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Die Gartenlaube (1888)/Heft 5

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[69]
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Alle Rechte vorbehalten.
Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman von E. Marlitt. Vollendet von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Am andern Morgen wanderte Heinemann frühzeitig nach der Stadt. Neben ihm her trabte ein Dorfjunge mit einem Handwagen, den der alte Gärtner mit jungem Gemüse für seine Kunden beladen hatte; der Handelsgang nach der Stadt sollte möglichst ausgenutzt werden. Das Zinngeschirr freilich hatte zu Hause bleiben müssen und zum Ankauf neuer Vorhänge war die Erlaubniß auch entschieden verweigert worden. Nicht ohne Besorgniß sah Heinemann dann und wann nach dem Hause zurück,


Wiener Fasching: Wäschermädelball und „Im Gemüthlichen“. Originalzeichnung von W. Gause.

[70] bis das Baumgedränge keinen Durchblick mehr gestattete. Was er ärgerlich vorausgesagt hatte, war eingetroffen – Fräulein Lindenmeyer hatte Migräne; sie lag zu Bett und brauchte Hilfe und Pflege. Gern wäre er zu Hause geblieben; allein er hatte schon beim Morgengrauen das Gemüse abgeschnitten, und das mußte fortgeschafft werden.

Nun war seine junge Herrin allein; denn der oben in der Glockenstube zählte nicht. Mit der Feder in der Hand war er ja nie in der wirklichen Welt; da konnte alles um ihn her niederbrennen, wenn nur die Glockenstube stehen blieb und die Tinte nicht eintrocknete … Dieses Urtheil entsprang jedoch keineswegs irgend welcher Geringschätzung, im Gegentheil, Heinemann war voll Bewunderung; aber in seinen Augen war der gelehrte gnädige Herr Einer, für den man in gewöhnlichen Dingen denken und sorgen mußte, wie für das liebe, unschuldige Ding, die kleine Elisabeth auch.

Nun, er hatte sein Möglichstes gethan, um seiner jungen Herrin die Tageslast zu erleichtern. Er hatte die Ziegen gemolken, frische Eier aus den Hühnernestern genommen und Zuckererbsen zum Mittagessen gepflückt; kleingespaltenes Holz lag neben dem Herde, das Treppenhaus war sauber gefegt, und in Fräulein Lindenmeyer’s Eckstube stand die homöopathische Hausapotheke mit schriftlichen Anweisungen von seiner Hand – er verstehe sich aufs Kuriren wie kein Anderer, versicherte Fräulein Lindenmeyer immer. Wie er dann aber tagsüber nie die Thür im Gartenstaket einklinkte, geschweige denn verschloß, so hatte er es auch heute achtloser Weise unterlassen. Der am Staket placirte Kettenhund schlug ja pünktlich an, sobald sich die Thür von außen her in den Angeln rührte; und was hätte denn aus dem Garten entwischen sollen? Das Hühnervolk hauste hinter einem absperrenden Holzgitter und die Hauskatze bewerkstelligte ohnehin ihre Waldbesuche durch die Fensteröffnungen der Kirchenruine. An das Kind, die kleine Elisabeth, hatte der alte Mann nicht gedacht. Sie war zwar meist seine unzertrennliche Begleiterin im Garten; sie ging auf Tritt und Schritt mit ihm und plauderte unermüdlich, und während seine großen, schwieligen Hände rüstig arbeiteten, antwortete und erzählte er unverdrossen und rieb sich nur dann und wann an der Schürze die Erde von den Fingern, um dem Kinde den verschobenen Hut in die Stirn zu rücken oder der Puppe den bejammerten, aufgelösten Haarzopf mühselig wieder „zusammenzuwürgen“. Aber vor seinen Augen war das kleine Mädchen noch nie bis an die Thür gelaufen, und auch Claudine wußte, daß es sich vor dem Kettenhund fürchtete. Deshalb war sie unbesorgt ihren Hausgeschäften nachgegangen, während das Kind im Garten spielte. Sie hörte durch die offenen Fenster den Puppenwagen über den Kies rollen und mußte öfter lächeln über die Modulation der lieben Kinderstimme, je nachdem sie die Puppen ausschalt oder ihnen zärtliche Kosenamen gab.

So war es gegen Mittag geworden. Die Tageshitze stieg. Nur selten zog eine vereinzelt segelnde Wolke träge über die Sonnenscheibe hin und warf auf den Garten einen momentanen Schatten, wohlthuend und verdunkelnd, als ob ein riesiger Vogel seine Schwingen mitleidig über alle die hängenden und schmachtenden Blumenköpfchen breite.

Claudine trat an ein Fenster und rief nach dem Kinde; aber sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, so lautlos still war es draußen. Nur der Hund kroch mit rasselnder Kette aus seiner schwülen Hütte und sah mit gespitzten Ohren nach dem Fenster hinauf, wo gerufen wurde. Das Kind antwortete nicht, und auch sein helles Kleidchen war weder zwischen dem Gebüsch, noch in der Laube zu entdecken.

Noch kam kein beängstigender Gedanke in Claudinens Seele. Die Kleine stieg ja oft direkt vom Garten aus hinauf in die Glockenstube, um dem Papa ein paar Blumen oder das Schürzchen voll „wunderschöner Steinchen“ zu bringen. Claudine eilte hinauf; aber in dem kühlen und durch die zugezogenen grünen Gardinen verdunkelten Thurmgelaß saß ihr Bruder allein am nördlichen Fenster, so vertieft in seine Arbeit, daß er auf ihre Frage hin nur mit einem zerstreuten, aber liebevollen Blick aufsah, lächelnd den Kopf schüttelte und emsig weiter schrieb. Auch bei Fräulein Lindenmeyer war das Kind nicht, und nun flog die junge Dame angsterfüllt hinaus in den Garten.

In der Laube stand der Puppenwagen mit dem geliebten Wickelkind, das Wachsgesicht der Puppe mit der abgenommenen Kinderschürze fürsorglich zugedeckt; aber die kleine Pflegemutter war nicht da. Sie war auch nicht im Kreuzgangwinkel bei den Ziegen und Hühnern, nicht in der Kirchenruine, wo sie sich so gern auf dem grünen Rasenboden tummelte und Grasblumen suchte für die „armen Damen“, wie sie die gemeißelten Aebtissinnengestalten auf den vermoosten, jetzt an den Wänden lehnenden Grabsteinen nannte. Alles angstvolle Rufen und Suchen war vergeblich.

Da sah sie über die Staketenthür hinweg drüben auf der Chaussee eine rothglühende Päonie liegen, und jetzt wußte sie, daß das Kind, einen Strauß in der Hand, aus dem Garten gelaufen war. Ohne sich zu besinnen, eilte sie hinaus, die Chaussee entlang.

Oede, todtenstill streckte sich die weiße Weglinie vor ihr hin. Seit die Eisenschienen in ziemlicher Nähe vorüberliefen, war diese Verkehrsader fast ganz unterbunden; nur selten unterbrach Rädergeroll die Waldstille – ein Ueberfahren des Kindes war mithin nicht zu befürchten … Die Kleine mochte übrigens Heinemann’s Beete arg geplündert haben; jedenfalls konnte das Händchen die Blumen auf die Dauer nicht fassen, denn da und dort bezeichnete eine verstreute Nachtviole oder ein Jasminzweig den Weg, den sie genommen hatte.

Sie mußte schon seit geraumer Zeit ausmarschirt sein; wenigstens erschien Claudine die Strecke schier endlos, die sie bereits zurückgelegt hatte – Angstthränen füllten ihre Augen und das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Zuletzt fand sie den Hut des geliebten Puppenlenchen, und zwar nahe dem Dickicht, das die Fahrstraße begrenzte; ihr Puls stockte bei dem Gedanken, daß das Kind in den Wald eingedrungen sei und angstvoll umherirre, und schon wollte sie die Stimme zu lautem Rufen erheben, als Kindergeschwätz, in welches sich eine männliche Stimme mischte, zu ihr drang – es war da, wo die Chaussee eine so scharfe Biegung machte, daß sich der dichte Wald plötzlich wie eine Koulisse vorschob und jeden Ausblick wehrte. Unwillkürlich preßte sie die Hände gegen die fliegende Brust und horchte. Ja, das war Baron Lothar, der eben sprach, und das Kind war bei ihm und schon nach wenigen eilenden Schritten weiter thaten sich die grünen Wände wieder vor ihr auf und sie sah die Sprechenden herankommen.

Baron Lothar führte mit der Linken sein Pferd am Zügel, und auf dem rechten Arme trug er die kleine Entlaufene. Der runde Hut hing ihr im Nacken, und das dicke Blondhaar fiel wirr und tief in die Stirn und an den erhitzten Bäckchen herab. Sie mochte ihre Heldenthat bereits schwer, unter heißen Thränen, gebüßt haben; denn sie sah sehr verweint aus; aber ihr Lenchen hatte sie auch in ihrer Herzensangst und Rathlosigkeit nicht preisgegeben, sie hielt die Puppe krampfhaft fest an ihrer Brust.

Sie schrie auf, als sie die schöne Tante so plötzlich auf sich zukommen sah. „Ich wollte der Erdbeerdame Blümchen bringen und das dauerte so lange, ach, so lange! Und Lenchen hat ihren neuen Hut verloren, Tante!“ rief sie ihr entgegen und löste das linke Aermchen von ihres Trägers Nacken, als wolle sie schleunigst wieder unter den Schutz der Pflegerin flüchten; aber er hielt sie fest.

„Du bleibst jetzt bei mir, Kind!“ gebot er. Sie duckte sich wie ein erschrockenes Vögelchen und sah scheu in das bärtige Antlitz dicht neben dem ihren – der gebieterische Ton war ihr neu. „Das hast Du zu verantworten, kleine Ausreißerin!“ fuhr er zu dem Kinde fort, während sein Blick das tieferregte Gesicht, die thränenverschleierten Augen der schönen Hofdame ausdrucksvoll streifte. Sie stand nun vor ihnen und rang vergebens nach Athem und einem Wort des Dankes. – „Und nun möchtest Du mir auch noch schleunigst den Laufpaß geben und fragst nicht, ob die Arme da Dich auch tragen können? Denn laufen kannst Du ja absolut nicht mit Deinen todtmüden Beinchen! … Nein, nein, lassen Sie!“ wehrte er ab, als Claudine in der That die Arme hob, ihm die Bürde abzunehmen. „Ist’s doch kaum, als sei mir eine Grasmücke auf den Arm geflogen! Komm, Kindchen, gieb nur Deinen Arm wieder her und sieh mich nicht so scheu an – hast Dich ja vorhin auch nicht vor meinem Bart gefürchtet! – Sieh, wie brav mein Fuchs mit mir geht und sich führen läßt! … Und da ist ja wohl auch der unglückliche Hut, um den Du so bittere Thränen vergossen hast?“

[71] Die Kleine lachte glückselig auf, als Claudine das Hütchen auf den Puppenkopf drückte und es wieder festband.

Baron Lothar sah unverwandt auf die zwei schlanken Hände, die am Hofe vielbewunderten Hände, die in nächster Nähe vor seinen Augen hantierten. Ein breiter schwärzlicher Streifen zog sich um Daumen und Zeigefinger der Rechten.

„‚Rußflecken beschimpfen nicht‘, sagt mein alter Heinemann,“ stammelte sie, unter seinem Blick erröthend, und ließ schleunigst die Hände von der gebundenen Schleife sinken.

„Nein, sie beschimpfen nicht. Aber daß sie in der That vorhanden sind –! Wäre wirklich kein dienstbarer Geist im Eulenhaus zu finden, der Ihnen diese grobe Berührung ersparte?“ – Ein spöttisch ungläubiges Lächeln zuckte um seine Lippen. – „Muß nicht eine Zeit kommen, wo Sie die Erinnerung an diese Flecken dennoch wie einen Makel empfinden werden?“ Seine feurigen Augen wichen nicht von ihrem Gesicht.

Sie sah ihn mit stolzer Entrüstung an. „Hat Ihnen das Hofgeflüster auch zugeraunt, daß ich unwahr sei und zur Komödie neige?“ fragte sie bitterlächelnd zurück. „Soll ich Ihnen wirklich ausdrücklich die schmerzliche Thatsache bestätigen, daß mein Bruder, wenn auch als ehrlicher Mann – denn, Gott sei Dank, die Gläubiger sind befriedigt! – so doch bettelarm von Haus und Hof gegangen ist? – Wir können uns nicht mehr bedienen lassen, und daß dazu kein besonderer Aufwand von Entsagung gehört, das weiß ich jetzt … Diese Flecken“ – sie sah auf die geschwärzten Finger nieder – „lasse ich auch nur insofern als Makel gelten, als sie Zeugen meiner Ungeschicklichkeit sind. Aber auch das wird ja von Tag zu Tag besser.“ – Jetzt lächelte sie wieder mit ihrer sanften Heiterkeit: sah sie doch eine dunkle Gluth in sein Gesicht steigen; sie durfte ihn nicht noch strenger zurechtweisen, der ihren müden Liebling auf dem Arme trug –. „Ich werde mich bald nicht mehr zu schämen brauchen, und gestern Abend bei den verlachten Eierkuchen hätte ich getrost die strenge Beate zu Gaste laden dürfen“ –

„Ich bin überzeugt und leiste hiermit Abbitte!“ unterbrach er sie und neigte in sarkastischer Unterwürfigkeit tief sein Haupt. „Sie scheinen nicht bloß das Aschenbrödel, Sie sind es in Wirklichkeit … Ein Mann kann sich freilich schwer in eine solche Situation hineindenken; aber einen pikanten Reiz mag es schon haben, augenblicklich in der grauen Puppenhülle zu verschwinden, um später mit strahlenden Flügeln in Sonnenhöhe aufzusteigen.“

Sie preßte die Lippen auf einander und schwieg, weil sie wußte, daß sie sich vor ihrer eigenen Stimme entsetzen würde, wenn sie auch nur mit einem einzigen Worte ein Thema berührte, das sie tief verschwiegen in der Brust trug, und welches er immer wieder hartnäckig, mit einer Art von Verbissenheit aufnahm. Das ausdrucksvolle Mienenspiel seines kühnen, energischen Gesichts erregte sie wider Willen.

Sie trat seitwärts, um ihm den Weg freizugeben, und er schritt weiter. Sie gingen an der Schattenseite, unter überhängenden Buchenzweigen hin. Man hörte eine Zeit lang nur die Schritte des kräftig ausschreitenden Mannes und das Hufeklappern des geduldig nebenher gehenden Pferdes, bis die kleine Elisabeth das drückende Schweigen mit einem Schmeichelnamen für den „guten, braven Fuchs“ unterbrach.

„Es hat auch nicht die geringste Aehnlichkeit mit seiner brünetten, spanischen Mutter, dies kleine deutsche Blondchen,“ sagte Baron Lothar, während er in das reizende Kindergesicht sah, das sich an ihm vorüber nach dem Pferdekopf hinbog. „Sie hat die Altensteiner Augen. Wir haben in Neuhaus das Bild unserer Urgroßmutter, die bekanntlich eine Altensteiner gewesen ist. Ein so wilder Junge ich auch war und so wenig Interesse die steifen Portraits an den Wänden für mich hatten: vor jenem schönen großen Oelbild bin ich doch stets stehen geblieben, wenn unsere Staatszimmer oben einmal ausnahmsweise zugänglich waren. ‚Die Lilie des Thales‘ hat sie der damalige Herzog Ulrich genannt. Aber sie ist eine scheue Frau gewesen; sie ist nie wieder zu Hofe gegangen, seit ihr Seine Hoheit einmal allzu feurig die Hand geküßt hat.“

Wieder war es still und in das Knirschen des Steingerölles unter den Tritten der Dahinschreitenden mischte sich jetzt auch das Piepen und Zwitschern in einem Vogelnest über ihren Häuptern.

„Kleine Vögelchen sind auf dem Baume, ich weiß es; Heinemann hebt mich immer hoch und läßt mich in das Nest sehen,“ sagte die Kleine mit einem begehrlichen Blick nach oben.

Er lachte. „Das ist zu hoch, kleiner Schelm, da hinauf können wir nicht! Aber sieh, wie die blauen Augen auch funkeln können! – Ich glaube nicht, daß sich das sanfte Sternenlicht in den Augen meiner schönen Urgroßmutter je so verwandelt hat … Bei den Neuhäuser Gerolds ist der Frauenkopf mit dem aschblonden Lockenhaar nicht wieder aufgetaucht; keine der weiblichen Nachkommen hat das Gesicht geerbt, so viele Töchter auch in Neuhaus gefreit worden sind … Ich meinte deshalb immer, die Frau sei einzig in ihrer Art gewesen. Erst später, viel später überzeugte ich mich, daß jenes Gesicht Erbeigenthümlichkeit der Altensteiner sei – das war an unserem Hofe … Ich war mit dem Herzog auf der Jagd gewesen und wir kamen spät, gerade in dem Augenblick in den Salon der Herzogin-Mutter, als eine neue Hofdame an den Flügel trat, um ‚das Veilchen‘ von Mozart zu singen.“ – Er bog sich vor, um ihr in das Gesicht zu sehen. – „Sie erinnern sich selbstverständlich des Abends nicht –?“

Sie schüttelte mit einem lebhaften Erröthen den Kopf. „Nein. Ich habe ‚das Veilchen‘ so oft singen müssen, daß sich keine besondere Erinnerung für mich daran knüpft.“

Er hatte für einen Moment den Schritt angehalten; aber nun ging es in beschleunigtem Tempo wieder vorwärts. Für ein Künstlerauge wäre diese wandernde Gruppe auf der Waldfahrstraße ein anziehender Vorwurf zu dem Bild einer flüchtenden Familie gewesen. Der sein Pferd am Zügel führende schöne, tannenschlanke Mann, der das ermüdete Kind so sicher und mühelos auf dem Arme trug, und die weibliche Gestalt, die schwebenden Fußes neben ihm herschritt, das schlicht niederfallende Kleid um des rascheren Laufens willen halb geschürzt durch den Gürtel gezogen, und das üppige, aufschwellende Wellenhaar unbedeckt, so daß jeder durch das Buchengezweig schlüpfende Sonnenstrahl Goldlichter aus dem dunklen Blond lockte, – diese Zwei sahen aus, als gehörten sie zusammen und theilten Freud und Leid, wie Diejenigen, „die Gott zusammengefügt“.

Nicht lange mehr, da schimmerte das bunte Blumenfeld des Gartens durch das lichter werdende Unterholz, und das Gebell des Hundes klang herüber … Herrn von Gerold mochte doch nachträglich das plötzliche Erscheinen seiner Schwester in der Glockenstube und ihre hastige Frage nach dem Kinde nachdrücklicher zum Bewußtsein gekommen sein; er hatte wohl auch ihr ängstliches Rufen gehört und sich schließlich selbst aufgemacht, zu suchen. Denn er kam jetzt eilenden Schrittes daher, und zwischen den Eibenbäumen des Garteneinganges bog sich scheu ein mit Kompressen umwickelter Frauenkopf in der Nachtmütze – Fräulein Lindenmeyer hatte sich in ihrer Herzensangst selbstvergessen bis an die äußerste Grenze des Grundstückes gewagt; jetzt freilich rannte sie beim Erblicken der hohen, fremden Männergestalt wie besessen, mit fliegenden Röcken und das Shawltuch schleunigst über den Kopf geworfen, nach dem Hause zurück.

Noch vor wenigen Tagen würde Herr von Gerold an dem Neuhäuser fremd und unberührt von irgend einem verwandtschaftlichen Gefühl vorübergegangen sein, wie es ja auch auf der Universität stets geschehen; gestern aber hatte Baron Lothar seiner Schwester einen ritterlichen Dienst geleistet und heute trug er ihm sein vermißtes Kind entgegen. Er eilte deshalb mit dem Ausdruck warmen Dankes auf ihn zu, und nach einigen vorstellenden und erklärenden Worten von Seiten Claudinens schüttelten sich die beiden Männer herzlich die Hände … Und Baron Lothar machte durchaus keine Anstalten, das Pferd wieder zu besteigen und seines Weges zu reiten, nachdem Herr von Gerold ihm die Kleine abgenommen. Er schritt im Gespräch zwischen den Geschwistern weiter und weiter bis zur Gartenthür, und da nahm er Herrn von Gerold’s Einladung, näher zu treten und sich den interessanten Wachsfund anzusehen, ohne Zögern, als ganz selbstverständlich an. War er doch, wie er selbst sagte, heute geflissentlich dieses Weges geritten, um des Eulenhauses willen, das gestern einen eigenthümlichen Reiz für ihn gehabt habe.

Claudine eilte den Anderen voraus nach dem Hause. Auf der Thürschwelle wandte sie sich noch einmal zurück; sie mußte lächeln. Baron Lothar hatte von König Drosselbart und Aschenbrödel gesprochen, und war sie nicht in der That, wie im Märchen,

[72]

Rutschpartie.
Originalzeichnung von Fritz Bergen.

[73] 

WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [74] die heutige Wandlung? – Dort schritt er in schlichtem Rock und führte sein Pferd an Heinemann’s für den Handel gezogenen Blumen hin, ängstlich darauf achtend, daß die Hufe keines der nutzenbringenden Blüthenblättchen berührten, er, dessen ritterliche Gestalt sie bei Hofe zuletzt von einem Glanz umflossen gesehen, wie er nur selten einem Sterblichen zu Theil wird – und sie, das damalige sogenannte Hätschelkind der Herzogin-Mutter, das gleichsam wie auf Sammet gegangen war und von keinem rauhen Lüftchen angeweht werden durfte, sie eilte jetzt die dunklen ausgetretenen Steinstufen hinab, um eine der wenigen Flaschen Wein, die noch von der Großmama her im Kellerwinkel lagen, für ihn heraufzuholen …

Er führte sein Pferd in eine kühle, schattige Ecke der Kirchenruine und band es an einen starken Hollunderbaum, der sich da eingenistet hatte und sein dunkles Grün liebevoll über die entheiligten Mauern breitete; dann betrat er das Haus.

In den Wachskeller warf er nur einen flüchtigen Blick; man sah, die prosaische Hinterlassenschaft der Nonnen war es nicht, was ihm das Eulenhaus plötzlich in einem interessanten Lichte zeigte; er gestand auch ganz offen, daß er einen Blick von der weinumsponnenen Zinne des Zwischenbaues aus dem Einblick in das ehemalige hausbackene, auf den materiellen Gewinn gerichtete Thun und Treiben der gottgeweihten Jungfrauen weit vorziehe.

Claudine stellte deshalb ein Tischchen mit Flasche und Gläsern und einem frischen Blumenstrauß draußen neben die Glasthür, welche aus dem Wohnzimmer ins Freie führte. Da stand, hart an der Mauer des Zwischenbaues, der letzte Ausläufer einer ehemaligen Allee, eine uralte Steinlinde mit nahezu abgestorbener Krone. Der einzige Ast, in welchem noch der Saft fluthete, reckte sich über das Geländer herein; er aber strotzte von jungem, kräftigem Laub und bildete im Verein mit einem ausgespannten schmalen Zeltdach eine schattige Ecke. Man sah von da aus zwei schlanke, einsam in die Lüfte ragende Pfeiler, die letzten der herrlichen, die einst das Mittelschiff der Kirche getragen, und hinter ihnen wölbte sich ein scheibenloses Spitzbogenfenster in der östlichen Seitenmauer. Durch die anderen Fenster zwängte der im Lauf der Jahre dicht an das Gemäuer herangerückte Wald sein Geäst, und von seinem Boden herauf kroch luftiges Geranke, um diesseits über die Simse hinweg neugierig mit festhaftenden Füßchen in das verwüstete Gotteshaus hinabzuklettern. Die Pfeiler und der Fensterbogen dagegen umfaßten ein schmales, umdunkeltes Stück Waldwiese draußen, ein stilles, grünes Eiland, über welches das Wild sorglos hinwandelte.

Mit verschränkten Armen trat Baron Lothar an das Geländer und sah in die reizvolle Perspektive hinein.

„Auch deutscher Wald ist schön,“ sagte Herr von Gerold, der Vielgereiste, mit seiner milden, weichen Stimme neben ihm.

„Was?“ fuhr der Angeredete herum. „Auch? Ich sage, nur deutscher Wald ist schön! Was frage ich nach Palmen und Pinien, was nach der weichen Südluft, die mein Gesicht widerwärtig umschmeichelt, wie die Liebkosung einer ungewünschten Hand! – Ich habe mich krank gesehnt nach dem Thüringer Wald und seiner herben Luft, nach seinem tiefen Schatten und feuchten Gestrüpp, das sich trotzig gegen den Jäger wehrt – krank gesehnt nach dem Wintersturm, der feindlich durch die Aeste fährt, der mich hart anfaßt und meine Kraft herausfordert … Nein – und ich gestehe, selbst auf die Gefahr hin, daß ich mich damit zum Barbaren, zum deutschen Bären stempele, auch die Kunstschätze konnten mir mein Herzweh nicht überwinden helfen; denn ich verstehe sie nicht, verstehe sie so wenig, wie die Meisten der alljährlichen großen Völkerwanderung nach dem Süden, wenn sie auch verzückt thun und sich vor lauter Begeisterung nicht zu lassen wissen.“

Herr von Gerold lachte amüsirt auf; er kannte diese Laienheuchelei sattsam; Claudine aber, die eben den Wein in die Gläser goß, sagte mit einem Blick auf den am Geländer Stehenden: „Von der Musik verstehen Sie desto mehr.“

„Wer sagt Ihnen das?“ fragte er stirnrunzelnd. Er trat an den Tisch. „Meines Wissens habe ich mein Licht nie bei Hofe leuchten lassen. Haben Sie mich je in Gegenwart der Hofgesellschaft eine Klaviertaste berühren sehen? Aber sehen Sie,“ wandte er sich zu Herrn von Gerold, „weil ein dumpfes Gerücht umgeht, daß ich im stillen Kämmerlein meinen Göttern Bach und Beethoven opfere, so sucht man mich an dieser schwachen Stelle zu binden; nicht um meinetwillen – Gott behüte! Wäre mein Töchterchen nicht, so könnte ich getrost unter den Botokuden oder irgendwo leben, sie würden mich nicht holen; aber das Kind wollen sie in der Residenz haben, und deshalb möchte mich die Gnade Seiner Hoheit zum – Hoftheaterintendanten machen.“ Er lachte gezwungen auf. „Eine kostbare Idee! – Ich soll die Drähte der Scheinwelt von Brettern und Pappe in die Hand nehmen, soll Koulissen- und Theaterkanzleistaub schlucken, mich mit widerspenstigen Sängerinnen und Ballerinen herumschlagen und schließlich selbst Intriguant werden, um mich in der Intriguenfluth über Wasser zu halten – Gott soll mich bewahren! Lieber ziehe ich mich ganz nach Neuhaus oder auf mein Gut in Sachsen zurück, jage, säe und ernte, und gehe, wenn es sein muß, selbst hinter dem Pfluge her, dann kann ich mir wenigstens sagen, daß ich an Leib und Seele gesund bleibe.“

Er nahm eines der vollgeschenkten Gläser von der Platte, die Claudine ihm bot. „Nun, und Sie? Ich sehe nur zwei Gläser,“ sagte er zu ihr. „Bei Hofe haben Sie es stets außerordentlich geschickt zu vermeiden gewußt, Ihr Glas an das meine klingen zu lassen – ich begriff das, standen sich doch Montecchi und Capuletti gegenüber; aber heute ist das anders. Ich stehe als Ihr Gast hier, und wenn Sie mir auch nicht erlauben werden, auf Ihr spezielles Wohl zu trinken, so möchte ich Sie doch bitten, mit mir anzustoßen in Erinnerung an eine Frau, welche wir Beide lieben, auf das Wohl unserer verehrungswürdigen Herzogin-Mutter!“

Claudine beeilte sich, ein Glas zu holen, und gleich darauf scholl der Silberton der drei aneinanderklingenden Gläser hell über den Garten hin.

„Die alten Bäume mögen sich wundern,“ meinte Herr von Gerold frohgestimmt mit einem Blick nach den höchsten Eichenwipfeln, die schon mit angesehen, wie der rothe Flammenmantel das stolze Kloster der heiligen Walpurgis in königlichen Purpur gehüllt und den stattlichen, von Seide umrauschten Holzleib der Schutzpatronin als bleiche Asche zurückgelassen hatte. „Seit dem Bacchanal, das die Bilderstürmer bei den Weinfässern des brennenden Klosters gefeiert haben, ist wohl kein Gläserklang hier laut geworden. Aber er tönte so hell und rein, so glückverheißend, daß ich nochmals anstoßen möchte, und zwar auf Einen, den ich sehr verehre, wenn ich ihm auch persönlich stets fern gestanden. Er ist ein edler Mensch, ein eifriger Beschützer der Künste und Wissenschaften; er liebt die Poesie – unser Herzog, er lebe!“ In diesem Augenblick sprühte der goldene Rheinwein wie ein flimmernder Sonnenstrahl in weitem Bogen durch die Luft, und Baron Lothar’s Glas zerschellte drunten auf den Steinen.

„Ah Pardon, ich war sehr ungeschickt! Was für ein täppischer Patron bin ich doch!“ entschuldigte er sich mit einem sardonischen Lächeln. „Der alte Bursche da“ – er zeigte auf den Lindenast, an welchen sein Arm gestoßen, „ist noch gewaltig stramm, der weicht nicht aus. … Nun, Seine Hoheit wird auch ohne meinen Bescheid leben!“ – Er zog den Handschuh der Rechten straffer und griff nach seiner Reitgerte. „Ich habe die Gastfreundschaft schlecht gelohnt, meine sofortige Selbstverbannung soll die Sühne sein. … Ich wäre gern noch in diesem köstlichen Stillleben geblieben, und auch in die Glockenstube hätte ich einen Blick werfen mögen, aber das für ein ander Mal, wenn es gestattet ist. … Und nun komm her, kleine Landstreicherin.“ Er hob die kleine Elisabeth, die still auf einem Korbstühlchen am Geländer saß und mit großen Augen dem ungewohnten lauten Treiben auf der Plattform zusah, hoch zu sich empor und küßte sie. „Und da hinaus wird nicht wieder marschirt,“ – er zeigte mit strenger Miene hinunter nach dem Garteneingang. „Wenn Du die Erdbeerdame besuchen willst, dann lasse es mir sagen; ich hole Dich mit dem Wagen, so oft Du magst – hast Du mich verstanden?“

Sie nickte schweigend und scheuen Blickes und strebte, wieder auf den Boden zu kommen.

„War er böse, der Onkel?“ fragte sie ihren Papa, als er vom Garteneingang zurückkehrte, bis zu welchem er dem Fortreitenden das Geleit gegeben hatte.

„Nein, mein Kind, böse nicht, nur ein wenig wunderlich!“ antwortete er. „Das arme Glas und der edle Rheinwein!“ [75] Er sah bedauerlich lächelnd auf die Scherben hinab. „Und der arme, verlästerte Lindenast, der es wirklich nicht gethan hat!“ setzte er schalkhaft hinzu. „Aber sage doch, Claudine – war dieser Lothar nicht der ausgesprochene Liebling des Herzogs?“ fragte er seine Schwester, die still und ein wenig vorgebeugt am Geländer stand, als horche sie noch auf die längst verhallten Huftritte des „Fuchses“.

„Er ist es wohl noch,“ erwiederte sie mit weggewandtem Gesicht. „Du hörtest ja, daß man ihn an die Residenz zu fesseln sucht.“ Ihr Ton klang unsicher und um die nervös zuckenden Lippen irrte ein erzwungenes Lächeln, als sie an dem Bruder vorüber nach der Küche ging, um das Mittagsbrot fertig zu machen. Da, inmitten des Wohnzimmers, stand der bereits gedeckte Tisch mit seinen drei Kouverts. Nun ja, das waren altmodische verbogene Zinnteller, von welchen man aß. Die Großmama hatte bei der Uebersiedlung nach ihrem Wittwensitz alles Silbergeräth zurückgelassen – der große herrliche Silberschatz sollte nicht zersplittert werden – und nur ihr ererbtes altes englisches Zinn mitgenommen, „gerade recht und passend für eine einsam lebende Wittwe und ihre letzten paar Erdentage“, hatte sie gemeint. Und bei ihrem ziemlich schmalen Einkommen, auf welches sie sich angesichts der schwierigen pekuniären Verhältnisse ihres Enkels später selbst beschränkt, war es erst recht praktisch gewesen, unzerbrechliches Geschirr im Gebrauch zu haben. – Die Bestecke neben den Zinntellern hatten schwarze, abgenutzte Holzstiele, und zur Schonung des Tischtuches lag eine Wachstuchdecke inmitten des Tisches – alles schlicht bürgerlich und ängstlich sparsam, wenn auch von blinkender Sauberkeit.

Das hatte er im Vorübergehen gesehen, und es war gut so. Da konnte von keiner Komödie die Rede sein; der ganze Zuschnitt des Hauswesens bewies ein zielbewußtes „Sicheinleben“ in die gegebenen Verhältnisse – er mußte nun wissen, daß sie es ernst gemeint mit – ihrer Flucht.

(Fortsetzung folgt.)     


Karneval in Wien.
Von Ferdinand Groß.       Mit Illustrationen von W. Gause.


Gschnas- und Kostümball der Künstler.

Von allen Seiten singt es und klingt es; von rechts und links drängen die Tonfluthen auf uns ein, mit Sirenenstimmen lockend, daß wir untertauchen mögen in ihnen, untertauchen mit Leib und Seele, vergessen alles Weh und alles Schicksal, mit Sorglosigkeit entschlossen, die klingenden, hochgehenden Wellen über unseren im Takte sich bewegenden Häuptern zusammenschlagen zu lassen. Die Wiener Musik hat ihre großen leuchtenden Augen auf uns gerichtet, sie verlangt, daß wir tanzen; sie schlängelt sich in unsere Ohren und fährt uns dann in die Beine, und wenn wir ihr gebieten wollen, innezuhalten und uns nicht über den Ernst des Daseins hinwegzutäuschen, kichert sie und klappert mit ihren Schellen und stellt sich auf den Kopf und stimmt verführerische Weisen an, so süß, so selig, so gebieterisch, daß wir die Kniee beugen vor ihr und vor der Großmacht, deren Herold sie ist: vor unserem Fasching. Und die Walzer von Johann Strauß berücken uns mit ihrem berühmten Kunststückchen: aus wehmüthigen, von Herzeleid durchzitterten Anfängen die hinreißendsten Melodien emporzuzaubern, als hätten sie die Melancholie nur heraufbeschworen, um sie weidlich zu verspotten, um zu bekunden, daß die Wagschale, in welcher die Traurigkeit liegt, federleicht in die Höhe schnellt, wenn in die andere Wagschale ein paar Körnlein Faschingsfreude gestreut werden. Was die Zeit an Wien auch geändert hat, die Kaiserstadt an der Donau verliert ihre gute Laune nicht. Vorübergehend lernte sie das Hangen und Bangen in schwebender Pein wohl kennen, aber ihrer natürlichen Anlage entspricht es, schließlich immer wieder himmelhoch aufzujauchzen. Ein Lied, das unsere sogenannten „Volkssänger“ mit unfehlbarer Wirkung vorzutragen pflegen, endigt mit dem Schlußreim: „Alleweil munter! Der Wiener geht nit unter!“ Nein, der Wiener geht wirklich nicht unter, das heißt: in so fern man seinen Untergang darin erblickte, daß er sich durch Kriegsgefahr und Pestilenz, durch politische Enttäuschungen und geschäftliche Krisen etwa beirren ließe in der Neigung, die heiteren Seiten des Lebens mit Ueberzeugung zu genießen.

Im Laufe der Zeiten hat der Wiener Fasching manche Umgestaltung erlitten. Er müßte keine Schöpfung der Sterblichen sein, wenn er sich immer gleich bliebe. Im Vormärz, im alten Wien, spielte der Hausball, die Unterhaltung in der Familie, eine wichtige Rolle. Bescheidene Ansprüche und einfache Leistungen hielten einander das Gleichgewicht. Die Toiletten waren billig, die tanzenden jungen Leute zahlreich, und aus den Hausbällen heraus wurde viel geheirathet. Heute besitzt diese Art von Tanzfesten lange nicht mehr die Wichtigkeit wie früher; wir haben uns in weit höherem Grade an die Oeffentlichkeit gewöhnt, aber nur an eine beschränkte; denn wir gehen mit unserer Lustigkeit

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Wiener Fasching: Gestalten vom Lumpenball.

nicht auf die Straße hinaus wie Venedig, Rom oder Köln, wir machen unsere Vergnügungen innerhalb der vier Wände ab; nur haben diese sich erweitert: wir finden nicht mehr das naive Behagen an dem zu Tanzzwecken ausgeräumten Wohnzimmer; der große, prächtig ausgestattete, taghell erleuchtete Ballsaal ist uns ein Bedürfniß geworden. Ehemals gab der Wiener Fasching sich auch im Freien zu erkennen. Die letzte Spur solcher Regung ist mit dem öffentlichen Aufzuge verschwunden, der früher alljährlich in dem Vororte Ottakring zu Ehren des Karnevals in Scene gesetzt wurde. Auch sonst sind manche Verschiebungen eingetreten. Die Maskenbälle zeigen seit etwa zehn Jahren einen Verlust an Vornehmheit und an gesellschaftlicher Bedeutung; der Boden, auf welchem Frauen aus der guten Gesellschaft sich in Maske bewegen können, ohne sich etwas zu vergeben, ist im Vergleiche mit vergangenen Tagen erheblich enger geworden; er beschränkt sich derzeit auf das Operntheater, das zu solchem Zwecke für etliche Abende umgewandelt wird, und auf die kaiserlichen Redoutensäle.

Ein Umschwung ungünstiger Natur ist auch auf dem Gebiete der aristokratischen Bälle zu verzeichnen. Staatliche Verhältnisse brachten es mit sich, daß ein beträchtlicher Theil des Geburtsadels, dessen Tanzfeste einst zu den auserlesensten Einzelnheiten des Wiener Faschings zählten, Wien nicht mehr als seinen eigentlichen Wohnsitz ansieht, sondern sich in die verschiedenen Provinzialhauptstädte und auf ländliche Schlösser und Besitzungen zurückzieht. Der kaiserliche Hof ist ebenfalls stiller geworden.

So ließe sich noch an manchen Momenten erweisen, daß der Wiener Fasching nach dieser und jener Richtung an Lebhaftigkeit und allgemeiner Wirkung Einbuße erlitten; aber der unparteiische Karnevalsgeschichtschreiber wird andererseits feststellen müssen, daß unserem Karneval noch immer ein reiches Maß von Kraft und Fülle, von Witz und Temperament, von althergebrachter Eigenart innewohnt und daß er sich – wenn von seinen Zweigen auch allerlei Blätter abfallen – doch von Jahr zu Jahr verjüngt und am Dreikönigstage wie ein Phönix von seinem am Aschermittwoch vorher erfolgten Tode neu erwacht.

Die Maskenbälle, wie gesagt, sind nicht mehr, was sie waren. Die besuchtesten fanden früher im Diana- und Sofiensaale statt, zwei Badeanstalten, deren Bassins überdeckt wurden, um als Tanz- oder eigentlich Plauderboden zu dienen. Das Dianabad zieht es jetzt vor, auch im Winter Schwimmlustige zu empfangen, und nur das Sofienbad ist der Ueberlieferung treu geblieben. Aber hierher verirren elegante Masken sich nur in seltenen Exemplaren. Auf den Opernredouten, auf der jeudi-gras-Redoute (die fremdsprachige Bezeichnung ist gang und gäbe für Donnerstag vor Fasten geworden) und der Faschingsdienstagsredoute, welche in der kaiserlichen Burg stattfinden – das letztgenannte Fest verbunden mit der Ziehung der sogenannten Armenlotterie, welche einen Haupttreffer von tausend Dukaten bietet – auf diesen Bällen giebt es immerhin noch eine Menge geschmackvoller, feiner weiblicher Masken, und bei einer solchen Gelegenheit holte unser Zeichner W. Gause sich sein Modell, eine Wienerin, die sich in die Tracht des Direktoriums gesteckt und ihr Gesicht mit Hilfe der Halblarve zu einem reizenden Räthsel gestaltet hat. Das ist sicherlich eine Maske, die in den Ballsaal nicht bloß Hunger, sondern auch Geist mitbringt, vielleicht gar keinen Hunger und sehr viel Geist. Und wer weiß, ob sie – die Halblarve neckt uns, indem sie so wenig verräth – nicht auch zu einer der Gruppen zu ihrer Linken oder Rechten gehört, die von zwei Kostümfesten der bildenden Künstler stammen! Die eine Gruppe erinnert an die niederländische Kirmeß, die andere, deren Gestalten zumeist chinesisch gekleidet sind, an jene Nacht, als die Künstler die Parole ausgegeben, man möge bei ihnen in allen erdenklichen Nationaltrachten erscheinen.

Diese Künstlerfeste wechseln zwischen farbensatter Pracht und einem lachenden Uebermuthe, der geradezu Purzelbäume schlägt.

Ein Jahr gestattet das Programm die Entfaltung stilvollen Prunkes; das andere Jahr kommen Humor, Satire und Parodie an die Reihe. Herrschen die letzteren, so haben wir es mit einem „Gschnas“-Feste zu thun. „Gschnas“ heißt im Jargon unserer Künstler alles, was als Menschenwerk in komischer Weise den Schein von etwas annimmt, was es nicht ist: Seidenstoffe aus Papier, Metallrüstungen aus Kartoffeln, vorsündfluthliche Thiere aus Kistenbrettern u. dergl. m.

Unsere – sagen wir galanter Art: schöne – Unbekannte aus der Aera des Direktoriums besucht sicherlich auch Elitebälle. Diese geben dem Wiener Fasching einen wichtigen Beitrag zu seiner Physiognomie. Schier jeder Stand, jede Körperschaft hat einen Eliteball. Obenan steht derjenige der industriellen Gesellschaften, den traditionell der Kaiser mit den Erzherzogen besucht und auf dem bis vor einigen Jahren auch die Kaiserin erschien, und das Tanzfest des Journalisten- und Schriftstellervereins „Concordia“. An der Hochschule hat jede Fakultät, ausgenommen die theologische, ihren Abend; die Burschenschaften sondern sich zu Kränzchen ab, und wer mit alledem nicht genug hat, bekommt Gelegenheit zum Tanzen auf den Veranstaltungen unserer unzähligen Geselligkeitsvereine, welche sich sammt und sonders bemühen, uns das zu vertreiben, was uns Menschen ohnehin so karg zugemessen ist: die Zeit.

Unseren jungen Mädchen erscheint der Fasching niemals zu lang, niemals zu reich mit Bällen und Kränzchen besetzt. Braucht es erst gesagt zu werden, wie gerne in Wien getanzt wird? Die Wienerin, ob die geborene oder die akklimatisirte, bringt in den Ballsaal ebensoviel Anmuth wie Leidenschaft mit, und daß diese von jener gezügelt wird, hat eine schön abgewogene, [77] harmonische Wirkung zur Folge. Weiß auch unsere Maske derart zu tanzen? Wir setzen das als selbstverständlich voraus. Dagegen nehmen wir als ebenso sicher an, daß sie nur vom Hörensagen die Bälle kennt, welche dem Stifte des Künstlers Gestalten und Gruppen geliefert: den Wäschermädel-, den Fiaker- und den Lumpenball. Auf letzterem setzt Jeder sein Bestreben darein, so herabgekommen als möglich auszusehen. Wer sich dem Ideal der Zerlumptheit am meisten nähern kann, hat Hoffnung auf einen der ausgesetzten Preise. Die Entscheidung fällt ein Plebiscit: die Anwesenden geben mittels Stimmzettel ihre Meinung ab; es handelt sich also um ein fachmännisches Urtheil. Die grotesken Weiberfiguren, die dabei an Aufzügen teilnehmen, werden von verkleideten Männern dargestellt. Aber es erscheinen auch leibhaftige Frauen; trotzdem ist das Tanzen Nebensache, ein Tohuwabohu durcheinanderdrängender Gruppen belebt den Saal – und das Ganze wäre eigentlich für den Beobachter ein recht trauriges Vergnügen, wenn nicht das Erträgniß einem wohlthätigen Zwecke gelten würde. Aus dem bedeutenden Reingewinn werden im Winter Hunderte armer Kinder in ausgiebigem Maße beschenkt, und so mancher Junge hat es dem tollen Feste zu danken, daß er, vor Hunger und Kälte geschützt, die Schule besuchen kann. So legt sich der Abglanz der Menschenfreundlichkeit wie ein versöhnender Schimmer sogar auf den „Lumpenball.“

Von diesem machen wir einen Sprung zu den Gästen des Wäschermädelballs – unter ihnen fehlen nicht die „Deutschmeister“, auch „Edelknaben“ genannt, Soldaten vom Regimente „Hoch- und Deutschmeister“, urwüchsige Vertreter des unverfälschten, typischen Wienerthums – und so wie die Fiaker bei den Wäschermädeln nicht fehlen, so finden diese sich wieder bei den Fiakern ein. Ich möchte es nicht unternehmen, den Wiener Fiaker, über den schon so viel geschrieben wurde, wieder einmal zu entdecken. Nur nebenbei sei bemerkt, daß der Fiakerball sich noch ziemlich rein erhalten hat. Da sitzen wirklich die berühmten Kutscher und deren mit dicken Uhrketten und massiven Ringen geschmückte Gattinnen und die „Kavaliere“ – „Gaw’liere“ spricht der Fiaker aus – einträchtig beisammen. Die „Kavaliere“, das heißt die ständigen Fahrgäste der Zweispänner, zum Theile wirklich Männer von historischen Namen, behandeln ihre Lieblinge vom Kutschbocke kameradschaftlich; dagegen lassen die Fiaker sich nicht zweimal bitten sich im „Natursingen“ zu produciren, das heißt im Vortrage von Wiener Liedern derbkomischer Art, manchmal mit einem leisen sentimentalen Beigeschmacke.

Der Wäschermädelball wird von spekulativen Gastwirthen vielfach nachgemacht, und da keine gesetzlich geschützte Handelsmarke den echten kennzeichnet, gerathen Neugierige leicht in die Netze eines Unternehmers, der eine Imitation für das Urbild ausgiebt. Der Eingeweihte weiß den falschen vom echten zu unterscheiden. Dort treten so und so viel Mädchen in dem betreffenden Kostüme auf; hier hat man es wirklich mit jenen Wiener Wäschermädchen zu thun, deren Schönheit keine bloße Sage ist, und die namentlich durch die tadellos beschuhten, fein geformten Füßchen das Auge des Kenners entzücken.

Bei den Fiakern wie bei den Wäschermädchen spielen keine Orchester auf, sondern Terzette oder Quartette, welche ein eigenes Repertoire haben: halb von überschäumender Keckheit, halb von sinnlicher Schwärmerei. Einige dieser Terzette und Quartette machen ihre Sache meisterhaft und werden darum oft in Privathäuser bestellt. Für ihre Instrumente haben sie besondere Benennungen. Sie nennen die Violine „Raunzen“, die Guitarre „Klampfen“, das kleine Waldhorn „Posthörndel“ und die Ziehharmonika „Winsel“. Begleitet sie einmal ein Pianist, so figurirt das Klavier als „Wäschpracker“.

Die Musik, welche sie pflegen, trägt eine so ausgesprochene Lokalfarbe wie kaum irgend ein anderes künstlerisches Erzeugniß der Kaiserstadt an der Donau. Sie ist noch weit wienerischer als der Walzer von Strauß, der sich im Laufe von Jahrzehnten allüberall in der civilisirten Welt Bürgerrecht und eine von Beifall umrauschte, von zündender Wirkung getragene Geltung errungen hat. Während der Walzer ein Kosmopolit geworden ist, tönen uns hier Klänge entgegen, welche den unverfälschtesten Wiener Dialekt reden. Strauß spielt Tänze, die besagten Terzette und Quartette spielen Tanz (sprich: „Tahnz“ in der Einzahl wie in der Mehrzahl) – und ich müßte ein dickleibiges gelehrtes Kompendium, etwas streng Wissenschaftliches schreiben, um den Unterschied zwischen „Tänzen“ und „Tanz“ für den Nichtwiener klarzulegen. Zu den „Tänzen“ wird bloß getanzt, zu dem Tanz wird vom Publikum meist auch gesungen und im Takt mit den Händen geklatscht oder, wie es im Jargon heißt: „gepascht“.

Man dreht sich da mit entzückter Raserei bis in den hellen Tag hinein. Niemand kommt, um gesehen zu werden; Jeder und Jede will sich werkthätig unterhalten. Manche nicht eben salonfähige Bewegung mag mit unterlaufen. Beim Walzer schieben die Paare sich mehr, als sie sich drehen – sie tanzen den „Schieberischen“. An Grazie fehlt es aber auch den Tänzerinnen des Fiaker- und des Wäschermädelballes nicht; sie ist nicht sylphidenhaft genug für einen Eliteball, aber „fesch“ geht es da her, unbeschreiblich „fesch“, und nicht etwa, um mich damit zu brüsten, daß ich meine Dichter kenne, sondern weil es zur Sache gehört, citire ich aus einem der neueren Wiener Kouplets die paar Verse, welche – nicht nur für die unteren Schichten – während des Wiener Faschings in der Luft liegen:

     „Ja so a Weana Maderl[1]
     Hat an eig’nes Aderl
Für an Walzer, und den tanzt’s so gern,
Mit an wissen[2], sauber’n jungen Herrn,
Wia’s da g’wachsen san bei uns in Wean;
     Ja so a Weana Maderl
     Mit an sauber’n Kladerl,[3]
So a Bild zum Anschau’n is a Freud,
So was find’t ma’ net mehr weit und breit!“

Wiener Fasching: Maskenredoute in dem Sofiensaale.

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Amicitia.

Eine Schuljungengeschichte von Hans Arnold.

Die Doktorin Strecker saß mit ihrer erwachsenen Tochter im Wohnzimmer auf dem erhöhten Fensterplatz. Beide Damen waren mit Handarbeit beschäftigt und schwiegen schon eine geraume Zeit, um ihren Gedanken nachzuhängen. Die Söhne des Hauses waren noch in der Schule, was eine nervenberuhigende Stille zur Folge hatte, die im Bewußtsein ihrer kurzen Dauer mit Hochgenuß ausgekostet wurde.

Da klopfte es an die Thür, und Mine, das Dienstmädchen, trat mit einem schönen Blumenstrauß ein. „Eine Empfehlung von Herrn Grauberg an das Fräulein!“ sagte sie mit dem bescheiden schlauen Ausdruck, durch den unsere dienstbaren Geister uns nahe zu legen wünschen, daß sie alles, was bei der Herrschaft vorgeht, mindestens eben so gut wissen wie diese selbst.

Da „das Fräulein“ durchaus keine Miene machte, sich den Strauß anzueignen, vielmehr mit einem etwas schnippischen Gesichtchen noch einmal so schnell stichelte als vorhin, nahm die Mutter das Bouquett entgegen.

„Wir ließen herzlich danken!“ sagte sie sehr nachdrücklich, und Mine verschwand.

„Nun, Käthe – was sagst Du?“ fragte die Mutter nach einer Pause.

Käthe hob ihre feine Nase höher und sagte – nichts.

„Es ist doch sehr liebenswürdig von Herrn Grauberg,“ fuhr die Mutter gereizt fort.

Käthe zuckte die Achseln.

„Wozu hat er sein vieles Geld?“ meinte sie ungerührt.

„Nun, doch wohl nicht, um Dir Blumen zu schenken,“ bemerkte die Doktorin in scharfem Ton.

Käthe lachte: „Er scheint doch anderer Ansicht darüber zu sein!“ meinte sie übermüthig.

Die Mutter schüttelte den Kopf.

„Ich weiß gar nicht, was Du willst,“ sagte sie; „Herr Grauberg ist solch ein geachteter Mann, sage mir bloß, was für Einwände Du gegen ihn haben kannst!“

„Er ist fünfzig Jahr!“ bemerkte Käthe niederschmetternd.

„Fünfundvierzig!“ verbesserte die Mutter unwillig.

„Das kommt auf Eins heraus! – Er ist kleiner wie ich – er ist abscheulich häßlich, trägt buntkarrirte Shlipse – er ist sehr geizig – und er ist in jeder Beziehung ein kleines Gräuel,“ schloß Käthe ihre Verdammungsrede.

Die Mutter zuckte die Achseln. „Wenn Du Dein Urtheil über Menschen danach bestimmst, ob sie lang und groß sind, einen blonden Schnurrbart haben, schlechte Witze machen und Walzer tanzen können, dann bist Du eben noch viel kindischer, als ich gedacht habe,“ sagte sie ärgerlich.

„Bin ich auch,“ erwiederte Käthe kühn, in welcher die entschieden persönlich gefärbte Antwort der Mutter eine neue Erbitterung gegen Herrn Grauberg hervorgerufen hatte.

Herr Grauberg hielt sich einige Monate in der Stadt auf, um die Einrichtung einiger Fabriken zu studiren, die seiner heimischen Anstalt entsprachen. Er hatte Käthe’s Bekanntschaft auf einem Tanzfest gemacht und trotz der entschieden schlechten Behandlung, die ihm das Mädchen zu Theil werden ließ, sein von allen Müttern und einigen Töchtern der Stadt begehrtes Herz blindlings zu den Füßen dieser hochfahrenden jungen Dame niedergelegt.

Vielleicht war es der dem Menschen innewohnende Widerspruchsgeist, der den guten Mann trieb, nun gerade diejenige zu seiner Flamme zu erwählen, die fast als Einzige gegen seine Huldigungen und seinen wohl gefüllten Geldbeutel sich unempfindlich verhielt.

Wie viel zu Käthe’s ablehnendem Gefühl und Betragen die Anwesenheit des Forstreferendars Erloff beitrug, der auf einige Zeit beim Forstamt arbeitete und in der schmucken Uniform und mit seinem hübschen, fröhlichen Gesicht ein überall gern gesehner Gast war – dies zu verrathen, sind wir viel zu diskret!

In neuerer Zeit hatte Herr Grauberg angefangen, die Belagerung in beunruhigender Weise zu verschärfen – seine Shlipse wurden täglich bunter, und die heutige Uebersendung des Bouquetts konnte als officielle Eröffnung der Feindseligkeiten betrachtet werden

Die arme kleine Festung, der dies scharfe Geschütz galt, wurde nun noch dazu von der Mutter gänzlich isolirt – jede Andeutung, daß man es Herrn Erloff „doch schuldig sei“, ihn wieder einmal einzuladen, überhörte die Doktorin geflissentlich – und nur dem Umstand, daß ihre Freier sich beide fast überall einfanden, wo man gesellig zusammenkam, hatte Käthe es zu verdanken, daß sie den jungen Forstmann überhaupt hin und wieder sah.

Derartige gewitterschwüle Zustände in der Familie sind nie behaglich, und so kam es auch heute, daß der Doktor Strecker, als die Tischglocke die Seinigen zusammmenrief, eine merkliche Verstimmung vorfand.

Die beiden Jungen, Karl und Eduard, welche die Tertia und Quinta des Gymnasiums durch ihre Anwesenheit verschönten, merkten von dieser Verdüsterung des Horizonts natürlich nichts. Als Eduard mit besonders glücklicher Wahl des Gesprächsthemas die interessante Mittheilung machte. „Wie ich aus der Schule kam, ging Herr Erloff hier vor dem Hause auf und ab“, da nahm er die kurze Erwiederung der Mutter: „Sei still!“ nur für ein allgemeines Verbot und ahnte nicht, auf was für dünnem Eise er sich befand.

Karl, der schon vorgeschrittener in der Erkenntniß derartiger Verhältnisse war, versetzte ihm einen Puff unter dem Tisch und erhob dann seinerseits die Stimme, um das Gespräch zu beleben: „Vater, wir haben einen Verein gegründet!“

„So?“ erwiederte der Vater mit unheilverkündender Gleichgültigkeit, ohne sich im Zerlegen des Bratens zu unterbrechen.

„Jeder muß fünfzig Pfennig Eintrittsgeld zahlen,“ fuhr Karl fort.

Der Vater schien diesen zarten Wink nicht zu verstehen.

„Ich auch!“ bemerkte Karl mit erhobener Stimme.

„Bitte!“ erwiederte der Doktor kühl, „thue Deinen Gefühlen keinen Zwang an!“

Karl, der zu den glücklichen Naturen gehörte, denen der Besitz von Geld ein körperliches Unbehagen verursacht, und die nicht eher ruhen, als bis sie es für etwas absolut Ueberflüssiges wieder ausgegeben haben, wand sich in Qualen. Er sollte heut Nachmittag die geforderte Summe in die Schule mitbringen oder vom „Verein“ ausgeschlossen und somit zur social unmöglichen Persönlichkeit werden. Schielende Flehblicke nach der Mutter thaten heut auch keine Wirkung; sie war übler Laune wegen Herrn Grauberg und sah und hörte nichts.

„Was ist denn das für ein Verein?“ fragte der Doktor nach einer Pause.

„Er heißt Amicitia,“ bemerkte Karl ausweichend.

„Und was kann er außerdem?“ examinirte der Vater.

Karl war etwas verlegen, da die höheren Zwecke der Verbindung den Mitgliedern selbst erst zum geringsten Theil klar waren.

„Das wird alles erst,“ sagte er; „wir haben es uns heut Morgen ausgedacht! German, Roth und ich sind Vorsitzende – das heißt, wenn ich fünfzig Pfennig mitbringe!“

„Wer ist denn noch dabei?“ fragte die Mutter.

Karl lächelte schuldbewußt.

„Niemand!“ sagte er mit einigem Erröthen, welches sich bei der allgemeinen Heiterkeit, die dieser Verein von lauter Vorsitzenden erregte, fast bis zu Thränen steigerte.

„Na, da will ich heut noch einmal Gnade für Recht ergehn lassen und Dir das Eintrittsgeld schenken,“ sagte der Doktor, „obwohl es mir unfaßlich ist, wo Dein Taschengeld geblieben sein kann – wir haben ja erst den Zwölften.“

Karl enthielt sich wohlweislich jeder Entgegnung und bat unmittelbar nach Empfang des Geldes um Erlaubnis, sich den Freuden der Tafel heut zeitiger entziehen zu dürfen. „Der Verein trifft sich schon um dreiviertel vor der Schule – die Statuten sollen festgestellt werden,“ meinte er.

Von diesem Tage an nahm der Verein Amicitia Karl’s Seele ganz in Besitz, und die Familie wurde mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen. Die Verbindung schien zunächst nach dem Princip der Bettelorden begründet und erforderte beständige Zwangsanleihen zu geheimnisvollen Anschaffungen, die in Gestalt [79] von Nickel- und Silbermünzen den Eltern erpreßt, aber einem dunkeln Gerücht zufolge auch in Eßwaaren entgegen genommen wurden. Ja, man sagt sogar, daß die Amicitia sich einmal gegen eine Düte Pfeffernüsse nicht ganz ablehnend verhalten habe – aber es wird so viel geredet – man muß auch nicht alles glauben!

Käthe galt von der ersten Stunde an als Schutzpatronin und Huldin des Vereins, der meistens in Karl’s Stube tagte. Sie hatte den Mitgliedern Ordensabzeichen gestickt, die quer über die Weste getragen wurden und Uhrketten heuchelten – sie hatte zur Einweihungsfeier fünf Pfannkuchen geschenkt, an denen sogar Eduard participirte, der sonst seines zarten Alters wegen von den Freuden und Ehren des Bundes ausgeschlossen war, und sie nannte die Mitglieder ausnahmslos „Sie“, was für dieselben noch den Reiz der Neuheit hatte.

Was Wunder, wenn sämmtliche Genossen der Amicitia ein mehr oder weniger still glimmendes Flämmchen für das reizende Mädchen in ihren Herzen entzündeten und Karl als glücklicher Besitzer dieser Schwester noch eine weit angesehnere Lebensstellung im Verein einnahm, als ihm ohnedies zu Theil geworden wäre.

Als er nun vollends durch einige geheimnißvolle Andeutungen Käthe als von den Werbungen Herrn Grauberg’s bedroht dargestellt hatte, flammte die Begeisterung der Jungen hell auf, und es wurde eine Extrasitzung anberaumt, in der man gegen „das Scheusal“, wie der beklagenswerthe Freier officiell in der Bundessprache genannt wurde, Maßregeln zu ergreifen beschloß, die vorläufig in sehr unklaren, aber fürchterlichen Racheschwüren gipfelten.

Wissenschaftliche Bestrebungen blieben übrigens auch durchaus nicht ausgeschlossen in der Verbidung. Nachdem die Freuden einer Elektrisirmaschine ausgekostet und sämmtliche Mitglieder des Haushaltes bis zur Köchin herab sich als willige und unwillige Opfer den damit angestellten Experimenten hatten unterwerfen müssen, begann man der Chemie seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Furchtbare Elixire wurden gebraut, die dem Erfinder Unsterblichkeit verhießen, wenn er je einen leidenden Nächsten dazu bewegen konnte, sie einzunehmen, was zum Wohl der Menschheit nie gelang. Eine selbst fabricirte Salonrakete, von der Karl die feierliche Versicherung abgab, daß sie gänzlich ungefährlich sei, wurde dann im Wohnzimmer zur Probe losgelassen, wo sie leider so unfreundlich war, doch zu platzen und sich noch dazu als höchst ungeeignete Lokalität dafür den netten Sommermantel der Mutter ersah, in dem sie ein faustgroßes Loch hinterließ. Die schwer gereizte Besitzerin vergaß angesichts dieses Unfalls jede Achtung vor dem heranwachsenden Geschlecht und verhieß sämmtlichen Angehörigen des Vereins ein paar Ohrfeigen, wenn sie je wieder eine Rakete ins Haus brächten.

Einen Zündstoff anderer Art aus der Nähe zu entfernen, hatte die vorsorgliche Mutter aber leider verabsäumt, und so konnte es geschehen, daß Eduard als kindlicher postillon d’amour mit einem unsäglich mühsam zusammengequälten Akrostichon auf Käthe betraut wurde und dasselbe auch richtig an seine Adresse brachte. Von dem Verfasser, dessen Namen wir aus Zartgefühl verschweigen wollen, auf wörtliche Wiedergabe des Urtheils der Angesungenen vereidet, mußte der Kleine die etwas rauhen Worte wählen: „Sie hat gesagt, ‚er ist wohl verrückt?‘“ was aber den anspruchslosen Dichter immer noch zu der gewiß bescheidenen Aeußerung veranlaßte: „Es ist doch etwas!

Käthe hielt sich übrigens von da an eine Zeit lang fern von der Amicitia, bis der dichtende Sünder ihr feierlich gelobt, so etwas nie wieder zu thun, worauf sie ihm „noch einmal“ verzieh und sogar beim Lesen mit vertheilten Rollen diejenige der Thekla im „Wallenstein“ übernahm, zu deren Darstellung ihre Mitwirkung als unerläßlich gefordert wurde. Daß der zu ihr gehörende Max gerade in dem mehr für niedere Komik geeigneten Stadium sich befand, wo die Stimme zwischen piepsender Kindlichkeit und brummendem Baß ohne mildernden Uebergang hin und her schwankt, nahm den Liebesscenen viel von ihrem gefährlichen Zauber, da die allgemeine Heiterkeit immer wieder die Oberhand gewann, was den armen Max recht kränkte.

Daß die Poesie überhaupt in einem so absolut jugendlichen Kreise ihr Recht forderte, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Der Verein bestand denn auch noch nicht acht Tage, als sich das unabweisbare Bedürfniß geltend machte, ein litterarisches Organ für die Amicitia zu gründen.

Roth galt in der Klasse für riesig „genial“ und hatte sogar einmal eine Ballade verfaßt, welche die ergreifenden Worte enthielt:

„Und als die rothe Sonne sah
Wohl durch der Wolken Herzen,
Da lag der Ritter Bodo da
Und fühlte keine Schmerzen.“

In dieser fraglos beneidenswerthen Situation war der Ritter Bodo denn bis heute verblieben, ohne daß die Ballade einen Schluß bekommen hätte. Eben so bruchstückweise endete ein kritisirender Aufsatz über „Faust“. Derselbe enthielt in einem ungeheuer dicken, eigens zu dem Zwecke angefertigten Heft nur die bedeutungsschweren Worte: „Faust ist eine Tragödie in – Akten.“ Weiter ging es nicht, da Roth in der seligen Trägheit der großen Ferien es zu mühsam gefunden hatte, sich von der Aktzahl des zu besprechenden Dramas zu überzeugen, worauf denn das große Unternehmen an diesem kleinen Uebelstande Schiffbruch litt.

Aber der Verein Amicitia sollte dem Dichterberuf Roth’s zur Blüthe verhelfen, und die jungen Herren gründeten ein Blatt „Das Epheukränzchen“, welches unsere schwächlich gewordene Gegenwartslitteratur auf die Füße zu stellen bestimmt war. Die erste Nummer des „Epheukränzchens“ war bereits im Manuskript fertig gestellt und enthielt außer einem Aufsatz über die wunderbare geistige Befähigung eines Karl gehörigen Dompfaffen, der „klüger als ein Mensch“ war, ein Gedicht an das „Scheusal“ mit dem reizvollen Anfang: „Weh Dir, weh Dir, dreimal wehe!“ – Karl begab sich mit dieser Nummer zum Vater, um diesen als ersten und, wie zu hoffen stand, folgenschweren Abonnenten zu gewinnen, legte ihm das Probeheft vor und bat um seine freundliche Kundschaft.

Der Vater las prüfend und sagte dann etwas absprechend: „Das scheint mir allerdings der größte Blödsinn zu sein!“ fragte aber dann doch nach dem Preise der Vierteljahrsschrift.

„Monatlich zehn Pfennig,“ erwiederte Karl hoffnungsvoll glühend und streckte die Hand aus.

„Monatlich?“ wiederholte der Vater gedehnt, „nein, lieber Junge, das ist mir zu theuer!“

Und als Karl noch in seines Nichts durchbohrendem Gefühle stehen blieb, fügte der Doktor mit nicht mißzuverstehender Geradheit hinzu:

„Mir scheint überhaupt, als wenn Euer Verein in erster Linie dazu verpflichtete, daß die Schularbeiten niemals zu rechter Zeit fertig werden; ich will auf das ‚Epheukränzchen‘ abonniren, wenn Du Primus bist“ – ein Ausspruch, der den Eintritt des Vaters in den Leserkreis allerdings ungefähr in das Bereich des Fabelhaften verwies.

Ich muß es leider gestehen, daß Karl durch die Weigerung seines ersten Abonnenten derartig gekränkt wurde, daß er in Thränen ausbrach, was ihm, wie er der tröstenden Mutter zuschwor, seit Quinta nicht mehr passirt wäre.

Die Mutter und Käthe abonnirten – Käthe sogar auf zwei Exemplare, da sie von dem Haß der Amicitia gegen Herrn Grauberg gehört und sich ihr dadurch moralisch verpflichtet fühlte.

Herr Grauberg handelte allerdings sehr unklug – er hätte den Verein längst auf seine Seite bringen oder doch wenigstens zu passivem Verhalten veranlassen können! Aber er reizte die Tertianer durch eine Geringachtung, welche schlimme Folgen haben mußte. Erstens erwiederte er den Gruß der Mitglieder nur durch einen nachlässigen Griff an den Hut, ohne ihn vom Kopf zu ziehen – eine „Pöbelhaftigkeit“, die man ihm nicht durchgehen lassen konnte.

„Dem Kerl muß eben einfach Auffassung beigebracht werden,“ bemerkte German, der in der Verbindung die Rolle des Weltmannes vertrat und Karl mit einer Disciplinarstrafe hatte belegen wollen, weil dieser auf mütterlichen Wunsch neulich ein Brot hatte holen und höchst eigenhändig nach Hause tragen müssen, was German zu dem bedauerlichen Vorgehen des „Schneidens“ gegen ihn, ein sonst hochgeachtetes Vereinsmitglied, gezwungen hatte. –

Auf ausgegebene Parole wurde also Herr Grauberg von der Amicitia nicht gegrüßt, was er mit bewundernswürdiger [80] Seelenstärke – von den jungen Herren „Dickfelligkeit“ genannt – trug und nur in so fern überhaupt seiner Beachtung würdigte, als er bei einer Begegnung en masse sich bei Karl erkundigte, ob er etwa Sperlinge unter der Mütze habe. Das überlegene Lächeln, mit dem German das „Scheusal“ bei diesen Worten ansah, erweckte ihm die höchste Werthschätzung seiner Genossen, indem es Herrn Grauberg entschieden zum „Hereingefallenen“ stempelte. Aber diese „Frechheit“ gab das Zeichen zum Angriff, und von nun an wurde der arme Grauberg der Zielpunkt einer wahren Unzahl von Schuljungenstreichen, die mit solcher Schlauheit und Gewandtheit ausgeführt wurden, daß die wahren Urheber stets unentdeckt, ja selbst unbeargwöhnt blieben.

Es sollte in der nächsten Woche zur Gedächtnißfeier des Sedantages eine Festlichkeit im Ressourcengarten stattfinden, an der sich, des patriotischen Gedankens wegen, auch die Schulknaben betheiligen durften.

Ein Koncert am Nachmittag mit sich daran schließendem Tanz stand auf dem Vergnügungsprogramm, und Herr Grauberg hatte Käthe bereits um den ersten Tanz ersucht, den sie so gern – ach so gern! anderweitig vergeben hätte.

Da aber die herzlose Mutter ihre ausweichende Erwiederung auf Herrn Grauberg’s Frage, ob sie noch unversagt sei, durch ein „ich wüßte doch wirklich nicht, an wen Du Dich solltest versagt haben!“ vernichtete, so mußte Käthe darauf gefaßt sein, an der Hand des unbeliebten Freiers die Polonaise durch die vielfach verschlungenen Gänge des Gartens zu machen, und konnte es gewärtigen, daß Herr Grauberg diese Zeit des Alleinseins zu dem unangenehmen Anerbieten benützte, seine Schicksale zu theilen.

Die Sache wurde noch verwickelter dadurch, daß Erloff sie heute, am Tage vor dem Feste, getroffen und um den ersten Tanz ersucht, was sie mit Hinweis aus Herrn Grauberg hatte ablehnten müssen.

Erloff warf hierauf ein paar düstere Bemerkungen über „die Macht des Geldes“ hin, und Käthe fühlte sich dadurch zu der unvorsichtigen Aeußerung bewogen: „Sie wissen eben gar nicht, wie mir zu Muthe ist,“ was die Sachlage einen bedenklich großen Schritt näher an die unvermeidliche Explosion der Liebeserklärung brachte.

Käthe vertraute sich in ihrer Herzensnoth dem Bruder an: „Ich möchte so sehr ungern mit Herrn Grauberg Polonaise tanzen, Karl,“ sagte sie, mit Thränen in den Augen.

Karl lächelte.

„Laß das nur sein – wir werden schon dafür sorgen, daß der schofele Patron abblitzt!“ sagte er mit überlegener Siegesgewißheit.

Die Amicitia wurde noch früh vor der Schule in fliegender Eile zusammenberufen und eine Besprechung verabredet, die bereits im Voraus eine betrübende Zerstreutheit beim Extemporale zur Folge hatte und den Lehrer zu Bezeichnungen seiner Untergebenen hinriß, die man sich „eigentlich“ in Tertia nicht mehr braucht gefallen zu lassen, obwohl ein Esel an und für sich ein ganz nützliches Thier ist. Mehr will ich nicht sagen.

Da das Sedanfest die zarte Rücksicht nahm, an einem Mittwoch stattzufinden, so war der Nachmittag frei, und die Amicitia konnte vor dem Beginn der Feier tagen. Diesmal wurde sogar Eduard zugezogen, der neulich unter täuschendem „Wau wau“ Herrn Grauberg im dunklen Flur ins Bein gezwickt und sich dadurch zum Freiwilligen in diesem Feldzuge beurkundet hatte.

Im Gegensatz zu den kleinen Plänkeleien, durch die man bisher seine Gesinnungen an den Tag gelegt hatte, galt es heute, einen größeren Schlag zu führen; Herr Grauberg mußte auf irgend eine Weise schwer geschädigt und an der Ausführung der Polonaise gehindert werden.

Nach einigen flüchtigen Vorschlägen von Fuchseisen und Selbstschüssen – von Bestreichen der Treppe mit Oel, wurde zuerst der eben so erheiternde wie anmuthige Gedanke, dem „Scheusal“ mittelst Brennglases ein Loch auf den Rücken seines Festgewandes zu brennen, mit Akklamation aufgenommen, dann aber von German als „kindisch“ verworfen.

German hegte eine gerechtfertigte Abneigung gegen diese Form des geselligen Scherzes, da er vor mehreren Jahren einmal seinen kleinen Bruder in Gemeinschaft mit mehreren Freunden per Brennglas verwundet und dann durch die Gabe eines Pfennigs beschwichtigt hatte. Der Kleine machte aber dessen ungeachtet die schluchzende Meldung: „Sie haben mir angebrannt und haben mir diesen Thaler geschenkt!“ ein Verfahren, das nicht nur die Klage der Körperverletzung, sondern auch der Uebervortheilung durch Vorspiegelung falscher Thatsachen hervorrief und eine düstere Episode in German’s Leben bezeichnete, bei der, späteren Berichten nach, ein „armsdicker“ Stock thätig mitgewirkt hatte.

Darum konnte es ihm Niemand verdenken, wenn er sich zu einem Vorschlage ablehnend verhielt, der ihm so unangenehme Erinnerungen erweckte.

Nach einer langen und erregten Debatte, die bei besonders scharf ausgeprägten Meinungsverschiedenheiten sogar hin und wieder in Tätlichkeiten auszuarten drohte, wurde ein Entschluß gefaßt, mit lebhaftem Beifall begrüßt und unverzüglich ins Werk gesetzt.

Roth wohnte in unmittelbarster Nachbarschaft des bedrohten Herrn Grauberg und war somit in der Lage, die werthvollsten Nachrichten über das Feld der Thätigkeit zu geben.


(Fortsetzung folgt.)




Die Familie Orleans.
Von K. Th. Heigel.


Das deutsche Volk wurde in neuester Zeit wiederholt durch Zeitungsnachrichten von feindseligen Umtrieben der Orleans beunruhigt. Wenn auch der Beweis dafür noch nicht, wenigstens dem Publikum noch nicht erbracht wurde, daß die berüchtigte Fälschung diplomatischer Urkunden einem Mitgliede dieses Hauses zur Last fällt, dürfte es doch an der Zeit und von Nutzen sein, über die Geschichte der Vielgenannten sich zu unterrichten.

Da keine Familie völlig mit ihrer „Tradition“ zu brechen vermag, wird die Vergangenheit den gegenwärtigen Gliedern als Richtschnur, uns als Fingerzeig, vielleicht als Warnung dienen.

Ein Umstand sichert den Orleans von vorneherein Ansehen und Wichtigkeit: weitverzweigt, besitzen sie ungeheure Reichtümer. Ich will nicht behaupten, daß Macht in allen Fällen Geld ist; aber jedenfalls ist Geld ist civilisirten Staaten Macht.

Ludwig Philipp, der Bürgerkönig, minder freundlich auch der Barrikadenkönig genannt, verstand es trefflich, bei den altehrwürdigen Herrscherhäusern sich in Gunst zu setzen, trotzdem er seine Thronerhebung einer Revolution verdankte. Vater von fünf Söhnen und drei Töchtern, erreichte er für seine sämmtlichen Kinder Verbindungen mit legitimen Höfen. Für seinen ältesten Sohn Ferdinand, Herzog von Orleans, erhielt er die Hand einer durch Gaben des Geistes und des Herzens ausgezeichneten deutschen Prinzessin, Helene von Mecklenburg. Der Erstgeborene aus dieser Ehe ist Ludwig Philipp Albert, Graf von Paris, vermählt mit Infantin Isabella von Spanien. Derselbe ist heute das Haupt der Familie. Für die Orleanisten ist er Philipp VII., der rechtmäßige König der Franzosen.

Der Bruder dieses Fürsten, Robert, Herzog von Chartres, unbestritten der ritterlichste unter den lebenden Orleans, hat viele Freunde in der Armee.

Der zweite Sohn des Bürgerkönigs, der Herzog von Nemours, freite ebenfalls eine Deutsche, Viktoria, Prinzessin von Sachsen-Koburg, die dem Gatten einen großen Theil des gewaltigen Kohary’schen Vermögens zubrachte. Die zwei Söhne und zwei Töchter aus dieser Ehe traten wieder mit europäischen Fürstenhöfen in Familienverbindung.

Der dritte Sohn Ludwig Philipp’s, der Prinz von Joinville, vermählte sich mit der Tochter des Kaisers von Brasilien, deren Mitgift denjenigen der Schwägerinnen sicherlich nicht nachstand.

Der reichste jedoch von Ludwig Philipp’s Söhnen wurde sein vierter, der Herzog von Aumale. Er erbte die 30 Millionen

[81] 

Der erste Ball.
Originalzeichnung von G. Franz.

[82] des letzten Herzogs von Condé. Dieser war im Jahre 1830 im Schloß St. Leu unter räthselhaften Umständen erhängt aufgefunden worden; sein Testament setzte nicht die nächsten Verwandten, die Rohans, sondern sein Pathenkind, den Herzog von Aumale, zum Erben ein. Der von den Rohans angestrengte Proceß ging verloren; doch die Feinde der Orleans verharrten bei der Behauptung, daß Ludwig Philipp und sein Rathgeber Talleyrand die 30 Millionen „erschlichen“ hätten.

Heute ist Aumale der „Gelehrte“ in der Familie; der palmengestickte Frack des Akademikers schmückt ihn. In jüngeren Jahren, als sein Vater noch lebte, hatte er sich als Generalgouverneur von Algier in den Kämpfen mit den Beduinen als tapferer Soldat bewährt. Bei seinem Ruhm, bei seinem Reichthum würde er unter allen Brüdern wohl die besten Aussichten gehabt haben, die Krone des Vaters zurückzuerlangen; allein da die beiden Söhne, die ihm seine Gattin, eine Tochter des neapolitanischen Königshauses, geboren hatte, in jugendlichem Alter starben, zog sich der Herzog vom politischen Schauplatz zurück und lebt nur noch seinen Studien.

Der jüngste Sohn Ludwig Philipp’s, der Herzog von Montpensier, wurde der Gatte Luisa Fernanda’s, der Schwester der Königin Isabella von Spanien. Die Heirath sollte den Anfall Spaniens an das Haus Orleans vorbereiten. Aber obschon der Herzog seinem Ziele mehr als einmal nahe schien, erreicht hat er es heute noch nicht.

Wie bei der Brautwahl für die Söhne, so läßt sich auch bei der Verheirathung der Töchter die Familienpolitik Ludwig Philipp’s erkennen. Luise wurde die Gattin des ersten Königs der Belgier, Leopold von Koburg, dessen Enkelin Stephanie seit 1881 dem Kronprinzen von Oesterreich vermählt ist; Marie heirathete einen Herzog von Württemberg, Clementine einen Herzog von Koburg. Der Sohn der letzteren ist der jetzt vielbesprochene Fürst von Bulgarien.

Dies ist die Familie, dies sind ihre Verbindungen. Das Stammgut, die Schätze der Herzoge von Penthièvre, wurden um so und so viele fürstliche Vermögen vermehrt. Man kann ohne Uebertreibung sagen, daß diesem Hause zur Erfüllung ehrgeiziger Wünsche unermeßliche Hilfsmittel zu Gebote stehen. Zu welchen Wünschen halten sie sich nun kraft ihrer Ueberlieferungen für berechtigt?

Ueber die Familie Orleans sind namentlich in Frankreich sehr viele Bücher geschrieben worden. Es läßt sich aber davon sagen: so viel Bücher, so viel Meinungen.

Während Tournois sogar einen Philipp Egalité als „großmüthigen und edeldenkenden Märtyrer der Freiheit“ feiert, stellt Montjoie denselben Mann, die „interessanteste Persönlichkeit der Familie“, als entmenschten Caliban der Revolution an den Pranger; während Laurentie’s Geschichte des Hauses wie eine furchtbare Anklageakte gegen den Orleanismus sich liest, Dumas Vater über den pfahlbürgerlichen, geizigen Ludwig Philipp mit dem Birnenkopf sich weidlich lustig macht, und vollends in Cretineau’s Geschichte des Julikönigthums die Vorfahren des Bürgerkönigs sammt und sonders als feige Giftmischer und ehrsüchtige Hochverräther erscheinen, kurzum, so ziemlich alle Napoleonisten, Republikaner und Legitimisten unter den Historikern in wildester Leidenschaftlichkeit gegen „die Pest der französischen Nation“ sich überbieten, schreiben getreue Diener des Hauses wie Montalivet im Lobe der ganzen Sippe wie der einzelnen Glieder ihre Feder stumpf. Mit der Lebhaftigkeit der Franzosen und ihrem blind ergebenen Eifer für die Partei scheint der ruhige, streng sachliche Vortrag des Geschichtsforschers unverträglich zu sein. Suchen wir den ebenso Vergötterten, wie Verlästerten gerecht zu werden!

Seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts pflegten die Könige von Frankreich ihren Söhnen den Titel eines Herzogs von Orleans beizulegen – ein Brauch, der mit Erinnerungen aus der Merovingerzeit in Zusammenhang gebracht wird. Wiederholt erregten Herzoge von Orleans, von ehrgeizigen Absichten geleitet, Thronstreitigkeiten und Bürgerkrieg. „Die Herzoge von Orleans,“ erklärt Cretineau, „mochten sie den Häusern Valois, Angoulème oder Bourbon angehören, waren zu allen Zeiten verdächtige Unterthanen, durch den Orleanismus ist die Revolution gezeugt, durch den Orleanismus ist sie bis heute am Leben erhalten worden.“

Der Stammvater der noch gegenwärtig so weitverzweigten Familie ist Philipp von Orleans, der zweite Sohn Ludwig’s XIII., der Bruder Ludwig’s XIV. Es wird behauptet, derselbe habe auf Mazarin’s Anordnung eine ähnliche Erziehung wie Achilles am Hof von Skyros erhalten, damit der Prinz, unwissend und verweichlicht, dem königlichen Bruder nicht gefährlich werde, und auch der König selbst soll die Talente des Jüngeren mit Absicht und Methode niedergehalten haben – „le secret du Roy“ nennt es der Abbé Choisy. „Frankreich hat schon zu viel durch den Ehrgeiz nachgeborener Prinzen gelitten; sie sollen gehorchen lernen; diese Kenntniß allein ist ihnen notwendig.“ Wenn solche Hoffnungen wirklich gehegt wurden – der erwachsene Philipp entsprach ihnen. Nicht Kriegsdienst, nicht Staatskunst zogen ihn an; und er fühlte sich eine Stütze der „Gesellschaft“; die Triumphe im Empfangssaal und Damenzimmer waren sein Ehrgeiz. Auf Befehl des Königs bestieg er auch einmal das Schlachtroß; man ließ ihn ein paar Städte einnehmen und eine Schlacht gewinnen; dann mußte er alsbald wieder an den Hof zurück und mit Anmuth und Würde nichtsthun.

Als er sich 1661 mit Henriette, der Tochter des unglücklichen Karl Stuart, vermählte, wurde ihm das Palais Royal, das einst Kardinal Richelieu für sich erbaut und in seinem Testament der Krone Frankreichs vermacht hatte, als Wohnsitz angewiesen. Schon wenige Jahre später wurde dort die Leiche der jungen Herzogin aufgebahrt. Daß sich trotzdem „Monsieur“ – diesen Titel führte offiziell der Bruder des Königs – in seinen „kleinen Vergnügungen“ nicht stören ließ, mag den Argwohn hervorgerufen haben, Henriette von Orleans sei nicht eines natürlichen Todes gestorben. Eine förmliche Untersuchung wurde eingeleitet, ergab jedoch keinen Beweis einer Schuld des Gatten. Schon wenige Monate später führte der König seinem Bruder eine zweite Gattin, eine deutsche Prinzessin, die bekannte Pfälzerin Liselotte, zu. Ein Lobredner des Hauses Orleans, Tournois, will alle geistigen Vorzüge der Fürsten dieser Familie auf jene deutsche Stammesmutter zurückführen; von ihr, die inmitten des hohlen Hoflebens in Versailles ihrer biderben Denk- und Redeweise treu blieb, stamme „die Art, freimüthig und selbständig zu denken, zu reden und zu handeln, welche den Prinzen von Orleans von jeher eigen war“.

Heute würde wohl die Abstammung von jener Frau nicht so geflissentlich hervorgehoben werden – war sie doch vor allem eine echte Deutsche! Jedenfalls gebührt ihr das Verdienst, zum Reichthum der Orleans den Grund gelegt zu haben; durch Sparsamkeit und Ordnung wurde es ihr möglich, den Familienbesitz durch stattliche Güter zu vermehren. Der Gatte hatte aber für die trefflichen Eigenschaften Liselottens kein Verständniß; er sah nur ihre Häßlichkeit; als sie, väterlicher Mahnung gehorsam, darnach trachtete, ein herzlicheres Verhältniß anzubahnen, gab er zu verstehen, sie möge ihn „um Gottes willen weniger lieb haben, weil ihm das gar zu ungelegen wäre“. Er verbrachte seine Tage in Ueppigkeit und Schwelgerei; doch wurde er, wie erwähnt, ebenso durch des Bruders allmächtigen Willen wie durch eigene Neigung in glänzendem Müßiggang festgehalten; denn weder ein Kommando, noch eine Anstellung an Staatsdienst wurde ihm übertragen. Als sich einmal der Bischof von Valence beim König dafür verwendete, dem Herzog, der sich doch in jungen Jahren bei Zütphen und Saint Omer ausgezeichnet habe, möge doch eine Armee anvertraut werden, schritt Ludwig zum Erstaunen und Entsetzen der Höflinge an die Thür, schlug allen Gesetzen der Etikette zuwider selbst die Flügel aus einander und deutete durch eine nicht mißzuverstehende Handbewegung dem Prälaten an, daß lästige Bittsteller besser draußen blieben.

Philipp starb in St. Cloud am 9. Juni 1701. „Im Grund des Herzens war er gut,“ urtheilt über ihn die Frau, die er auf so demüthigende Weise vernachlässigt hatte, „und wenn er weniger auf schlechte Gesellen gehört hätte, wäre er der beste Mensch von der Welt gewesen!“

(Fortsetzung folgt.)

[83]

Ein süddeutscher Humorist.
Von Friedrich Geßler.

Es ist auffallend, wie gut im badischen Lande die Humoristen gedeihen. Ob’s am Boden, Wasser oder Wein liegt, wer kann’s sagen? Oder an der Rasse, der durch die große und alte Völkerstraße, das Rheinthal, stets fremde Elemente zugeführt wurden, wer kann’s wissen? Aber die Humoristen waren und sind noch da vornehmlich zu Haus: zu Willstett bei Kehl der satirische Gesichteseher Moscherosch, zu Renchen der allerdings „hergelaufene“ Simplicianer Grimmelshausen, zu Meßkirch der Fastenprediger Abraham a Santa Clara. Dann müssen wir an Joh. Pet. Hebel, Gottfried Nadler, Jos. Vikt. Scheffel und an den Mann denken, dem diese Zeilen gelten: Ludwig Eichrodt.

Am Lichtmeßtag (das ist den 2. Februar) 1827 zu Durlach bei Karlsruhe geboren, durfte Eichrodt in diesen Tagen seinen 61. Geburtstag feiern.

Mit seinem Landsmann, dem jüngst verstorbenen Scheffel, hat Eichrodt vieles gemeinschaftlich: Beide traten ziemlich gleichalterig die Bubenschuhe in den Straßen zu Karlsruhe aus und quakten als „Frösche“ in einem „Teich“. Beide haben bewiesen, daß Karlsruhe später eine Malerstadt werden sollte, weil Beide Maler werden wollten. Beide hatten aber nicht genug Talent. Als echte Karlsruher Kinder, deren Ideal eine schönere Gegend ist, verlegten sie sich auf die Landschaftsmalerei

Ludwig Eichrodt beim Sechsundsechzig.

und hatten, als es nicht ging, noch Humor genug, um humoristische Dichter zu werden. Dazu wurden sie Juristen, aber höchst ungern. Beide hätten von Anfang an lieber das corpus juris an die Wand geworfen, aber nur Scheffel hat diesen Wurf später gewagt, weil er wenig Geschwister hatte. Beide waren von der schwülen Luft der badischen Reaktionszeit in den fünfziger Jahren angewidert, weshalb Scheffel nach Italien ging, Eichrodt aber in sparsamer Weise „Wanderlusten“ dichtete und zu Hause blieb. Endlich haben die Zwei dem studentischen Kommerse manches fröhliche Lied geschenkt, wobei Scheffel mehr den episch anklingenden Inhalt, Eichrodt mehr das lyrisch musikalische Moment betonte. Von da an gehen sie auseinander. Eichrodt ist durchaus und nur Lyriker, während der Andere den Roman und die poetische Erzählung kultivirte und der Lyrik nur mehr nebenher Ausdruck gab. Demgemäß äußert sich der Humor Ludwig Eichrodt’s zumeist in lyrischen Formen und Ergüssen, die ein ausgesprochen süddeutsches Gepräge tragen. Er hat etwas Clownartiges, Polichinelles, dieser Humor, der in seltsamen Wendungen und Windungen bald sich überschlägt, bald aus den Händen geht, um den verkehrten Standpunkt für die Betrachtung der Dinge zu gewinnen. Auf allen menschlichen Geistesgebieten und bei allen dichterischen Ausdrucksweisen macht er Anleihen, um seine eigenartigen kaleidoskopischen Bilder zu fixiren. Keine Situation ist zu gewagt und kein Ausdruck zu burlesk für Eichrodt’s heitere Muse, die mit dem Tollsten zurechtkommt: mag der Dichter nun die biblische Geschichte „Jakob und seine Söhne“ singen.

„Zwischen Israel und Ismael
Herrschte ein betrübsam Schismael;
Jenes züchtet Schaf und Rind,
Dieses Säu, die auch so sind.“

oder das „Vandalenlied“ anstimmen:

„Brüder traget Sturm und Brander
In die Welt mit Seelenschwung,
Hurrah hoch das Durcheinander,
Hurrah hoch die Wanderung!
Hurrah holla, hurrah heisa,
Hurrah dodro, Gensa, Geisa,
Hurrah hoch, der Völkerstrich!
Hurrah heisa, Genserich!“

Eichrodt hat das Bändchen Gedichte dieser Art „Lyrischer Kehraus“ und „Sauser“ genannt. „Kehraus“ heißt am Oberrhein bei ländlichen Hochzeitsfesten der letzte Tanz, der rasend gespielt und ebenso getanzt wird, und „Sauser“ nennt man den gährenden jungen Wein, der dem Faß die Spunde austreibt. Der Dichter hat mit diesen Titeln genugsam eine Seite seines humoristischen Ingeniums charakterisirt, er hat aber noch andere Seiten aufzuweisen.

Seine Muse schmückt sich absichtlich oft mit Federn, die fremden Federn täuschend ähnlich sehen. Dieser Zug hat die „Lyrischen Karikaturen“ gezeitigt, eine Anthologie lyrischer Nachahmungen, die bereits Anfangs der fünfziger Jahre erschienen ist. Eichrodt ist hier der mimus polyglottus, die lyrische Spottdrossel der deutschen Litteratur. Er singt lustig die Weisen Anderer; er findet das Schiller’sche Pathos und sucht den Goethe’schen Liedeston; er ahmt alles nach, was durch den Besitz einer eigenen Stimme nachahmungswürdig ist am deutschen Parnaß bis in die neueste Zeit. „Nach berühmten Mustern“, sagt man jetzt. Die Satire nimmt in diesen Karikaturen die denkbar mildeste Form an; eine Absichtlichkeit tritt nirgends zu Tage, da Eichrodt seine Zielscheibe mehr in der Form als im Inhalt der karikirten Dichtungen sucht.

Schiller hätte gewiß bei der Lektüre des „Nachschiller“ eine heitere Miene angenommen über Strophen, wie diese:

„Rauschend in den Katarakt der Wonne
Wogt die unbekannte Sonne
Des Verlustes seelenvoll dahin;
Ew’ge Harmonien wallen über,
In die bodenlosen Freudenzüber
Schöpft der Menschen Danaidensinn.
Keine Hoffnung adelt ihren Schaden,
Auch der Glückliche fühlt sich beladen,
Und den Stachel in der eignen Brust,
Sinkt er abwärts krank und schuldbewußt“ – –

Der Humor Ludwig Eichrodt’s treibt aber auch gerne Mummenschanz, gefällt sich in altfränkischer Verkleidung und spielt den Erzphilister.

So ist die Figur des „Biedermaier“ entstanden und das darauf bezügliche heitere Buch „Biedermaier’s Liederlust“. Biedermaier ist eine litterarische Gestalt, die von kulturhistorischer Bedeutung ist. Eichrodt hat das Prototyp dafür in dem Verfasser des weitbekannten „Kartoffellieds“, dem Schulmeister Samuel Friedrich Sauter gefunden und dasselbe zum Typus erweitert: Biedermaier ist jetzt der deutsche Philister der seligen Bundestagszeit, Politiker, Dichter und Philosoph zugleich, der in allem, auch in der tiefsten Prosa, poetische Stoffe entdeckt, immer singt und beharrlich den falschen Ton trifft, das kleinste Ereigniß in Schiller’scher Vortragsweise verkündet und dem größeren Stoff die selbstgenügsame Beschränktheit aufdrückt. Die grösseren politischen Aufgaben, die dem Bürger des neuen deutschen Reichs gestellt sind, die schwierigere Lebensführung in unseren Tagen haben den Typus der Biedermaier nach und nach aus dem Leben gejagt. Unsere Enkel werden aber noch mit Rührung des dahingegangenen Geschlechts altfränkischer Leute gedenken, lesen sie Eichrodt-Biedermaier’s klassische „Große deutsche Litteraturballade“:

„Gegen Abend in der Abendröthe,
Ferne von der Menschen rohem Schwarm,
Wandelten der Schiller und der Goethe
Oft spazieren Arm in Arm.
Sie betrachteten die schöne Landschaft,
Drückten sich die großen edlen Händ’,
Glücklich im Gefühl der Wahlverwandtschaft
Unterhielten sie sich excellent“ etc.

Eichrodt ist auch als hochdeutscher Liederdichter aufgetreten: er singt das einfache Lied in schmuckloser Weise und sucht den Goethe’schen Ton zu gewinnen – „Melodien“ hat er die Gedichte benannt; ferner hat er sich ein bedeutsames Verdienst um die Einführung des Dialektes der Karlsruher Gegend in die Litteratur erworben durch Herausgabe eines Bandes „Rheinschwäbischer Gedichte“.

Und der Mann? Er hat das Leben eines badischen Juristen von sechzig Jahren hinter sich, dem es niemals darum zu thun war, Berufskarrière zu machen und Anderen den Rang abzulaufen. Dafür ist sein Wesen zu vornehm, seine Seele zu edel und sein Gemüth zu humorvoll. Sein Vater war badischer Minister und starb früh. Eichrodt’s Beruf führte den Dichter dahin und dorthin im badischen Land, bald als Praktikant, bald als Referendar, bald als Richter, wie’s das juristische Amt mit sich bringt. Jetzt lebt er als Oberamtsrichter in Lahr, wo seine Mutter zu Hause ist, ein stilles behagliches Philisterdasein, schlürft zur Mittagsstunde in der „Sonne“ daselbst den Mokka, spielt und verliert im „Sechsundsechzig“, vergnügt sich des Abends beim Bier – gerade wie der Biedermaier auch. Selten thut der vergnügliche Sänger von „Schulerbubens Wanderlust“ noch eine Fahrt ins Weite, etwa nach seinem Vers:

„Nach Kroatien, nach Kroatien
Laß mich zieh’n, wo durch Dalmatien
Brummend rennt die Drau und Sau;
Wo der kluge Banus waltet,
Wo der Mantel roth sich faltet
Und fürs U man macht ein Vau –
Dahin, Alter, laß mich zieh’n!“

[84]

Blätter und Blüthen.

Die Faschingszeit ist wieder erschienen und mit ihr treten Maskenscherz und Mummenschanz in ihre alten Rechte. Da darf denn auch der bekannte Possenreißer nicht fehlen, der in früheren Zeiten unter dem Namen Hanswurst die Bühne beherrschte, seit seiner Vertreibung von den weltbedeutenden Brettern aber auf Maskenbällen und bei karnevalistischen Aufzügen sein Wesen treibt – freilich mehr unter der aus dem Französischen stammenden Bezeichnung Harlekin. Der volksthümliche Narr Hans Wurst, der einst in keinem deutschen Theaterstücke fehlte so wenig wie noch heut zu Tage auf Marionettenbühnen der urwüchsige Lustigmacher Kaspar, war für das deutsche Volkstheater dasselbe was Jean Potage für die französische, Pickelhäring fur die holländische, Jack Pudding fur die englische und Maccaroni für die italienische Schaubühne waren und der Umstand, daß überall der Name des Lieblingsgerichtes der verschiedenen Nationen dieser grotesk komischen Figur beigelegt wurde, deutet an, daß man mit solchen an sich schon drollig wirkenden Bezeichnungen auch noch diesem wunderlichen Kauz die Eigenschaft der Gefräßigkeit andichten wollte. In Sebastian Brant’s klassischer Satire: „Das Narrenschiff“ kommt in der Ausgabe von 1519 das Wort Hanswurst zuerst vor und nach ihm wendet Luther 1541 in seiner Streitschrift: „Wider Hans Worst“, die bekanntlich gegen den Herzog von Brannschweig gerichtet war, diese Bezeichnung an. Auf die Bühne gelangte diese Gestalt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und hielt sich dort länger als zwei Jahrhunderte, zuletzt freilich nur noch ein kärgliches Dasein bei den herumziehenden kleinen Schauspielertruppen fristend.

Nach einem im Archive zu Stolberg am Harze befindlichen Schriftstück soll der Name von einer bereits um die Mitte des 15. Jahrhunderts in dem Dorfe Görsbach bei Nordhausen lebenden Bauernfamilie „Worst“ herrühren, deren Glieder stattliche Höfe besaßen. Graf Heinrich v. Stolberg verkaufte seinen Schafhof an „seinen lieben Getreuen ehrsamen Hans Worst“, Erbangesessenen zu Görsbach, wo derselbe auch das Amt eines Schultheißen bekleidete. Nichtsdestoweniger war die Familie wegen ihrer Grobheit, Großsprecherei und Rauflust in der ganzen Gegend berüchtigt, der vorgenannte Hans Worst aber noch außerdem wegen seiner scharfen Satire und seines beißenden Witzes gefürchtet. Alle diese Eigenschaften finden sich bei dem gleichnamigen Possenreißer der Schaubühne wieder und es ist daher sehr wahrscheinlich, daß der Ahnherr dieser Gestalt kein anderer als dieser Görsbacher Bauer ist.

Mit der Verfeinerung des Geschmackes, mit der angestrebten Veredelung der dramatischen Kunst begann auch der Feldzug gegen diese Bühnengestalt, aber es war nicht leicht, sie vom Platze zu verdrängen; denn noch immer stand sie hoch in der Volksgunst und selbst Lessing trat zum Schatze für sie ein und vertheidigte ihre Existenzberechtigung. Dennoch mußte sie, nicht zum Nachtheile der deutschen Bühne, endlich weichen und in den Cirkus oder zu Seiltänzern flüchten, wo der Hanswurst auch seinen ehrlichen deutschen Namen ablegte und mit dem englischen „Clown“ vertauschte. Die wichtigste Domäne, aus welcher er wohl niemals vertrieben werden wird, ist aber für den Hanswurst der Maskenball, und die lustige Karnevalszeit kann den ausgelassenen, stets zu tollen Späßen aufgelegten volksthümlichen Burschen nicht entbehren.


Der erste Ball. (Mit Illustration S. 81.) Wenn der kleine Herr im Kostüm einige Scheu zeigt, in der ungewohnten Tracht vor den Zuschauern zu erscheinen, so kann siegesgewisser keine Dame, die den Kindernschuhen längst entwachsen ist, den Freuden eines Maskenballes entgegengehen, als dies Rokokodämchen, welche unser Bild uns zeigt, wie sie bereit ist, in die Equipage, deren Schlag von dem Lakaien geöffnet wird, einzusteigen. Die Erwartung der schönen Dinge, die sie dort sehen wird, spiegelt sich auf ihrem Gesichtchen, aber auch die Freude, bei diesem Fest mitzuwirken und in ihrem schmucken Kostüm neben und vielleicht vor den anderen zu glänzen. Die Mutter und der dienstbare Geist, welche die Kleinen ausgerüstet, sind stolz auf ihr Werk und geben ihnen die besten Wünsche mit auf den Weg; das neugierige Publikum aber, unter welchem der Dienstmann und die alte Frau ein besonders lebhaftes Interesse zeigen, begrüßt diese kleinen Masken mit Bewunderung und Vergnügen: denn man ist ja gewöhnt, daß zu den Fahnen des Karnevals die Erwachsenen schwören; aber der Maskenscherz der Kleinen macht immerhin den Eindruck des Ungewohnten und Befremdlichen.

†     


Rutschpartie. (Mit Illustration S. 72 und 73.) „Hurrah, die Schule ist aus!“ Wie besessen rennt Hans nach Hause, um Fibel und Rechentafel bei Seite zu legen und den kleinen Schlitten hervorzuholen, den ihm der Weihnachtsmann gebracht. Es glückt ihm, ungesehen ins Haus zu kommen und eben so unbemerkt sich wieder zu entfernen. Und nun eilt Hans der prächtigen Schlittenbahn zu, die vor dem Städtchen draußen am Abhange der Landstraße der munteren Jugend zum Tummelplatze dient. Hei, dort geht’s bereits lustig zu. Die Rutschpartie ist in vollem Gange: der Fritz und der Peter, der Paul und Philipp und viele andere Spielkameraden unseres Hans gleiten mit ihren Miniaturschlitten in lustiger Fahrt die steil abfallende Schneebahn hinab, während einige größere Waghälse auf Schlittschuhen ihr Glück versuchen. O weh – da stoßen plötzlich Georg und Karl mit heftigem Anprall zusammen und fallen von den Schlitten herab! Scheltend und heulend kugeln die Beiden im Schnee. August, der in gleicher Richtung hinterher kommt, gewahrt mit Schrecken das Unheil, in das er voraussichtlich auch verstrickt werden wird. Welches Entsetzen malt sich in seinen Blicken und wie gewaltig strengt sich der kleine Knirps an, um seinen Schlitten von der Unglücksstätte abzulenken! Aber es nützt ihm nichts; er entgeht dem Schicksale nicht, ebenfalls von den kleinen Zuschauerinnen, die sich am Rande der Bahn aufgestellt haben und gar strenge Kritik üben, tüchtig ausgelacht zu werden. August ist übrigens noch immer glücklich daran im Vergleich mit dem armen Hans. Eben erst hat dieser zum dritten Male die Schlittenfahrt mitgemacht: da erscheint unversehens die Mutter und holt ihn heim. Sie hat guten Grund dazu, denn er hat ja seine Schulaufgaben noch nicht gemacht; auch kam der kleine Schlingel gestern von der Schlittenbahn mit zerrissenen Höschen nach Hause und die Mutter hatte lange zu arbeiten, um den Schaden wieder auszubessern. Schaut nur, wie traurig sich Hans davon trollt! Es steht ihm nichts Gutes bevor, da die Mutter gar so heftig hinter ihm her schilt. Die Andern lassen sich durch den Zwischenfall nicht stören, obschon wohl Manchem das Herz klopft in banger Besorgniß, daß auch er heimgeholt werden könnte. Im nächsten Augenblick ist diese Sorge aber wieder vergessen und ohne Zaudern wird die köstliche Schlittenfahrt frohen Muthes fortgesetzt. „Just so habe ich es auch getrieben!“ murmelt der Alte, der lächelnd dem munteren Spiel der Jugend zuschaut und dabei seiner eigenen Kindheit gedenkt; „freilich – lang, lang ist’s her,“ setzt er seufzend hinzu.

W. W.     


Professor Oskar Pletsch †. Der ausgezeichnete Kindermaler, der unserem Blatte mehrfach einige seiner in der kleinen und großen Welt epochemachenden Zeichnungen zugewendet, ist leider in seinem Daheim in Niederlößnitz am 12. Januar im siebenundfünfzigsten Lebensjahre gestorben. Wir verweisen auf die Lebensbeschreibung und Würdigung seiner künstlerischen Leistungen, die wir in Nr. 47 des Jahrganges 1884 unseres Blattes brachten. Die Naturwahrheit und Grazie seiner Zeichnungen verbürgen ihnen ein längeres Leben, als vielen jener bunten Jahrmarktsbilder aus dem Leben der Kindheit, die zum Theil blendender wirken, denen aber der feine Duft fehlt, der die Kinderbilder des dahingegangenen Meisters umschwebt.

†     


Skat-Aufgabe Nr. 2.
Von K. Buhle.
Vorhand und Hinterhand passen. Mittelhand meldet Eichelsolo an und nach dem ersten Stiche:
Vorhand: Mittelhand: Hinterhand:

(c. K.)

(c. Z.)

(tr. Z.)

hat der Gegner in Hinterhand noch folgende Karten:

(tr. K.)

(p. As.)

(p. D.)

(p. 9.)

(p. 8.)

(car. As.)

(car. D.)

(car. 9.)

(car. 8.)

Spielt derselbe jetzt gD (p. As) an, so wird der Spieler Schneider; denn die Gegner erhalten 90 Augen; spielt er dagegen das sD (car. As) an so gewinnt der Spieler und erhalten die Gegner höchstens 56 Augen. Wie sitzen die Karten? Wie ist der Gang des Spieles?


Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 1 auf S. 36:
Der Spieler hatte g7 und e7 gedrückt, die übrigen Karten sind so vertheilt:
Vorhand: sD, eK, eO, e9, e8, gZ, gK, gO, g9, g8.
Hinterhand: sZ, sK, sO, s9, rZ, rK, rO, r9, r8, r7.
Der Gang des Spieles war so:
1. gZ, gD, sZ (—31)
2. rZ, sD, rD (—32)
3. eK, eD, sK (—19.)


Auflösungen zu der kombinirten Damen- und Springer-Augabe auf S. 68:
Mit Rücksicht auf den Raum können wir zu jeder der sub a) bis g) verlangten Positionen nur je 1 Beispiel geben:

a) D a 1, b 7, c 6, g 3. — S d 2.
b) D a 1, b 3, f 8, h 2. — S c 6, e 4.
c) D a 1, b 6, g 8, h 2. — S d 3, e 4, f 5.
d) D c 1, d 4, e 2, g 3. — S a 8, b 7, f 7, f 8.
e) D b 1, e 3, g 4, h 2. — S a 5, a 6, a 8, d 7, f 8.
f) D b 2, d 1, f 4, h 3. — S a 5, a 6, a 7, a 8, e 7, e 8.
g) D b 3, c 1, f 2, g 4. — S a 6, a 8, d 8, e 7, e 8, h 7, h 8.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)


Th. S. in Berlin. Die auf S. 722 des Jahrganges 1887 der „Gartenlaube“ besprochene Karte des Schlaraffenlandes ist älter als die im Seutter’schen Atlas. Sie dürfte um 1700 entstanden sein und ist wahrscheinlich Nürnberger Ursprungs. Aber auch die Nürnberger Karte ist nicht Original, sondern, wie der Charakter der figürlichen Darstellungen beweist, welche den Titel der Karte umgeben und die anders wie die auf der Seutter’schen Karte sind – Kopie einer niederländischen Karte. Letztere dürfte sich wegen ihrer originellen Idee solchen Beifalles erfreut haben, daß jeder deutsche Landkartenstecher, der dieselbe in die Hand bekam, sie unverweilt und, nach der damaligen Sitte, ohne sich irgend welche Skrupel zu machen, nachstach, da das germanische Museum auch noch ein drittes deutsches Exemplar besitzt, das von dem Nürnberger und Augsburger abweicht und von einer anderen Platte gedruckt ist.

M. N. in Darmstadt. Die betreffenden Mittel gehören gleichfalls zu den schwindelhaften Geheimmitteln.


  1. Wiener Mädchen,
  2. flotten,
  3. Kleidchen.