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Die Gartenlaube (1888)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[85]
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Alle Rechte vorbehalten.
Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman von E. Marlitt.
Vollendet von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Das herzogliche Haus besaß verschiedene Schlösser innerhalb des Landes, schöne, alterthümliche Schlösser mit herrlichen Gärten und großartigen Parkanlagen; aber sie lagen meist in der Nähe von Städten oder auf dem flachen Lande, wo die äußersten Parkwege auf weite Ackerflächen mündeten und der Wald so fern begann, daß er nur wie ein dunkler Pinselstrich den Horizont säumte. Die Vorfahren hatten die sonnige Ebene geliebt und den dunkelschattigen Bergwald gemieden bei ihren Bauschöpfungen, und wenn die meisten auch passionirte Jäger gewesen und um der Birsch willen oft wochenlang in den Forsten verblieben waren, so hatten doch einige da und dort verstreute, sehr primitive kleine Jagdhäuser für Nachtquartier und ein einfach zubereitetes warmes Essen vollkommen genügt.

Da war nun freilich der Altensteiner Geroldshof mit seiner Waldnähe und kräftigen Bergluft eine kostbare Acquisition des Herzogs, der man im Lande allgemein zustimmte. Für die drei jungen, zarten Prinzen, die Söhnchen des Regierenden, und die äußerst schwache Gesundheit seiner Gemahlin war ein solch stärkender Aufenthalt im heißen Sommer nur zu wünschen, und deshalb begriff man auch vollkommen den Feuereifer, mit welchem der Geroldshof zur Aufnahme seiner fürstlichen Bewohner hergerichtet wurde. Die junge Herzogin selbst trieb mit leidenschaftlicher Heftigkeit zur Eile; kein Bad, kein Klimawechsel hatten ihre sinkende Kraft neu zu beleben vermocht; nun erhoffte sie alles von dem Aufenthalt im Walde. Deshalb wurden auch auf Befehl des Herzogs sämmtliche Baulichkeiten nur äußerlich aufgefrischt; kein Mauerstein durfte verrückt, keine Gartenanlage verändert werden, und als man Seiner Hoheit einen Entwurf zu einem stilvollen Brunnenbecken an Stelle des zwar schön gearbeiteten, aber doch zu „dorfmäßigen“ Steintroges im Hofe vorgelegt, da hatte er ihn stirnrunzelnd verworfen und streng befohlen, daß der Brunnen bleibe wie er sei. Geradezu erzürnt aber war er gewesen, als er erfahren hatte, daß man das Goldregen- und Syringengesträuch in den Hofwinkeln mit Stumpf und Stiel ausgerissen habe, um für die verdüsterten Zimmer der Hofdamen mehr Licht zu schaffen, und scheele Gesichter gab es unter den Hofbediensteten auch genug, als der Herzog den alten Friedrich Kern, der zuletzt Kutscher, Gärtner und Lakai in einer Person


Klara Salbach als „Gretchen“.
Nach einer Photographie von Hofphotograph Rudolf Herrmann in Leipzig.

[86] bei dem letzten Altensteiner Herrn gewesen war, zum Kastellan auf dem Geroldshofe ernannte. Seine Hoheit meinte mit Recht, daß solch ein treuer Diener der beste Hüter seines neuen Besitzes sei.

So war dem Geroldshofe seine Physiognomie nahezu verblieben; denn auch im Innern war so manches werthvolle Einrichtungsstück, welches der Herzog durch dritte Hand hatte ankaufen lassen, wieder an seinen alten Platz gekommen, so die alte prachtvolle Meißner Porcellangarnitur mit ihren Girandolen, ihrem vielbewunderten Kronleuchter in einem der schönen Salons, so die Rokokomöbel, welche die Initialen und das Wappen der Altensteiner, in Perlmutter und Silber reich ausgeführt, auf ihren Platten und Flächen trugen. Freilich, alles Andere war neu angeschafft worden, und die stillen Schläfer unter der Hauskapelle hätten sich bei einer etwaigen Geisterrunde in ihrer ehemaligen Behausung schwerlich wieder zurechtgefunden: einen solch raffinirten Luxus entfalteten fürstlicher Reichthum und künstlerisch geläuterter Geschmack in allen Räumen.

Tag und Nacht war fieberhaft auf dem Geroldshofe gearbeitet worden, und die Bahnzüge hatten pünktlich gebracht, was Paris und Wien an Möbeln und Ausschmückungsgegenständen einlieferten. So war es möglich geworden, daß der Hof zu Ende Juli in das Paulinenthal übersiedeln konnte.

Im Eulennest ging inzwischen auch so manche Wandlung vor sich. Heinemann hatte ausgezeichnete Geschäfte gemacht, wie er, vergnüglich die Hände reibend, sagte. Eines Tages hielt ein Wagen vor der Gartenthür, und das, was Bienen- und Nonnenfleiß zusammengetragen, stieg aus der Jahrhunderte währenden Nacht der Erdentiefe an Gottes freies Sonnenlicht und ging hinaus in die Welt, um nunmehr der Menschheit dienstbar zu werden; und als darnach Heinemann eine hübsche Anzahl großer Banknoten auf den Tisch vor seiner jungen Herrin niederlegte, da meinte er mit seinem schelmischen Augenblinzeln, das dem breiten treuherzigen Gesicht so gut stand, nun dürfe man auch die Butter auf die Bemmchen zum Thee ein bißchen dicker streichen und ein größeres Stück Fleisch in den Kochtopf thun, von den neuen Vorhängen gar nicht zu reden, die doch nun angeschafft werden müßten, weil ja jetzt so viele Augen von der Chaussee her nach der guten Eckstube guckten.

Ja, da drüben war es allerdings ein wenig lebendiger geworden, und Fräulein Lindenmeyer hatte die hinaufgeschobene Brille jetzt mehr auf der Stirn als über dem scharfen Nasenrücken. Sie lasse jetzt öfter die Maschen fallen und könne gar nicht mehr in einem Zuge lesen, so viel passire auf der Chaussee, klagte sie; aber dabei lachte sie über das ganze Gesicht; denn die Waldeinsamkeit war ja schön, himmlisch schön, die Dichter würden sie doch nicht ohne Grund so einzig besingen; aber freilich manchmal, wenn den lieben langen Tag nicht einmal eine Holzfuhre, geschweige denn ein lebendiger fröhlicher Handwerksbursch oder auch nur eine Butterfrau aus dem Dorfe vorüberkam, da war es doch auch „ein ganz klein bißchen langweilig“.

Die drei kleinen Prinzen waren mit Gefolge und Dienerschaft zuerst nach dem Geroldshofe übergesiedelt, und der Weg an dem Eulenhaus hin mußte ihnen wohl ganz besonders gefallen; denn täglich kamen sie vorüber. Das war nun freilich eine unbezahlbare Augenweide für das strickende alte Mamsellchen am Eckfenster, dies junge fürstliche Blut, auf schmucken Ponies dahertrabend; und fast eben so schön war es, wenn die prachtvolle Equipage aus Neuhaus in Sicht kam; die konnte man sich doch in aller Ruhe und Bequemlichkeit ansehen, denn sie fuhr langsam, ganz langsam. Im Fond saß die schöne Frau von Berg und hatte das arme, kleine Gespenstchen, das hinterlassene Töchterchen der Prinzessin Katharina, auf dem Schoße, und Baron Lothar fuhr sein krankes Kind selber.

Heinemann dagegen war stets eifrig mit seinen Rosenbäumen beschäftigt, wenn der Wagen sichtbar wurde; dann hörte und sah er nicht und wendete der Chaussee beharrlich den Rücken; denn das korpulente Frauenzimmer, das sich da auf die Seidenkissen „hinprätzelte“, als sei sie die Prinzessin selber, war ihm ein Gräuel. Hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, daß sie, als seine junge Herrin im weißen „Sonntagskleide“, schön wie ein Engel, am Geländer droben gestanden, den Kopf so schnell weggedreht hatte, als sei ihr eine giftige Kröte in das dicke Milchgesicht gesprungen. Und hatte sie nicht gleich beim ersten Vorüberkommen das liebe, alte Haus da im Garten mit dem Augenglas höhnisch beguckt und ihn, den alten Heinemann, von oben bis unten hochmüthig gemessen, als solle und müsse er gleich auf der Stelle seinen allerunterthänigsten Kratzfuß vor ihr machen? Ja, da konnte sie warten!

Etwas ganz Anderes war’s freilich, wenn der Neuhäuser auf seinem schönen Fuchs dahergeritten kam. Da wurde die schönste Rose am Stock erbarmungslos abgeschnitten und dem Reiter, der sie stets in sein Knopfloch steckte, über den Zaun hingereicht. Und Heinemann bekannte ehrlich, er begriffe seinen eigenen, alten Dickkopf nicht mehr; aber mit dem besten Willen könne er gar nicht mehr so erbost auf den Neuhäuser sein; er gucke ihm eigentlich für sein Leben gern in die feurigen, herrischen Soldatenaugen, wenn er so vom Pferd herunter über den Zaun weg mit ihm spreche.

Beate war auch schon einige Mal im Eulenhaus gewesen. Sie kam stets zu Fuße und blieb auf ein Kaffeestündchen; und so verschlossen sie auch sonst war in Bezug auf das, was ihre Seele bewegte, das gestand sie doch wiederholt ein, daß sie sich die ganze Woche auf diese Besuche freue. Dann saßen die beiden Pensionsschwestern bei einer Tasse Kaffee auf der „Zinne“ und die kleine Elisabeth spielte und sprang um sie her. Und wenn auch Herr von Gerold sich nie entschließen konnte, hinabzugehen und den Besuch zu begrüßen – er schüttelte sich stets, wenn er an die Begegnung im Treppenhause des Geroldshofes dachte – so sah er doch von dem Fenster seiner Glockenstube aus, wie behaglich sich sein Kind auf Tante Beatens Schoß schmiegte, wie es zärtlich die großen, braunen Hände streichelte und sich von ihnen ein Butterbrot streichen ließ. – Baron Lothar fuhr dann pünktlich gegen Abend vor, um die Schwester abzuholen. Heinemann mußte bei den Pferden bleiben, während der Neuhäuser die Damen auf der „Zinne“ begrüßte und auch wohl in die Glockenstube hinaufstieg, um dem Einsiedler einen guten Abend zu bieten. –

Nun waren die höchsten Herrschaften im Geroldshofe eingezogen, und die farbenleuchtende Flagge wehte hoch über dem First des Hauses. Die Dorfleute hatten am Wege gestanden und sich schier zu Tode gewundert über die Pracht und Herrlichkeit der vorbeisausenden herzoglichen Equipagen und „das Menschenvolk“, das in minder schönen Wagen nachkam. Da blieb doch gewiß kein Kämmerchen leer im Geroldshofe! Aber das Altensteiner Gutshaus war ein gewaltiger Bau; hatten doch alle Generationen an dem alten Stammsitz je nach Bedürfniß weiter gebaut und verschönert. Seinen Dimensionen und architektonischen Schönheiten nach konnte man ihm ohne Bedenken die Bezeichnung „Schloß“ geben.

Die Nachmittagssonne lief schräg über seine imposante, von zwei achteckigen Thürmen flankirte Stirnseite und ließ das geschmückte Simswerk in all seinen kraftvollen und doch so fein gezogenen Linien scharf hervortreten; und durch die hohen, weitoffenen Fenster schlug die Luft, Nadelholzdüfte und kräftige Waldfeuchte im Athem, in das Haus herein – eine köstliche Luft! „Mein Gesundbrunnen!“ sagte die junge Herzogin Elise inbrünstig mit ihrer leisen, belegten Stimme.

Es war am zweiten Tag nach ihrer Ankunft. Gestern hatte sie nach der anstrengenden Fahrt, auf Wunsch des Arztes, das Ruhebett nicht verlassen. Heute aber durchschritt sie, „bereits wunderbar gestärkt“, am Arm ihres Gemahls die Zimmerreihe der oberen Etage. Und da mußte man nun wirklich mit Schaudern an die heißflimmernde Ebene draußen zurückdenken, hier, wo die Sonnengluth nicht wehe that, wo ihr Strahl so smaragdfarben und gesänftigt durch grüne Laubmassen sank.

„Hier werde ich wieder Dein flinkes Reh, Deine muntere Liesel, gelt, Adalbert?“ sagte abermals die junge fürstliche Frau und suchte mit zärtlichem Aufblick die Augen des schönen Mannes. Gewaltsam reckte und streckte sie die überschlanke Gestalt und mühte sich, strammen Schrittes neben ihm herzugehen … Ja, so schattenhaft schmächtig und fahl sie auch da im weißen Hauskleide an dem deckenhohen Wandspiegel hinglitt, sie wurde hier schnell gesund; das Kraftgefühl kehrte zurück, das spitze kleine Gesicht rundete sich und die Gestalt nahm jene zartschwellende Fülle und elastische Grazie wieder an, die man einst nymphenhaft genannt hatte! Nur zwei Monate hier in diesem kraftstrotzenden Waldodem, und alles war wieder gut!

Sie bewohnte die Zimmer des östlichen Flügels, an welche der nach dem Hofe gelegene Speisesaal stieß, und nur ein gemeinschaftlicher Empfangssalon trennte diese Gemächer von den westlich [87] liegenden ihres Gemahls. Das letzte Zimmer der langen Flucht war sein Wohnzimmer, dessen eine Ecke in den Thurmerker auslief. Es hatte köstliche Wandgemälde, spanische Landschaften, die gleichsam Goldschein und Gluth der südlichen Sonne ausstrahlten. Ein violetter, zu beiden Seiten in schweren Falten geraffter Plüschvorhang schloß den Thurmerker ab.

Inmitten des Zimmers stand eine Treppenleiter. Der alte Friedrich, oder vielmehr der Kastellan Kern, wie er jetzt genannt wurde, hatte eine eben angekommene Ampel an die Decke gehangen und kletterte nun beim Eintreten der Herrschaften eiligst die Stufen herab.

Die Herzogin blieb unwillkürlich unter der Thür stehen.

„Ach, hier hat die arme schöne Spanierin gewohnt,“ rief sie mit leise vibrirender Stimme. „Und da ist sie wohl auch gestorben?“ Sie heftete ihre großen, fieberisch glänzenden Augen ängstlich fragend auf das Gesicht des alten Mannes, der sich tief verbeugte.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Hoheit, hier nicht. Der gnädige Herr hatte ihr freilich das Zimmer malen lassen und es hat ein schweres Stück Geld gekostet; aber keine zwei Stunden hat sie es hier ausgehalten. Der Oekonomiehof ist zu nahe. Sie konnte keine Kuh brummen hören, und wenn ein Leiterwagen über das Pflaster rasselte und die Drescher in den Scheunen hantirten, da hielt sie sich die Ohren zu und lief durch alle Zimmer und Gänge, bis sie ein stilles Eckchen fand, wo sie sich hineindrücken konnte wie ein junges, verscheuchtes Kätzchen. Ja, zur Gutsfrau paßte sie freilich nicht! Sie war immer still und traurig und wollte nicht essen; nur manchmal brach sie sich ein Bröckchen von einer Chokoladentafel – davon lebte sie. Sie hat zuletzt im Gartenhause gewohnt, und wenn schön Wetter war, da wurde sie in seidenen Decken hinausgetragen und auf den Moosboden gelegt, da, wo die Waldbäume an den Garten stoßen. Ja, da war sie noch am liebsten in dem blassen Lande, wie sie unser gutes Thüringen nannte, und da ist sie auch an einem schönen Herbsttage eingeschlafen, ausgelöscht! – Das Heimweh soll schuld gewesen sein.“

Die Herzogin trat tiefer in das Zimmer, und ihre Augen glitten über die Wandgemälde.

„Das Heimweh!“ wiederholte sie mit leisem Kopfschütteln. „Sie hätte nicht mit dem deutschen Manne gehen sollen, denn sie hat ihn nicht geliebt. Ich würde in der fernsten Eiswüste nicht an Heimweh sterben, wenn ich bei Dir wäre!“ flüsterte sie innig und sah dem hohen Manne an ihrer Seite abermals unter das gesenkte Gesicht, während sie mit ihm in den Thurmerker trat.

Er lächelte freundlich auf sie nieder; sie sank auf einen der kleinen, lehnenlosen, mit violettem Sammet bezogenen Sessel und sah entzückt über das sich draußen hinbreitende Landschaftsbild.

„Ein köstlicher Blick!“ sagte sie und faltete die kleinen, wachsbleichen Hände im Schoße. „Die Gerolds haben sich besser auf die Wahl ihres Stammsitzes verstanden, als unser Haus, Adalbert,“ sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen. „In all unseren Schlössern und Landhäusern haben wir nicht einen einzigen Ausblick, wie diesen hier. Wer hat diesen Flügel bewohnt?“ fragte sie den Kastellan, der eben geräuschlos die Treppenleiter zusammenschob, um sie hinaus zu tragen.

„So lange ich hier im Geroldshofe gewesen bin, immer nur die Damen, Hoheit,“ rapportirte, indem er die Leiter wieder behutsam hinstellte, der alte Mann. „Zuerst die selige Frau Landkammerräthin, bis sie ins Eulennest gezogen ist, und nachher die Frau Oberstin. Und zwei Zimmer weiter,“ er zeigte nach der Thür, die in den Seitenflügel führte, „da hat auch unser gnädiges Fräulein ihr Stübchen gehabt.“

„Ach, die schöne Claudine?“ rief die Herzogin in halb fragendem Ton.

„Zu dienen, Hoheit, Fräulein Claudine von Gerold. In der Stube ist sie auch geboren. Ich weiß noch, wie es uns im weißen Wickelkissen gezeigt wurde, das Engelchen.“

„Mamas Liebling; hörst Du, Adalbert?“ sagte die Herzogin lächelnd nach ihrem Gemahl hin, der an eines der Fenster getreten war und wie in Gedanken verloren in die Ferne blickte.

„Der Schwan, wie ihr poetischer Bruder sie in seinen Gedichten nennt, das merkwürdige Mädchen, das vom Hofe weg in die Armuth gegangen ist, um ihrem Bruder eine Stütze zu sein. – Eulennest heißt ja wohl der Waldwinkel, in welchem Fräulein von Gerold jetzt lebt?“ fragte sie den Kastellan.

Der verbeugte sich: „Eigentlich Walpurgiszella, Hoheit. Aber ‚mein Eulenhaus‘ hat die Frau Landkammerräthin gesagt, als sie zum ersten Male beim Mondenschein durch die Ruinen gegangen ist, und es hat von allen Seiten geschnurrt und geschnauft und geschrieen, als ob alle Winkel voll kleiner Kinder stäken. Und beim Eulenhaus ist’s dann auch geblieben, wenn sich auch das Raubzeug nicht mehr so breit machen darf; im Thurm, der von unten bis oben vollgesteckt hat, ist’s jetzt ganz gemüthlich. Ach ja, der Thurm“ – er strich sich unwillkürlich über sein tadellos rasirtes Kinn – „von dem alten Gemäuer spricht seit ein paar Tagen die ganze Umgegend. Es ist ein Gemurmel und Geraune von einem großen Fund, den sie im Keller drunten gemacht haben sollen –“

„Ein Geldfund?“ fragte der Herzog kurz und gespannt, indem er mit fester Hand den violetten Plüschvorhang zurückschob, um dem Kastellan in das Gesicht zu sehen.

Der alte Mann zuckte die Achseln. „Ob baare Münze? Ich glaub’s kaum. Sie sprechen nur von einem unmenschlich großen Schatze, von Gold und Silber und Edelgestein die Hülle und Fülle. Aber“ – ein verstohlenes Lächeln huschte über sein Gesicht – „ich kenne meine Pappenheimer; ich kenne auch meinen guten Freund, den alten Heinemann, den Erzschalk: der packt Denen, die ihn fragen, so viel auf, daß sie es nicht erschleppen können, und so ist vielleicht der ganze, große Fund ein einziger Abendmahlskelch gewesen.“

Die großen glänzenden Augen der Herzogin blickten staunend zu dem Alten hinüber, wie die eines Kindes, dem man Märchen erzählt.

„Einen Schatz?“ fragte sie. Dann brach sie ab, und ihr Lächeln wich einem stolzen kühlen Ausdruck; unter dem Sammetvorhang der gegenüberliegenden Thür war ein Herr erschienen, der näher tretend sich ehrfurchtsvoll verbeugte. Die junge Frau neigte kaum merklich das Haupt und wandte sich zum Fenster; um ihren feinen Mund zuckte es nervös. Des Herzogs Stimme aber klang wohlwollend durch den Raum.

„Nun, Palmer? Was haben Sie wieder Unvortheilhaftes zu melden? Ist etwa der Schwamm in dem alten Gebälk, oder spukt es in Ihren Zimmern?“

„Hoheit belieben zu scherzen,“ erwiederte der Angeredete; „die Warnungen, die ich dem Kaufabschluß über Altenstein vorangehen ließ, gebot mir meine Pflicht als treuer Diener, und ich weiß, Hoheit haben mich nicht mißverstanden. Eben habe ich jedoch nur Angenehmes melden wollen: Baron Lothar Gerold bittet um die Ehre, seinen hohen Gutsnachbar begrüßen zu dürfen.“

Die Herzogin wandte sich lebhaft um. „O, herzlich willkommen!“ rief sie, und als nach ein paar Augenblicken Lothar in das Zimmer trat, streckte sie ihm die schmale Hand entgegen: „Mein lieber Baron, welch große Freude!“

Der Baron hatte diese Hand ergriffen und sie ehrfurchtsvoll an seine Lippen gedrückt. Dann, sich vor dem Herzog verbeugend, sprach er mit seiner tiefen wohlklingenden Stimme: „Hoheit gestatten, mich von meinen Reisen zurückzumelden; ich denke mich jetzt wieder hier zu acclimatisiren.“

„Es war die höchste Zeit, Vetter, Sie haben uns lange warten lassen,“ erwiederte der Herzog und reichte dem stattlichen Manne die Rechte.

Der Baron lächelte fein; der Herzog schien außerordentlich guter Stimmung.

„Aber daß Sie allein kommen mußten, lieber Gerold!“ rief die Herzogin, und abermals streckte sie ihm die Hand herüber und in ihren schönen heißen Augen funkelten plötzlich Thränen. „Arme Katharine!“

„Ich habe mein Kind mit heimbringen dürfen, königliche Hoheit,“ entgegnete er ernst.

„Ich weiß, Gerold, ich weiß! Aber ein Kind – es ist ein Kind und ersetzt nur zum Theil die Lebensgefährtin!“

Sie hatte es fast leidenschaftlich gesprochen, und ihre Augen suchten den Herzog, der an einem kostbar eingelegten Schränkchen lehnte und, als habe er nichts gehört, durch die Fenster hinausschaute auf die Lindenzweige, die sich im vollsten Nachmittagssonnenschein wiegten.

Eine Pause entstand; langsam senkte das junge Weib die Wimpern, und über ihre Wangen rollten ein paar Thränen, die sie hastig abtrocknete. „Es muß so schwer sein, im vollsten Glück zu sterben,“ sagte sie noch einmal.

[88] Wiederum eine Pause. Die Drei waren allein im Zimmer; der alte Kastellan hatte sich längst mit seiner Leiter hinausgeschlichen, und Palmer, des Herzogs Privatsekretär, ein großer vielbeneideter Günstling des regierenden Herrn, stand im Nebenzimmer hinter einem Thürvorhang, unbeweglich wie eine Statue.

„Apropos, Baron Gerold,“ nahm die Herzogin jetzt lebhaft wieder das Wort, „haben Sie auch die Wundermär gehört von den Kostbarkeiten, die im Eulenhaus gefunden sein sollen?“

„In der That, Hoheit, das alte Gemäuer hat seinen Schatz herausgegeben,“ erwiederte sichtlich aufathmend Baron Lothar.

„Wahrhaftig?“ fragte der Herzog ungläubig lächelnd. „Was ist es? Altargefäße – gemünztes Gold?“

„Nichts von klingendem Werth, Hoheit. Es ist Wachs, einfaches gelbes Wachs, welches die Nonnen dort vermauerten, als der Feind im Anzuge war.“

„Wachs?“ rief die Herzogin enttäuscht.

„Hoheit, es ist so gut wie baare Münze, echtes unverfälschtes Wachs. Heutzutage –“

„Sahen Sie es?“ unterbrach ihn der Herzog.

„Sicherlich, Hoheit! Ich beschaute mir den Fund an Ort und Stelle.“

„So ist das Tischtuch, das so lange zwischen den Altensteinern und Neuhäusern zerschnitten war, wieder zusammengeflickt?“ klang es gelassen aus dem Munde des hohen Herrn.

„Hoheit, meine Schwester Beate und Claudine von Gerold sind Freundinnen seit ihrer Kindheit,“ erwiederte der Neuhäuser ebenso gelassen.

„Ah so!“ Der Herzog hatte es noch eine Nüance gleichgültiger gesprochen und schaute wieder zum Fenster hinaus.

„Aber wissen Sie, lieber Gerold, ich möchte diesen Wachsfund sehen!“ rief die Herzogin.

„Dann müssen Hoheit sich beeilen; denn die Händler sind dahinter her, wie die Wespen hinter reifen Früchten.“

„Hörst Du, Adalbert, wollen wir nicht hinüber fahren?“

„Morgen, übermorgen, Elise, wann Du willst – nachdem wir uns vergewissert haben, daß wir dort nicht stören.“

„Stören? Claudine stören? Ich denke, sie wird sich freuen, in ihrer Einsamkeit Menschen zu sehen. Bitte, Adalbert, gieb Befehl, laß uns gleich fahren.“

Der Herzog wandte sich um. „Gleich?“ fragte er, und eine leichte Blässe trat in sein schönes Antlitz.

„Gleich, Adalbert, bitte!“

Sie hatte sich lebhaft erhoben und war zu ihrem Gemahl getreten; ihre Hand legte sich bittend auf die seine; ihre Augen, diese unnatürlich glänzenden Augen, schauten ihn an, flehend wie die eines Kindes.

Er blickte hinaus, als prüfe er das Wetter. „Aber die Fahrt zurück durch die Abendkühle?“ murmelte er.

„O, in der köstlichen Waldluft?“ bat sie; „ich bin ja ganz gesund, Adalbert, wirklich ganz gesund.“

Er verbeugte sich, wie zustimmend, und zu Palmer gewendet, der eben eintrat, gab er den Befehl für die Fahrt. Dann, nachdem er noch Lothar aufgefordert hatte, mitzukommen, bot er der Herzogin den Arm, die sich, um für die Ausfahrt Toilette zu machen, in ihre Zimmer begab.

Der Neuhäuser schaute dem Paare nach mit düsteren Blicken; was war während seiner Abwesenheit aus der Herzogin geworden, aus dieser, wenn auch zarten, doch so elastischen eleganten Frau mit dem innigen enthusiastischen Wesen, begeistert für alles Schöne? Der Frau, welche die Pflichten ihres Standes als Landesmutter mit wahrhaft fanatischem Eifer ergriffen hatte? Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, und das Feuer, das aus ihren Augen flackerte, war Fiebergluth; statt der früher so reizenden Lebhaftigkeit eine nervöse Unruhe, die das Kranke in ihr so recht zum Ausdruck brachte. Und Er? Eben schlug der Vorhang hinter seiner hohen, auffallend schönen Gestalt zusammen, diesem Urbild von Kraft; ein alter Germane in seinem blonden Haupthaar, mit der kühlen Ruhe und den blauen Augen eines solchen; hartnäckig bis zum Aeußersten in dem, was er einmal gewollt. Baron Lothar wußte selbst nicht, wie es kam, er mußte einer Jagd gedenken. Der Herzog hatte einen prächtigen Zwölfender gesehen, der ihm immer wieder entging; Tage, Nächte lang war er auf der Fährte des Wildes, nur von einem Jäger begleitet; und mit einer Ausdauer sonder Gleichen ertrug er die Strapazen der Birsch. Seine Begleitung erblickte ihn erst am vierten Morgen wieder in schmutziger durchnäßter Kleidung – während der Nacht war ein starkes Gewitter niedergegangen – und mit kothbespritzten Stiefeln, aber den Zwölfer hatte er in der Morgenfrühe geschossen. Ja, hartnäckig, zum Aeußersten hartnäckig, und darum –

Des Barons Blicke hafteten noch immer auf der violetten Portière; er sah erst auf, als Herr von Palmer erschien und sich ihm mit eleganter Leichtigkeit näherte.

„Gestatten Sie auch mir, Herr Baron,“ begann der kleine zierliche Mann, an dessen Schläfen sich bereits graue Haare krausten, „gestatten Sie auch mir, Sie zu begrüßen auf heimischem Boden. Sie sind in den Salons unseres Hofes zu schmerzlich vermißt worden, als daß wir nicht völlig in der freudigsten Aufregung sein sollten, Sie endlich wieder zu haben.“

Baron Lothar sah von seiner stattlichen Höhe, ohne eine Miene zu verziehen, auf das gelbliche Antlitz des Sprechenden herab. „Ein eigenthümliches Gesicht, eine Gaunerphysiognomie,“ sagte er zu sich selbst, indem er den südlich gelblichen Teint, die dunklen dreisten Augen, von starken Brauen überschattet, und die Stirn betrachtete, die sich bereits bis über den halben Kopf erweitert hatte. „Sehr verbunden,“ sagte er kühl, und seine Blicke gingen von dem Kleinen zu einem der farbenglühenden Wandgemälde.

„Wie finden Sie das Aussehen Ihrer Hoheit, Herr Baron?“ fragte Palmer, indem seine Miene einen traurigen Ausdruck annahm. Und als der hochgewachsene Mann dort, in so angelegentliche Betrachtung versunken, die Frage überhört zu haben schien, setzte er hinzu: „Wir werden einen stillen Winter haben, denn sie ist eine Sterbende. Und dann –“

Lothar wandte sich jäh und sah den Sprecher an. „Und dann?“ fragte er, und sein Gesicht mit den regelmäßigen Zügen überflog ein so drohender Ausdruck, daß Palmer die Antwort schuldig blieb. „Und dann?“

In diesem Augenblick ward gemeldet, daß die Wagen bereit seien, und Baron Lothar schritt an Palmer vorüber, ohne auf einer Antwort zu bestehen.

(Fortsetzung folgt.)




Die Familie Orleans.
Von K. Th. Heigel.
(Fortsetzung.)

Auf Philipp’s gleichnamigen Sohn, der bei dem Tode des Familienhauptes 27 Jahre zählte, hatten sich die glänzenden wie die schlimmen Eigenschaften des Vaters vererbt. Trotz heftigen Widerstrebens der Mutter, die, wie St. Simon sagt, „als Fürstin von altem Schlage in Sachen des Anstandes unerbittlich war“, mußte er eine natürliche Tochter seines königlichen Oheims, Mademoiselle von Blois, heirathen. Schon zu Lebzeiten des Vaters hatte er im pfälzischen Erbfolgekrieg Proben von Muth und militärischem Geschick gegeben, gleich seinem Vater aber in Versailles nur frostigen Dank geerntet. Es läßt sich ohne Mühe nachweisen, daß dem Herzog auch während des spanischen Erbfolgekrieges nur die schwierigsten und undankbarsten Aufgaben übertragen wurden. Es ist wahr, er verlor die Schlacht von Turin, aber hauptsächlich in Folge der Lahmheit des ihm an die Seite gestellten Marschalls Marsin, der jeden kühnen Entschluß des Herzogs als abenteuerlich verurtheilte und im entscheidenden Augenblick eine geheime Ordre des Königs vorzeigen konnte, die dem Marschall allein Verfügung über die Truppen gestattete. Der Herzog sollte nicht als Sieger heimkehren: so war es der „Wille“, so war es „System des Königs“.

Nicht besser erging es dem Herzog auf dem Kriegsschauplatz in Spanien; auch hier wurde er gerade in dem Augenblicke abberufen, da die Aragonesen, Engländer und Portugiesen zurückgedrängt worden waren und Spanien als befreit angesehen werden

[89]


Der Feuerreiter

Sehet ihr am Fensterlein
Dort die rothe Mütze wieder?
Nicht geheuer muß es sein,
Denn er geht schon auf und nieder.

5
Und auf einmal welch Gewühle

Bei der Brücke, nach dem Feld’!
Horch! das Feuerglöcklein gellt:
     Hinter’m Berg,
     Hinter’m Berg

10
Brennt es in der Mühle!


Schaut! da sprengt er wüthend schier
Durch das Thor, der Feuerreiter,
Auf dem rippendürren Thier,
Als auf einer Feuerleiter!

15
Querfeldein! Durch Qualm und Schwüle

Rennt er schon und ist am Ort!
Drüben schallt es fort und fort:
     Hinter’m Berg,
     Hinter’m Berg

20
Brennt es in der Mühle!


Der so oft den rothen Hahn
Meilenweit von fern gerochen,
Mit des heil’gen Kreuzes Spahn
Freventlich die Gluth besprochen –

25
Weh! dir grinst vom Dachgestühle

Dort der Feind im Höllenschein.
Gnade Gott der Seele dein!
     Hinter’m Berg,
     Hinter’m Berg

30
Rast er in der Mühle!


Keine Stunde hielt es an,
Bis die Mühle borst in Trümmer:
Doch den kecken Reitersmann
Sah man von der Stunde nimmer.

35
Volk und Wagen im Gewühle

Kehren heim von all’ dem Graus;
Auch das Glöcklein klinget aus:
     Hinter’m Berg,
     Hinter’m Berg

40
Brennt’s! –


Nach der Zeit ein Müller fand
Ein Gerippe sammt der Mützen
Aufrecht an der Kellerwand
Auf der beinern’ Mähre sitzen:

45
Feuerreiter, wie so kühle

Reitest du in deinem Grab!
Husch! da fällt’s in Asche ab.
     Ruhe wohl,
     Ruhe wohl

50
Drunten in der Mühle!
Eduard Mörike.

[90] konnte. Die Abberufung war erfolgt auf Verlangen Philipp’s V., der durch geheime Umtriebe des Vetters seinen spanischen Thron bedroht glaubte. Dieser Argwohn war auch, wie wir heute bestimmt wissen, nicht unbegründet. Philipp von Orleans war eben nicht der brave Soldat, der nur in Erfüllung seiner militärischen Pflichten sein Ziel und seinen Lohn erblickt; darauf sich stützend, daß sein Vater ehedem gegen das Testament Karl’s II. von Spanien und die Erhebung Philipp’s von Anjou auf den spanischen Thron protestirt hatte, trat er sogar mit den Engländern in geheime Verbindung und war bereit, den Neffen Philipp nicht etwa, wie er glauben machen wollte, dem Vortheil Frankreichs, sondern seinem Ehrgeiz zu opfern. Natürlich mochte ihn der ohnehin so mißtrauische König nach solchen Erfahrungen noch um so weniger mit wichtigen Aufgaben betrauen. So wurde denn das Palais Royal wieder der Schauplatz der wildesten Orgien. Philipp begünstigte zwar die Künste, aber nur, in so weit sie Sinnengenuß gewährten und Prachtliebe befriedigten, er liebte Philosophie, aber nur diejenige, die alles lernt, um das Nichts zu lehren; er pflog intimen Verkehr mit Männern der Wissenschaft, aber nur um ihre Kenntnisse zu phantastischen Experimenten zu mißbrauchen. Er wechselte seine Gunstdamen wie die Kleider und verpraßte die Nächte mit Genossen, die er verachtete; St. Simon erzählt, der Herzog selbst habe die Gäste des Palais Royal mit dem Wort Roué, das heißt Geräderter, Galgenstrick, charakterisirt. Er betrieb die Korruption wie eine Kunst und schwang sich darin, unterstützt durch elegante Erscheinung und verführerische Redegabe, zum Meister auf.

Aus solchem Betragen läßt sich erklären, daß bei Hofe und in Volkskreisen der Verdacht erwachen konnte, der Herzog sei nicht bloß ein leichtsinniger Wüstling, sondern ein verbrecherischer Streber, der durch seine Schwarzkünstler nicht auf den Stein der Weisen fahnden, sondern rasch und spurlos wirkende „Successionspulver“ fabriciren lasse. Der Argwohn schien grauenhafte Bestätigung zu finden, als im Jahre 1712 binnen zehn Monaten drei Thronfolger, der Dauphin und die Herzöge von Burgund und Bretagne, also Großvater, Vater und Kind, nach einander von jähem Tode dahingerafft wurden, so daß von den legitimen Nachkommen des greisen Königs nur noch sein zweiter Enkel, Philipp V. von Spanien, und sein Urenkel, der zweijährige Ludwig, am Leben waren. So allgemein wurde dem Herzog die Schuld an dem düsteren Verhängniß beigemessen, daß er nicht mehr seinen Palast verlassen durfte, da er Gefahr lief, vom wüthenden Volke gesteinigt zu werden. Alle verdammten ihn, nur Einer nicht: König Ludwig war nicht zu überreden, daß der Herzog so ruchlosen Frevels fähig sei, und die Thatsache, daß der sonst so Argwöhnische an die Schuldlosigkeit Philipp’s glaubte, hat diesen nicht bloß vor dem Gefängniß bewahrt, sondern erwirkte für ihn auch vor dem Richterstuhl der Geschichte ein freisprechendes Urtheil.

Da aber Philipp fortfuhr, mit cynischen Principien und sittenlosem Wandel zu prunken, während Ludwig in seinen letzten Lebensjahren immer tiefer in Frömmelei versank, bestand die Entfremdung zwischen den Beiden fort. Die Mißgunst Ludwig’s XIV. trat noch in seinem Testament zu Tage, indem er gegen alle Tradition Philipp nur eine untergeordnete Stellung im Regentschaftsrath für die Dauer der Minderjährigkeit des Thronfolgers eingeräumt wissen wollte.

In Frankreich sind aber allezeit die Menschen mächtiger gewesen als die Gesetze. Nach dem Tode Ludwig’s XIV. (2. September 1715) ließ Philipp durch das Parlament von Paris das Testament für null und nichtig erklären und trat als „Regent“ die Herrschaft an.

Sein Regierungsprogramm läßt sich in einen Satz zusammenfassen: er strebte das Gegentheil von allem an, was sein Vorgänger hochgehalten hatte.

Für die auswärtige Politik war maßgebend, daß er die Unterstützung der vom englischen Thron gestoßenen Stuarts aufgab. Wie schon der „prince-philosophe“ noch zu Lebzeiten Ludwig’s XIV. zum Aergerniß von ganz Versailles Sympathie mit der „glorreichen“ Revolution von 1688 und Bewunderung der britischen Verfassung kundgegeben hatte, so strebte der Regent für Frankreich engstes Bündniß mit England an. Während er aber in jungen Jahren für Krieg und kriegerischen Ruhm geschwärmt hatte, erblickte er nunmehr, genöthigt durch die trostlose Finanzlage des Reichs, seine wichtigste Aufgabe in wirthschaftlichen Reformen. Daß ihm der gute Wille nicht fehlte, braucht nicht bezweifelt zu werden; daß er aber verkehrte Mittel wählte, indem er allzu einseitig den Industrialismus, ja das schädlichste Börsenspiel begünstigte, daß er nur das Volk verdarb und den Staat an den Rand des Abgrundes zerrte, beweist ein einziger Name. Es genügt, den Günstling des Regenten zu nennen, den allmächtigen Chef der Staatsbank und Erfinder aller möglichen wirthschaftlichen Arkana, den eben so leichtfertigen wie genialen John Law. Doch hat die Geschichte der Regentschaft nicht ausschließlich dunkle Blätter aufzuweisen. Manche harte, ungerechte Verordnung des absolutistischen Systems Ludwig’s XIV. wurde gemildert; das Ansehen der Parlamente hob sich, die Gerichtshöfe wurden wieder unabhängig; vor allem hörte die von Frau von Maintenon befohlene Verfolgung der Gewissen auf. St. Simon spricht deshalb mit Bewunderung von den Talenten und Kenntnissen des Regenten und entschuldigt dessen Lebenswandel mit der Lafterhaftigkeit des Jahrhunderts. Voltaire rühmt, daß von allen Nachkommen Heinrichs IV. Philipp von Orleans dem Ahnherrn am ähnlichsten gewesen sei; durch Tapferkeit, Frohsinn, Freimuth, geistvolle Rede, auch durch seine Gesichtszüge, ja durch sein ganzes Wesen habe er an den Bearner erinnert. Ein Historiker freilich, der seine Moral nicht aus Bayle schöpft und bei der Sittenlosigkeit des 18. Jahrhunderts an die dadurch hervorgerufenen Gräuel der großen Revolution denkt, kann nicht so mildes Urtheil fällen, kann nur bedauern, daß die liebenswürdigen Vorzüge untergingen in schmachvollen Ausschweifungen. Philipp starb unwürdig, wie er gelebt hatte, am 2. December 1723.

Wie ein Wunder mag es erschienen sein, daß der Sohn des Regenten, Louis, inmitten der zügellosen Frivolität des Palais Royal Reinheit der Sitte und frommen Sinn bewahrte. Als ob er seine Tage der Sühne für die Lasterhaftigkeit seiner Familie geweiht hätte, lebte er nur dem Gebet und dem Studium; der Vater soll einmal vorwurfsvoll zu ihm gesagt haben: „Du wirst nie etwas Anderes sein, als ein anständiger Mensch!“

Natürlich diente der andächtige Verkehr eines Orleans mit dem Jenseits den beaux-esprits von Versailles und Paris als Zielscheibe des Witzes. Der „Betbruder“ zog sich also gänzlich vom Hofleben zurück und fand in der Abtei St. Geneviève ein stilles Asyl.

Gegen die Gelassenheit und Beschaulichkeit „Génovevains“ und seiner frommen Gemahlin, einer badischen Prinzessin, stach das unruhige Temperament ihres Sohnes, Ludwig Philipp’s, merkwürdig ab. Der war mit Leib und Seele Soldat und focht unter den Bravsten bei Dettingen und Fontenoy. Ob er auch Befähigung zum Strategen besaß, wurde nicht erprobt; denn aus dynastischen Rücksichten wurde auch ihm, der überdies ein Gegner der Pompadour war, ein wichtigeres Kommando nicht anvertraut. Trotzdem war der ritterliche Prinz ein Liebling des Volks, das ihn den „König von Paris“ nannte, ein Gegenstück zum „König von Versailles“, den Etikette und Furcht von der Hauptstadt fern hielten. Dagegen war die Herzogin, eine geborene Fürstin Conti, allgemein verachtet; sie pflog Verkehr mit den radikalsten Freigeistern und sah nicht nur in gesellschaftlichen Formen, sondern auch in Moral und Weiblichkeit „Anachronismen“; sie war die würdige Mutter des „Bürgers Egalité“.

Louis Philipp Joseph, Herzog von Orleans, geboren am 13. April 1747 zu St. Cloud, gehört zu jenen widerwärtigsten Gestalten der Geschichte, auf welche das Wort des Tacitus anzuwendete ist: „Ich will nichts Falsches von ihm sagen und schäme mich, die Wahrheit über ihn zu sagen.“

Schon als Knabe und Jüngling galt er für frech und gemein; er lebte nur seinen Lüsten und prahlte mit zügelloser Liederlichkeit. Durch Vermählung mit Louise Marie, der einzigen Tochter des Herzogs von Penthièvre, des letzten Nachkommen der illegitimen Sippe Ludwig’s XIV., gelangte er in Besitz des ungeheuren Vermögens, das Ludwig seinen natürlichen Kindern überlassen hatte; Tournois weist spöttisch darauf hin, daß jener König selbst durchaus gegen seinen Willen zum Reichthum der Familie des gehaßten und gefürchteten Bruders den Grund legte. Auch nach der Hochzeit blieb das Palais Royal ein Tummelplatz der Libertinage. Zweifellos ist vieles nicht wahr, was Pamphletisten aus den Volkskreisen und Memoirenschreiber vom Hofe zu Versailles über diesen Orleans der Nachwelt überliefert haben. Daß er um der Erbschaft willen den Prinzen von Lamballe vergiftet [91] und lästige Verwandte und gefährliche Widersacher mit Gift und Dolch aus dem Wege geräumt habe, ist eine unerwiesene Behauptung. Man würdigt ihn auch unverdienter Auszeichnung, wenn man ihn, „le genie même du mal“, den Vater der Revolution nennt, der allein den Sturm gegen Thron und Altar entfesselt und die Hunderttausende von umsturzsüchtigen Kommunisten und Schwärmern wie ein Feldherr geleitet habe. Dazu fehlte ihm der große Zug; er gehörte nie zu den eigentlichen Führern; denn es gebrach ihm ebenso an Muth wie an Ueberzeugungstreue. Allerdings haben die systematisch betriebene Verdächtigung der Königin, die Opposition der von ihm beeinflußten Journale, das Buhlen eines Prinzen von Geblüt um die Gunst der niedrigsten Volkskreise die allgemeine Aufregung und Verwirrung gesteigert, und es steht heute fest, daß einigen „großen“ Revolutionsmännern, u. A. dem nicht selten mit Brutus verglichenen Camille Desmoulins, schon vor den Tagen des Bastillensturmes ein regelmäßiger Sold im Palais Royal ausbezahlt wurde. Es war auch politische Berechnung im Spiele, wenn der Herzog die Anglomanie in Mode zu bringen suchte, sein Haar ungepudert trug, in Pantalons und langem Rock promenirte, seinen Wagen selbst kutschirte, nach englischer Sitte Kaufläden in seinen Palast aufnahm, kurz, alles nachmachte, was er während eines kurzen Aufenthalts in England gesehen hatte; es war damit beabsichtigt, dem Volk den Gegensatz zwischen dem alten Frankreich und dem „jungen“ Europa vor Augen zu bringen und sich selbst als vorurtheilslosen Freund der Gleichheit aller Stände, als Mann der Zukunft zu empfehlen.

Als Marie Antoinette im Januar 1788 durchgesetzt hatte, daß Herzog Philipp als notorischer Urheber der gegen die Königin in Umlauf gesetzten Lästerschriften auf sein Gut Villerscaterets verbannt wurde, legte das Parlament von Paris gegen diese Bestrafung Protest ein. Allerdings handelte es sich zunächst um die Principienfrage, aber auch die „Bürgerfreundlichkeit“ des Betroffenen war in Betracht gezogen worden. Ludwig XVI. mußte nachgeben und die Verbannung aufheben – es war ein Vorspiel zu den verhängnißvollen Auftritten des nächsten Jahres.

Welche Rolle spielte Orleans in den Revolutionstagen? Wenn wir Tournois Glauben schenken dürften, hätten wir uns zwei Lager zu denken: hier den König, beherrscht von der intriguanten „Oesterreicherin“, zu gefährlichsten Mißgriffen verführt durch seine aus Deutschen, Schweden und englischen Jakobiten zusammengesetzte Umgebung, – dort das Volk, das seinen König aus unwürdigen Banden befreien will, das instinktmäßig um einen Mann sich schart, der mit der abgelebten Vergangenheit gebrochen hat, als Sohn der Gegenwart sich fühlt und erhobenen Hauptes in die Zukunft blickt, das heißt, um den Herzog von Orleans. Wie wäre aber mit dieser Charakteristik die Thatsache zu vereinen, daß den Zug des entmenschten Pöbels nach Versailles kein Anderer in Scene gesetzt hat, als der „Kousin“ des Königs, der mithin an den Gräueln des 5. und 6. Oktober 1789 die Hauptschuld trägt!

Necker äußert in seinen Denkwürdigkeiten, der Herzog habe nur beabsichtigt, den König zu ängstigen und zur Flucht zu bewegen, um sich dann von seinen Getreuen zum Generalstatthalter ernennen zu lassen. Allein schon Oncken hat auf eine Angabe des Polizeiministers Real hingewiesen, wonach der Herzog am Abend des 6. Oktobers zu seinem Bankier sagte:

„Zahlen Sie heute nichts! Das Geld ist nicht verdient, der Tropf lebt noch!“

Ist dies die Sprache eines „nur von der unwiderstehlichen Macht der Umstände gefangenen Unglücklichen“? In den herzoglichen Gemächern des Palais Royal saßen die „Freunde der Freiheit“ über die „Feinde des Volkes“ zu Gericht, und die im Palais Royal eingerichteten Kaffeehäuser Foy, Valois, Corazza etc. waren die Mittelpunkte der revolutionären Bewegung. Freilich hielt der Herzog anfänglich noch für angemessen, sich von seinen Standesgenossen nicht gänzlich zurückzuziehen, aber das „Es lebe der Herzog von Orleans, es lebe der Vater des Volkes!“ im Munde der Sansculottes und Megären, die auf ihren Piken Köpfe von erschlagenen Gardisten im Triumph herumtrugen, gab Aufklärung, wessen sich der König und die Seinen von diesem „Nachkommen des heiligen Ludwig“ zu versehen hätten.

„Herr d’Orleans,“ schrieb Lafayette an den Bailli Ploën, „hat niedrig spekulirt auf die Krone, wobei sein Leben das einzige war, was er nicht aufs Spiel setzte, und sein Geld das einzige, dessen Verlust ihn schmerzte!“

Welche Stirn muß der Mann gehabt haben, der, obwohl seit Juni 1791 Mitglied des Jakobinerklubs, doch noch beim Lever des Königs sich einfand, angeblich um sich ein Kommando zu erbitten, damit er sich der lästigen Zudringlichkeit der Pariser entziehen könnte! Freilich fand er bei den Getreuen des Königs nur eine Aufnahme, wie er sie verdiente. Die Kavaliere drängten ihn, wie der Minister Motteville erzählt, ziemlich unsanft zur Thür, und als er ins Gemach der Königin trat, wo die Tafel gedeckt war, wurden rasch die Schüsseln entfernt, aus Furcht, der ungebetene Gast möchte im Vorbeigehen ein Pülverchen in die Speisen mischen. War dies aber unverdiente Unbill für einen Prinzen, der im Jakobinerklub zur Schmach seiner Mutter versicherte, er sei gar kein Orleans, sondern der Sohn eines Kutschers Lacroix; der den Namen Egalité annahm und eine Erklärung veröffentlichte, er werde stets der Pflichten eingedenk sein, die ihm der stolze Name auferlege? Im Sinn und nach dem Herzen von Gracchus Babeuf und Genossen erfüllte er auch dieses Versprechen, indem er in der berüchtigten Konventsitzung am 17. Januar 1793 auf die Frage, ob „Louis Capet“ des Todes schuldig, mit einem lauten „Oui!“ antwortete. Sogar bei den Mitgliedern des Bergs und bei den Tricoteuses auf der Tribüne wurde ein Murren der Entrüstung laut, und als Egalité noch einmal die Worte sprach. „Ich stimme für den Tod!“ riefen zahlreiche Stimmen: „Oh, horreur, oh ce monstre!“

Doch nachdem einmal das Haupt des unglücklichsten Königs der Guillotine zum Opfer gefallen war, wurde die Revolution immer unersättlicher, bis sie zuletzt die eigenen Kinder verschlang. Es ging in Erfüllung, was der Girondist Manuel nach jener Abstimmung Philipp’s prophezeit hatte. „Heute ist er Richter, morgen wird er Henker sein, übermorgen Opfer!“

Schon wenige Tage nach dem Königsmord dennucirte Buzot im Konvent „eine Partei, die er nicht nennen wolle, die für den Tod des Königs nur deshalb stimmte, um einen andern König zu erheben.“ Damals wurde die Warnung nicht beachtet; Egalité war ja der Zechkumpan Danton’s, des „Bonvivants in der grausen Tragödie“, der Busenfreund Desmoulin’s, des „Generalanwalts der Laterne“.

Allein nach dem Abfalle des Generals Dumouriez von der Sache der Republik schlug die Stimmung gegen Philipp jählings um. Der Sohn, Louis Philipp, Herzog von Chartres, war im Lager Dumouriez’ – Grund genug, um den Vater zu verdächtigen, daß auch er im Grunde des Herzens die Republik nicht liebe oder wohl gar zu stürzen wünsche. Robespierre, der nie zu den Freunden des Herzogs gehört hatte, in den Tagen der „Orgien des Blutdurstes“ der eigentliche Gebieter Frankreichs, ließ den abtrünnigen Bourbon verhaften und vor das Tribunal stellen. Trotz der Erklärung, er halte zwar den Sohn für unschuldig, wolle aber, wenn ihm dessen Schuld nachgewiesen werde, wie ein zweiter Brutus handeln, wurde Philipp zum Tode verurtheilt. Am 6. November 1793 starb er durch Henkershand auf dem nämlichen Eintrachtsplatz, wo König Ludwig das Schaffot bestiegen hatte. In den letzten Augenblicken legte Philipp eine Würde an den Tag, die er im Leben nur allzu häufig hatte vermissen lassen. Beaulieu, der ihn vom Fenster seiner Zelle durch den Gefängnißhof schreiten und den verhängnißvollen Karren besteigen sah, versichert: „Man hätte ihn eher für einen General halten können, der seine Truppen zur Heerschau führt, als für einen Verurtheilten, der sich zum letzten Gang anschickt.“

Als der Zug mit dem Armensünderwagen in die Nähe des Palais Royal kam, fing eine Rotte bewaffneter Arbeiter mit den Soldaten der Eskorte Händel an, wurde aber rasch zurückgedrängt.

Der Vorfall veranlaßte ein Gerücht, orleanistische Parteigänger hätten die Absicht gehegt, den Gefangenen zu befreien, Robespierre zu ermorden und den Herzog zum Diktator zu erheben, und der Anschlag sei nur durch zufällige Abwesenheit Robespierre’s vereitelt worden. Ob ein derartiges Komplott wirklich bestand, ist nicht festzustellen. In den Memoiren des damaligen Präsidenten des Konvents, Barère, findet sich die Behauptung, der ganze Proceß gegen Philipp Egalité sei von den Emigranten angestiftet worden und Robespierre sei nur das Werkzeug der in Koblenz geplanten Intrigue gewesen; auch die Wahrheit dieser Angabe ist nicht erhärtet.

[92] Der Titel eines Herzogs von Orleans, den ganz Europa nur mit Abscheu aussprach, war das einzige Erbe, das auf Philipp’s Sohn, Louis Philipp, geboren 6. Oktober 1773, überging.

Der Prinz hatte eine sorgfältige Erziehung genossen, insofern er fünf lebende Sprachen und eine Menge Kenntnisse erlernt hatte; im Uebrigen war die Methode der Erzieherin, der bekannten Schriftstellerin Frau von Genlis, die im Palais Royal eine zweideutige Stellung einnahm, so radikal wie möglich gewesen. Demgemäß schwärmte schon der Knabe für die Principien der Revolution; der Siebzehnjährige trat trotz der Abmahnung seiner Mutter in den Jakobinerklub ein und verrichtete hier gleich anderen Novizen den Dienst eines Thürhüters und Ausrufers. Als jedoch Buzot im Konvent jenen Angriff auf die Familie Orleans richtete, erblickte Ludwig Philipp darin eine Mahnung, sich aus der „großen Falle Paris“ zu retten, und begab sich ins Lager Dumouriez’. Der Kommandant der Nordarmee hielt große Stücke auf den Prinzen und dachte ihm bei seinen Restaurationsplänen eine hervorragende Stellung zu, wenn auch nicht die Krone. In der Schlacht bei Neerwinden am 18. März 1793 befehligte „General Egalité“ das Centrum. Als der geschlagene Dumouriez mit den Oesterreichern in Unterhandlung trat, ging auch Ludwig Philipp zu den Feinden über, erlangte aber nur einen Paß, um in der Schweiz eine Zuflucht zu suchen. Von allen Mitteln entblößt, nahm er unter dem Namen Chabaud-Latour eine Stelle am Kollegium zu Reichenau an; in deutscher Sprache lehrte er Geschichte, Geographie und Mathematik, auch Französisch und Englisch. Da er sich aber auch in jenen Klostermauern vor Verfolgung der Aristokraten nicht mehr für sicher hielt, verließ er im Juni Reichenau, nicht ohne sich ein Zeugniß seiner guten Führung als Lehrer ausstellen zu lassen. Nun irrte er, ohne einen Sou in der Tasche zu haben, monatelang in der Schweiz umher, bis General Montesquiou dem Flüchtling die Mittel bot, nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika auszuwandern, wohin ihn der amerikanische Gesandte in Paris, Morris, eingeladen hatte.

Nachdem er noch vorher die skandinavischen Staaten bereist hatte, schiffte er sich mit seinen zwei jüngeren Brüdern nach Amerika ein. Er besuchte die großen Handelsmetropolen des Westens und dehnte seine Wanderung bis in die von Indianerstämmen bewohnten Prairien aus. Nach mannigfaltigen Abenteuern kehrte er 1800 nach London zurück. Da das Direktorium die 1797 verordnete Zurückgabe des konfiscirten dynastischen Hausguts wieder rückgängig gemacht hatte, sah sich der Herzog abermals genöthigt, fremde Hilfe anzurufen; er wandte sich an die – Bourbons. Durch Vermittelung des Grafen Artois (nachmals Karl X.!) fand der Gesuchsteller trotz aller störenden Erinnerungen gnädige Aufnahme bei dem Roi en exil, Ludwig XVIII. Die Fürsprache der Bourbons verschaffte dem Herzog den Bezug einer beträchtlichen Jahresrente aus den Fonds der englischen Regierung. Nach dem Tode seiner beiden Brüder Montpensier und Beaujolais begab er sich nach Palermo, wo damals der durch Murat aus Neapel verdrängte königliche Hof residirte. Der gemeinsame Haß gegen Napoleon überbrückte auch hier die Kluft zwischen ihm und dem Bourbon Ferdinand, und nachdem die Geschmeidigkeit des Herzogs auch über die Abneigung der Königin, einer Schwester Marie Antoinettens, gesiegt hatte, erhielt er die Hand der Tochter des königlichen Paares, der herzensguten Marie Amalie; am 25. November 1809 wurde in Palermo die Hochzeit gefeiert.

In den Briefen Ludwig Philipp’s aus jener Zeit giebt sich leidenschaftliche Erbitterung über Napoleon kund, während mit Enthusiasmus von den Pflichten gegen die königliche Familie gesprochen wird.

„Niemals würde ich eine Krone annehmen,“ schrieb er 1808 an seine künftige Schwiegermutter, „so lange ich nicht nach unserm Erbfolgegesetz dazu berechtigt bin. Für Schmach und Schande würde ich es ansehen, wollte ich der Nachfolger Bonaparte’s werden und eine Stellung einnehmen, die nur durch nichtswürdigen Meineid zu erringen, durch Schurkerei zu behaupten wäre. Mich beseelt anderer Ehrgeiz; ich will am Sturz der Herrschaft Bonaparte’s Antheil haben, will auch ein Werkzeug der Vorsehung sein, um die Menschheit von einem Tyrannen zu befreien und auf den Thron meiner Väter wieder meinen königlichen Gebieter und ebenso auf alle gestürzten Throne die rechtmäßigen Herrscher zurückzuführen. Ich will der Welt zeigen, daß ein Mann wie ich jede Usurpation verachtet und verabscheut und daß nur Emporkömmlinge ohne Familie und ohne Ehre sich etwas aneignen, was ihnen eine günstige Gelegenheit in die Hände spielt.“

Mit solcher Pietät gegen das alte Königthum stand freilich des Herzogs Vorliebe für England und englisches Wesen in einem gewissen Widerspruch.

„Ich habe mein Vaterland so früh verlassen,“ schreibt er einmal an den Bischof von Landaff, „daß ich kaum etwas von französischer Art an mir habe, vielmehr in Wahrheit England angehöre, nicht bloß aus Gründen der Dankbarkeit, sondern auch der Neigung und des Geschmacks.“

Im Gefolge der Bourbons kehrte der Sohn des Bürgers Egalité im Mai 1814 nach Paris zurück. Kurz vorher hatte er nochmals Ludwig XVIII. seiner unbedingten Ergebenheit versichert und überschwänglicher Freude Ausdruck gegeben, daß endlich das Ungeheuer (ce monstre) gestürzt werde; es sei an der Zeit, ein Ende zu machen mit der Revolution und ihrer niedrigsten Ausgeburt, Bonaparte, den er zwar hasse, aber noch gründlicher verachte. Wie grell sticht gegen solche Worte die Proklamation Ludwig Philipp’s von 1840 ab, wo von Napoleon, dessen „Reliquien“ soeben nach Paris gebracht wurden, gesagt ist: „Er war König und Kaiser zugleich, er war der wahre legitime Herrscher unseres Landes!“

Ludwig XVIII. gab dem Herzog alle Hausgüter zurück und verhalf ihm überdies zur Wiedererlangung des Vermögens seiner Mutter, der Erbtochter des Herzogs von Penthièvre. Der Herzog verfügte jetzt über Reichthümer, welche den Besitz sämmtlicher Prinzen der älteren Linie weit überragten. Fortan war es die Hauptsorge des ehemaligen Lehrers von Reichenau, seinen Besitz zu vermehren; er liebte das Geld an sich, seine Schätze sollten ihm aber auch politische Vortheile zuwenden; denn wenn er auch öffentlich dem regierenden Monarchen unterthänigste Ergebenheit bezeugte, ließ er sich doch schon unmittelbar nach seiner Rückkehr angelegen sein, eine oppositionelle Partei um sich zu sammeln, indem er bald seine Eigenschaft als Mitglied der bourbonischen Familie, bald seine jakobinische Vergangenheit hervorkehrte. In diesem Bestreben wurde er durch die Abneigung der älteren Linie der Dynastie gegen jedes Zugeständniß in konstitutionellem Sinne unterstützt. Schon im Januar 1815 wurde ein Komplott aufgedeckt, dessen Theilnehmer, hauptsächlich dem Officiersstand angehörig, Ludwig XVIII. eine neue Konstitution aufnöthigen oder den verfassungsfreundlichen Herzog von Orleans auf den Thron erheben wollten. Natürlich wurde der König mißtrauisch gegen den Vetter; allein es ließ sich nicht beweisen, daß dieser selbst die Verschwörer begünstigt hätte. Während der hundert Tage floh auch Orleans mit der königlichen Familie nach England, aber Napoleon’s Niederlage führte „der in Orleans verkörperten Idee“ neue Anhänger zu. Vier Tage nach der Schlacht bei Waterloo schrieb Marschall Soult an Napoleon: „Der Name Orleans ist im Munde fast sämmtlicher Generäle!“

Zwischen den Anhängern des Napoleonischen Cäsarenthums und der absolutistischen Monarchie erwuchs der „tiers parti“, eine Mittelpartei, die ein auf politische Freiheit sich stützendes Königthum aufrichten wollte. Im Palais Royal pflegten sich die Benjamin Constant, Lafitte, Sebastiani, Stanislas, Girardin und andere Vertreter der liberalen Opposition zu versammeln. Von Wichtigkeit war es, daß Thiers und Mignet, die Hauptmitarbeiter des „Constitutionnel“, des angesehensten liberalen Organs, die zu den beliebtesten und berühmtesten Wortführern des Liberalismus zählten, die Vertretung der orleanistischen Wünsche und Interessen übernahmen. Wiederholt bildeten sich Verschwörungen zu Gunsten des Herzogs, doch dieser leugnete jede Betheiligung ab.

„Der Herzog bewegte sich nicht, und doch sah der König, daß er gehe; diese Art unbeweglicher Thätigkeit beunruhigte ihn; aber wie sollte er Jemand am Gehen hindern können, der keinen Schritt zu thun schien?“

Weder Ludwig XVIII. noch sein Nachfolger Karl X. konnten ihrem Wunsche gemäß den Vetter exiliren; denn dieser gab sich keine Blöße und erfreute sich solcher Beliebtheit, daß es gefährlich war, ihn anzutasten.

(Fortsetzung folgt.)
[93]
„Das rationelle Kleid.“
Von Wilh. F. Brand.

Es giebt Leute genug, welche die moderne Frauenkleidung als unschön und unzweckmäßig verurtheilen. Sobald aber Jemand sich beikommen läßt, an dem eng angeschnürten und wieder luftballonartig aufgeblähten, glatt anliegenden und wieder faltenreich herunterbaumelnden, oben ausgeschnittenen und unten nachschleifenden Kleide reformiren zu wollen, verfällt er dem Gelächter der Menge, derselben Menge, die über jede neue Mode, sie mag zweckmäßig oder nicht, schön oder häßlich sein, so lange spottet, bis sich das Auge daran gewöhnt hat und sie allmählich angenommen wird.

Der getheilte Rock.

Hat also jede bedeutendere Modenänderung im Anfange mit Hindernissen zu kämpfen, um wie viel stärker werden sich diese emporthürmen, sobald eine Umgestaltung aller Kleidungsprincipien ins Auge gefaßt wird, eine vollständige Revolution der ganzen Frauentracht; denn das ist es in der That, was die in England bestehende Rational Dress Society anstrebt; es läßt sich leicht denken, mit wie viel Hohn und Spott sie von allen Seiten dafür überhäuft wird. Allein die Gesellschaft, über welche die „Gartenlaube“ schon einmal berichtet hat (vergl. Jahrg. 1883, S. 508), besteht fort, nimmt an Mitgliedern zu und beweist solchergestalt ihre Lebensfähigkeit. Die Grundsätze, welche sie lehrt, sind freilich ein seltsames Gemisch von unleugbarer Wahrheit und lächerlichen Uebertreibungen – immerhin aber eigenartig und interessant genug, um eine nähere wiederholte Beachtung zu verdienen.

Die beiden Hauptangriffsobjekte der Frauenkleiderreformatoren bilden die wesentlichsten Bestandtheile weiblicher Toilette: das Korsett und der lose Rock. Gegen das erstere ist auch bereits in anderen Landen so viel und mit Recht geeifert, daß die Kleiderrationalisten in dieser Beziehung kaum etwas Neues vorzubringen vermögen und wir daher bei diesem Punkt nicht länger zu verweilen nöthig haben. Um so überraschender aber sind die bezüglich des losen Rockes angestrebten Neuerungen, der von den Revolutionären als total naturwidrig und unpraktisch verurtheilt wird.

Ohne irgend welche Rücksicht, heißt es, auf die Proportion der einzelnen Körpertheile ist das Kleid gerade unten an den Füßen am weitesten, und hier ist es offen, offen für Wind und Kälte und offen auch zur Aufnahme von aller Art Schmutz oder, wie die Viscounteß Harberton, die Präsidentin des Vereins, in ihrer Broschüre „Reform in Dress“ im einzelnen ausführt: „Es ist diejenige Art eines Kleides, deren Reinhaltung die allerschwierigste ist, da dieselbe bei jedem Schritt sich an der Ferse reibt, selbst wenn der Rock wie es indessen gewöhnlich der Fall ist – nicht gerade so lang herabhängt, daß er mit Staub und Schmutz in Berührung kommt. In solcher Kleidung auf öffentlichen Verkehrsstellen treppab zu gehen – es ist vielleicht wohlthuender, daran gar nicht zu denken!“

„Rationelle“ Frauenkleider.

Der Rock, eifern die Reformatoren weiter, der wie ein loser Umhang am Körper baumelt, verbindet ein Maximum von Gewicht mit einem Minimum von Wärme. Und dasselbe gilt von allen Unterröcken. (Ich darf mir wohl das Privilegium gestatten, bei einem derartigen Artikel, dem Beispiel der eben angeführten hohen Autorität folgend, die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Es dürfte dadurch manchen weitläufigen Umschreibungen und selbst Mißverständnissen vorgebeugt werden.) Dieser Rock, der die freie Bewegung hemmt, ist zugleich die Ursache vieler Unfälle, und die Viscounteß berechnet, daß die „Vergeudung von Muskelkraft“, die aufgewandt wird, die Beine gegen eine Masse von Draperie zu stoßen, sich auf mindestens 50 Procent beläuft und, fügt sie hinzu, ‚im Wind mag es noch viel mehr betragen.‘ Dann führt sie weiter aus, daß eine Frau jedesmal, wenn sie die Treppe hinaufgeht, bei jeder Stufe ein Gewicht von ungefähr zwei bis sechs Pfund mit ihren Beinen zu heben hat. Das heiße aber nichts Anderes, als daß eine Frau, die fünfmal eine Treppe hinaufgegangen, eben so viel Kraft aufgewandt habe, als ein Mann braucht, zehnmal hinaufzusteigen. Man lasse den letzteren nur einmal, mit Weiberröcken angethan, einen Berg erklimmen, da werde er bald innewerden, was es heiße, sich so einen künstlichen Hemmschuh an die Beine zu legen, den die Frau Präsidentin mit einem „jungle“ vergleicht, jenem undurchdringlichen indischen Gebüsch, in dem der Tiger haust. „Die Natur,“ fährt sie dann fort, „hat gewiß nie geplant, daß die halbe Menschheit sich einen künstlichen jungle schaffen sollte, durch den sie ihr Leben lang waten und den sie, um ihn nie zu entbehren, sorgfältig mit sich umherschleppen sollte.“

Da nun die Rationalisten den praktischen Gesichtspunkt überhaupt als den fast einzig berechtigten in Toilettenfragen gelten lassen, so ist ihnen selbstverständlich auch die Schleppe, die bisher mit schweren Sammt- oder scharfglänzenden Atlasfalten das Entzücken künstlerisch sehender Augen war, ein hassenswerthes Unding. Die Idee, „daß Leute wünschen können, ihre Kleider auf dem Fußboden nachzuschleppen, um sich ein würdiges Aussehen zu geben,“ wird geradezu als eine abgeschmackte Tollheit erklärt.

„Warum aber,“ fragen sie weiter, „behält man dieses Kleid bei, an dem so viel auszusetzen? Etwa seiner Schönheit wegen? Ist es denn wirkach schön?“ Dagegen protestiren sie auf das Energischste. „Ein so künstlich zusammengestückeltes naturwidriges Ding, wie das moderne Frauenkleid, kann nicht schön sein –“ so lautet das Verdammungsurtheil. Was ist denn aber endgültig schön in der Mode? möchte man dagegen fragen. Würde es schöner sein, unsere Frauen im klassischen Gewand zu sehen, oder im ländlich kurzen Rock oder gar – im „Rational Dress“ der Reformgesellschaft?!

Denn diese Kleiderrevolutionäre begnügen sich nicht damit, das Bestehende niederreißen zu wollen; sie haben auch etwas Neues ersonnen, was dessen Stelle einnehmen soll. Doch wie das Fehlerfinden immer leichter ist als das Bessermachen, so geht es auch hier. Indessen sie greifen das Uebel an der Wurzel an, das muß man ihnen zugestehen. Nicht etwa tournürenlose Römerinnen oder kurzröckige Elsässerinnen erheben sie auf den Schild, noch begnügen sie sich mit anderen verhältnißmäßig noch [94] geringfügigen Trachtenänderungen. Sie gehen auf die Weisungen der Natur zurück und diese kennt, ihrer Meinung nach, nur eine Tracht, die Männertracht. Zwar denkt man nicht daran, diese ohne weiteres zu adoptiren und sich dadurch in einen zu starken Geruch der Emancipation zu bringen; man will zunächst nur das Princip der Herrentracht oder richtiger des divided skirt, des „getheilten Rocks“ (vergl. Abbildung 1) oder – wenn der Ausdruck statthaft – der „Kleidhosen“ durchsetzen.

Die Führerinnen der Reformbewegung tragen dieselben auch schon, hängen aber einstweilen noch eine Polonaise darüber, sodaß von dem divided skirt nichts zu sehen ist, es sei denn, daß der Wind gerade sein neckisches Spiel mit dem Ueberwurf treibt. Doch deutet alles darauf hin, daß dieser nur ein Uebergangsstadium bilden und mit der Zeit ganz in Wegfall kommen soll. Jedenfalls ist derselbe allen von den „ Rationalisten“ entwickelten Principien zuwider und schließlich doch eine Art von Weiberrock, wenn auch in reformirter Form. Es würden aber auch ohne denselben noch mancherlei und zwar recht wesentliche Unterschiede zwischen dem divided skirt und den Herrenbeinkleidern bestehen bleiben. Vor allem ist bei dem ersteren alles knappe Anliegen vermieden, er ist vielmehr lose und bauschig und selbst Plissées und Garnirungen werden nicht verschmäht.

Dieses „Kleid“ vermeidet allerdings alle vorhin angeführten Uebelstände. Dasselbe läßt den Straßenschmutz ruhig liegen, ist an den Füßen mehr oder weniger geschlossen; und da überdies nicht nur der Kleiderrock, sondern auch sämmtliche Unterröcke in Wegfall kommen, soll es ein Maximum von Wärme mit einem Minimum von Gewicht verbinden. Es werden daher zur geeignetsten Herstellung dieses Wärmeverhältnisses vornehmlich Wollstoffe empfohlen. Die Verfechterinnen des Gewandes wandeln also zum öfteren beträchtliche Strecken auf den von Professor Jäger gebahnten Pfaden.

Natürlich fällt auch der künstlich geschaffene „jungle“ bei dem neuen „Kleide“ weg: Treppen- und Bergsteigen wird eine reine Spielerei oder wenigstens um 50% erleichtert und jedweder Vergeudung von Muskelkraft wird ein Ende gemacht. Rechnet man zu dieser Befreiung von allen Hemmnissen des Unterkörpers die gänzliche Entfesselung der korsettlosen Taille, so ist nach Meinung der Reformatoren der weibliche Körper aller Zwangsketten entledigt und ein ideales Gewand für denselben geschaffen ganz ohne Makel und Fehl!

„Aber wie steht es mit der Sittsamkeit? Ist das Gewand wirklich ganz sittsam?“

„Warum denn nicht?“ antwortet man. „Etwa weil unser Kleid unten nicht offen, sondern geschlossen ist? Das falten- und volantreiche, volle, lose Gewand verhüllt die Gliedmaßen auf das sittsamste. Es ist gewiß anständiger als das moderne ausgeschnittene Ballkleid oder der kurze Rock der Bäuerin oder der Fee, den wir im Leben oder auf der Bühne zu sehen bekommen.“

Mit der idealen Einfachheit des neuen Kostüms wagen sich die Verfechterinnen desselben einstweilen gleichwohl noch nicht hervor, und man muß ihnen zugestehen: das Ueberwurfskleid der gegenwärtigen Uebergangsperiode ist zwar absonderlich genug, doch ist der so euphemistisch genannte „getheilte Rock“ dabei noch fast ganz und gar bemäntelt, wie unsere zweite Illustration (S. 93) darthut.

Obschon dieses Bild die neue Tracht bereits in einem sehr entwickelten Stadium darstellt, so fällt uns auf den ersten Blick doch kaum etwas Anderes dabei auf, als daß die Gewänder alle etwas lose und nachlässig sitzen. Sonst sind die jungen Mädchen noch ungefähr nach der gegenwärtigen Mode gekleidet.[1] Bei genauerer Beachtung aber werden wir leicht bemerken, daß die Röcke der „Kleider“ hier schon getheilt sind, was wir beim Gehen der Personen natürlich noch leichter gewahren würden. Thatsächlich aber werden die Ueberwürfe auf der Straße selbst von den leitenden Damen der Bewegung kaum schon so kurz getragen, wenigstens noch nicht von erwachsenen Personen. Wir haben indessen gesehen, daß jedweder Ueberwurf, der über die Kniee reicht, den Principien der Reformatoren zuwider ist, wenn auch seine Nachtheile durch die Auswahl eines leichten Stoffes und ein ganz loses Sitzen auf ein Geringes sich beschränken lassen. Das Ideal der Tracht und jedenfalls auch das Endziel der Extremen unter den „Rationalisten“ gipfelt also in dem gänzlichen Wegfall des Ueberwurfes oder doch in einer Kürzung des selben bis an das Knie.

Wird es je dahin kommen? Nur wenige Menschen werden in diesem Augenblick geneigt sein, diese Frage bejahend zu beantworten. Diese wenigen sind aber auch voll Zuversicht, daß in dem Zeitalter des Dampfes und der Elektricität, in einem Zeitalter, wo die Frauen immer selbständiger auftreten und aufzutreten haben, immer härter gedrängt werden, am Kampfe um das Dasein ihren Antheil zu nehmen, diese auf die Dauer sich nicht selbst einengen werden durch einen künstlich geschaffenen, sinnlosen „jungle“. Allein wer auch die Ansicht dieser Enthusiasten nicht in allem theilen mag, wird ihnen in manchen Dingen Recht geben müssen. Ließe sich da nicht einiges von ihnen lernen, ohne zu ihrem Radikalmittel zu greifen?

* *
*

Wir sehen voraus, daß dieser Revolutionsbericht als Brandfackel in manchen Familienkreis fallen wird, und wollen deshalb schon heute mit unserer Antwort auf die letztgestellte Frage nicht zurückhalten. Dieselbe muß auf jeden Fall bejaht werden, denn daß die Auswüchse unserer Mode, die hochgebauschte Tournüre, die Sturmhüte mit Vogelbälgen, die hohen Hackenschuhe etc. lächerlich sind, daß praktisch tätige Frauen auch eine einfache, praktische Tracht brauchen, wer wollte das in Abrede stellen? Aber deshalb die ganze Grundform der Frauentracht vernichten zu wollen, das scheint uns ein ebenso überflüssiges wie aussichtsloses Unternehmen. Diese Form ist ein in tauseud Jahren langsam Entwickeltes, historisch Gewordenes, ihr Princip: das den Oberkörper stützende Mieder, der züchtig verhüllende Rock ist sicherlich in Bau und Bestimmung des weiblichen Körpers zu tief begründet, um durch die Beschlüsse eines Agitationskomités umgestoßen werden zu können. Seine Bemühungen sollten sich lediglich gegen die Uebertreibungen richten, gegen den allzuraschen Wechsel und die sklavische Abhängigkeit vom Ausland, damit könnte schon sehr viel Gutes geschaffen werden, auch ohne die Radikalkur des „getheilten Rockes“, welchen seine Erfinderinnen, charakteristisch genug, nicht einmal selbst anzulegen wagen und der im Grunde nicht viel Anderes ist, als das alte Bloomer-Kostüm, welches vor 20 Jahren mit ähnlichem Eifer in Scene gesetzt werden sollte und vollständig Fiasko machte – offenbar weil sogar die große Mehrzahl der „praktischen“ Engländerinnen sich nicht zu einem solchen Verzicht auf die Hilfsmittel der Toilette entschließen mochte, auf die natürlichen und siegreichen Waffen ihres Geschlechtes von Alters her. Noch viel weniger scheint es uns denkbar, daß deutsche Frauen und Mädchen sich für das, allerdings sehr „einfache“ Pierrot-Kostüm der Abbildung 1 begeistern oder sich überhaupt nach einer männichen Tracht sehnen werden.

Bei dem unleugbaren Interesse aber, welches diese Frauenkleiderbewegung in England als Zeichen der Zeit besitzt, werden wir nicht verfehlen, gelegentlich wieder Bericht darüber zu erstatten.

Die Red.      



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Amicitia.
Eine Schuljungengeschichte von Hans Arnold.
(Fortsetzung.)

Herr Grauberg hatte den ersten Stock einer im Garten gelegenen, sehr hübschen Villa inne, deren Erdgeschoß von der Familie seines Hauswirths bewohnt wurde. Die Fenster der Grauberg’schen Wohnung gingen sämmtlich nach dem Garten hinaus. Da nun die Hausbewohner ohne Frage das Fest mit ihrer Gegenwart beehren und nur einen alten, stocktauben Portier zum Hüter desselben zurücklassen würden, so war die ruchlose Absicht des Vereins, der nicht mehr und nicht minder erdacht

[95] hatte, als Herrn Grauberg einzusperren, mit Leichtigkeit durchzuführen.

Zur ungestörten Ausführung dieses Planes bedurfte es zunächst der elterlichen Erlaubniß für die Jungen, allein zum Fest zu gehen. Die Bitte darum konnte nicht weiter auffallen, da man bereits wußte und weiß, daß eine Zeit im Leben der Schulknaben eintritt, in welcher der Besitz naher – besonders weiblicher Angehöriger im öffentlichen Leben als eine Art Blamage aufgefaßt wird: ein Gefühl, das sich schon in Quarta durch den flehentlichen Wunsch an die Mutter äußert: „Hol’ mich nicht aus der Schule!“

Die Mittheilung, daß die Amicitia sich „für sich“ auf den Schauplatz des Festes zu begeben wünsche, wurde daher ohne weitere Bemerkung, als: „Da geht nur ab!“ aufgenommen und Eduard’s Begleitung, die man zu seiner sprachlosen Freude „brauchte“, gestattet. Daß die Jungen sofort nach dem Essen aufbrachen, um die Andern abzuholen, forderte auch keine Beachtung heraus; man war sogar recht froh, sie nicht beständig im Wege zu haben.

Bei Roth, dem nach der Straße zu gelegenen Ausgang der Grauberg’schen Villa gegenüber, faßte nun die ganze Gesellschaft Posto. Eduard kroch, mit genauester Instruktion versehen, ins Haus, um in dem Augenblick, wo ein verabredetes Signal ihm vom Fenster aus anzeigen würde, daß die Bewohner des Erdgeschosses sicher um die Ecke seien, sich in Eile und Stille an Herrn Grauberg’s Thür zu schleichen, dem Schlüssel leise umzudrehen und abzuziehen und dann zu der anderen Verbrecherschar zurückzukehren, wo ihn der Lohn seiner Thaten – je nach geschickter oder ungeschickter Ausführung in Gestalt einer Tracht Prügel oder einer Düte „Abfall“ vom Zuckerbäcker – erwartete. Alles stimmte aufs Haar. Herr Grauberg, der sich als eine der ersten Persönlichkeiten der Gesellschaft, der Berechnung der Jungen gemäß, viel später zum Aufbruch entschließen würde als seine Wirthe, wurde eingeschlossen. Eduard kehrte triumphirend wieder und der Verein begab sich in dem schönen Bewußtsein einer guten That seelenvergnügt nach dem Ressourcengarten, wo er dem Unbefangenen als eine Gesellschaft wohlgesitteter, artiger Knaben ohne irgend ein Brandmal des eben begangenen Verbrechens erscheinen mußte.

Während das Alles vor sich ging, schickten sich die Erwachsenen an, sich zum Feste zu verfügen. Käthe einigermaßen als Iphigenie zum Opfergang geschmückt – Gefühle, die sie sich hätte sparen können, wenn sie das nöthige Vertrauen in die Amicitia gesetzt hätte!

Rechtzeitig fand sich die Doktorsfamilie im Ressourcengarten ein. Die Mutter, sichtlich gehoben von der frohen Erwartung, vielleicht als Schwiegermutter der „besten Partie“ von dem Feste heimzukehren, der Vater mit der aus unterdrückter Wuth und Duldung zusammengesetzten Miene, welche Familienhäupter als eine Art von „besonderem Kennzeichen“ zu Tanzgelegenheiten mitzubringen pflegen – und Käthe sehr hübsch im hellen Strohhut und weißen Kleide.

Die Gesellschaft war im Großen und Ganzen pünktlich erschienen, und zur mäßigen Freude der Mutter war Erloff einer der Ersten, der sie im Ressourcengarten begrüßte. Er sah aber so strahlend vergnügt aus, daß es selbst für die Doktorin schwer war, ihre ablehnende Miene beizubehalten; sie lächelte denn auch ein wenig süßsauer, während ihre Augen den Garten durchflogen, um Herrn Grauberg zu suchen – aber allerdings nicht zu finden!

Der Doktor war sofort beim Eintreten von der Frau Kreisgerichtsdirektorin festgehalten worden, die, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, an diesem höchst geeigneten Orte eine Konsultation in freundschaftlicher Form herauszuschlagen beschloß und den empörten Arzt mit einer ausführlichen und farbenprächtigen Beschreibung von ihres Mannes Magenkatarrh ergötzte.

Erloff trat zu Käthe.

„Wo haben Sie denn Ihr getreues Grauthierchen?“ frug er mit vor Muthwillen glänzenden Augen.

„Sehnen Sie sich etwa nach ihm?“ gab Käthe sehr ernsthaft zurück.

„Freilich!“ erwiederte Erloff lachend, „ich und viele Andere mit mir! Welchen Tanz geben Sie mir denn nun, da Herr Grauberg den ersten für sich hat?“

Während das Paar sich über Käthe’s Tanzkarte in eifrige Berathungen vertiefte, die, wie wir fürchten, nicht immer ganz streng bei der Sache blieben, wurde die Mutter immer unruhiger. Die einleitenden Töne der Musik ließen sich hören – hier und da verbeugte sich ein oder der andere Herr bereits vor seiner Polonaisendame – und Herr Grauberg war noch nicht da!

Käthe faßte die Sache sorglos und herzlos auf – sie freute sich des Augenblicks! Da setzte der Tanz ein und Erloff erbat sich mit der ehrbarsten Miene von der Welt Angesichts der Mutter die Erlaubniß, des ausgebliebenen Grauberg’s Stelle vertreten zu dürfen: eine bedeutungsvolle Bitte, der sich, wie die Dinge einmal lagen, nicht wohl etwas entgegenstellen ließ.

Die Mutter schoß Dolchblicke auf das Töchterlein; dieses aber wandelte höchst vergnügt und unbefangen mit seinem Kavalier ab und schien durchaus dem Grundsatz zu huldigen, daß die Abwesenden immer Unrecht haben! Noch glaubte Käthe an eine einfache, zufällige Verspätung des lästigen Verehrers, als ihr bei der ersten Wegbiegung die Amicitia in geschlossener Schlachtreihe begegnete und sie nebst ihrem Begleiter mit so entschiedenen Gaunergesichtern begrüßte, daß ihr sofort klar wurde, hier sei etwas vorgegangen!

Die Amicitia hatte keine Dame erwählt – mit „Kindern“ tanzte sie nicht! Und Große, die sie ja hätte in Fülle als Partnerinnen haben können, sagten ihr nicht zu, da die Eine nicht zu haben war!

Das erhebende Bewußtsein, der Einen zu dem Gegenstande ihrer Wünsche für diese Polonaise verholfen zu haben – was Karl durch die unzarte Bemerkung: „Den mag sie!“ veröffentlicht hatte, half über den Schmerz der Entsagung fort – ganz abgesehen von dem glückseligen Gefühl, einen Streich erfolgreich ausgeführt zu haben!

Wenn wir sagten, daß Erloff seinen langen, ungestörten Spaziergang mit Käthe nicht zu einem entscheidenden Worte benutzt hätte, so würden wir ihn in das ungünstige Licht eines schlechten Waidmanns stellen, der den richtigen Moment zur Erjagung eines edlen Wildes vorbei gehen läßt! Und da hoffentlich den Lesern eben so wohl wie Käthe’s Eltern daran gelegen ist, daß sie einen Mann bekommt, der sein Handwerk versteht, so wird Niemand daran zweifeln, daß die Beiden ziemlich einig waren, als der Tanz sich seinem Ende zuneigte.

Käthe legte aber dem jungen Mann die dringende Bitte ans Herz, noch zu schweigen, da sie zunächst Herrn Grauberg bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit die Aussichtslosigkeit seiner Wünsche klar machen wollte – „eher beruhigt sich die Mutter nicht,“ sagte sie seufzeud.

„Vielleicht hat er schon selbst gemerkt, woher der Wind weht, und ist deshalb fortgeblieben“ meinte Erloff, aber das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Bewahre, er ist ja heute Morgen noch bei uns gewesen!“

Das Fest nahm seinen ungestörten Verlauf. Käthe war in Folge ihrer wichtigen Erlebnisse sehr still und gedankenvoll, was die Mutter zu der frohlockenden Aeußerung gegen ihren Mann veranlaßte:

„Siehst Du, Arthur, sie ärgert sich, daß Grauberg nicht gekommen ist – am Ende war das ein ganz kluger Schachzug von ihm!“

„Liebes Kind,“ erwiederte der Vater ärgerlich, „laß doch das Mädchen mit dem kleinen Geldsack zufrieden – ein Wunder ist es doch nicht, wenn ihr der nette Erloff besser gefällt!“

Die Mutter sah pikirt aus – Männer sind doch zu unpraktisch!

Das Fest gipfelte in einem Kotillon, den die Jungen auf ihr stürmisches Flehen mit erleben durften, wenn auch Eduard seine mangelhafte gesellschaftliche Befähigung dadurch zeigte, daß er einschlief und mitten in einer effektvollen Tour dumpf polternd vom Stuhl fiel.

Die Amicitia aber feierte einen hohen Triumph, indem Käthe, die wohl ahnte, was sie ihnen verdanke, wenn auch nicht durch welche Mittel, alle Vereinsmitglieder mit Orden bedachte, was dieselben in wahre Ekstase versetzte! Der nächste Morgen brachte die vielbesprochene und gesuchte Aufklärung in Herrn Grauberg’s eigener, zorngeschwollener Person, die in so wörtlichem Sinne von den Freuden des gestrigen Festes „ausgeschlossen“ worden war.

[96] Eduard schlich sich beim Erblicken des Gefürchteten zum Hause hinaus, aber Karl hielt männlich Stand – allerdings hinter der Thür! – mit dem Bewußtsein, daß er den Schlüssel zu dem Geheimniß in der Tasche trage.

Ein unbehagliches Gefühl war es allerdings, als Herr Grauberg sich hoch und theuer vermaß, die Urheber des „Bubenstückes“ – eine Bezeichnung, die besser zutraf, als er zu ahnen schien – finden zu wollen und wenn sie sich im Schoße der Erde verborgen hielten.

Die etwas gedrückte Stimmung, die in Folge dieser Drohung sich Karl’s und Eduard’s bemächtigte, hatte eine so ungewöhnliche Artigkeit und Liebenswürdigkeit des Brüderpaares zur Folge, daß die Mutter sich besorgt erkundigte, ob sie etwa krank seien. Auch hielt die Amicitia ein paar Tage keine Sitzung ab, bis man doch endlich für nöthig fand, über die ferneren Schicksale des Schlüssels zu berathen, den Karl noch immer zagend auf dem Herzen trug.

Die erste Idee, das Corpus delicti durch die Post anonym an den Besitzer gelangen zu lassen, wurde bei näherer Ueberlegung als zu gefährlich verworfen und eine nächtliche Expedition nach einer nahen Brücke ins Werk gesetzt, wo unter angstvollen Seitenblicken, ob etwa ein Wächter des Gesetzes sich zeige, der Schlüssel in den Fluß und gleichzeitig ins Meer der Vergessenheit geworfen wurde.

So wirkungsvoll die That der Amicitia in Bezug auf Käthe’s und Erloff’s innerliche Herzensgeschichte gewesen war, so hatte sie dieselbe doch äußerlich wenig gefördert; die Mutter hielt so entschieden wie immer an ihren Plänen fest und war so eisig kalt gegen Erloff, wenn er sich zeigte, daß seine Absicht, sich auszusprechen, und Käthe’s Wunsch, ihm die Erlaubniß hierzu zu geben, jedesmal in der Blüthe erfroren. Das junge Paar sah sich bald nur auf zufällige Begegnungen angewiesen und auch diese wurden immer schwieriger ins Werk zu setzen, wenngleich der Weg von und nach der Singstunde immer ein nicht zu verachtendes Hilfsmittel blieb.

„Ehe Grauberg nicht fort ist, können wir nichts mit der Mutter machen,“ klagte Käthe bei einer solchen Gelegenheit.

„Wann reist er denn?“ fragte Erloff ungeduldig.

„In vier Wochen, wie ich gestern hörte,“ sagte das junge Mädchen niedergeschlagen.

„Und in fünf Wochen ist meine Zeit hier abgelaufen,“ rief Erloff, „es ist doch zum Verzweifeln! Ich warte jetzt noch acht Tage, und hat er dann nicht gemerkt, daß hier nichts für ihn zu hoffen ist, so trete ich ruhig vor Ihre Eltern hin und lasse ihnen die Wahl zwischen ihm und mir!“

Das gewissenhafte Brautpaar nannte sich nämlich noch selbstverständlich „Sie“, bis es die obrigkeitliche Einwilligung erlangt haben würde, an welcher Käthe, was die Mutter betraf, stark zweifelte.

„Nun muß ich aber gehen!“ sagte Käthe endlich, „ich sollte schon seit einer Viertelstunde zu Hause sein!“

„Wann sehen wir uns?“ frug Erloff.

„Wir sind heute Nachmittag alle draußen in der großen Menagerie,“ sagte Käthe, „die Jungen gehen auch mit – und natürlich Herr Grauberg; wenn Sie können, kommen Sie doch hin!“

„Ich habe Dienst,“ meinte Erloff; „wenn es irgend möglich ist, werde ich aber sehen, mich nachher noch auf einen Augenblick loszumachen.“

Die Menagerie, die nur auf der Durchreise sich hier producirte, hatte bereits seit Tagen die glühendsten Wünsche in Karl’s und Eduard’s Brust erregt. Der Verein war schon auf den Gedanken gekommen, die Kasse zu sprengen, in der sich allerdings zur Zeit nur sechsundfünfzig Pfennig befanden, um sich die Möglichkeit der persönlichen Bekanntschaft mit mehreren wilden Bestien zu verschaffen. Im letzten Augenblick hatten aber die verschiedenen Väter und Mütter ein menschliches Rühren gefühlt und das Eintrittsgeld gespendet.

Es zog also nebst Andern auch die Familie Strecker mit Ausnahme des Vaters vollzählig nach der Thierbude.

Die Mutter ging mit Käthe und Herrn Grauberg voran, die Amicitia folgte, Grimassen schneidend und dem ahnungslosen Freier ihre Mißbilligung durch Fäusteballen und Nachahmen seines Ganges kundgebend.

Die Schaustellung gewährte den erwarteten Genuß wenigstens den Erwachsenen nicht, da der wutschäumende, zähnefletschende Löwe, der grimme Tiger und die beiden bewachenden Mohren auf den Eingangsplakaten sich beim Eintreten in die geweihte Halle als zwei bekümmerte Affen, einen Waschbär und einen weißen, schlecht genährten Bedienten erwiesen. Das einzige Prachtstück dieser trügerischen Bude war ein großer, schöner Elefant, der durch Klugheit und Anmuth die Herzen gewann und von den Jungen mit wahrem Hochgenuß gefüttert wurde. Der Besitzer der Thiere hielt zu diesem Zweck Semmel und Obst feil, und unsere Familie erstand denn auch die verschiedensten Leckerbissen, um den Elefanten damit zu erfreuen.

Nur Herr Grauberg beteiligte sich nicht an diesem allgemeinen Sport.

„Sieh doch,“ murmelte Roth und stieß Karl an, „ob der gemeine Geizkragen wohl eine Semmel kauft! Fällt ihm gar nicht ein!“

„Er sieht nur zu, wie wir unser ‚mühsam erworbenes‘ Geld ausgeben,“ meinte German verächtlich; „wenn man’s ihm nur einmal tüchtig eintränken könnte!“

Karl zuckte die Achseln.

„Statt daß er uns was zu Futter für den Elefanten anböte – wir würden’s ja nicht annehmen, aber es schickte sich doch!“

Der Verein knirschte über diesen neuen Beweis von der Niederträchtigkeit des Scheusals, welches nebenbei Käthe auf das Unverhohlenste anhimmelte. Diese wurde endlich durch Eduard, der als Abgesandter diente, von dem häßlichen Charakterzug ihres Verehrers unterrichtet und wandte sich jetzt etwas boshaft an ihn: „Herr Grauberg, wollen Sie dem netten Elefanten nicht auch etwas geben?“

Der kleine Herr, solchergestalt vor einen Entschluß gestellt, griff in die Tasche – eine Bewegung, die von sämmtlichen Jungen mit gespanntester Neugier beobachtet wurde – holte aber statt des erwarteten Geldbeutels eine Flasche mit kölnischem Wasser heraus.

„Wir wollen doch einmal sehen, ob der Monsieur auch für den Luxus des Lebens Sinn hat,“ meinte er mit seinem gekniffenen Lächeln und hielt dem Elefanten die entkorkte Flasche zum Riechen hin.

Der aber verstand die Sache falsch, ergriff die Flasche und schluckte sie sammt ihrem duftigen Inhalt hinunter, ohne durch eine Miene seines riesigen Antlitzes zu verrathen, ob ihm dieser neue Leckerbissen gut oder schlecht geschmeckt habe.

Herr Grauberg faßte im ersten Schreck so hastig nach seinem Eigenthum, daß ihn der Elefant beinah als zweites Mißverständnis gepackt und verschluckt hätte – dann wandte er sich mit einem vor Besorgniß etwas künstlich zur Heiterkeit verzogenen Gesicht an Käthe.

„So hatte ich’s allerdings nicht gemeint.“

Weiter kam er nicht, denn der Eigentümer der Bude erhob ein gewaltiges Zetergeschrei über die Sache, und man wird sich die beglückten Gefühle der Amicitia vorstellen können, als der Thierbändiger Herrn Grauberg mit den Worten ehrte: „Wenn der ausgewachsene Mensch keine Vernunft nicht hat, was soll man da von den Kindern verlangen!“

Inzwischen hatte Käthe sich sacht in den Hintergrund begeben, die allgemeine Unruhe benützend, an der auch die Mutter, ihren Günstling mit der bekannten Magenstärke der Dickhäuter tröstend, sich beteiligte.

Ziemlich gleichzeitig war Erloff durch den Vorhang, der die Thür der Menagerie verdeckte, eingetreten, und das Brautpaar fand sich vor dem Affenkäfig – freilich ein etwas prosaischer Ort für ein Stelldichein – wieder, wo Käthe mit halb unterdrücktem Lachen das eben stattgehabte Abenteuer erzählte.

Der junge Mann horchte gespannt auf – es flog eine plötzliche Heiterkeit über sein Gesicht:

„Käthe, damit ärgern wir ihn weg! Auf dem Haupte dieses Elefanten wird uns neue Freiheit grünen!“

„Wie meinen Sie das?“ frug Käthe beklommen.

„Lassen Sie mich nur machen! Ein paar Helfershelfer brauche ich freilich, denn ich kann ihn nicht necken, ohne daß ich Ihre Mama mit ins Herz treffe!“

[97] 

Die gepfändete Kuh.
Nach dem Oelgemälde von Professor Anton Seitz.

[98]

„Der Verein!“ rief Käthe lebhaft, „zu so etwas ist die Amicitia da! Die Jungen gehen alle für mich durchs Feuer!“

„Bravo!“ sagte Erloff, „jetzt heißt es also, sich lieb Kind beim Verein machen – das werde ich schon fertig kriegen – ich bin auch einmal in Tertia gewesen!“

Inzwischen hatte sich die Gruppe am Elefantenkäfig aufgelöst; der Menageriebesitzer war durch ein reichliches Trinkgeld beschwichtigt worden, in dessen sicherer Voraussicht er seine Besorgnisse über die schlimmen Folgen der ungewohnten Mahlzeit für seinen Elefanten bedeutend schwärzer gemalt hatte, als sie in der That waren, und die Doktorin sah mit Entsetzen, daß, während sie mit dem erwünschten Schwiegersohn beschäftigt gewesen, der unerwünschte sich im Zwiegespräch mit ihrer Tochter befand. Die beiden Herren grüßten sich mit ziemlich schlecht verhehltem gegenseitigen Abscheu, und die Gesellschaft verließ die Bude.

Erloff ließ es sich, zur frohen Ueberraschung der Mutter, heut gar nicht angelegen sein, Herrn Grauberg den Platz an Käthe’s Seite streitig zu machen. Er gesellte sich vielmehr dem jugendlichsten Theil der Gesellschaft zu und gewann durch diplomatisches Betragen und eine wahrhaft tiefe Hochachtung, die er vor dem Verein und jedem seiner Mitglieder an den Tag legte, im Sturm die Herzen derselben, so daß German ihm später das ehrende Prädikat „ein höchst anständiger Kerl“ beilegte und sich mit Käthe’s Geschmacksrichtung einverstanden erklärte, was ja jedes weitere Wort zu Erloff’s Lobe überflüssig mache!

Von diesem Standpunkt aus kann es nicht überraschen, daß die jungen Herren sich schnell und widerstandslos zu eifrigsten Bundesgenossen Erloff’s anwerben ließen und sich zu jeder Schandthat fähig und willig erklärten.

Um die Ausführung des sich in unserer wahren Geschichte entwickelnden Planes zu erleichtern, stellte Erloff vor allen Dingen jedem Vereinsmitglied, und auch sogar Eduard, einen unbeschränkten Kredit zu Besuchen der Menagerie in Aussicht, wo täglich mindestens Einer sich erkundigen sollte und mußte, wie dem Elefanten die Eau de Cologne-Flasche bekommen sei!

Alles Weitere wurde bis ins Detail verabredet, und vor der Hausthür des Doktors verabschiedete sich Erloff, nachdem er vergeblich von der Mutter eine Aufforderung zum Nähertreten erwartet hatte. Die Doktorin war sehr erfreut über diese Wendung der Sache, und Käthe, der Karl zuzuflüstern Zeit gewann: „Erloff hat einen Bund mit uns gemacht“, tröstete sich mit der Zuversicht, die aus dem vergnügten Abschiedsgruß des Bräutigams geleuchtet hatte.

Die auswärtigen Mitglieder der Amicitia gingen mit Erloff davon, während Karl und Eduard ins Haus beordert wurden. „Die Thierbude war Plaisir genug für einen Tag“, entschied die Mutter.

Herr Grauberg behauptete also für diesen Abend siegreich das Feld. Der Vater schüttelte im Stillen verwundert den Kopf über Käthe’s Heiterkeit und dachte bei sich. „Am Ende nimmt sie ihn doch noch!“ und die Mutter triumphirte.

Von dem Elefanten war nicht die Rede; nur als Karl und Eduard zu Bette gingen und dem Gast gute Nacht wünschten, sagten Beide mit sehr artigen Verbeugungen: „Recht gute Besserung für den Elefanten!“ – eine Mahnung an das ungewohnte Erlebniß des Nachmittags, welche Herrn Grauberg für einen Moment die Stimmung verdüsterte.

Von diesem Abend an verfolgte der Elefant in geistigem Sinne Herrn Grauberg auf Schritt und Tritt.

Ging er auf der Straße, so kam ihm sicher ein Mitglied des Vereins entgegen, um mit abgezogener Mütze im bescheidensten Ton zu fragen, ob er schon gehört habe, wie es dem Elefanten gehe?

Am Nachmittag desselben Tages, als er seinen Besuch bei Doktors abstattete, trat Karl, anscheinend von der Straße kommend, ein, begrüßte Herrn Grauberg und sagte: „Ich war eben in der Menagerie – der Elefant soll seit gestern nicht ordentlich fressen!“

Bei einem Spaziergang der Familie zeigte Eduard auf einen Mann, der auf der andern Seite der Straße ging: „Sehen Sie den Mann, der so traurig aussieht, Herr Grauberg? Das ist der Wärter von Ihrem Elefanten!“

„Ach was – mein Elefant!“ knurrte Herr Grauberg zornig; „ich habe keinen Elefanten – laß mich in Frieden!“

Am schlimmsten wurde es, seitdem Käthe dem Vater zum Verbündeten gewonnen hatte. Der Doktor gab im ärztlichen Ton seine Ansicht dahin ab, „daß der Elefant allerdings nicht unerheblich an seiner Gesundheit durch das Verschlucken der Flasche geschädigt werden – ja wohl gar daran zu Grunde gehen könne!“

Herr Grauberg fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn. „Das wäre ja eine theure Eau de Cologne-Flasche!“ sagte er mit etwas erzwungener Unbefangenheit.

„Ja!“ krähte Eduard, der seine Rolle sehr gut einstudirt hatte, „und wenn Ihr Elefant stirbt, müssen Sie ihn bezahlen, Herr Grauberg – der Mann hat’s gesagt!“

„Hast Du gesehen, wie sich sein Gesicht verzerrte?“ frug Roth, der gerade anwesend war, als er nachher mit Karl nach der Menagerie ging; „er wurde ganz grün vor Angst!“

„Da kommt er!“ sagte Karl, „thun wir, als wenn wir ihn nicht sähen, bis er dicht hinter uns ist. Jetzt!“ und mit erhobener Stimme fuhr Karl fort: „Und dieser Elefant ist ein ganz besonders kostbares Thier, hat der Mann gesagt!“

„Ja, das hat er zu mir auch gesagt!“ stimmte Roth ein; „die Zähne allein sind gewiß vierzig Thaler werth!“

„Mindestens!“ versicherte Karl, und Beide erschraken auf das Natürlichste, als in diesem Augenblick Herr Grauberg hinter ihnen vorkam.

„Sage einmal,“ begann Karl wieder, „was mag wohl so ein Elefant kosten?“

„Das weiß ich nicht,“ sagte Roth mit wahrer Taubenunschuld in seinen pfiffigen Schuljungenaugen, „ich glaube fünfhundert Thaler!“

Karl lachte verächtlich.

„Dafür kriegst Du ihn vielleicht ausgestopft, Roth – wenigstens fünftausend – das hat uns der Lehrer gesagt!“

„Ei, ei,“ stammelte Roth, „das kann ich mir gar nicht denken!“

„Natürlich,“ erwiederte Karl eifrig, „und da ist noch kein Porto dabei!“

Herr Grauberg trat in schweren Gedanken seinen Heimweg an; die Jungen hatten am Ende nicht so ganz Unrecht. Lagen die Dinge aber so, dann that er am besten, sich bei einem Sachverständigen zu erkundigen. Er setzte sich sofort hin, um eine Karte an die Thierhandlung von Hagenbeck in Hamburg zu expediren und sich über seine möglichen Ausgaben zu unterrichten. In die Nähe der Thierbude wagte er sich gar nicht mehr, da er immer fürchtete, gerade zu gefährlichen Krankheitserscheinungen „seines“ Elefanten zurecht zu kommen.

Sogar die Freierei wurde dem armen Mann durch diese fatale Geschichte verdüstert; er beschloß, das entscheidende Wort eher zu sprechen, als er eigentlich beabsichtigt hatte, da er ja doch noch immer unsichern Grund unter den Füßen fühlte – sich Gewißheit zu verschaffen und dann, das Jawort in der Tasche, den Ort zu verlassen, der ihm durch die beständige Sorge um das Befinden des Elefanten so verleidet ward.

Erloff, der durch die Jungen immer auf dem Laufenden erhalten wurde, war entzückt, wie sicher sein Mittelchen anschlug. Er trieb die jungen Bösewichter zu eifrigster Durchführung ihrer Rolle an, indem er ein geheimnisvolles Geschenk an den Verein in Aussicht stellte, das die kühnsten Erwartungen desselben überflügeln sollte.

Herr Grauberg selbst drängte zur Katastrophe. Er erhielt nämlich auf seine Anfrage einen Katalog von Hagenbeck, in dem der Preis eines ausgewachsenen Elefanten auf zehntausend Mark angeschlagen war, und diese Mittheilung fuhr ihm dergestalt in die Glieder, daß er beschloß, die ihn Tag und Nacht quälenden Sorgen wenigstens nach einer Seite hin zu einem Abschluß zu bringen, und wenn er noch nicht erfahren konnte, ob er einen Elefanten kaufen müßte, so wollte er wenigstens wissen, wie seine Aussichten auf eine Braut ständen. Er schrieb daher ein paar Zeilen an den Doktor, in welchen er bat, sich am nächsten Morgen zu einer Unterredung bei ihm einfinden zu dürfen.

(Schluß folgt.)
[99]
Blätter und Blüthen.


Klara Salbach. (Mit Portrait S. 85.) Die erste Liebhaberin des Leipziger Stadttheaters, die nach einem erfolgreichen Gastspiele am Dresdener Hoftheater vom August dieses Jahres ab engagirt worden, gehört zu den talentvollsten Jüngerinnen der dramatischen Kunst der Gegenwart.

In Berlin geboren, wo ihr Vater ein großes Gartengrundstück besaß, brachte sie ihre Kindheit stets in der freien Natur zu unter Bäumen und Blumen und bewahrte an diese frische, freudige Jugendzeit stets die schönsten Erinnerungen. Schon frühzeitig erhielt sie musikalischen Unterricht, wie sie es denn im Klavierspiel zu einer beachtenswerten Fertigkeit gebracht hat. Ebenso empfand sie sehr früh Neigung für die dramatische Kunst, und es gehörte zu ihren Lieblingsvergnügungen, mit ihren Schulfreundinnen Komödie aus dem Stegreif zu spielen.

Als diese sich meistens für das Lehrfach entschieden, faßte auch Klara Salbach den Entschluß, einen Beruf zu ergreifen, der sie in den Stand setzte, sich selbständig durchs Leben zu schlagen. Sie erklärte ihrem Vater, daß sie zur Bühne gehen wolle, und er gab endlich den Bitten der Tochter nach, als er sich überzeugte, daß es sich nicht bloß um eine vorübergehende Laune handle. Die unvergeßliche Frau Frieb-Blumauer nahm sie nach vorausgegangener Prüfung als Schülerin an und diese lernte die hervorragende Künstlerin als eine zweite Mutter betrachten. Im Mai 1880 trat Fräulein Salbach zuerst auf der Hofbühne von Weimar als Lorle in „Dorf und Stadt“ auf; dieser erste theatralische Versuch fiel sehr glücklich aus. Dann nahm sie ein Engagement bei dem wackern Theaterdirektor Frey in Hanau an, ging darauf an das Stadttheater in Mainz, von wo sie Direktor Staegemann nach Leipzig engagirte.

Klara Salbach ist eine ebenso stattliche wie sympathische Bühnenerscheinung, sie deckt in Leipzig das Fach der ersten Liebhaberinnen nach den verschiedensten Seiten hin. Was in der breiten Mitte zwischen dem Naiven und Heroischen liegt: das ist die Domaine ihres Talentes, welche sie siegesgewiß beherrscht. Innigkeit und Wärme des Gefühls, auch wo sich dasselbe zu leidenschaftlichen Ausbrüchen steigert, stehen ihr stets zu Gebote und auch mit den Effektrollen der französischen Komödie, besonders als Claire im „Hüttenbesitzer“ hat sie Triumphe gefeiert. Ebenso bewährte sie sich[WS 1] in den modernen Stücken aus dem deutschen Gesellschaftsleben, als Hertha in „Ein Tropfen Gift“, als Gräfin Lambach und in ähnlichen Aufgaben, die eine ebenso feine wie markige Seelenmalerei verlangen, ihr schönes Talent. Von klassischen Rollen erwähnen wir ihre Luise in „Kabale und Liebe“, ihr Gretchen und Klärchen, ihre Königin in „Don Carlos“, ihre Beatrice in „Die Braut von Messina“. Auch auf dem Gebiete der neuen Dramatik, besonders in den Wildenbruch’schen und Gottschall’schen Trauerspielen, neuerdings als „Katharina Howard“ und „Amy Robsart“ zeigte sie ihre maßvolle und harmonische Begabung, welche den dichterischen Vers schwunghaft behandelt, ohne in falsches Pathos zu verfallen und die Gefühlsscenen mit ergreifender Herzenswärme spielt.
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Die Reformerin der englischen Gefängnisse. Elisabeth Fry gehört zu jenen Frauen, deren gemeinnütziges Wirken ihr mit Recht einen Ehrenplatz neben den hervorragenden Frauen auf dem Throne, in der Kunst und Litteratur anweist. Sie besaß die Energie der Barmherzigkeit; sie war die erste, die in jene alten Gefängnisse drang und den Unglücklichen den ersten Strahl leuchtender Menschenliebe brachte; sie war die erste, welche den Machthabern sagte: „Wer ist schwerer verantwortlich, der Sträfling, den die Verhältnisse oft zum Verbrecher stempelten, oder die Gewaltigen, die eine fortgesetzte Reihe von Verbrechen an Leib und Seele der Gefangenen begehen, statt sie wieder der menschlichen Gesellschaft zuzuführe?“

Elisabeth Fry war am 21. Mai 1780 geboren als eine Tochter des Gutsbesitzers John Gurney in der Grafschaft Norwich. Der Vater befolgte eine fromme Richtung und gehörte der Quäkergemeinde an, hier empfing Elisabeth ihre ersten Eindrücke. Ein amerikanischer Prediger gewann sie durch die Macht seiner Beredtsamkeit ganz für den Dienst der Gemeinde; sie erschien alsbald, nachdem sie die bunten Kleider abgelegt, im einfachen Gewande der Quäkerin. Im Jahre 1800 heirathete sie einen englischen Citykaufmann John Fry. Zum Prediger (Minister) wurde sie 1811 gewählt; zwei Jahre darauf begann ihr Verkehr mit den Verbrechern und Verbrecherinnen. Ein Besuch in der Besserungsanstalt für weibliche Verbrecher in Cold Bath Field gab ihr den Hauptanlaß, jene segensreiche Thätigkeit zu ergreifen, der sie bis zu ihrem Tode treu blieb. Die Gefängnisse befanden sich damals in einem beklagenswerthen Zustande: Frauen, der verschiedensten Vergehen angeklagt, waren mit ihren Kindern unter Aufsicht eines Wächters ohne jede Beschäftigung in engen Räumen zusammen gedrängt, in denen sie schliefen, kochten und den Tag verbrachten. Durch unermüdliche Vorstellungen und Eingaben bei den betreffenden Behörden vermochte Frau Fry die Ernennung von Aufseherinnen, anständigere Kleidung für die Gefangenen und Einrichtung von Schulen für deren Kinder sowie Austheilung von Arbeitsmaterial durchzusetzen. Bald erlangte sie einen solchen Ruf, daß sie auch von anderen Städten Englands, von Petersburg, von Amsterdam um ihren Rath gefragt wurde. Unter dem Namen „Britischer Frauenverein“ wurde von ihr und mehreren gleichgesinnten Damen ein Verein gebildet, der es sich zur Aufgabe gestellt hatte, die Besserung weiblicher Gefangener zu fördern. Er richtete seine Aufmerksamkeit auch auf die Transportschiffe, welche die Verbrecherinnen in die Südseekolonien brachten; auch hier gelang es ihnen, eine menschlichere Behandlung der Verurtheilten und Ordnung unter denselben zu erzielen. Im Jahre 1818 war sie nach Schottland gereist, wo sie die Gefängnisse in einem fast noch schrecklicheren Zustand als in England fand. Schuldner, Verbrecher und Wahnsinnige hausten in dumpfer enger Zelle beisammen: auch hier brachte sie eine Aenderung zum Besseren hervor. Ueberhaupt unterstützten die hohen und höchsten Persönlichkeiten des Landes ihre Reformen. Ihren Anregungen folgten andere Damen, gründeten Asyle für entlassene Gefangene und Aufnahmeanstalten für verwahrloste Kinder. Später dehnte Mrs. Fry ihren Wirkungskreis in andern Ländern aus, besuchte mehrfach Frankreich, auch Spanien und Deutschland und fand in König Friedrich Wilhelm IV. einen Beschützer und Förderer ihrer Unternehmungen. Im eigenen Hause waltete sie als einfache Hausfrau und Mutter, ein reicher Familiensegen war ihr zu Theil geworden; denn sie war umgeben von Töchtern und Schwiegertöchtern, 7 Söhnen und 25 Enkeln. Am 12. Oktober 1845 starb sie.

Elisabeth Fry war ein Vorbild echter werktätiger Menschenliebe. Wir entnehmen die Mittheilungen über sie einem neuen, von Lina Morgenstern herausgegebenen Sammelwerk: „Die Frauen des 19. Jahrhunderts. Biographische und kulturhistorische Zeit- und Charaktergemälde“, mit Illustrationen (Berlin, Deutsche Hausfrauenzeitung). Es liegen bisher zwei Lieferungen dieses Werkes vor, welchem die durch ihre eigene gemeinnützige Thätigkeit rühmlich bekannt gewordene Verfasserin hohe Ziele gesteckt hat: „Bei der Wichtigkeit der Frauenbewegung unserer Zeit für die gesammte Menschheit, bei den unleugbaren Fortschritten, die in ihr gemacht worden, und bei ihrem Antheil im Zusammenhang mit der socialen und wirthschaftlichen Frage, welche alle civilisirten Nationen beschäftigt, faßte ich den Entschluß, die verschiedenen Richtungen dieser wichtigen und erfolgreichen Bewegung in Biographien derjenigen Frauen niederzulegen, welche von je eine hervorragende Stellung unter den weiblichen Pionieren unseres Jahrhunderts einnehmen.“ Die Portraits, welche die ersten Hefte enthalten sind mit liebevoller Sorgfalt ausgeführt und erwecken ein günstiges Vorurtheil für die künftig zu erwartenden Charakterköpfe dieser Frauengalerie.
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Die gepfändete Kuh. (Mit Illustration S. 97.) Die amtlichen Erkenntnisse und Verfügungen nehmen sich oft genug hinter dem grünen Tische sehr viel anders aus, als in der Ausführung. O! ein „Von Rechts wegen“ ist eine eigene Sache. Es kann geschehen, daß wir, vernünftig betrachtet, nichts gegen dasselbe einzuwenden haben – die Gerechtigkeit hat ihrer würdig gesprochen; während, wenn es zur Exekution kommt und wir dabei zusehen, uns die Galle der Empörung aufsteigt. Da ist ein Beispiel, eines für tausend: die arme Wittwe mit der herangewachsenen Tochter und dem kurzzöpfigen Spätling, sie sind vielleicht im Stande, sich redlich mit ihrer Hände Arbeit zu nähren, redlich, aber kärglich; sie haben ihre Hühner und ziehen junge Brut zum Verkauf, und sie haben aus der bessern Zeit noch ihre Kuh, die Blässe, an der ihre Herzen hängen – die Vertraute der Kinderjugend, die Haupternährerin. Aber der Vater hat eine Schuld auf dem Häuschen hinterlassen, und der reiche Bauer, der Gläubiger, will sein Geld haben. Warum? gleichviel, er will sein Geld haben. Sie flehen um Geduld, in ein paar Jahren kann es abverdient sein – nein, er will sein Geld haben. Er klagt, und es kommt ein Mann des Gesetzes mit dem Unerbittlichen und pfändet die Kuh ab. Das Haus wird öde sein ohne die Blässe, öde, wie wenn Jemand gestorben. Der Mutter will das Herz brechen, die große Tochter weint, die kleine ist zornig und erbittert – nutzt nichts; er kann sein Geld fordern und er nimmt ihnen die Kuh. Man wird sie vielleicht versteigern, es kommt wenig dabei heraus; er darf noch einmal fordern und noch einmal pfänden. Vielleicht versteigert man das ganze Haus und Jemand kauft es für den zehnten Theil des Wertes: „von Rechts wegen“. Die Humanität protestirt dagegen. Die ausführenden Diener der Gerechtigkeit sind eben darum übel dran, weil ihre Aufträge zuweilen wider die Humanität streiten, weil sie unter Umständen etwas thun müssen, was dem öffentlichen Gefühl, vielleicht ihrem eigenen zuwider läuft. Viktor Hugo hat seinen besten Roman, die „Misérables“, auf diesem Gebiet der Gerechtigkeit aufgebaut, wo sie für die Empfindung zum Unrecht wird. Ob die menschliche Gesellschaft eines Tages die Wage finden wird, um in jedem Falle die Forderungen der Gerechtigkeit mit denjenigen der Menschlichkeit auszugleichen? Wer weiß es?


„Die drei Pinto’s.“ Neuerdings hat eine interessante Aufführung stattgefunden, eine Art von Ausgrabung, durch welche nachgelassene Kompositionen eines großen Meisters ans Licht gezogen worden sind. Es handelt sich um keinen Geringeren als den Komponisten des „Freischütz“, den Liebling des deutschen Volkes, Karl Maria von Weber. Aus seiner Lebensbeschreibung erfahren wir, daß er, bald nachdem er den „Freischütz“ eingereicht, bei der Direktion des Dresdener Hoftheaters anfragte, ob dieselbe auch geneigt sei, eine neue Oper von ihm zu geben, mit deren Ausarbeitung er gerade beschäftigt sei; er erhielt die Antwort, daß man jetzt von den Vorbereitungen zum „Freischütz“ hinlänglich in Anspruch genommen und daß es überhaupt nicht üblich sei, zwei Werke eines und desselben Komponisten in einer Saison zu geben. So vollendete Weber „Die drei Pinto’s“ nicht, zu denen Theodor Hell den Text geschrieben hatte, und auch später kam er nicht dazu, sich mit dem Werke zu beschäftigen. Er hatte, wie man erfährt, 7 Nummern vollendet und für 17 Nummern Tonart und Tempo angegeben. Nach seinem Tode wandte man sich an Meyerbeer mit dem Anliegen, daß er die Oper vollenden solle. Doch dieser lehnte dasselbe ab. Auch spätere Versuche, einen Komponisten zu finden, der das Werk auf Grundlage des vorhandenen Textes, der ausgeführten Nummern und der Aufzeichnungen Weber’s zu Ende führe, blieben erfolglos.

Da nahm sich neuerdings der Enkel Weber’s, der in Leipzig lebende Hauptmann von Weber, des vergrabenen Schatzes an, dichtete den Text von Theodor Hell um und fand in dem Leipziger Kapellmeister Mahler einen jugendlichen, unternehmungslustigen Musiker, der vor der schwierigen Aufgabe nicht zurückschreckte, den Weber’schen Torso zu restituiren, mit Benutzung der hinterlassenen Musikstücke und Bemerkungen des Meisters und im Anschluß an dessen Eigenart. Daß ihm das Werk gelungen, [100] bewies der schöne Erfolg der ersten Aufführung in Leipzig, und es ist wohl kein Zweifel, daß „Die drei Pinto’s“ ihren Weg über die meisten deutschen Bühnen machen werden.

Der einer Novelle entlehnte Stoff würde sich zu einem Intriguenlustspiel eignen, ist aber für eine komische Oper nicht besonders geschaffen; denn es fehlt ihm die Feinheit, die in Mozarts „Hochzeit des Figaro“ so anziehend wirkt; er ist mehr von schwankartiger Derbheit. Ein spanischer Edelmann will seine Tochter einem Don Pinto zur Frau geben, der einer befreundeten und von ihm hochverehrten Familie angehört. Dieser Don Pinto ist aber ein plumper ungebildeter Landedelmann; ein lustiger Student übernimmt es, seine Rolle bei der Braut zu spielen und bemächtigt sich seines Empfehlungsbriefes; doch dort angekommen, findet er, daß die Braut bereits ihr Herz einem Dritten verschenkt hat, und verzichtet, indem er diesem den Brief überläßt. Derselbe fährt denn auch die Braut in aller Eile heim und der zuletzt ankommende echte Pinto wird geprellt und ausgelacht.

Vielleicht hätten die Bearbeiter dem Text neue Würze geben können, wenn sie sich nicht allzu pietätvoll an die Weber’schen Reliquien gehalten hätten: es fehlt die Steigerung; der zweite Akt ist dramatisch inhaltlos und enthält nur lyrische Nummern, so war auch sein Erfolg beiweitem matter als der des ersten Aktes; das Ganze vertrug überhaupt feinere Verknüpfung und schlagfertigeren Humor.

Die musikalischen Reliquien Weber’s stammen aus der Zeit, in der er den „Freischütz“ komponirt hatte, gehören also einer Epoche frischen und freudigen Aufschwungs an. Namentlich gilt dies von den Liedern und dem Terzett des ersten Aktes; aber auch das Terzett des dritten Aktes und das Lied des Ambrosio, mag es nun von Weber herrühren oder ihm nachkomponirt sein, sind von graziöser Haltung und gewinnender Frische. Die Arie der Clarissa und das Lied der Laura im zweiten Akt erinnern an die Herzensergüsse von Agathe und Aennchen: beide sind nach andern nicht veröffentlichten Themen des Meisters komponirt. Die Introduktion zum zweiten Akt ist von Mahler sehr geschickt zusammengestellt, wie überhaupt die ganze Einrichtung als eine achtungswerthe Talentprobe des jungen Komponisten erscheint. Die Melodien selbst sollen fast alle aus dem Weber’schen Nachlaß entnommen sein, wenn sie auch nicht für die drei Pinto’s komponirt waren.

Wie sich um Weber’s Büste am Schluß der Leipziger Vorstellung auf der Bühne die Lorbeerkränze häuften: so wird überall die Erinnerung an den Meister durch die pietätvolle Hingebung, mit welcher die Oper nun ins Leben gerufen wurde, neu belebt werden. Weber ist nicht nur einer der größten deutschen Tondichter, sondern er ist jedenfalls der volksthümlichste unter den großen, und das Volk wird seinen Namen stets in Ehren halten.
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Waisen und Halbwaisen ehelicher Abkunft das Glück einer Familienerziehung durch kinderfreundliche, aber kinderlose Ehepaare zu verschaffen, hat sich in Leipzig die „Gesellschaft der Waisenfreunde“ gebildet, und zur Förderung dieses Zwecks ist in Nr. 40, S. 665, Jahrgang 1887 der „Gartenlaube“ der Artikel „Wie viel ist ein Kind werth?“ erschienen. Derselbe hat nicht vergebens zu den Herzen gesprochen: fünfundzwanzig Ehepaare haben sich zur Annahme armer Waisen erboten. Der Wunsch aller geht allerdings auf Mädchen im Alter von ½ bis 3 Jahren. Wenn diese Bedingung die Erfüllung desselben auch erschwert (Knaben und ältere Mädchen stehen uns, leider vergeblich, zahlreich zu Gebote), so giebt es sicherlich Hunderte so armer Wesen, denen eine glücklichere Zukunft zu ermöglichen wäre, wenn Vormünder, arme Väter oder Mütter und selbst Waisenhausvorsteher sich zu einer Anmeldung bei uns bemühen möchten. Wir bitten hiermit alle Kinderfreunde um ihre Theilnahme und Mithilfe für diesen Zweck. Ihre Zuschriften richten sie an unsern Vertrauensmann, den Geschäftsführer der Gesellschaft der Waisenfreunde, Herrn Schuldirektor Otto Mehner zu Burgstädt bei Chemnitz in Sachsen.

Lehm op! Lehm up! In dem Artikel „Der gute Muth des deutschen Soldaten“ von Fritz Klien (vergl. S. 17 dieses Jahrg. der „Gartenlaube“) heißt es u. A.: „In manchen Regimentern begrüßen sich befreundete Truppentheile mit einem fröhlichen weithin schallenden ‚Lehmup‘, ein Wort, über dessen Abstammung und Bedeutung die Gelehrten noch durchaus uneins sind.“

In Bezug auf dieses Wort sind uns aus unserem Leserkreise einige Zuschriften zugegangen, nach welchen der Ruf bald „Lehm up!“ bald „Lehm op!“ lauten soll. Außerdem erhalten wir aber auch eine zutreffende Erklärung dieses Rufes.

In der im Jahre 1876 erschienenen Regimentsgeschichte des Königs-Husarenregiments, geschrieben von v. Deines, heißt es bei Schilderung der Avantgarde der Elbarmee im Kriege 1866:

„Hier ward der Grund gelegt zu der aufrichtigen Waffenbrüderschaft, welche Jäger und Husaren während des Feldzuges brav gehalten haben. Das ‚Lehm op‘ unserer Husaren war der Begrüßungsruf der beiden innerlich verwandten Waffen und trat hier zum ersten Male bestimmt und charakteristisch auf. Diesen Kriegsruf, mit dem bald alle Truppen der Elbarmee die wohlbekannten und wohlgelittenen ‚blauen Banner‘ jubelnd begrüßten, hatten unsere Husaren von dem Exercierplatze daheim mitgebracht.

Wenn Morgens die Schwadronen frohen Muthes und mit lautem Sang nach dem ‚Sand‘ ritten, kamen sie an den zahlreichen Feldziegeleien vorbei, welche dem rasch wachsenden Baue das Material lieferten.

Dort war ‚Lehm op‘ das vielgebrauchte Wort, mit dem der Ziegler dem Gehilfen unten in der Grube zurief, daß er neuen Lehm herauffördern solle. Unsere Husaren hatten bald den sonoren Ruf aufgenommen, und erst einzelne, dann alle stimmten ein kräftiges ‚Lehm op‘ an, wenn sie dort vorüberritten. Aus dem Marsch zum Exercierplatz war nun ein Ritt gegen den Feind geworden, aus dem scherzhaften Morgenruf ein Feldgeschrei. Das ist der unscheinbare Ursprung des Kriegsrufes, den heute die ganze Armee kennt.“


New-Yorker Romantik. Wie englische Blätter berichten, gehört es jetzt zum guten Ton in New-York, die Mandoline zu spielen, und wenn das Instrument „am blauen Bande“ um den Hals des Spielers hängt, so wird derselbe nicht verfehlen, einen romantischen Eindruck zu machen. Es ist bekannt, daß die Königin von Italien eine ausgezeichnete Mandolinenspielerin ist; dies glänzende Vorbild schwebt den fashionablen Herren und Damen in Nordamerika vor, welche diesen Musiksport pflegen und jedenfalls dabei sich in einer interessanten Positur zu geben wissen.
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Schach-Aufgabe Nr. 3.
Von Karl Höppner in Königstein (Sachsen).

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Auflösung der Schach-Aufgabe Nr. 2 auf S. 52:
Weiß: Schwarz: Weiß: Schwarz:
1. S g 3 — e 2 K g 4 — h 5 1. . . . . K g 4 — f 3
2. S g 2 — e 3 † beliebig. 2. S g 2 — f 4 ! beliebig.
3. S resp. D setzt matt. 3. S resp. D setzt matt.
a) 1. . . . . K g 4 — h 5, 2. D g 1 — h 1 †, K h 5 — g 4, 3. S g 2 — e 3 matt. — b) 1. . . . h 6 — h 5, 2. S g 2 — h 4 aufged. † nebst 3. D g 1 — g 3 matt. — c) 1. . . . . e 6 — f 5:,2. S g 2 — f 4 aufged. † nebst 3. D g 1 — g 3 matt. — Eine zierliche Zugzwangs-Aufgabe!
Schach-Litteratur: Unter dem Titel „Böhmische Schach-Aufgaben“ hat der Böhmische Schachklub zu Prag (eigener Verlag, in Kommission bei der k. k. Univ. Buchhandlg. Bursik u. Kohout in Prag, Preis 4 fl.) eine Sammlung von 320 der schönsten Erzeugnisse böhmischer Komponisten herausgegeben. Dem Werke ist die Abhandlung: „Grundzüge der Problemtheorie von Josef Pospisil“ beigefügt, welche deutschen Schachfreunden in deutscher Uebersetzung als Supplement gratis geliefert wird. Das schön ausgestattete Werk sei unseren Schachfreunden bestens empfohlen; die hier vereinigten Probleme bieten eine unversiegbare Quelle reinsten Genusses.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)


V. N. in K. Um aus Papier Fettflecken zu entfernen, bedient man sich eines Gemenges gut gereinigten Benzins und gebrannter Magnesia (Magnesia usta der Apotheken.) Man bringt die gebrannte Magnesia in eine Untertasse und tröpfelt soviel Benzin auf erstere, bis sich die Masse feucht anfühlt, aber beim Drücken mit dem Finger keinen Tropfen abgiebt. Diese „Benzin-Magnesia“ wird auf die Fettflecken mittelst eine Wattebäuschens leicht aufgerieben; man läßt dieses Präparat auf dem Papier eintrocknen, klopft es hinweg und entfernt die letzten Reste mit einen Wattebäuschen, welches schwach mit Benzin befeuchtet ist. Bei älteren Fettflecken wird die Operation wiederholt.

Will man Benzin-Magnesia in größerer Menge darstellen, so ist das Präparat in einem mit eingeriebenem Glasstöpsel versehenem Glase aufzubewahren, widrigenfalls sich das Benzin verflüchtigt und das Präparat unwirksam wird. Unter allen Umständen ist gut gereinigtes Benzin anzuwenden. Daß man mit Benzin bei offenem oder Lampenlicht, ueberhaupt in der Nähe einer Flamme nicht hantieren darf, wollen wir noch besonders in Erinnerung bringen. Dieses Verfahren eignet sich auch zur Entfernung von Fettflecken aus Webstoffen jeder Art und zum Poliren blindgewordenen Glases, zur Reinigung von Spiegeln; für das Poliren von Zinn und Britanniametall ist es mit Erfolg verwendbar. Auch nicht zu alte Oelflecke werden aus Marmor leicht dadurch entfernt, daß man sie mit einem Breie aus gebrannter Magnesia und Benzin wiederholt bedeckt und die nach dem Verdunsten des Benzins zurückbleibende Magnesia abbürstet.

C. R. in Berlin. Sie fragen uns, wie denn dem kürzlich besprochenem Mißstand der luxuriösen Kindergesellschaften praktisch zu steuern sei? Die Antwort ist doch wohl sehr einfach: mit moralischem Muth einerseits, der die verwöhnten jungen Herren und Dämchen einfach als Schulkinder auf ihren rechten Platz verweist; andererseits aber durch die Kunst, die Köpfe und Herzen zu beschäftigen, statt nur den Magen. Mit einer kleinen Vorbereitung, oft nur mit der Ueberlassung einer Schublade voll alter Kleider und Vorhänge lassen sich die hübschesten Tableaux, kleine Sprichwörteraufführungen oder dramatisirte Charaden ins Leben rufen, und der Reiz solcher Dinge auf die Phantasie und das Gemüth der Kinder ist ein unwiderstehlicher, besonders wenn man sie zur thätigen Theilnahme herbeizieht. Allerdings wird die Mutter im Anfang ein wenig mithelfen und Ideen geben müssen, aber sollten denn die vielen genossenen Litteratur- und Kunstgeschichtstunden unsere jungen Frauen nicht einmal dazu befähigen? Soviel ist sicher: ein Haus, dessen Jugend solche Dinge für ihre kleinen Freunde zu veranstalten weiß, kann auch heute noch bei einfachster Bewirthung auf sehr dankbare Gäste zählen, denn das Kinderherz bleibt sich, Gott sei Dank, immer gleich. Die es verderben und früh alt machen, sind immer nur die thörichten Eltern selbst in übel verstandener Zärtlichkeit!

F. Str. Wilkowitz. Die beste Auskunft wird Ihnen doch die von Ihnen genannte Fabrik selbst geben können.


  1. Denn Blousen und Ueberwürfe, wie sie sie haben, tragen die Uebrigen ja auch.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. „sich“ fehlt in der Vorlage.