ganze trügerische Himmelsbläue ein gewitterschweres schwarzgraues Dämmern. Sie war noch jung, hatte jedoch genugsam gesehen und gehört, wie die Welt so oft Mitleid hegt mit manchem, was sie verachten sollte, dagegen zumeist nur Spott und Hohn bereit hält für jenen Kummer, der sich an eine echte heilige Begeisterung anlehnt. Sie erfuhr auch jetzt als Krummholz unter ihren tannenschlanken Genossinnen zur Genüge, daß die Glücklichen eine Unglückliche gar nicht begreifen.
So trug sie denn für die Anderen die reine Himmelsbläue zur Schau, und dabei geschah es, daß sie zuweilen selbst daran glaubte. Ja es kam vor, daß sie sich künstlich in diesen Glauben einzulullen versuchte und ihr Mißgeschick mit allen Mitteln vor sich selbst hinwegzutäuschen strebte. Dieser Trieb trat recht sichtlich an ihrer Kleidung zu Tage. In ihrer Armuth trug sie dünne fadenscheinige Fähnchen, wie sie die dürftigste dienende Klasse trägt, aber in anderer Weise zugerichtet. Wo diese mit jedem Haarbreit des Stoffes kargt und den Feldzug sparsamer Armuth gegen jedes unnütze Zuviel in der Ausdehnung, gegen jede überflüssige Falte führt, zeigte sich im Gegentheil an ihrer Gewandung eine gewisse Weitschweifigkeit im Schnitte, ein breiter, freier Wurf, welcher jeder Mode spottete. Das war ihr Luxus, mit dem sie ihr kleines und schmales Ich zu erweitern sich abmühte; freilich nützte es nicht viel, und sie sah immer aus, als ob sie in der Eile oder Zerstreuung das Kleid einer älteren Schwester angezogen hätte. Ein anderer Luxus war der unabänderlich sehr helle Grundton ihrer spärlichen Kleider, welcher gewiß großer Vorsicht, Aufsicht und Mühe bedurfte, um sich in seiner stets fleckenlosen Sauberkeit zu behaupten. Aber sie mied die dunkle Farbe, welche mit dem Lichte zugleich die Umrisse der Person in sich einsaugt und sie verkleinert erscheinen läßt. So kämpfte sie einerseits mit der hellen Farbe des schlichten Gewandes gegen eine weitere Verkümmerung ihrer kümmerlichen Größe und Breite, sowie sie andererseits ihr Persönchen nach unten durch dicke Sohlen und steile Absätze, nach oben durch den thurmartigen Aufbau des üppigen Haares zu verlängern bemüht war.
Dies Alles gab ihr eine kleine Portion Selbstgefühl, wie es ja auch sonst das Ich in sich verspürt, wenn es durch Schleppen, hohe Hüte, Federbüsche vergrößert wird. Dem Fernerstehenden erschien das komisch, dem ihr Näherstehenden und mit den Verhältnissen Vertrauten dagegen tragisch, Mitleid und Furcht zugleich erweckend: Mitleid für all dies vergebliche Streben, sich selbst hinaufzutäuschen, Furcht für den Augenblick der letzten Entscheidung. Die Erinnerung an den Gutmüthigen und an seinen Galeazzo Visconti mit der Quaresima stieg einem dabei doch zuweilen wie eine ernste Mahnung vor den Gedanken auf.
Da starb ihre Mutter, welche schon lange gekränkelt hatte, so daß sie nun ganz vereinsamt war – und auch ganz hilflos; denn die kümmerliche Jahrespension erlosch mit dem Tode der Witwe. In Berücksichtigung dieser Lage und in Anbetracht ihres außerordentlichen Fleißes erhielt sie sogleich ein außerordentliches Stipendium vom Konservatorium. Auch sonst hatte sich infolge dieses Todesfalles ihr ganzes Leben freundlicher gestaltet. In dem Hause, in welchem sie mit ihrer Mutter zwei Dachkämmerchen innegehabt hatte, herrschte als unumschränkte Gebieterin Fräulein Nina Haushuber, eine Tante des Hausherrn. Diese hatte sich der Aufbahrung und des Leichenbegängnisses der Mutter vollständig angenommen, als sie sah, wie die Tochter vor Schmerz dessen ganz unfähig war. Sie war mit Jakobäa auch auf den Friedhof hinausgefahren und nahm sie von dort in ihrem Wagen wieder heim. Als sie vor dem Hause aus dem Wagen stiegen, neigte sie sich ein wenig – sie war sehr groß – und bot Jakobäa den Arm. So führte sie die noch immerfort Schluchzende die Treppe hinauf in den ersten Stock, hielt sie aber auch da noch mit einem sanften Armdruck fest, als dieselbe sich anschickte, alle die weiteren Stiegen bis zu den Dachkämmerchen emporzuklettern. Sie zog, indem sie sich dabei beständig gegen ihre kleine Begleiterin neigte, das Mädchen in ihre Wohnung, nahm ihr Hut und Mantel ab, setzte sie auf einen Stuhl und wischte ihr die Thränen aus den Augen: alles das, wie man mit einem kleinen Kinde fürsorglich umgeht, welches sich noch nichts selber machen kann. Dann feuchtete sie ein Tuch an und wischte die Thränenspuren von Jakobäas Wangen.
„So!“ – sagte sie, ihr Werk mit Befriedigung betrachtend. – „Und jetzt … sehen Sie, dort auf der anderen Seite des Ganges wohnt der Florian, mein Neffe, hier in diesen zwei Zimmern hause ich, und da“ – sie öffnete eine Seitenthüre – „da wohnen Sie von heute ab. Ich habe schon alles herrichten lassen; die alten Möbel oben verkaufen Sie dem Trödler! Aber hinauf in die alte Wohnung dürfen Sie mir nicht mehr, die Magd wird Ihnen alle Ihre Sachen gleich heruntertragen! So … und jetzt lasse ich Sie allein – aber Sie dürfen mir nicht etwa da sitzen und weinen, sondern Ihre Wäsche und die Bücher schön in die Kästen einräumen, daß Sie auf andere Gedanken kommen! Und noch eines: Sie werden mit uns essen … nun, das wäre schön, daß Sie darüber roth werden möchten! Wie wenn ich Sie nicht mehr brauchen würde, als Sie mich! Als ob Sie mir nicht dafür Gesellschaft leisten würden! Sie wissen ja“ – Jakobäa hatte aber keine Ahnung davon – „wie notwendig ich jemand um mich brauche! Die Hauswirtschaft für zwei Leute giebt nicht so viel zu thun, daß man die zwölf Stunden des Tages damit ausfüllen kann, und die übrige Zeit ist es dann um nach her so still und langweilig … mein Neffe, der Florian ist nämlich gar nicht lustig.“
Nein, der Hausherr Florian Haushuber war in der That ganz und gar nicht lustig, während seine Tante, Fräulein Nina Haushuber, sehr lustig war. Und beides war sehr verwunderlich: Fräulein Nina hatte nämlich bereits ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert, Florian erst den fünfundzwanzigsten. Jedoch Florian war auch nicht eben traurig – er war nur immer sehr ruhig und schwamm ohne jegliche Aufregung mit einem stets gleichmäßigen Tempo im Meere der Behaglichkeit dahin. Alle Aufregung, die von außen hätte an ihn gelangen können, nahm Fräulein Nina auf sich; sie liebte das, es war ihr Element. Sie ragte schützend wie ein Windfänger vor ihrem Neffen; kein widriges Lüftchen sollte ihn ansäuseln. Das Vermiethen und Ausmiethen, die Streitigkeiten mit den Miethparteien und Unannehmlichkeiten mit den Handwerkern, die Ueberwachung der Gas- und Wasserhähne, die Oberherrschaft über den Hausbesorger, die Verhandlungen mit dem Steueramt und allen anderen Aemtern, [272] dazu die ganze Hauswirthschaft – alles das war ihr Geschäft. Ebenso wenig kümmerte sich Florian um das Anlegen des Baargeldes, um Coupons oder Losrevision, um das Einkassieren und Bezahlen von Rechnungen, um Miethzins, um ordentliche oder außerordentliche Ausgaben. Das that alles Fräulein Nina. „Sagen Sie es der Tante!“ – „Fragen Sie doch einmal die Tante!“ Dies war alles, was man erreichte, wenn man doch einmal in irgend einer Angelegenheit an ihn selber gerieth.
Er saß zumeist in seiner Werkstatt, wo er abwechselnd arbeitete oder rauchte oder beides zugleich that. Er war Schildermaler und leistete in seinem Fache ganz Außerordentliches. Nicht als ob er sich sonderliche Mühe gegeben hätte – er hatte eben vom Vater und Großvater mit dem alten Geschäfte auch das scharfe Auge und die sichere Hand ererbt. Er besaß bereits vier Ausstellungsmedaillen, freilich ohne daß er sich recht klar darüber war, wie und wofür er sie erhalten hatte; Fräulein Nina hatte das aus eigene Faust vorbereitet, veranstaltet und besorgt. Indeß beschränkte sich seine Thätigkeit durchaus nicht auf die hundertfachen Schriftarten in allen Farben auf Holz, Wand, Blech, Stein mit Buchstaben von staunenswerther Plastik. Sie umfaßte außerdem Thierstücke, wie die Löwen der Seifensieder mit dem Kerzenbund in der Pranke, oder die grünen Tiger, blauen Adler, und goldenen Gänse, Lämmer, Rosse der Gasthausschilder, ferner Stillleben, worunter sich die gebratenen Gänse der kleinen Wirthsstuben im Judenviertel durch besonders appetitliche Naturtreue auszeichneten, aber auch Porträts, Genre- und Historienbilder aller Art auf den Kaufhäusern zum König von Honolulu, zum Milchmädchen, zum Napoleon bei Leipzig u. s. w.; endlich schön gelockte Herren- und Damenbrustbilder an den Friseurläden, und behaglich rauchende Türken in voller Figur an den Tabaktrafiken. Einen großartigen Eindruck machten seine übersichtlichen Kompositionen der tausend Geheimnisse eines Fragnerladens von den Frankfurter Würsten an bis zu der Schuhwichsschachtel, und ebenso jene eines Krämerladens von Kolonial- und Kurzwaaren mit dem rabenschwarzen Neger im Zuckerrohr als Mittelpunkt, den grünen Baumwollstrümpfen in einer, dem rosenrothen Mieder in der anderen Ecke. Man riß sich um seine Arbeiten, nicht nur um ihrer plastischen Darstellungsweise und ihres anlockenden Farbenzaubers willen, sondern auch schon deshalb, weil sie so schwer zu bekommen waren. Wie einst von Guido Rem Gemälde nur durch umständliche Intriguen von Kardinal-Legaten und Gesandten erlangt werden konnten, so mußte man sich hinter Fräulein Nina stecken, um überhaupt die Annahme einer Bestellung bei Florian durchzusetzen und – was noch weit größere Schwierigkeiten bot – in absehbarer Zeit die Ausführung des Bestellten zu erleben.
Florian war sehr gemächlich und arbeitete eigentlich bloß zu seiner Unterhaltung. Vermögen besaß er genug, um nicht dem Verdienst nachgehen zu müssen, und das Uebrige, die Lobpreisungen und Medaillen mit eingeschlossen, rührte ihn nicht im mindesten. Wenn er das Malen satt hatte, konnte ihn kein Mensch überreden, daß er es nicht satt habe; dazu kam noch, daß ihn eine schwere Menge anderer Beschäftigungen ernstlich in Anspruch nahm, eine krauser und wunderlicher als die andere. So verfertigte er aus Ruthen und Fichtenzapfen allerlei gänzlich unbrauchbare Tischchen, aus Rohrstäben und Draht byzantinische Paläste für seine Schnee- und Blaumeisen, aus den Schuppen der Tannenzapfen Renaissancekassetten; bei ihm sowie in den Zimmern der Tante lehnten und lagen allenthalben fragwürdige Erzeugnisse von Laubsäge-, Spritz-, Lack-, Holzschnitzarbeit herum, welche durch räthselhafte Form und Bestimmung sich in den Blick des Beschauers förmlich festhäkelten. Sobald er auch dessen satt war, machte er Musik auf einer Ziehharmonika – es war grauenhaft, aber ihm gefiel es, und da er diesen Genuß selbstsüchtig für sich allein aufsparte, so war dagegen im allgemeinen nichts weiter einzuwenden. Am Abend stellte er sich gern in die Hausthür, schlicht und zweckentsprechend in Hemdärmeln, wenn es eben warm war, rauchte seine Cigarre und zupfte von Zeit zu Zeit an dem goldenen Ohrring, welchen ihm Fräulein Nina bei einer leichten Augenröthung als Heil- und Schutzmittel aufgeredet und eigenhändig in das linke Ohr eingestochen hatte.
Nein, lustig war Florian ganz und gar nicht trotz seiner fünfundzwanzig Jahre, trotz seiner Gesundheit und riesigen Körperkraft, trotz seines ewig blauen wolkenlosen Daseins. Aber Fräulein Nina war auch zu klug, um zu glauben oder zu hoffen, daß sie in Jakobäa eine lustigere Gesellschaft finden würde. Sie war eben eine gute Seele, und das verwaiste arme brave Mädchen that ihr herzlich leid – darum nahm sie sich seiner an. Daß sie es so warm that, hing mit ihrer glühenden Leidenschaft für alles zusammen, was zu dem Theater in irgend welcher Beziehung stand. Sie kannte die Geschichte sämmtlicher Wiener Theater seit vierzig Jahren bis in die kleinsten Einzelnheiten sammt der Privatgeschichte einheimischer wie zu Gaste weilender Künstler mit deren Verwandtschaft in auf- und absteigender Linie, Finanzgebahrung, Repertoire, Koulissengeheimnisse, und selbst ein Logenmeister war ihr viel interessanter als ein Minister. Als einmal einige Tassen starken Nachmittagskaffees eine besonders vertrauliche Stimmung herbeigezaubert hatten, machte sie auch Jakobäa gegenüber leise Anspielungen, daß sie einst mit dem Theater selbst in ganz engen Beziehungen gestanden habe.
„Wie? Haben Sie selbst einmal gespielt?“ fragte Jakobäa neugierig.
„Wo denken Sie hin, Kind! Was hätte unser Vater zu so etwas gesagt? Nein aber … nun, Monsieur Demarre hatte ein Auge auf mich geworfen … er war Theaterfriseur. Er machte mir sehr den Hof, und ich hätte ihn auch geheiratet, wenn es der Vater zugelassen hätte. Ach, die schöne Zeit! “
Und dabei bedeckte sie plötzlich mit dem gestickten Taschentuch ihr Gesicht, welches bis in die schneeweißen Schläfenlöckchen hinein roth geworden war.
Nein, Jakobäa war ebenso wenig lustig wie Florian, oder sogar noch weniger, aber sie gehörte zum Theater! Sie mußte jetzt alle ihre Rollen vor Fräulein Nina einstudiren und hersagen, während diese ihren Strickbeutel neben sich liegen hatte und aufmerksam lauschend strickte oder auch das Buch in die Hand nahm, um den Souffleur abzugeben. Sie lachte und weinte, nickte und bebte, war außer sich vor Entsetzen oder zerschmolz in Rührung, sie klatschte Beifall – sie war im Theater. Dann ging sie mit Jakobäa in das wirkliche Theater, nicht um ein Uhr Mittags, sondern mit zwei vorher gekauften Karten um dreiviertel auf sieben Uhr, aber auf die billigsten Sitze, damit man sich den Genuß öfter gestatten könne. Dort saß die hagere große Gestalt mit ihren entschiedenen Hausherrnmanieren neben dem kleinen verzagten Figürchen Jakobäas, aber die vier Augen strahlten in der gleichen wunderlichen Verzückung.
Zu Florian blickte Jakobäa gleich von allem Anfang wie zu einem Götzen empor. Es war ein verehrungsstilles Bewundern, ein vergötterndes Abmessen seiner riesigen Gestalt mit den Augen, ein verzücktes Fragen des Blickes: „Wie ist es nur menschenmöglich, so herrlich groß zu sein?“ – und dann wieder das graue Schimmern des Auges. „Wie hast Du das nur angefangen? Und könnte denn nicht auch ich irgendwie … ?“ – Und mit dem eisernen Willen, der aus den Augen hervorstrahlte, ging sie jenem „irgendwie“ auch nach. So tauchte sie eines Tages im Ordinationszimmer des orthopädischen Institutes in Döbling auf. Aber man wußte nichts mit ihr anzufangen, sie war gerade und gut gewachsen, mithin kein geeignetes „Objekt“. Gleichwohl war der Gang nicht ohne Nutzen gewesen, sie hatte dort Streckbetten gesehen, Vorrichtungen, welche verkümmerte oder verkrümmte Gliedmaßen allmählich verlängern oder geraderichten sollen. Sie hatte sich deren Zweck und Anwendung erklären lassen und gedachte jetzt recht zu sparen, um sich ein solches Möbel kaufen zu können. Das war indeß ein wahrer Goldfund für Florian; er ließ den schönsten Trafiktürken stehen und verfertigte nach der eingehenden Beschreibung ein Streckbett, dessen Wandungen er mit allerlei räthselhaften und höchst unpraktischen Laubsägearbeiten aus dem Holz seiner Cigarrenkistchen verzierte. Das Ganze sah aus wie der Thron irgend eines noch sehr wilden Negerhäuptlings.
Darauf lag seitdem Jakobäa Stunden lang ausgestreckt, lesend, studirend, deklamirend. Im Konservatorium, während der Pausen zwischen den Lehrstunden reckte und streckte sich die kurze Gestalt in Uebungen, welche sie sich aus einem Handbuch für Freiturnen wohlüberdacht zusammengestellt hatte. Daheim aber hatte sie die üble Gewohnheit angenommen, die Finger so lange zu ziehen, bis die Gelenke knackten, und einmal sprach sie die Sehnsucht nach einer schweren Krankheit aus, weil sie öfters gehört hatte, daß Kranke im Bette ungewöhnlich wachsen. Aber es blieb beim Alten, sie wurde nicht größer, und Herr Haushuber überragte sie standhaft um das gleiche unmenschliche Stück; sie reichte bis an den Messingdrücker, er an den obern Rand der Hausthür.
[273]
[274] Deshalb mußte er sich auch jedesmal bücken, wenn er einen Hut aufhatte; darum ging er lieber baarhaupt hinab, wenn er Luft schöpfen und sich die Welt ein wenig ansehen wollte. Er füllte dabei die Hausthür auch in der Breite; nur ein schmales Lüftchen fand gerade Raum, sich demüthig rechts und links von den schneeweißen Hemdsärmeln in das Haus zu schleichen. Denn an Florian selbst fand es keine Arbeit, nicht einmal Locken gab es da zu durchwühlen; die röthlich blonden Haare waren ganz kurz geschoren und standen als unzählbare starre Stacheln himmelwärts. Alle Vorstellungen der Tante, welcher die idealen Kunstwerke des seligen Theaterfriseurs vor der Seele schwebten, waren vergeblich: das „Herumkämmen“ war ihm nun einmal zuwider. Der röthliche Schnurrbart wuchs als ein rechter Urwald in unverdrossener Ueppigkeit, die nie von der Kultur beleckt worden. Florian war nicht eitel, weder auf sein Aeußeres, noch auf seine Kunstfertigkeit, noch auf sein Vermögen, und dann – es fehlte ihm der bewegende Anstoß zur Eitelkeit: er kümmerte sich nicht um die Weiber. Sie erschienen ihm nach allem, was er als Unbeteiligter von ihnen gesehen hatte, recht eigentlich als Störenfriede jener sich selbst bestimmenden Ruhe und Behaglichkeit, in welcher er vergnüglich dahinlebte. Wäre einmal eine Frau im Hause, so bestimmte sie ihrerseits gleichfalls, oder vielleicht gar nur sie allein. Eine angenehme Häuslichkeit schuf ihm die Tante in untadeliger Weise – er bekam so bloß viele Annehmlichkeiten und nicht das Mißliche eines weiblichen Waltens zu kosten. Man sah ihn niemals Frauen besuchen, ansprechen, begleiten; das Tanzen nannte er lächelnd eine „Robot“, und das Hofmachen erschien ihm höchst absonderlich und als eine unerklärliche Schrulle. Sein Umgang beschränkte sich auf einige ehrsame Bürger der älteren Generation, mit denen er zuweilen am Abend in dem benachbarten Gasthause zusammenkam. Die Anderen redeten, er hörte zu und zupfte an seinem linken Ohrringe; dann ging man vor der Sperrstunde allerseits befriedigt heim.
Er war kraftstrotzend und mächtig in seiner Erscheinung, und Jakobäa sah in ehrfürchtiger Bewunderung zu ihm empor; andererseits dagegen war etwas Unkünstlerisches an ihm und etwas Kunstwidriges in ihm, und darauf sah Jakobäa wieder mit einem gewissen Mitleiden herab. Dieser klaffende Zwiespalt ihrer Gefühle gab ihrer Art, mit ihm umzugehen, etwas Gereiztes, Aufgeregtes, Sprunghaftes, wobei er mitunter ganz verwundert aufblickte und sich aus seiner stillen Cigarrenrauchdämmerung vorbeugte. Es zuckte durch Jakobäas getheilte Gemüthsregungen eine Art elektrischen Fluidums, das zu ihm hinübersprang und schwerfällige Bewegungen aus seinen Gliedern, ja sogar Worte von seinen Lippen löste. Fräulein Nina vermochte ihr Erstaunen kaum zu bemeistern, als Florian jetzt zuweilen ungefragt etwas sagte, ja als man sogar ganze Sätze von ihm zu hören bekam, ohne daß er es nothwendig hatte. Denn in solche Ungelegenheit hatte er sich nur bei außerordentlichen Anlässen gestürzt, und das hatte ihn jedesmal eine große und widrige Anstrengung gekostet.
Aber trotz dieser merkbaren Fortschritte in menschlicher Geselligkeit sah Jakobäa immer noch den Ring im linken Ohr nebst vielen anderen Dingen und hörte über den Flur die Gräueltöne der Ziehharmonika. Da machte sie einmal gemeinsam mit der Tante einen Sturm auf ihn, daß er mit ihnen in das Theater gehe. Jedoch der Sturm wurde abgeschlagen, er ging nun einmal überhaupt in kein Theater; man mußte vorher an eine regelrechte Belagerung schreiten, und erst mit Kriegslisten und unterirdischen Minen brachte man ihn endlich aus dem Hause. Aber fast noch mühsamer brachte man ihn dann nach Hause; er hatte trotz Goethes „Iphigenia“ und trotz der hinreißenden Darstellung der genialen Wolter so gut geschlummert und endlich so fest geschlafen, daß er nur mit Gewaltmitteln aufgeweckt werden konnte und ganz schlaftrunken heimtaumelte.
Auf diese Art also ging es nicht. Es mußten andere Mittel versucht werden.
Im Pestalozzistift.
Mein alter Freund, wie schwer bin ich betroffen! Mein ältester Sohn – Du kennst ihn ja – ist zu einem Taugenichts herangewachsen, der seine Eltern jeden Tag und jede Stunde auf das tiefste betrübt. Unsere Nachbarn, seine Lehrer, seine Mitschüler – alle beklagen sich über ihn. Und es sind nicht lose Streiche, welche man lebhaften Kindern ja stets nachzusehen pflegt, um die es sich hier handelt; mit tiefstem Schmerze muß ich es Dir gestehen: unser Sohn ist nicht wahr, er ist nicht – ehrlich! Wohin das führen soll, ich weiß es nicht; mit banger Besorgniß sehe ich der Zukunft entgegen!“
So schrieb mir – es sind jetzt gegen zwölf Jahre her – ein Leipziger Studienfreund, und ich erinnerte mich sofort des Schlingels, der damals im zehnten Lebensjahre stehen mochte. So jung noch und doch schon so verdorben! Ich konnte den Schmerz meines Freundes begreifen. Er ist nicht wahr, nicht ehrlich – welche inhaltsschweren Worte sind das, welche traurigen Aussichten eröffnen sie!
Und dennoch! Die trüben Besorgnisse meines Freundes sind nicht in Erfüllung gegangen. Vor einigen Wochen führte mich eine Reise nach Leipzig; ich suchte meinen alten Studiengenossen auf und fand zu meinem Erstaunen und meiner Freude seinen Sohn als einen ernsten Jungen Menschen wieder, der in einem angesehenen Handelshause den Vertrauensposten eines zweiten Buchhalters einnahm und sich ebenso der Achtung seiner Vorgesetzten wie seiner Kollegen erfreute.
„Ich begreife Deine Verwunderung,“ sagte mein Freund. „Kennst Du das Pestalozzistift? Dorthin habe ich meinen Jungen gegeben. Es war ein schwerer Entschluß; aber was half’s? Es mußte sein! Dort ist er fünf Jahre geblieben, und als er die Anstalt verließ, da war ein Anderer aus ihm geworden, ein Besserer, ein Mensch, der sich für das Leben brauchbar erwies.“
Das Pestalozzistift! Ich hörte den Namen nicht zum ersten Male, ich kannte auch die in prächtiger Gegend am Rosenthal belegenen Anstaltshäuser; aber von dem Geiste, der in diesen Häusern herrschte, wußte ich bis dahin nichts. Der Leiter und die Pfleger der Anstalt arbeiten mit außerordentlichem Geschick und mit edler Aufopferung an ihrer schönen Ausgabe, diejenigen Kinder, welche irrend sich der Zucht des Elternhauses und der Schule nicht mehr fügen wollten, heranzubilden zu arbeitsamen, ordentlichen, nützlichen Menschen; aber die Anstalt arbeitet im Stillen, sie begnügt sich mit dem Bewußtsein der erfüllten Pflicht und verlangt keinen anderen Lohn, als den, welcher ihnen durch ihre gebesserten Zöglinge selbst wird. So ist sie weiteren Kreisen fast unbekannt geblieben. Durch meinen Freund lernte ich sie kennen, und was ich bei meinem Besuche über dieselbe erfahren habe, das will ich hier kurz mittheilen zur Orientirung und Aufmunterung für opferfähige Menschenfreunde auch in anderen Städten! Wie sagt doch der Dichter? „Eine schöne Menschenseele finden ist Gewinn, ein höh’rer, sie, die schon verloren war, zu retten!“ Irrende Kinderseelen giebt es überall; so schaffe man auch überall die Gelegenheit, sie unter eine geeignete fürsorgende Leitung zu stellen und in die rechten Bahnen zurückzulenken!
Das Pestalozzistift in Leipzig ist, wie schon angedeutet, eine Erziehungsanstalt für solche Knaben, welche sich der Zucht des Elternhauses und der Schule nicht willig fügen wollen. Der hundertjährige Geburtstag des Altmeisters der Pädagogik, Pestalozzi, gab am 12. Januar 1846 Veranlassung zur Gründung der Anstalt. Im Jahre 1853 wurde die Anstalt eröffnet, die also jetzt bereits 35 Jahre besteht. Mehrere hundert Kinder, welche einer straffen Zucht bedürftig waren, sind ihr anvertraut worden, und mit Freuden darf konstatirt werden, daß der größte Theil der Zöglinge, welche im zehnten bis fünfzehnten Jahre stehen, nach seiner Entlassung die Bahn des Guten nicht wieder verlassen hat. Das Pestalozzistift ist kein Korrektionshaus, sondern eine christliche Erziehungsanstalt, die auf gesunder religiöser Grundlage die sittliche und geistige Hebung der ihr anvertrauten Zöglinge mit allen Kräften erstrebt. Die Einrichtungen der Anstalt entsprechen einem gut bürgerlich geordneten Haushalt. Das Leben der Zöglinge wird durch eine gewissenhaft durchgeführte Haus- und Lebensordnung geregelt. Der derzeitige Direktor Th. Demuth, der sich mit warmer Hingabe für die Anstalt aufopfert, bildet mit den Zöglingen, welche die Zahl 45 nicht übersteigen dürfen, eine große Familie, in der jedes einzelne Kind nach seiner Eigenart behandelt wird. Seine Mitarbeiter sind der Hausarzt, die Lehrer sowie zwei militärisch geschulte Gehilfen und ein Gärtner, dem die Sorge für den großen, prächtigen Anstaltsgarten obliegt. Die Zöglinge stehen im Sommer um 5 Uhr, im Winter um 6 Uhr auf, reinigen zunächst selbst ihre Kleidungsstücke und begeben sich dann nach dem Waschlokal, das einfach und sauber eingerichtet ist. Früh erhalten die Zöglinge eine Milchsuppe, da die Erfahrung gelehrt hat, daß diese dem jugendlichen Körper zuträglicher ist als der Kaffee. Nach einer kurzen Morgenandacht beginnt im Sommer um 7 Uhr, im Winter um 8 Uhr der Schulunterricht. Er wird in der Anstalt ertheilt und steht wie in den öffentlichen Schulen unter Kontrolle der Bezirksschulinspektion. Das Schulziel entspricht dem einer Bürgerschule; es erhalten aber auf Wunsch der Eltern Knaben, welche geistig besondere befähigt sind und einem höheren Berufe sich zuwenden sollen, auch Unterricht in fremden Sprachen. Vor allen Dingen soll erstrebt werden, dem Schüler eine genügende, möglichst abgeschlossene geistige Bildung zu geben, damit er mit dem fünfzehnten Lebensjahre befähigt ist, sich jedem Berufe auf gewerblichem oder kaufmännischem Gebiete zu widmen oder in den Bureaudienst einzutreten.
Punkt halb 1 Uhr findet im Speisesaal das gemeinschaftliche Mittagsessen statt, dessen Kost kräftig und reichlich bemessen wird. Die Nahrung entspricht allen hygienischen Anforderungen. Die Schlafsäle liegen gesund und werden gut ventilirt. Da das Institut an der Pleiße liegt, so ist im Sommer auch für das Baden im Flusse ein geräumiges Zellenbad angelegt, in welchem täglich unter Aussicht gebadet wird. Im Winter erhalten die Knaben täglich ein Wannenbad. Die Leibeskräfte werden außerdem durch turnerische Spiele geübt. So weit die Nachmittagsstunden nicht durch Schulunterricht in Anspruch genommen werden, betreiben die Knaben in dem schon erwähnten großen Institutsgarten die Gärtnerei.
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Der außerordentlich gute Gesundheitszustand der Zöglinge ist wohl
hauptsächlich dieser Beschäftigung im Freien zuzuschreiben. Ist doch
während der letzten 12 Jahre unter sämmtlichen Zöglingen nur ein einziger
Todesfall eingetreten, und schwere Krankheitsfälle waren ebenfalls
nicht zu verzeichnen.
Im Winterhalbjahr werden die Zöglinge während der schulfreien Zeit mit Schnitz- und Modellirarbeiten fleißig beschäftigt, und die „Weihnachtsausstellung“ giebt ein schönes Bild redlichen Fleißes und Strebens. Der Ton, welcher im Hause herrscht, ist derjenige, der in einer gesitteten deutschen Familie zu finden sein soll. Die Behandlung der Zöglinge ist ernst, aber nicht hart, und vor allem übt die Konsequenz ihre heilsame, erzieherische Wirkung. Die gesammten Einrichtungen der Anstalt haben es mit sich gebracht, daß die Knaben sich in wenigen Jahren fast durchgängig an Fleiß, Ordnungsliebe und Pünktlichkeit gewöhnt haben. –
Als ich bei meinem Besuche – es war an einem unfreundlichen Februartage – die Anstalt verließ, trat ich noch einen Augenblick in den Garten, und mein Blick fiel auf eine Gruppe von Knaben und streifte darüber hinaus aus die winterlichen Waldungen des Rosenthals. Wie traurig kalt und öde liegen diese jetzt, so mußte ich unwillkürlich denken – und welches frühlingsfrohe Knospen und Keimen, Entfalten und Blühen der sonnig durchleuchteten Waldespracht wird in wenigen Monden das Auge erfreuen! Ja, so ist es das ewige Gesetz der Natur, und dieses Gesetz ist trostreich auch bezüglich unserer verirrten Knaben weckt es doch die Hoffnung, daß auch ihnen noch ein Frühling Blühen und Gedeihen bringen kann.
Hans von Bülow und Anton Rubinstein. In den geistreichen Studien über Musik, welche Heinrich Ehrlich unter dem Titel „Aus allen Tonarten“ (Berlin, Brachvogel u. Ranft) veröffentlicht hat und in denen biographische Studien, humoristische Artikel, ästhetische Aufsätze sich ablösen, alle mit Kenntniß und treffender Schärfe abgefaßt, findet sich auch ein Vergleich zwischen den beiden genialsten Klavierspielern der Gegenwart. Rubinstein wird als ein echtes Kind der russischen Gesellschaft bezeichnet, Bülow als ein richtiger deutscher hyperidealistischer Künstler. Dieser, aus altadeliger Familie, hatte sich zuerst juristischen Studien gewidmet; Leidenschaft für Musik, glühende Verehrung Wagners bestimmten den Zwanzigjährigen, seine ausgezeichnete musikalische Begabung zum Lebensberufe auszubilden; mit eisernem Fleiße, mit unvergleichlicher Energie und Ausdauer erklomm er die Höhen einer in ihrer Art einzigen Meisterschaft. Seine Wiedergabe der letzten fünf Sonaten Beethovens, die er fast ohne Unterbrechung nach einander aus dem Gedächtnisse zu Gehör brachte, war nicht allein, wie die Beethoven-Abende Rubinsteins, eine erfreuliche Kraftäußerung mit einigen glänzenden Momenten, mit Wetterleuchten des Genies, sondern eine ganze hochkünstlerische Wiedergabe, eine wahrhafte Entsiegelung dieser sibyllinischen Bücher. Rubinstein, der Sohn sehr einfacher israelitischer moldauischer Bürgersleute, war schon als neunjähriges Wunderkind in Europa berühmt; fast mühelos wandelte er den Weg zur Meisterschaft; denn die Natur hat ihn mit den reichsten Gaben nach allen Richtungen hin ausgestattet, und trotz der Ungleichheiten in seinem Vortrage hat er die Bewunderung, ja das Entzücken selbst der strengeren Beurtheiler erregt, schon wegen des herrlichen, vollen, aller Färbungen fähigen Anschlags, des dämonischen Feuers, des Schwunges der Auffassung.
Bülow hat bekanntlich oft genug von sich sprechen gemacht durch seine Rücksichtslosigkeiten und oft sehr frappanten beißenden Bemerkungen, mit denen er gelegentlich selbst das Publikum seiner Konzerte nicht verschonte. Auch sein Kokettiren mit den Tschechen in Prag hat ihm geschadet. Ehrlich nimmt ihn in Schutz; er hebt, vielleicht im Hinblick auf diese Prager Vorgänge, mit besonderem Nachdruck hervor: Bülow ist ein Deutscher, ein schrullenhafter, aus allen Gleisen fahrender, manchmal bis zur Thorheit querköpfiger, aber echter Deutscher. Persönlichkeiten wie er können sich nur in Deutschland entwickeln. Bülow hat um seiner Interessen willen fast nie jemand angegriffen; doch wenn einer, den er hoch ehrte, nach seiner Ansicht nicht laut genug anerkannt oder gar beleidigt wurde, da schlug er um sich, ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht.
Wir bringen hier noch auszugsweise den Schluß der interessanten Parallele. „Das Verhalten Bülows und Rubinsteins bei ihrem öffentlichen Auftreten erschien mir immer wie ein psychologisches Räthsel. Rubinstein, der fast ohne künstlerische Vorbereitung spielt und sich ganz den momentanen Neigungen überläßt, sieht aus wie ein ganz in Musik Versunkener; nicht bloß das Auge der Frauen betrachtet diesen merkwürdigen Kopf und die poetisch ausdrucksvollen Züge mit Interesse; er behandelt manchmal die weihevollsten Werke der Tonkunst willkürlich unpoetisch, sieht aber begeistert aus. Bülow dagegen, der immer ganz ernsthaft mit weihevoller Sammlung an die Lösung seiner Aufgabe geht, blickt manchmal um sich und hinab ins Publikum, als dächte er gar nicht an die Musik und wollte mit irgend jemand Streit beginnen. Rubinstein ist ein vielseitiger, genialer, allgemein gefeierter Künstler; das große Publikum erträgt seine Fehler gern, selbst wo dieselben den wichtigsten höchsten Kunstgesetzen widersprechen, will sie gar nicht erörtert wissen. Bülow ist eine nicht so reiche, aber durchaus geistvolle tiefe Künstlernatur; alle seine Fehler sind die eines Mannes, der persönliche Beliebtheit nicht anstreben kann; wie hochkünstlerisch müssen nun seine Leistungen sein, auf welch künstlerisch sittlichem Boden müssen sie stehen, daß man seine Fehler ganz übersieht.“
Es bleibt erfreulich, daß auch nach dem Tode des großen Meisters Liszt noch zwei bedeutende Klavierspieler im Stande sind, die Begeisterung des Publikums für ihre Kunst und auch für das von Richard Wagner so gering geachtete Klavier wach zu halten. Auch fehlt es nicht an anderen gediegenen ältern Meistern und hochstrebenden Jüngern, welche diesem so leicht in die flache Alltagsdudelei versinkenden, so oft mißhandelten Instrument die höhere Weihe sichern.
Maienfest in Florenz. (Mit Illustration S. 265.) Unter allen
Völkerschaften Italiens rühmen sich die Florentiner, noch in unserer
nüchternen Zeit am meisten Sinn für Festfreude zu besitzen. Wie viel
mehr war dies in den schönen Tagen der Fall, wo die Menschheit sich
noch unbefangener an der Farbenpracht des bunten Lebens erfreute. Wie
ein Hauch von Poesie weht es uns aus den Schilderungen der alten
Florentiner Maienfeste entgegen. An einem solchen Maitag war es ja,
daß der neunjährige Dante seine Beatrice zum ersten Mal erblickte, und
aus dieser Begegnung entsprang ein neuer Quell der lautersten Dichtung,
der noch heute seine Wunderkraft bewahrt.
Der Brauch der Maienfeste hat sich in Toskana viele Jahrhunderte hindurch erhalten. Die jungen Landleute pflanzten vor der Thür der Geliebten den Maien (majo), der mit Kränzen, Orangen und Zuckerwerk behangen war, wie es noch heute in vielen Gegenden Deutschlands üblich ist, führten Tänze aus und sangen die bekannten Maienlieder, während die städtische Jugend beiderlei Geschlechts in festlichen Scharen mit Blumenkränzen im Haar und blühende Zweige in den Händen vor die Thore der Stadt zog, um durch Spiele und Aufzüge aller Art die Einkehr des holden Lenzmonats zu feiern, welcher der Jugend und der Liebe angehört.
Ein solches Spiel haben wir auf unserem Bilde vor Augen. Es ist ein Liebeshof, wo Amor das Scepter fuhrt. Auf dem alten Festplatz vor der Port’ alla Croce hat sich alles, was jung und schön ist, in Feierkleidung versammelt, zwischen Pfeilern und Bäumen schwanken schwere Blumengewinde nieder und lustig flattern die bunten Banner dazwischen. Der schöne Jüngling im Vordergrund, der auf dem reichgestickten Gewand das Wappen der alten Familie Rucellai trägt und also einem der edelsten florentinischen Geschlechter entstammt, überreicht der Lieblichsten von allen den Preis der Schönheit und Reinheit, die Lilie, die hier zugleich als Sinnbild der Stadt Florenz gedacht ist und somit eine doppelte Bedeutung gewinnt. Die lächelnden Gespielinnen scheinen der Wahl neidlos zuzustimmen, indeß Trompetengeschmetter weithin den Ruhm der schönsten Lilie des Arnothals verkündet.
Einmal möcht’ ich noch im Lenzeswehen
In der Kindheit holdem Garten stehen,
Zweige über mir, von Blüthen schwer,
Und, so weit die frohen Blicke gehen,
Blüthen, nichts als Blüthen um mich her!
Spielend möcht’ ich bunte Sträuße binden
Und mit Blumen mir die Stirn umwinden,
Noch von keiner Ahnung Hauch berührt,
Daß so bald die Blüthentage schwinden
Und des Lebens Pfad zum Tode führt!
Ein Damenklub. Unsere deutschen Frauen beklagen sich oft über die Herrenklubs, welche den Familienabenden Abbruch thun. Die Pariser Damen haben sich entschlossen, Revanche zu nehmen: sie wollen einen Damenklub begründen, in welchem ebenfalls Zeitungen gelesen, Schach, Karten und selbst Billard gespielt werden soll. Das Klublokal ist nur bei Tage geöffnet, während der Geschäftsstunden der Herren; am Abend verweilen die Damen am häuslichen Herd, wenn sie nicht etwa Konzerte, Theater und Bälle besuchen, worüber es natürlich in den Statuten des Klubs keine Bestimmungen giebt. Die Bedingungen der Aufnahme sind sehr streng. Damen, die so unvorsichtig waren, sich ins Gerede zu bringen verfallen der schwarzen Kugel. Diese „soliden“ Damenklubs können nur als ein neuer sozialer Auswuchs betrachtet werden, unter dem das Familienleben leiden muß, denn auf die Beleuchtung, ob Sonnenlicht oder Gaslicht, kann es bei diesen gesellschaftlichen Extratouren nicht ankommen; sie entziehen dem Hause auch „bei Tage“ die Hausfrau und
Mutter.
Ideale Lebensbilder. Unter diesem Titel hat die bekannte Schriftstellerin
und preisgekrönte Novellistin E. Rudorff eine Sammlung von
Dichtersprüchen als eine „Gabe für das Frauenherz“ veröffentlicht (Gotha,
Perthes). Liebe und Ehe bilden natürlich den Mittelpunkt der Sammlung,
aber sie enthält auch Abschnitte wie „Heimathliebe“ und „Edle
Schmerzen“. Die Auswahl ist eine geschmackvolle, es sind alle hervorragenden
neuen Dichter und besonders auch die Dichterinnen darin vertreten.
Ein Ferienheim in den Alpen. Der rühmlich bekannte und erst
gelegentlich seiner Konsultation bei der Krankheit des Deutschen Kronprinzen, jetzigen Kaisers Friedrich, neuerlich wieder oft genannte Wiener
Laryngologe Professor v. Schrötter hat kürzlich in der österreichischen
Kaiserstadt die sehr sympathisch aufgenommene Anregung gegeben zur Gründung
einer echt humanitären Institution, welche auch anderwärts – wohl in
allen Centren der Kulturländer – Nachahmung verdient. Diese Institution,
die Schaffung sogenannter „Ferienheims“ in den Alpen, die auch bereits,
Dank der raschen Betätigung zahlreicher Gönner dieser Idee, vollkommen
gesichert ist, wird es mittellosen in Wien domilicirenden Schülern der
Gymnasien ermöglichen, ihre sommerlichen Schulferien in der kräftigenden
harzhaltigen Luft der Alpen verbringen zu können. In eigens zu diesem
Zwecke umgestalteten oder neuerbauten Häusern – vorerst wurde ein solches
[276] „Heim“ ins Auge gefaßt – wird eine Anzahl kurbedürftiger Gymnasiasten, deren Mittel es nicht gestatten, im Sommer Erholung aus dem Lande zu suchen, untergebracht und vollständig in Pflege genommen werden. Die österreichische „Alpine Montan-Gesellschaft“, eine in den steirischen Alpen reichbegüterte industrielle Bergwerksunternehmung, hat der jungen Institution auch bereits in dem romantisch gelegenen Alpendörfchen Wildalpen für diesen edlen Zweck ein Haus zum Geschenk gemacht, das schon in den heurigen Sommerserien von einer bestimmten Anzahl erholungsbedürftiger unbemittelter Gymnasialschüler unter Aufsicht eines Pädagogen bezogen werden wird.
Hoffentlich wird dieser von echt humanem Geiste erfüllte Gedanke recht bald so viele Förderer gewinnen, daß schon in den nächsten Jahren eine immer größere Zahl leidender oder schwächlicher Studenten in diesen „Ferienheims“ Aufnahme finden kann.
Deutsches Unglück – deutsche Hilfe!
Der Kampf mit den Elementen ist ein Kriegszustand, und wie in diesem nicht bloß der Landstrich der Grenze, wo der Feind einbricht, die Vertheidigung fährt und die Last und Noth des Kampfes trägt, sondern der gesammte Staat mit seiner Kraft und Hilfe bereit steht – ebenso ist es im heutigen deutschen Reich der Fall beim Kampf gegen die zerstörenden Elemente: die Zeit des Bettelns um Wohlthätigkeit ist vorüber; im neuen Reiche ist für jedes deutsche Unglück – deutsche Hilfe aller Deutschen Pflicht!
Auf diesem Standpunkt der patriotischen Anschauung solcher Ereignisse stehen sicherlich alle Leser der „Gartenlaube“; sie haben diese höhere Anschauung öffentlicher Opferthätigkeit schon bewährt, ehe wir des öffentlichen deutschen Lebens froh sein konnten, und um so freudiger folgen sie ihr heute, wo nach schwerem gemeinsamen Kampf so Großes errungen ist, was das deutsche Herz erhebt und den einfachsten Mann im Volke mit dem Stolz erfüllt, ein Deutscher zu sein.
Dieser Stolz im Glück muß im Unglück erst recht seine Kraft bewähren, und er wird es thun, je mehr denn je zuvor.
Ein furchtbares Ereigniß aber ist es, das weite volkreiche Landstrecken unserer nördlichen Stromgebiete binnen wenigen Tagen und Nächten durch Ueberfluthung in Wasserwüsten verwandelt, Hab und Gut von Millionen Werth vernichtet und tausende von Menschen in augenblicklich wahrhaft entsetzliches Elend gebracht hat.
Elbe, Oder und Weichsel, drei Ströme, deren Anwohnerschaft sich gegen die Ueberschwemmungsgefahren derselben allezeit durch die schützenden Deiche und Dämme gesichert wußte, waren durch den überlangen und strengen Winter in den alten gewohnten Verhältnissen von Eis- und Wogenstärke beim Frühlingseisgang gestört, da, wo man seit Menschengedenken in den weiten Niederungen voll blühender Ortschaften, wenn der Thauwind durch das Land brauste, auf die Festigkeit der Stromufer vertrauend, ruhig schlafen konnte, weckte jetzt Kanonendonner und Sturmglockenläuten die Schläfer, als die Hochfluth die Dämme erschütterte oder sie gar schon durchbrochen hatte. Unmenschliches ist da erlebt worden im Arbeiten und Wagen, im Dulden und Ertragen – die Reihe der Schreckens- und Leidensbilder in den drei Stromgebieten malt keine Kunst aus, aber stehen bleiben sie im Gedächtniß von Geschlechtern, und den Bildern der Noth stellen in gleicher Zahl und Größe sich die Bilder des Edelmuthes, der Heldenthaten der Menschenliebe entgegen und erheben das Ganze zu einem bewunderndswerthen Spiegelbilde der deutschen Volksseele.
Diese Fluth trat überall sofort mit ihrer schreckensvollsten Gewalt auf. Wo wir ein Blatt mit einer solchen Schilderung finden, lesen wir’s mit zitterndem Herzen. Da liegt eine „Rostocker Zeitung“ vom 29. März vor mir mit einer Karte des Ueberschwemmungsgebiets von Dömitz und Boizenburg. Welche Summe von Elend umfassen da nur wenige Zeilen! Am Abend des 21. brachen die Elbdeiche bei Damnatz. In Hitzacker bei der Kirche konnte man hören, wie die Wassermassen sich landeinwärts drängten, den Bahnhof und auch die Stadt Dannenberg überflutheten und sich unter lautem Brüllen immer weiter wälzten bis Lüchow. Die Entfernung von Dannenberg bis Lüchow beträgt gut vier Meilen und sämmtliche zwischen beiden Orten liegende Dörfer stehen bis unter das Dach im Wasser. Beherzte Schiffer, die gewohnt sind, mit den Elementen zu ringen, suchten die Bedrängten mit Lebensmitteln zu versorgen. Es spottet jeder Beschreibung, in welchem Zustande die armen Menschen vorgefunden worden sind. Eine alte Frau wurde oben vom Heuboden heruntergeholt, während ihr Sohn in einer niedrigeren Kammer ertrunken war. Eine Frau ist mit ihrem kleinen Kinde auf einen Baum geklettert, mit der einen Hand hält sie sich fest, mit dem andern Arm hält sie ihr Kind umfaßt. Da naht Hilfe, aber der Arm erlahmt und das Kind ertrinkt, ehe die Hilfe zur Stelle ist. Im Dorfe Nebenstädt haben sich elf Personen an Flügeln und Kopf der Windmühle angeklammert und dort 24 Stunden ausharren müssen, ehe ihnen Hilfe gebracht werden konnte. – Das sind Einzelnheiten von einer Stelle aus, und so und oft noch weit schlimmer lautete von tausend Orten.
Die Summe der ganzen Verheerung in Norddeutschland ist noch nicht gezogen, aber es giebt wenigstens einen schwachen Begriff derselben, wenn man liest, daß allein an der Elbe, Weichsel und Nogat einhundertundfünfzig Ortschaften unter Wasser stehen; der Schaden wird dort allein, natürlich nur sehr im Ueberschlage, auf 30 Millionen geschätzt. Nach Wittenberge flüchteten über tausend Gerettete aus der Umgegend. Aus Elbing meldet der Telegraph: 77 Ortschaften, 12 Quadratmeilen Landes mit 30 000 Einwohnern unter Wasser! Auf wie viel Millionen wird man dort die Verluste zu schätzen haben! Aehnlich lauten die Nachrichten aus Marienburg, Lübeck, und im Feldaukessel sind 15, bei Dömitz ebenso viele und im ganzen dort 50 Ortschaften überfluthet – wiederum über 6000 Meuschen obdach- und nahrungslos – und Gott weiß, auf wie lange Zeit! Ja, selbst von den Nebenflüssen, wie aus den Niederungen der Warthe, kommt dieselbe Kunde. – Mitten im Elende erhebt es das Herz, wenn man an den zahllosen kühnen und aufopfernden Rettungsthaten die Wahrheit des Lobes erkennt, daß an jenen Stromgestaden „ein selbstbewußtes kräftiges Menschengeschlecht wohnt, dem Furcht und blasses Verzagen unbekannt sind“; – diesen Eigenschaften derselben verdanken Hunderte von Menschenleben ihre Rettung. Gleiche Anerkennung gebührt der militärischen Hilfsleistung. Alle, die zur Hilfe gegen das wilde Element geführt wurden, vor allem die von der Marine und die Pioniere, haben in diesem Kampfe für ihr Volk ihren edelsten Beruf erfüllt.
Und wenn nun wirklich die Thore zum Meere frei für die Ströme werden und die Fluthen bis an die alten Ufer zurücktreten, ist dann die Noth vorüber? – Alle Nachrichten beklagen das Gegentheil: hier geht, soweit die Fluth getobt, mit ihrem Ende die wahre Noth erst an.
Man mag sich’s noch so eifrig ausdenken, wie die Tausende von Obdachlosen in diesen Wochen gelebt haben und noch leben mögen, die Tausende, welche alle zufrieden mit den Früchten ihres Fleißes im sicheren gemüthlichen Heim mit ihren Lieben den Arbeiten des Frühlings entgegensahen, und von denen Hunderte, im Wohlstand aufgewachsen, nun bettelarm die Noth noch viel bitterer empfinden, – so ist dies Alles kaum ergreifender als der Anblick derer, welchen es möglich ist, bis zu ihren Heimstätten vorzudringen. Nur wenige Baulichkeiten sind noch ohne Gefahr zu betreten, und nun wiederholen sich häufig die Scenen vom Anfang der Fluth: damals mußte Unzähligen, die erst ihr Vieh aus den vollen Ställen retten wollten, mit Gewalt das eigene Leben gerettet werden, – und ebenso muß man jetzt die lebensgefährliche Heimkehr mit Gewalt unmöglich machen. Diesen von der Fluth Vertriebenen ist ja leichter zu helfen als den Bewohnern der einst so fruchtbaren und reichen Niederungen, aus welchen die Fluth nicht ablaufen kann, sondern durch hydraulische Kraftmittel über die Dämme hinüber in die Strombetten befördert werden muß. Wie viel Wasser wird in den drei Strömen ruhig dahinfluthen, ehe auf den Boden dieser Länderstrecken die Sonne wieder scheinen kann!
So weit unsere Erinnerungen zurückgehen, ist in Deutschland noch keine elementare Verwüstung erlebt worden, die so viel Menschenglück vernichtet, über so viele Tausende die fürchterlichsten Leiden und Entbehrungen des Augenblicks verhängt hätte! Es ist nicht möglich, daß diesem furchtbaren Elend gegenüber nicht jede Hand sich sofort zur Hilfe regt! Wer am Morgen seine Lieben um den Frühstückstisch versammlt, die Kinder, fröhlich dem weichen Bett einstiegen, sich des warmen Labsals freuen sieht, der denke an die Tausende von Familien, welche von Haus und Hof und Bett und Tisch vertrieben, vielfach sogar der Kleidung entbehrend dahin flüchten mußten, wo sie, oft zusammengedrängt in beschränkteste Räume, seit Wochen von der Barmherzigkeit ihrer Mitmenschen erhalten werden, – Greise und Kinder, Herr und Knecht, Frau und Magd – alle gleich bettelarm geworden! Dieses Bild vor Augen, bitten wir unsere lieben Leser und Freunde in Deutschland und in aller Welt, an den Opferstock des Vaterlandes zu treten. Steuere jeder sein Pflichttheil im Andenken und zum Dank für ein Liebes, das ihn beglückt oder das er verehrt, und sein deutscher Stolz wird ihm das Maß seines Opfers bestimmen, ob es der Heimath, ob es dem Vaterlande geweiht sei, ob es aus einfachster Menschenliebe in die Opferschale falle – immer wird Gott es segnen als „deutschen Unglücks – deutsche Hilfen!“
Die Redaktion der „Gartenlaube“ übernimmt den hiermit aufgestellten Opferstock; sie wird über die Eingänge, welche an die Expedition der „Gartenlaube“ in Leipzig zu richten sind, quittiren und dieselben den Sammelstellen übermitteln.
- ↑ Nach Ernst Scherenbergs Gedenkbuch für das deutsche Volk „Kaiser Wilhelm I“. (Leipzig, Ernst Keils Nachfolger.)