Die Gartenlaube (1889)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[429]

No. 26.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Du wünschest?“ fragte Steinweber den Assessor, mit heimlichem Bedauern Alfred zunickend. Für sie, die späte Stunden gewohnt waren, bedeutete dieser Aufbruch noch kein Ende des Abends, und sie hatten verabredet, nachher noch in ein Café zu gehen. Aber in Ravenswanns Gegenwart durfte man sich nicht verständigen, wo man sich nun treffen wollte, denn der Assessor würde es aufgefaßt haben, als gehe man hungrig, durstig und unbefriedigt von ihm und suche nach Entschädigung, – Ravenswann nöthigte Steinweber erst wieder zum sitzen, holte eine Flasche Wein vom Abendtisch und schenkte ein, ehe er mit seinem Anliegen herauskam.

Er zog ein Zeitungsblatt aus seiner Brusttasche, welches Marbod, obgleich es noch ganz klein zusammengefaltet war, mit dem Kennerblick des Journalisten für das „Morgenblatt“ Doktor Bendels erkannte,

„Hast Du den Leitartikel im ‚Morgenblatt‘ gelesen?“

„Nein,“ sagte Marbod, verwundert, das von Ravenswann gehaßte Blatt in dessen Hand zu sehen.

„Unser nächstjähriges Budget,“ las Ravenswann die Ueberschrift, ließ das Blatt sinken und sah den Freund an.

„Ich habe ihn nicht gelesen,“ wiederholte dieser. Ravenswann räusperte sich.

„Der Artikel wimmelt von Irrthümern.“

Marbod wunderte sich, daß Ravenswann von den „Irrthümern“ eines gegnerischen Blattes, anstatt mit höhnischer Verachtung, in sanft melancholischem Tonfall sprach.

„Doktor Bendel ist der Besitzer und Chefredacteur?“

„Allerdings.“

„Du kennst ihn?“

„Recht gut.“

„In dem Artikel,“ begann Ravenswann, das Blatt scharf und vielfach zusammenfaltend und wieder aufblätternd, „ist auch lobend der Broschüre erwähnt, welche ich voriges Jahr über die Salz- und Tabakmonopole in Oesterreich und Italien geschrieben habe. Die Broschüre wird eine fleißige Arbeit genannt. Ich kann wohl sagen, das ist sie auch, Bendel scheint doch ein urtheilsfähiger Mann, der sich belehren lassen wird und mit dem ich gern persönlich meine Ansichten austauschte.“

„Seine Ansichten austauschen“ nannte Ravenswann seine Versuche, mit den eigenen Ansichten die anderer niederzusprechen.

Da Marbod ihm nicht zu Hilfe kam, mußte er vollenden:

„Vielleicht führst Du ihn ein, oder vermittelst ein Zusammentreffen am dritten Ort. Ich glaube, daß der Minister zufrieden sein würde, wenn es mir gelänge …“

Es blieb unklar, was er hatte sagen wollen. Marbod versprach, bei Bendel einen Versuch zu machen, im stillen sehr amüsirt über Ravenswann. Er sah wieder, daß Leute, die nicht gewohnt sind, sich in der Oeffentlichkeit

Der Fallschirm des Luftschiffers Leroux. Nach einer Zeichnung von E. Hosang.

[430] genannt zu sehen, von einem Tröpflein Druckerschwärze, das ihren Namen begießt, ganz berauscht werden.

Als er dann endlich gehen wollte, hielt ihn an der Thür Frau Mietze auf. Sie hatte nun einmal die Neigung, die wichtigsten Dinge mit dem Thürdrücker in der Hand zu besprechen.

„Ein Freundeswort, lieber S–teinweber,“ sagte sie; von innerer Erregung zitterte ihr aber doch die Stimme. „Nehmen Sie es, bitte, nicht übel, aber unter Freunden soll Offenheit herrschen.“

„Ich bitte Sie, gnädige Frau – was könnten Sie mir zu sagen haben?“ fragte Marbod befremdet.

„Vers–prechen Sie mir in die Hand, es nicht übelzunehmen?“ fragte sie entgegen und hielt ihm die Hand hin.

Wohlgemuth legte er seine Rechte hinein. Er fühlte sich über die Möglichkeit erhaben, Marien etwas übelzunehmen.

„Haben Sie nie bedacht, daß man ein junges Paar sich selbst überlassen muß? Sie verkehren mit Germaine, daß es mich nicht wundern soll, wenn Alfred eines Tages eifersüchtig wird – vielleicht ist er es schon. Glücklich sieht weder er noch sie aus. Den S–törenfried in einer Ehe zu machen, ist eine verantwortliche Sache, und wenn Germaine, die vielleicht nicht so gut erzogen ist wie ich, in ihrem Benehmen gegen Sie keine richtigen Grenzen weiß, sollten Sie diese Grenzen doch festhalten.“

Marbod war sehr bleich geworden und seine Hand zog sich aus der Mariens zurück.

„Frau von Haumond ist tadellos,“ sagte er finster.

„Natürlich, das finden Sie. Na, ich habe meine Pflicht gethan. Wenn Sie wollen, können Sie mir ja nun bös sein,“ sprach sie, zufrieden aufathmend.

„Nichts liegt mir ferner. Ich danke Ihnen. Gute Nacht!“

Unten auf der Straße sah er nicht nach dem Wege. Aufs Gerathewohl schritt er fürbaß, hastig, Leute anrennend und über Trottoirstufen hinstolpernd. Derbe oder boshafte Bemerkungen, die ihm dabei nachgerufen wurden, hörte er nicht. Auf seiner Stirn perlte Schweiß, seine Brust athmete schwer.

„Sie ist tadellos – tadellos – tadellos,“ wiederholte er sich ungezählte Male, und mit immer wachsendem Schrecken hörte er eine leise, aber eindringliche Stimme in seinem Verstande dieser Versicherung widersprechen.

Oder hatte Mariens Einflüsterung seine Phantasie vergiftet? War der Blick, mit dem Germaine ihn noch heute abend beim Abschied erröthend angesehen hatte, war der Blick nur von der Wärme harmloser Freundschaft durchleuchtet gewesen? Und war die Wonne, die dabei seine Brust durchzog, auch nur Freundschaftsaufwallung?

Eine Art von Verzweiflung erfaßte ihn, als sein Gedächtniß ihm nicht so ganz genau Stunde um Stunde zurückbringen wollte, die er mit der jungen Frau zusammen verlebt hatte, seit damals, als er sie auf dem Bahnhof gesehen.

Wie war doch alles gewesen? Ja, richtig, damals im ersten Schreck, sie, der er ein von edlen Wünschen begleitetes Gedenken bewahrt hatte, als Alfreds Gattin wiederzufinden, weigerte er sich, wie vordem mit Alfred in brüderlicher Gemeinsamkeit weiter zu leben. Er redete sich ein, daß die Frau dazwischen stände und daß er ein Recht habe, die Frau zu verachten, die in eine solche Ehe eingewilligt. Aber die ersten Abendstunden, die sie zu dritt verbrachten, hatten alle seine finsteren Gedanken verscheucht.

Sie war doch ganz so, wie er ihr Wesen damals aus der Ferne zu erkennen geglaubt hatte. Daß Alfred und sie nicht wie Ehegatten, sondern freundlich wie Geschwister verkehrten, sah er wohl.

Aber erst in dieser Stunde machte er sich das recht klar und begriff zugleich, wie sehr ihn diese ruhige, geschwisterliche Herzlichkeit zwischen den beiden beglückt, daß nur sie es ihm möglich gemacht hatte, den alten guten Ton dem Freunde gegenüber zu finden. Gewiß, darin hatte Frau Marie recht, das war eine verwunderliche Sache, daß er jeden Abend mit den beiden zubrachte. Das war schon so ausgemacht, daß es nicht einmal mehr einer Verabredung oder Aufforderung dazu bedurfte.

Alfred und Germaine zeigten niemals den Wunsch, allein zu bleiben. Und er, der wußte, daß ihre Seelen sich nicht in Liebe gehörten, er hätte ihnen gerade dadurch, daß er sie allein ließ, Gelegenheit geben sollen, sich zu finden. Sie waren vermählt – sie waren beide so liebenswerth – sie besaßen lauter Ergänzungseigenschaften für einander – mußten da nicht eines Tages ihre Herzen erwachen? Mußte Alfred die Geliebte nicht vergessen lernen bei dem friedvoll schönen Beisammensein mit der Gattin?

So hatte die taktlose Frau mit ihrem unbescheidenen Eindringen in das Seelenleben anderer doch recht! Er war als Störenfried in Alfreds Ehe getreten!

Und da rann wieder heiß durch seine Adern die Erinnerung an den Blick, den Germaine ihm geschenkt.

Seine Füße trugen ihn kaum mehr. Seine Gedanken versagten, er konnte nicht mehr folgerichtig weiter grübeln. Das Bewußtsein eines großen Elends legte sich bleischwer auf ihn.

Ein Morgen, eine Zukunft schien es überhaupt nicht mehr zu geben. Er begriff nur eine Pflicht, die, mit Alfred zu sprechen und den Freund hineinsehen zu lassen in alle Entdeckungen, die er heute in seiner Seele gemacht hatte.

Alfred war sein Richter.

An diesen Gedanken klammerte er sich und fand daran eine Art Beruhigung wie jemand, der nach langem Umherirren ein vorläufiges Ziel sieht, von dem aus er dann den wahren Weg zu finden hofft.

„Ich will mit ihm reden,“ wiederholte er sich dann immer von neuem.

Der Wunsch kam ihm, wenn es gleich schon zu spät war, noch in der Nacht den Freund aufzusuchen, oder doch an den Fenstern der beiden vorüberzugehen. Und als er die Wegesrichtung einschlagen wollte, bemerkte er erst, daß er sich in einen nördlichen Stadttheil verirrt hatte, anstatt seine Schritte dem Potsdamerviertel zuzuwenden.

Er lächelte bitter schmerzlich. Dergleichen war ihm noch niemals an sich vorgekommen, und in den wichtigsten Entscheidungsstunden seines Lebens hatte ihn Auge und Begriffsvermögen doch immer unbeirrt die Dinge um ihn sehen lassen.

„Ich will mit ihm reden,“ sagte er sich nochmals, als wollte er durch diesen Vorsatz auch dem erschöpften Körper Muth und Kraft geben, den endlosen Weg durch die schlafende Riesenstadt zurückzugehen.




13.

Als Alfred und Germaine an diesem Abend in ihr Heim zurückkehrten, zog die letztere sich gleich in ihr Zimmer zurück. Sie hatte den ganzen Abend gefühlt, wie er nach Einsamkeit lechzte.

Und einen tiefen großen Seufzer stieß Alfred hervor, als er sich dann endlich allein sah. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, stützte den Ellbogen auf und legte die Stirn in die hohle Hand. Vom Aufsatz des Schreibtisches herab glühte still die Flamme der Lampe hinter milchweißem Glase. Auf dem Schreibtisch war gut geräumt, Papiere und Bücher lagen in den Fächern des Aufsatzes, die grüne Tuchplatte war fast leer. Das Schreibzeug stand da und neben demselben lagen kleine Gebrauchsgegenstände.

Alfred starrte vor sich hin. Sein Auge sah gar nicht, auf was es die Blicke richtete. Dann auf einmal stellte sich die Verbindung zwischen Blick und Bewußtsein wieder her. Alfred sah den dunklen großen Fleck, der allen Reinigungsversuchen der Wirthin widerstanden hatte.

Und dieser Fleck ward ihm angstvoll beredt. Kleine süße Kinderhände hatten ihn gemacht – winzige Bleisoldaten hatten in der Tintenlache damals geschwommen. – Ein Kichern und Flüstern ging durch den nächtlich schweigsamen Raum. Kalt rann es über Alfreds Glieder. Ihm war’s, als fühlte er dicht an seiner Wange eine zarte, junge andere Wange und sähe dicht vor seinen Augen ein dunkles, großes Augenpaar, dasselbe wie sie, sie es besaß …

Er stand auf und ging hin und her.

Seit vielen Wochen hatte nicht einmal sein Gedächtniß es gewagt, ihm den Namen zuzurufen, den heute die vorwitzige unzarte Frau vor ihm ausgesprochen.

Das war ein Anruf gewesen, so tödlich erschreckend, wie wenn man einen Nachtwandelnden anruft, der an Abgründen geht.

Den ganzen Tag, der ihm keine Stunde der Einsamkeit gegönnt, hatte er einen Riesenkampf gekämpft. Er wollte gleichsam erwürgen, was sich wieder lebendig in ihm regte.

[431] Er hatte es sich geschworen, Herr zu werden über sich und aus eigener Kraft den Abgrund unüberbrückbar aufzuthun zwischen sich und ihr, den er mit einer Heirath schaffen wollte und nicht hatte schaffen können durch die wunderlichste Schicksalsfügung.

Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und schrieb mit eiliger Feder Verse nieder, flüchtig, undurchdacht – nur wie aus einem Nothgefühl heraus, das in irgend einem Ausdruck Befriedigung erhofft:


„Daß wir zusammen einst geschritten,
Daß wir vereint gedacht, gelitten,
Schwand mir, wie eines Liedes Klänge
Hinsterben, fast im Tagsgedränge;
Ich dachte Dein und jener Zeiten kaum,
Und wenn ich dachte, dacht’ ich wie im Traum.

Da, als sie Deinen Namen riefen,
Was hat mich jählings so ergriffen?
Es ist mir gleich Lots Weib ergangen,
Nicht dämpfen konnt’ ich das Verlangen,
Zurückzuschau’n und in die Gluth zu seh’n –
Ich sah zurück und blieb entgeistert steh’n.“


Nein, das befreite nicht, das waren schöne Lügen, gereimte Unwahrheiten. Als er wieder las, wie es dastand, daß er „ihrer kaum gedacht“, ergriff er das Papier, drückte es zum Ball zusammen und warf es in den Papierkorb.

Ihrer kaum gedacht?!

Er senkte seine Stirn auf die verschränkten Arme nieder, die auf der Tischplatte ruhten, und blieb so lange – lange.

Ein Frauenkleid rauschte hinter ihm, ein leise schreitender Fuß war herangekommen. Er hörte es wohl, doch regte er sich nicht. Unbeweglich trug er auch die Hand, die sich dann auf seine Schulter legte. Erst als eine innige Stimme sanft seinen Namen rief, wandte er das gramvolle Gesicht dem jungen Weibe zu.

In ihren Augen standen Thränen, nicht die aufsteigenden Thränen beginnender Rührung, sondern die letzten Tropfen von vergossenen Fluthen.

Alfred sprang auf und zog sie in seine Arme.

„Auch Du!“ rief er schmerzlich. „Und warum?“

Germaine versuchte an seiner Schulter ihr Gesicht zu verstecken; sie war eine von den Frauen, die sich schämen, wenn man bei ihnen Gefühlserregungen sieht.

Da sie schwieg, glaubte Alfred mit der natürlichen Selbstsucht des Unglücks, sie habe um seinetwillen geweint. Er streichelte ihr sanft das Haar, versuchte zu lächeln und sagte:

„Gewiß, es wird vorübergehen. Es muß für alles ein Vergessen geben. Auch dafür. Aber weine nicht! Erinnerungsschmerzen thun weh, so weh, daß sie für Stunden überwältigen können – aber doch wird mein Leben leer sein, wenn sie mir nicht mehr kommen.“

Germaine faßte sich und, wie es ihre Art war, gelang ihr dies vollständig. Mit ruhiger Stimme bat sie Alfred, doch schlafen zu gehen, der Lichtschein, der aus seiner halb offenstehenden Thür gekommen, habe sie erschreckt und hierher gelockt; seinen Nerven sei das späte Aufsitzen und das Versinken in finstere Grübeleien gewiß nicht gut. Er versprach ihr, was sie wollte.

Als sie wieder gegangen war, fiel ihm erst ein, daß sie den Lichtschein aus seiner Thür gar nicht hätte sehen können, wenn sie selbst nicht noch zu ungewohnter Zeit im Zimmer daneben gewesen wäre. Und sie war schon mit Thränenspuren gekommen. Sorgenvoll dachte er nach, welche Beunruhigungen an dieses immer gleich sanfte und reine Frauenherz getreten sein konnten. Er bemerkte, daß sein Nachdenken ganz unnütz war, denn es stützte sich auf keinerlei Beobachtungen. Er hatte Germaine neben sich hergehen lassen, ohne im mindesten darüber nachzudenken, ob ihre Stunden auch anregend und befriedigend ausgefüllt seien. Und wie zufrieden und still hatte sie dabei um ihn gewaltet! Es mußte schon ein hoher Grad von Unglücksgefühl sein, der sie zu Thränen brachte, zu Thränen, die sie ihm nicht verbarg.

Mit dem Vorsatz, sich fortan mehr und eingehender um Germainens Tageseintheilung, ihre Interessen und Abneigungen zu bekümmern, ging er schlafen.

Als sie am andern Morgen beim Frühstück zusammensaßen, überraschte er sie durch Fragen und Vorschläge. Ob sie Talente habe zur Musik, zur Malerei, für Sprachen. Ob sie durch Unterrichtnehmen dergleichen weiter pflegen wolle, oder ob er ihr in den Fächern, darin er sich etwas zutrauen dürfe, dienen könne.

„Wie merkwürdig!“ sagte Germaine, „gerade in dieser Nacht habe auch ich gedacht, daß es gesünder sein möchte, wenn ich, anstatt zu naschen, mich ernährte. Ich habe bunt durcheinander gelesen, was mir unter Deinen Büchern verlockend erschien. Dabei habe ich nebenher das bißchen häusliche Geschäfte besorgt. Eine feste Tageseintheilung möchte besser sein; ich werde sie strenge innehalten. In dieser möchte ich dann Stunden feststellen, wo ich Kunstgeschichte und Sprachen weitertreibe. Du weißt wohl gar nicht, was ich für ein unwissender Mensch bin. Ich schäme mich oft vor … ja, ich schäme mich manchmal.“

„Gut, ich habe ‚Kugler‘ und ‚Schnaase‘, wir wollen sie gleich suchen.“

Sie standen beide vor den Regalen der Bücherwand und suchten vergebens nach den Werken. Auch das Fehlen anderer Bücher fiel Alfred dabei auf.

„Es steht noch von Baden-Baden her eine kleine Kiste – dem Gewicht nach mit Büchern – uneröffnet in der Kammer,“ sagte Germaine.

Die Kammer war ein gänzlich lichtloses Kabinett, das man einer Korridornische abgewonnen hatte. Germaine ging mit einem Licht und einem Brecheisen dahin. Aber es gelang ihr nicht, die von Fritz derzeit gut besorgte Vernagelung zu sprengen.

„Es ist gut, daß Du kommst,“ sagte sie zu Alfred, der ihr folgte, um die Bücher zu tragen, „meine Hände sind doch zu schwach.“

Das Licht stand auf einer umgestülpten leeren Kiste; rings an den weißgetünchten Wänden hing allerlei Kleidung, die außer Gebrauch gesetzt war. Reisekoffer thürmten sich in einer Ecke, leere Bilderrahmen und alte Bilder lehnten an der Wand. Bündel zusammengeschnürter illustrirter Journale lagen in einem staubigen Haufen auf dem rauhen Estrich. Es roch nach Staub, Leder und Holz.

„Das ist ja Fritzens Livree,“ sagte Germaine, als Alfred den Deckel gesprengt hatte. Sie nahm die Kleidungsstücke mit spitzen, vorsichtigen Fingern heraus wie etwas, das man mit leisem Widerwillen anfaßt.

„Die Sachen kann man hier gleich mit anhängen,“ meinte sie und trug die Röcke zu den Kleiderhaken an der Wand.

„Ordentlich eingepackt hat er, das muß man dem fatalen Menschen lassen.“ sagte sie, sich abermals zur Kiste beugend, auf deren Ecke Alfred saß, „sieh da – aus der Westentasche guckt ein Papier!“

Sie zog es heraus. Ihren Lippen entrang sich ein Laut – wie wenn ein Schrei noch mit Mühe zurückgehalten wird.

„Was hast Du?“ fragte Alfred, seinen suchenden Blick von den Bucheinbänden zu ihr erhebend, die zitternd dastand, die Hand zusammengekrampft, die Augen bang auf ihn geheftet.

Es war vielleicht nur der düstere, unwirthliche Raum, den das Licht der Kerze nur nothdürftig und unfreundlich erhellte, welcher Germainens Gesicht so seltsam bleich erscheinen ließ.

„Was hast Du?“ fragte er noch einmal.

Da lösten sich ihre Finger und ein Papier fiel heraus, ein geschlossenes Briefcouvert, das von dem Druck der Hand zerknüllt war.

Er bückte sich danach. Er las die Aufschrift und seine Hand sank lahm auf seine Kniee nieder.

Man hörte keinen Athemzug. Wie zwei leblose Wesen verharrten sie.

Draußen auf dem Korridor gingen Hausbewohner vorbei; man hörte sie sprechen. Sie mochten irgendwo eine Thür öffnen und schließen, wodurch ein Windstoß über den Korridor ging, denn die Kammerthür knarrte, öffnete sich mehr und fiel dann krachend zu. Nun waren die beiden wie eingekerkert in dem düstern Loch.

Von dem Krach schrak Alfred zusammen. Er sah Germaine an. Der angstvolle Schmerz in seinem Blick ergriff sie unsagbar.

„Lies doch!“ sagte sie leise.

Seine bebenden Finger erbrachen das Couvert. Vor seinen Augen flirrte es. Hilfesuchend sah er wieder Germaine an. Sie trat zu ihm, hockte neben ihm nieder und las flüsternd von dem in seiner Hand zitternden Blatt ab:

[432]

Papst Julius II. besichtigt die ausgegrabene Statue des Apollo von Belvedere.
Nach einem Gemälde von C. Becker.
Mit Genehmigung der Photographischen Gesellschaft in Berlin veröffentlicht.

[433] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [434] „Liber süser Papa liber guhter Papa Bitte komm doch Wiehder Du hast einmahl gesagt Du Willst mein Papa sein Ich und Mama Sind sehr Traurich und so grüse Ich Dich als Dein Sascha.“

„O Gott!“ schrie Alfred auf und schlug seine Hände vor das Gesicht.

„Fasse Dich, fasse Dich!“ flehte Germaine angstvoll, „besinne Dich! Begreife doch, daß nun alles gut werden kann! Sie hat Dich gerufen durch das Kind, das von Dir so heißgeliebte. Daß ihr Ruf nicht zu Dir drang, konnte sie nicht wissen – Du nicht ahnen, daß Du gerufen warst. Eile zu ihren Füßen! Sage, daß Du sie noch immer liebst – höre, daß Du noch immer geliebt bist! Ja, Du bist es. Ich fühle es, ich glaube es. Sieh! für Gerda und ihr Kind bitte ich.“

„Und – und Du?“ fragte er mühsam.

„Sag’ ihr, daß ich nicht Dein Weib, daß ich Deine Schwester bin; sag’ ihr alles!“ fuhr Germaine mit immer steigender Leidenschaft fort. „Heute noch sprich das Wort, das auch vor dem Gesetz die Lüge aufdeckt, die uns bindet. Ja, laß es alle Welt wissen, daß wir niemals Gatten waren, daß wir beide frei, ganz frei sind!“

Auf ihren Wangen brannten Fieberflecke, ihre Augen glühten.

„Daß ich mich vermählen wollte, sie wird es nie verzeihen. Denn sie wird verstehen, daß ich es nicht that, um einem andern Weibe zu gehören, sondern um mich auf ewig von ihr zu scheiden,“ sagte er tonlos. „Daß Du meine Schwester bist, ändert für sie nichts, nichts an der Grausamkeit, die ich ihr angethan.“

Er starrte vor sich hin. In seinen Augen glomm allmählich ein festes finsteres Licht auf und die Erregung in seinen Zügen wandelte sich in herbe Unbeweglichkeit.

„Ja – Grausamkeit,“ wiederholte er wie für sich, „das ist es und das wollte ich, das war meine Wehr gegen die Qual, die ich um ihretwillen litt.“

Er stand auf. In einem völlig veränderten Ton, aber ohne Germaine anzusehen, sagte er: „Aber wir wollten ja ‚Kugler‘ suchen. Geh’ nur! Die Luft hier ist unerträglich. Ich bringe Dir das Buch.“

Sie ging, langsam wie eine, der man eine riesengroß aufflackernde Hoffnung zerschlagen.

Er aber nahm das Papier mit den kindischen Schriftzügen, bedeckte es mit Küssen, las es mit nassen Augen wieder und wieder und, indem er es auf seiner Brust verbarg, dachte er:

„Dich – Dich, geliebtes Kind, kann ich nicht mithassen …“

Als Germaine die Wohnstube betrat, erschrak sie so, daß sie sich an dem Stuhl nächst der Thür festhalten mußte. Marbod Steinweber stand am Fenster und wandte sich der Eintretenden zu.

Mit einer Förmlichkeit und einem fremden Ernst, wie er ihn in jener Stunde gezeigt hatte, als Germaine ankam, und seitdem nie mehr, fragte er, ob Alfred nicht zu Hause sei.

„Gewiß,“ erwiderte sie leise, „er kommt gleich.“

Sie sahen sich nicht an.

„Hat Marie auch ihr so fürchterliche Dinge gesagt?“ dachte er, „weshalb sonst ist sie nicht wie gestern noch, freimüthig, liebevoll? Oder hat Alfred selbst ihr gesagt, daß sie so nicht – nicht auf mich blicken dürfe?“

„Ich habe mit ihm allein zu sprechen,“ sagte er nach einer Pause. Das klang rauh, ja verletzend. Merkte sie das nicht? In demüthiger Bescheidenheit antwortete sie:

„Ich werde mich gleich zurückziehen.“ Und es schien, als wollte sie augenblicklich das Zimmer verlassen.

„Nicht so – nicht so!“ rief er plötzlich ausbrechend, „Lebewohl dürfen wir uns sagen. Ich gehe. Wir sehen uns zum letztenmal.“

Da hob sie ihr Auge zu ihm mit innigem Blick. Es war ein unverhüllter Blick der Liebe.

Der Schreck ließ seine Seele in Schmerz und Wonne erbeben.

„Man hat mir gesagt,“ begann er stockend, „daß ich störend zwischen Ihnen und Alfred stehe. Mein Gewissen hat dieser Warnung recht geben müssen. Ich bin gekommen, um Alfred Lebewohl zu sagen und Sie zu bitten …“

Er hatte sie bitten wollen: „versuche Alfred zu lieben!“ Aber nein, nein – das sollte doch nicht von seinen Lippen.

„Um was zu bitten?“ fragte sie und sah ihn immer an, wie hilflos einem übermächtigen Zwang gehorchend.

„Zu bitten – an mich – nur – wie an einen Freund zu denken – denn ich …“

Er kam wieder nicht weiter. Ihre Augen schienen in seiner Seele zu lesen und zu erkennen, daß die Worte auf seinen Lippen lauter Lügen waren.

Sie schwiegen beide einige Sekunden. Er versuchte sich zu fassen. Sie schien ihm so liebens- wie hassenswürdig zugleich; das heiße Glücksgefühl in seinem Herzen bemühte er sich gewaltsam zu tödten und nur auf den Schrecken zu achten, der ihn erfaßte, weil das Weib seines Freundes sich so besinnungslos dem unerlaubten Gefühl hinzugeben schien.

„Eins möchte ich wissen,“ begann er leise, ohne sie anzusehen, „haben Sie mich damals, als wir uns zuerst begegneten, so gar nicht bemerkt? War an mich in Ihrer Seele keine Spur von Erinnerung zurückgeblieben? Waren in Ihrem Herzen, als Sie Alfreds Gattin wurden, auch nicht die blassen Schatten irgend eines flüchtigen Traumes von – von – einem andern?“

Germaine sah ihn ruhig und fest an.

„Nein,“ sagte sie klar. „Ich hatte Sie nicht mehr und nicht minder bemerkt als all die hundert gleichgültigen Menschen, die bei unserem Wanderleben an mir vorübergezogen sind. Ich bin von denen, deren Augen kein Gedächtniß haben, deren Seelen aber zu langsam sehen, um sich bei flüchtigen Begegnungen schon jemandes Bild einzuprägen.“

„Ich danke Ihnen,“ sprach er.

Sie neigte das Haupt, ging an ihm vorüber und hinaus. Er wußte nicht, ob sein Herz ihren Worten dies hinzusetzen durfte: „wenn meine Seele aber ein Bild aufgenommen hat, hält sie es fest für immer.“

„Nun, Marbod? So früh? Ist nicht Deine Bureaustunde …?“ fragte hinter ihm Alfreds Stimme.

„Es giebt Stunden, wo auch der pflichteifrigste Mensch einmal sich dagegen auflehnt, eine Arbeitsmaschine zu sein. Ich konnte heute nicht arbeiten und habe mich entschuldigt.“

Jeder von ihnen war so stark mit sich beschäftigt, daß ihm die erregten Züge des andern nicht auffielen.

„So – so,“ sagte Alfred, der kein Wort verstanden und gar nicht zugehört hatte; zerstreut fügte er hinzu: „Setze Dich doch! Bleibe bei uns, sei heut unser Gast!“

„Ich habe kein Recht mehr, mich an Deinen Tisch zu setzen, wenn ich nicht ein Unwürdiger sein will,“ sprach Marbod finster.

Alfred wurde aufmerksam und zugleich ward ihm sehr unbehaglich. Scenen und Erregungen mit großen, pathetischen Worten waren ihm entsetzlich.

Er hatte Marbod immer in einem vernünftigen Gleichmaß der Stimmung und des Gebahrens gekannt und dies vor allem an ihm geliebt.

„Ich bitte Dich,“ sagte er ganz niedergeschlagen, „fange Du doch nicht auch noch an, Dich mit aufregenden Phantasien zu beschäftigen.“

Es ging ihm, wie einem chronisch Kranken, der das Kranksein und die Klagen anderer nicht erträgt, weil die eigenen Leiden ihm das Wichtigste für alle zu sein scheinen.

„Es sind leider keine Phantasien,“ begann Marbod, des Freundes Hände ergreifend, „es ist eine traurige Wahrheit, die ich Dir beichte, indem ich mich Deinem Richterspruch übergebe. Für die Gefühle, die über uns kommen, sind wir nicht verantwortlich, wohl aber für die Folgen, die wir aus ihnen entstehen lassen. Ich liebe Germaine. Ich habe sie immer geliebt. Seit dieser Nacht aber weiß ich, daß meine Liebe von jener Art ist, die besitzen oder entsagen muß. In ruhiger Freundschaft neben ihr weiter leben – das kann ich nicht. Du begreifst, daß ich gekommen bin, um für immer Abschied von Euch zu nehmen.“

Alfred sah ihn mit einem Erstaunen an, das man hätte ein objektives nennen können.

„Ah,“ sagte er, „Germaine! So kann sie doch ein Herz erwärmen. Ich dachte, sie sei zu kühl, um zu empfinden, oder um Empfindung einzuflößen.“

„Manche Herzen gleichen kühlen und dunkeln Kellern; man muß tief hinabsteigen, um den feurigen Wein heraufzuholen.“

Alfred sah dem Freund herzlich in die männlichen, von tiefer Erregung zerstörten Züge.

„Hoffst Du auf ihre Gegenliebe?“ fragte er.

[435] Marbod wich einen Schritt zurück und sah in Alfreds Gesicht, auf dem in diesem Augenblick nur wohlwollende Antheilnahme stand.

„Bist Du von Sinnen?“ fragte er erzitternd, „Du sprichst von Deinem Weibe!“

„Von meinem Weibe?“ wiederholte Alfred mit einem wehmüthigen Lächeln, „ach nein; Germaine ist nicht mein Weib.“

„Ich weiß es,“ rief Marbod, „daß sie in jenem höchsten, letzten Sinne nicht die Deine ist, daß Ihr wie Geschwister neben einander lebt und so auch nur Euch zugethan seid. Aber doch ist sie Dein Weib und eines Tages könntest Du sie lieben lernen.“

„Niemals,“ sagte Alfred. „Jener gesetzliche Akt, der Germaine das Recht gab, den Namen von Haumond zu führen – denke, er sei nur eine Form gewesen, mittels welcher ich Germaine ermöglichen wollte, in meinem Schutze, in meiner Versorgung zu leben.“

„Das weiß ich, das fühlte ich längst,“ sprach der gefolterte Mann, „und dennoch, und obschon Ihr auch den Segen der Kirche verschmäht habt, dennoch muß Euer Bund mir heilig sein. Trägt sie nicht Deinen Namen? Und Du selbst, Du selbst sagst Dinge, die klingen, als wolltest Du mein Liebeswerben begünstigen!“

Alfred ging einige Male im Zimmer hin und her. Plötzlich blieb er vor Marbod stehen, der ihn mit bangen Augen verfolgt hatte.

„Nun denn! Eine Frage auf Ehrenwort! Denke nicht, daß hier ein Weib zu schonen ist! Denke, daß von Deiner Antwort Dein und ihr Lebensglück abhängt! Liebt Germaine Dich wieder und hast Du davon Beweise?“

„Ja!“ antwortete Marbod erblassend, „sie liebt mich, obschon ich keine andern Beweise habe, als ihre unbewachten Blicke.“

„Wenn Germaine ihre Blicke nicht mehr bewacht, so ist das mehr Beweis als die glühendsten Liebesworte von hundert Frauen. Sie liebt Dich! O, Ihr seid beide die Naturen, ein dauerndes Glück mit einander zu finden. Ihr – ja!“ sagte Alfred, von einer peinigenden Erinnerung erfaßt.

„Was sinnst Du?“ rief Marbod, „eine Scheidung?! Nein! Nicht vor der Welt, noch weniger aber vor mir selbst will ich das auf mich laden, dem geliebtesten Freund den Frieden zu nehmen. Denn wenn ihre Nähe Dir auch kein Glück gab, Frieden gab sie Dir.“

„Ehrlicher Mensch!“ sprach Alfred, seine Hand auf Marbods Schulter legend, „die Wohlthat ihrer sorgsamen Gegenwart brauche ich ja nicht zu entbehren. Höre denn die Wahrheit: Germaine ist eine Tochter meines Vaters. Wir entdeckten dies einige Stunden nach der standesamtlichen Verbindung, die wir – begreifst Du es nun? – in irgend einer unauffälligen Form wieder lösen lassen müssen. Daß wir mit dieser Lösung einige Wochen zögerten, begreifst Du wohl ohne weiteres? Lieber wollen wir, Germaine und ich, das Aufsehen einer Scheidung ertragen, als das Andenken theurer Menschen verschattet sehen.“

Marbod war beinahe fassungslos. Er umarmte den Freund und blieb lange still an seiner Brust.

„Gewiß,“ sagte Alfred leise, „Ihr werdet sehr glücklich sein. Ich mit Euch. Wem es nicht beschieden ist, selbst glücklich zu werden, soll zufrieden sein, wenn er die Liebsten im Glück sieht.“

„Und Du?“ rief Marbod ergriffen, „ist denn für Dich jede Hoffnung ausgeschlossen? Ist es Dir nicht wie ein Schicksalswink, daß aus Deiner geplanten Ehe, die Dich von ihr trennen sollte, nichts wurde?“

„Das alles sagte Germaine mir auch. Aber ich will Dir etwas gestehen.“

(Fortsetzung folgt.)




Das Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes in Berlin.

Von Rudolf Virchow.

Die Ankündigung, daß eine Anzahl von Männern zusammengetreten ist, um ein Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes in der Reichshauptstadt in Angriff zu nehmen, hat in weiten Kreisen so viel Theilnahme erregt, daß schon jetzt die Verwirklichung dieses Gedankens als gesichert bezeichnet werden darf. Freilich wird dieselbe zunächst nur in sehr beschränktem Umfange geschehen können, da weder Mittel, noch Raum in genügender Fülle vorhanden sind, um sofort eine umfassende Anstalt herstellen zu können. Aber die Unternehmer glauben ihre nächste Aufgabe auch gelöst zu haben, wenn sie an einer Reihe von Beispielen ihren Plan auschaulich dargelegt haben werden; sie geben sich der zuversichtlichen Hoffnung hin, daß diese Beispiele die Nützlichkeit, ja die Nothwendigkeit eines derartigen Museums ihren Mitbürgern darthun werden, und daß die Regierung, wie sie es gegenüber dem Kunstgewerbe-Museum gethan hat, auch das Trachten-Museum fördern und später in staatliche Verwaltung übernehmen werde.

Schon jetzt hat der Preußische Kultusminister, Herr v. Goßler, mit dem großen Wohlwollen, welches er allen ernsten wissenschaftlichen Bestrebungen entgegen trägt, dem Trachten-Museum freistehende Räume in der alten Gewerbeakademie, dem gegenwärtigen hygieinischen Institut, in der Klosterstraße zur vorläufigen Benutzung überwiesen. Gleich die ersten Erwerbungen, welche auf der Halbinsel Mönkgut in Rügen gemacht waren, hatten ihm die Ueberzeugung verschafft, daß auf dem betretenen Wege lohnende Ergebnisse erzielt werden könnten. Aber es liegt auf der Hand, daß die Erwerbungen selbst leichter durch Privatpersonen gemacht werden können, welche in unmittelbaren Verkehr mit den Bewohnern der einzelnen Gegenden treten, als durch Staatsbeamte, welche durch zahllose Rücksichten und Ansprüche behindert sein würden. So ist denn für die nächste Zeit der Weg ziemlich klar vorgezeichnet, der verfolgt werden muß, und es wird sich vorzugsweise darum handeln, daß in der Bevölkerung selbst ein gleiches Wohlwollen für das Unternehmen geweckt und die Theilnahme von Gönnern für die praktische Unterstützung des Komitees gewonnen werde. Dieses anzubahnen, ist auch der Zweck dieser Zeilen.

Die Entwickelung der älteren Museen ist begreiflicherweise vorzüglich den bildenden Künsten zugewendet gewesen. Selbst die Architektur wurde gegenüber der Bildhauerei und der Malerei stark in den Hintergrund gedrängt.

Sehr langsam und spät erst ist das Kunstgewerbe aus seiner Vergessenheit erweckt worden. Diese höchsten Leistungen menschlicher Kunstthätigkeit wirken, indem sie die Bewunderung des Beschauers erregen, nicht bloß erhebend und erweckend auf den Geist, sondern sie reizen zur Nachfolge und geben ganzen Geschlechtern die Richtung für die eigene Thätigkeit. So werden sie zu Maßstäben für die Kultur überhaupt.

Aber die Kultur ist nie und nirgend auf einmal entstanden. Viele Geschlechter mußten ihre beste Kraft aufwenden, um in langsamer Arbeit die Kunstübung zu finden und heimisch zu machen. Eine Art von erblicher Uebertragung sicherte auch hier die Dauerhaftigkeit des Fortschritts und selbst in Fällen langer Unterbrechung die Wiederaufnahme der einmal gewonnenen Ziele und Methoden. Nicht allein der eigentliche Forscher, der Kunstgelehrte wendet daher seine Aufmerksamkeit der Kunstgeschichte zu, sondern auch der einfache Mann aus dem Volke kommt auf die Frage, wer so Großes erfunden haben möge und wie sich im Laufe der Zeiten immer höhere Stufen der Kunstfertigkeit und des Kunstverständnisses erklimmen ließen.

Zwei Umstände sind es vorzugsweise gewesen, welche diese Fragen vertieft und weit über das Gebiet der eigentlichen Kunst hinaus erweitert haben. Einerseits die zunehmende Kenntniß von den Leistungen der Naturvölker. Sie beginnt mit den großen Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts, aber sie hat doch eigentlich erst mit den wissenschaftlichen Reisen des vorigen Jahrhunderts, insbesondere seit den Fahrten Cooks und den Forschungen Alexander v. Humboldts, jene befruchtende Einwirkung auf die allgemeine Anschauung gewonnen, welche heutzutage vor aller Augen liegt. Wer wüßte es nicht, daß der Gang der menschlichen Kultur von ihren rohesten Anfängen an bis zu oft staunenswerther Höhe noch bei den heutigen Naturvölkern wie in einem aufgeschlagenen Buche übersichtlich zu Tage tritt, und daß ebensowohl [436] die Entwickelung der Gesellschaft, des Rechts und der Religion als die Ausstattung des Hauses und der gesammte Besitz an Geräthen und Schmuckgegenständen, an Hausthieren und Nutzpflanzen bald hier und bald da in ihrem allmählichen Aufbau erkennbar werden. Leider schwinden die Naturvölker in der Berührung mit den Kulturvölkern in erschreckender Schnelligkeit dahin, und es darf als ein besonderer Glücksfall betrachtet werden, daß die erhöhte Sorgfalt in der Beobachtung und Sammlung aller Eigenthümlichkeiten dieser versinkenden Ueberlebsel der Vorzeit wenigstens noch die letzte Zeit ihres Bestehens benutzt hat, um für die Zukunft nicht allein die Erinnerung, sondern auch wirkliche Objekte der Anschauung zu retten. So erklärt sich das Aufkommen und das gewaltige Anwachsen der ethnologischen Museen, unter denen das neue Berliner Museum für Völkerkunde einen so hervorragenden Platz einnimmt.

Der zweite Umstand, der in fast noch weniger geahnter Stärke die Richtung der neueren Forschung bestimmt hat, ist in der Umgestaltung der sogenannten Alterthumskunde zu einer wirklichen Vorgeschichte zu suchen. Nachdem schon seit den ersten Decennien dieses Jahrhunderts in vielen Staaten Europas die Sammlung der vaterländischen Alterthümer mit zunehmendem Interesse gefördert worden war, ist es namentlich der Thätigkeit unserer skandinavischen Nachbarn, der Dänen und Schweden, sowie dem Eingreifen verdienter deutscher Forscher zu verdanken gewesen, daß allmählich Ordnung und chronologisches Verständniß in dieses bis dahin ganz chaotische Gebiet gebracht worden ist. Die Entdeckung der schweizer Pfahlbauten hat dann den Eifer in ganz Europa entzündet, und die prähistorischen Museen gehören gegenwärtig zu denjenigen Anstalten, in deren Vervollständigung der Stolz jedes einzelnen Volkes gesetzt ist.

Hier, aus den Gräbern und Wohnplätzen der Vorfahren, thut sich vor unsern Augen ein neues Bild menschlicher Kulturentwicklung auf, und mit Staunen und Bewunderung sehen wir, wie dasselbe eine Art von Ergänzung zu dem Bilde der Entwicklung der Naturvölker darstellt, so daß das eine das andere erläutert. Wir erblicken unsere Vorfahren selbst auf dem Standpunkte der Naturvölker, in der gleichen Arbeit fortschreitender Erforschung der Mittel und Wege, wie die Natur dem Menschen dienstbar gemacht werden kann und wie uns der Arbeit des Tages allmählich die höheren Aufgaben eines idealen Strebens hervorwachsen.

So hat sich vor die eigentliche Kunstgeschichte die Geschichte der Arbeit gesetzt, eine lange Geschichte, die in der fernsten Vorzeit begonnen hat und die sich noch immer fortsetzt und fortsetzen wird. Eine Grenze zwischen beiden giebt es nicht, denn niemand kann sagen, wo die Kunst beginnt und wo die Arbeit des täglichen Lebens endet. Die Kunst geht aus der Arbeit des Tages hervor wie die Blüthe aus einer Knospe. Geschichte und Vorgeschichte sind nur äußerlich getrennt, innerlich hängen sie untrennbar zusammen. Gleichwie es eine Vorgeschichte auch der heutigen Naturvölker giebt, so ziehen sich vorgeschichtliche Ueberlieferungen in das Leben der Kulturvölker herüber. Diese Ueberlieferungen aufzufinden und festzuhalten, ist eine nicht minder wichtige Aufgabe für das Kulturverständniß wie die Vorgeschichte selber; denn gerade sie liefern uns die Fäden, an welche wir die Zusammenhänge von jetzt und vordem in unmittelbarer Verbindung anreihen können.

Derartige Zusammenhänge ältester Tradition bieten in erster Linie Sprache und Sage. Sie zu verfolgen, bedarf es keiner Museen. Aber in zweiter Linie sind es wirkliche, materielle Gegenstände, und zwar Gegenstände des Gebrauches, an welche sich freilich nicht selten alterthümliche Bezeichnungen und sagenhafte, meist abergläubische Deutungen knüpfen, welche aber auch ohne solche durch ihre Form, ihre Verzierung, ihre Verwendung bestimmte Andeutungen des Alters darbieten. Diese Gegenstände zu sammeln, ist die Aufgabe des Museums der Trachten und Geräthe, welches wir vorhaben, nicht die einzige, denn es giebt auch in der historischen Entwicklung der Völker viele Stadien, welche in Tracht und Geräth ihre Erinnerung hinterlassen, aber eine vorzügliche. Ein Museum der Trachten und Geräthe schließt daher die Lücke zwischen den ethnologischen und prähistorischen Museen einer-, den historischen Museen andererseits. Es wird für unser Volk dasjenige thun, was die ethnologischen Museen für die fremden, insbesondere die Naturvölker gethan haben; es wird in der Gegenwart Gegenstände auffinden lassen, wie sie die prähistorischen Museen aus den Gräbern und Wohnplätzen der Vorzeit aufdecken; es wird für das gewöhnliche Thun und Treiben der Völker leisten, was die historischen Museen vorzugsweise für das kirchliche und höfische Leben zu Stande bringen.

Die Erwartungen, welche sich an ein Museum der Trachten und Geräthe knüpfen, dürfen daher hoch gespannt werden. Die Erfahrung widerlegt die so häufig geäußerte Besorgniß, als sei es jetzt schon zu spät, an eine solche Aufgabe zu gehen. In der That hat schon unser Anfang gelehrt, daß man auch in Deutschland nur ernsthaft nachzufragen und zuzugreifen hat, um zahlreiche Gegenstände der altertümlichen Tradition zu erlangen. In anderen Ländern ist der Erfolg ein geradezu glänzender gewesen. So namentlich in Schweden, welches durch die unermüdliche Thätigkeit des Herrn Hazelius seit Jahren ein wahres Mustermuseum dieser Art in Stockholm besitzt. Auch in Moskau und Amsterdam sind sehr bemerkenswerthe Ansätze zu ähnlichen Einrichtungen vorhanden.

Freilich darf man die Erwartungen auch nicht zu sehr in die Höhe treiben. Was namentlich die Tracht als solche betrifft, so versteht es sich von selbst, daß dasjenige, was man in etwas zu volltöniger Weise wohl als Nationaltracht bezeichnet, als Ganzes niemals in die prähistorische Zeit zurückreicht. Damals gab es nichts, was diesen sogenannten Nationaltrachten glich. Nur bei solchen Völkern, von denen einzelne Stämme in einer Art von Naturzustand verharrten, andere in die allgemeine Kulturbewegung eintraten, kann so etwas vorkommen. Aber das ist in Europa nur bei den finnischen Stämmen der Fall. Bei allen arischen Völkern Europas ist die Nationaltracht ein verhältnißmäßig junges, ja man darf wohl im allgemeinen sagen, ein modernes Produkt, und speziell in Deutschland, wo sich immer nur an einzelnen beschränkten Stellen, zuweilen nur in einzelnen Dörfern, noch solche Trachten finden, dürfte wohl keine derselben über das 15. Jahrhundert hinausreichen. Nicht wenige sind sicherlich erst durch die Reformation fixirt worden. Vielleicht wird die thatsächliche Sammlung des Materials zu vergleichenden Studien Veranlassung bieten, welche noch ältere Daten ergeben, aber gewiß wird sich das mehr auf einzelne Theile der Tracht beziehen.

Schon weit dauerhafter als in der Tracht sind die Menschen in ihrem Hausbau, ihren landwirthschaftlichen und thierzüchterischen Gewohnheiten, ihrem Hausgeräth, ihren Werkzeugen. Insbesondere das Geräth aus Stein, aus Knochen und Geweihen, aus Thon hat eine große Beständigkeit. Die Grundeinrichtung des Hauses erhält sich trotz aller Zusätze, welche die Ausdehnung der Wirthschaft und die Bequemlichkeit des größeren Besitzes mit sich bringen. Sie ist in Bezug auf die Familie ebenso dauerhaft wie die Anlage der Orte und die Eintheilung der Flur in Bezug auf die ganze Gemeinde.

Nun lassen sich ganze Häuser ebenso wenig wie ganze Orte oder Gemarkungen in einem Museum vorführen, es sei denn in Modellen oder Zeichnungen. Auf diese wird Bedacht genommen werden. Aber wohl lassen sich Zimmer und Stuben in ihrer ganzen Einrichtung vorführen, und wir hoffen, schon bei der Eröffnung des Museums, vielleicht noch in diesem Jahre, Zimmer von Mönkgut, aus dem Spreewalde, aus dem Elsaß, aus Hessen und Litauen zeigen zu können; damit wird wenigstens in Bezug auf den wichtigsten Abschnitt des Hauses, den von Menschen bewohnten Theil, ein Gesammteindruck hervorgebracht werden, dessen Bedeutung gegenüber dem losen Nebeneinander vieler Einzelstücke, die natürlich auch aufgestellt werden müssen, wir hoch anschlagen. Die Praxis der Einrichtung wird vielleicht neue und erhebliche Gesichtspunkte ergeben, um auch noch größere Theile des Hauses vorzuführen; vorläufig denken wir uns auf das Mitgetheilte zu beschränken.

Und so möge denn das neue Unternehmen der thätigen Mitwirkung recht vieler unserer Landsleute empfohlen sein. Wir wissen es wohl, daß das Volk selbst am besten unterrichtet ist, wo die Schätze verborgen sind, die wir aufzudecken wünschen; darum wenden wir uns auch vertrauensvoll an dasselbe, damit es uns helfe, das Stück nationaler Erinnerungen, das in Tracht und Hausgeräth noch erhalten ist, in recht vollständiger Weise zu gewinnen und der Anschauung der Nachkommen zu bewahren.




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Ein unheimlicher Gast auf Deutschlands Fluren.

Von Professor Dr. Pabst. Mit Abbildung von E. Schmidt.

Alljährlich erscheint, bald zahlreicher bald spärlicher, auf den deutschen Fluren ein seltsames Wesen, ein Schmetterling, der Todtenkopf oder Acherontia Atropos, wie sein lateinischer Gelehrtenname lautet. Er ist merkwürdig nicht bloß durch seinen schaurigen Namen auch seine ganze Entwicklungsgeschichte, seine Wanderungen und sein nur vorübergehendes Verweilen in unseren Gegenden reizen die Neugierde und die Forschungslust so sehr, daß es gewiß angezeigt ist, mit dem Leben und Weben des düsteren Gesellen auch weitere Kreise bekannt zu machen.

Der Name „Todtenkopf“ ist für das Thier sehr bezeichnend, da das pelzig dicht braunbehaarte Bruststück des Schmetterlings eine ockergelbe Zeichnung trägt, welche sichtlich einem Todtenkopfe ähnelt, unter welchem zwei Knochen sich kreuzen. Atropos gehört zu der Abtheilung der Sphingiden oder Schwärmer, die sich durch kräftige Muskulatur und dadurch bedingte große Flugkraft vor anderen Schuppenflüglern auszeichnen. Sein Kopf trägt zwei große, im Halbdunkel leuchtende, geheimnißvoll funkelnde Facette-Augen; daneben stehen zwei dicke Fühler, welche viel kürzer sind als der halbe Oberflügel und in einen weißen, rückwärts gebogenen, spitzen Haarpinsel auslaufen. Außerdem sitzt am Kopfe noch ein kurzer, ziemlich breiter, spiralförmig einrollbarer Saugrüssel. Der Leib ist plump und dick, ein blaugrauer, etwa 5 mm breiter Streifen durchzieht ihn der Länge nach, und die ersten 6 Leibesringe sind je durch einen schmalen schwarzen Querstreifen scharf abgetrennt. Die Längsachse des Thieres beträgt etwa 6,5 cm, die Spannweite der Oberflügel 12 cm. Die letzteren sind schwarzbraun, mit rothbraunen, gelben und weißen verwaschenen Streifen durchzogen und mit einem weißlichen, scharf hervortretenden, dem oberen Flügelrande genäherten Mittelpunkte gezeichnet. Die wesentlich kürzeren Unterflügel sind ockergelb gefärbt und werden von zwei schwarzen Binden von oben nach unten durchzogen.

Der Todtenkopf fliegt nur in später, dunkler Nacht wird aber durch helles Licht angelockt, und so ereignet es sich bisweilen, daß er durch das offene Fenster einer erleuchteten Wohnung eindringt und durch seinen lauten, rauschenden Flug, sowie durch seine ganz ungewohnte Erscheinung furchtsame Gemüther in großen Schrecken versetzt. Früher wurde er da, wo er erschien, für einen Boten des Todes oder eines sonstigen Familienunglücks gehalten.

Man hat den Schmetterling bisweilen in Bienenstöcken vorgefunden vom Geruch des Honigs angelockt, hatte er sich durch das Flugloch in den Bau begeben und sich ungestört eine Zeit lang von der süßen Speise genährt. Die schwachen Bienen vermögen ihm nicht viel zu schaden. Seine gewöhnliche Nahrung besteht wahrscheinlich wegen der Kürze seines Rüssels in den aus kranken Bäumen fließenden Säften, doch es fehlen hierüber genauere Beobachtungen.

Dieser größte europäische Schmetterling, vermutlich erst im vorigen Jahrhundert aus Afrika oder Ostindien nach Europa eingewandert, tritt in Norddeutschland alljährlich auf, jedoch gewöhnlich nur in wenigen Exemplaren; manchmal aber, in besonders schönen Sommern wie 1886 wird er auffallend häufig gefunden. Sein eigentliches Verbreitungsgebiet ist außer dem südlichen Europa das südliche Asien von Kleinasien bis Java, ganz Afrika und Mexiko.

Die Heimath der bei uns ihre Eier absetzenden Todtenköpfe ist das südliche Europa. Infolge seiner gewaltigen Flugkraft, von Wind und Wetter begünstigt, dringt dieser Schwärmer im heißen Sommer weit nach Norden vor. In seiner Heimath erscheint er in zwei Generationen. Die im Mai oder Anfang Juni aus der Puppe schlüpfenden Exemplare kommen nicht zu uns, bis jetzt wenigstens ist während dieser Monate in Norddeutschland noch kein Todtenkopf gesehen worden. Schon Ende Juli aber fliegt die zweite Generation, und von dieser stammen unsere Atroposraupen. Diese im erwachsenen Zustande durch ihre gewaltige Größe und Korpulenz auffallenden Geschöpfe (12 cm lang, 2,5 cm breit) sind 16füßig, nackt, meist grünlich gelb gefärbt und mit schwarzblauen Pünktchen dicht bestreut; auf den 3 ersten und den beiden letzten. Gliedern fehlen jedoch diese Punkte. Vom vierten Gliede ab ziehen sich schöne blaue, nach vorn offene, unterwärts schwarz beschattete Winkelhaken über den Rücken, je einer auf jedem Gliede. Auf dem elften Leibesring sitzt ein Sförmig gebogenes, gekörntes, an der Wurzel verdünntes und wie ein Schwänzchen herabhängendes grüngelbes Horn und an der Grenze zwischen Rücken- und Bauchseite befindet sich auf dem ersten und vierten bis elften Segment rechts und links je ein dunkelbeschattetes, mit einem hecken Ring umfaßtes Stigma (Athemloch). In der Färbung sind die Raupen bisweilen verschieden, es giebt auch graubraune Exemplare, doch die aus ihnen sich entwickelnden Schmetterlinge weichen darum nicht ab von der Normalfärbung.

Die Lieblingsnährpflanze der Atroposraupe ist die Kartoffel, von welcher sie indessen nur die Blätter frißt; an den Knollen vergreift sie sich niemals. Zur Zeit der Kartoffelernte werden die Puppen öfters zu Tage gelegt, und ihr Schicksal, d. h. ihre Weiterentwickelung oder ihr Tod, hängt lediglich von den Händen ab, in welche sie gelangen. Außer auf Kartoffelfeldern findet man die Raupen vom August bis September vereinzelt noch auf einigen anderen Pflanzen. Da sie aber nie in großer Zahl gemeinschaftlich auftreten, so richten sie nirgends Schaden an, sie sind trotz ihrer Größe harmlos für den Gärtner sowohl wie für den Landwirth.

Meist gegen Ende September verwandelt sich. die Raupe in eine glänzend schwarzbraune Puppen von etwa 7 cm Länge; hinter [438] dem Kopfe ist sie flach sattelartig eingedrückt. Behufs Verpuppung macht sich die Raupe ziemlich tief in der Erde eine große eiförmige Höhle, welche innen wohl geglättet erscheint. Die Eiform dieser Höhle, sowie deren innere Glättung wird durch eine kreisförmige Bewegung der Raupe erzielt, welch letztere bei ihrer Drehung einen klebrigen, bald sich härtenden Saft ausscheidet. Einen ähnlichen Saft benutzt später der ausschlüpfende Schmetterling, um die Wandung der Höhle an einer Stelle aufzuweichen und sich den Weg nach der Erdoberfläche zu bahnen. Einem Theil der Puppen entschlüpfen im Freien schon Mitte oder Ende Oktober die Schmetterlinge, und aus dieser Entwickelungsgruppe rekrutieren sich vielfach die Atroposexemplare unserer Sammlungen. Alle diejenigen Puppen, welche vor Einbruch des Winters nicht zu Schwärmern werden, gehen bei uns im Freien zu Grunde, sie vermögen unsere Winterkälte nicht zu überstehen.

Im Zimmer kann man, wenn man die Puppen nur richtig behandelt, unschwer Schmetterlinge gewinnen. Die Atropospuppen, aus ihrem Erdcocon genommen, vertragen mehr als die vieler anderer Schmetterlingsarten; ihre feste Chitinhaut schützt sie, und vorsichtig eingepackt, lassen sie sich beliebig weiterbefördern. Bei richtiger Behandlung in der Gefangenschaft kann man jede Puppe zum Schmetterling sich entwickeln sehen, da keine der Atroposraupen von Schlupfwespen oder andern dergleichen Feinden angestochen wird. Auch diese merkwürdige Ausnahme ist ein Beweis, daß Atropos bei uns als eingewanderter Fremdling anzusehen ist; seine Feinde vermögen ihm auf seinem Hunderte von Meilen weiten Fluge nicht zu folgen, und die einheimischen Raupentödter verstehen sich nicht auf die fremden Atroposraupen. Daß er auch in seiner Heimath von solchen Feinden verschont bleibt, ist kaum anzunehmen, es hat aber darüber noch niemand berichtet.

Um die Puppen sicher zum Auskriechen zu bringen, nehme man sie vorsichtig aus der eiförmigen Erdhöhle und lege sie auf reinen Sand, der beständig feucht und warm gehalten werden muß; die Wärme auf dem obersten Fache eines hohen Bücherbrettes im geheizten Zimmer, oder besser noch ein erhöhter Platz in der Küche genügt vollkommen. Bei gleicher Behandlung verschiedener Exemplare derselben Zucht erfolgt die Entwicklung doch verschieden rasch. So krochen die Puppen von vier fast gleichzeitig unter die Erde gegangenen Raupen in folgenden Zeiträumen aus: Nr. 1 am 1., Nr. 2 am 7., Nr. 3 am 20. Dezember, N. 4 erst am 11. April des folgenden Jahres. In anderen Jahren erschien aus zeitig in der Gefangenschaft verpuppten Raupen der Schmetterling schon Ende September oder im Oktober und November.

Kein weiblicher Todtenkopfschmetterling, der bei uns der Puppe entschlüpft, ist imstande, die Art fortzupflanzen, da bei ihnen allen die Eierstöcke bis auf ein Minimum verkümmert sind oder gänzlich fehlen. Man könnte nun meinen, es sei dies ein Beweis, daß ihre Entwicklung in unseren Breitegraden klimatisch nachtheilig beeinflußt werde und von der in ihrer Heimath normal fortschreitenden Entwicklung abweiche. Doch dies ist nicht der Fall; auch die im südlichen Europa noch im Herbste auskriechenden weiblichen Schmetterlinge sind unfruchtbar, wie viele aus Spanien bezogene Exemplare zeigten, und es gleicht in dieser Beziehung Acherontia Atropos anderen Species der größeren Sphingiden, von denen die Puppen bisweilen in größerer Zahl noch im Herbste auskriechen, ohne je ein Ei abzusetzen, während erst die im Frühjahr, bez. Juni des folgenden Jahres, die Puppen verlassenden Individuen geschlechtsreif erscheinen. Der Lebenszweck dieser Herbstindividuen ist verfehlt, sie dienen nur zur Belebung duftender Blumenbeete in der Dämmerung, oder als fette Leckerbissen für die Fledermäuse.

Wie nun diese Thatsache bei unseren einheimischen Sphingiden feststeht, so verhält es sich auch mit Atropos in dessen Heimath; nur ein gewisser Prozentsatz der Puppen entwickelt sich nach der Ueberwinterung zum durchaus vollkommenen Insekt; die von ihnen stammenden Nachkommen entwickeln sich sehr rasch, so daß schon im Juli eine zweite, aber unverkümmerte Schmetterlingsgeneration auftritt, von denen einzelne Individuen aus dem Süden bis zu uns und noch weiter nördlich vordringen und ihre Eier absetzen, ohne aber hierdurch für die Erhaltung der Art oder für die ständige Ansiedlung im Norden Europas beizutragen. Denn die im Herbste ausschlüpfenden Todtenköpfe sind geschlechtlich verkümmert, und die Puppen welche bei uns unter der Erde überwintern, sterben ausnahmslos, einheimische Nachkommen giebt es eben nicht.

Schließlich ist noch eine ganz besondere Eigenthümlichkeit des Atroposschmetterlings hervorzuheben, wodurch er sich von allen andern Schuppenflüglern wunderbar unterscheidet. Er giebt nämlich, wenn man ihn angreift, ansticht oder irgendwie in Aufregung versetzt, einen eigenartigen Ton von sich, der an das Quieken einer Maus erinnert oder noch besser als ein wesentlich verstärktes Piepen des rothen Lilienkäfers, Lema asparagi, oder des Moschusbocks, Aromia moschata, bezeichnet werden kann. Gerade dieser sonderbare Klageton des auf dem Bruststück mit einem Todtenschädel gezeichneten, während der Nacht geisterhaft erscheinenden Ungethüms hat wesentlich mit dazu beigetragen, Unkundigen abergläubische Furcht vor ihm einzuflößen.

Landois giebt in seinen „Thierstimmen“ (Freiburg i. B. 1874) über diesen Ton des Todtenkopfes die von früheren abweichende, wohl einzig richtige Erklärung. Er sagt: „Der Schwärmer besitzt eine prall mit Luft angefüllte Saugblase, welche dicht vor dem eigentlichen Magen liegt, den vorderen Theil des Hinterleibes einnimmt und in das Ende der Speiseröhre mündet. Diese Einrichtung dürfte bei dem Saugen des Honigs und anderer Nahrungssäfte eine Rolle spielen. Die beiden Hälften der Rollzunge schließen an der vorderen Fläche nicht vollkommen aneinander, sondern lassen eine feine Spalte zwischen sich. Dadurch nun, daß die Luft aus der Saugblase durch diese Spalte getrieben wird, entsteht der Ton. Der Beweis hierfür liegt darin, daß man dem getödteten, aber noch weichen Schmetterling durch den Rüssel Luft einblasen kann, wobei der Hinterleib aufschwillt; drückt man auf diesen, so hält der Ton so lange an, als man drückt.“

Außerdem fand Swinton in der Mundhöhle des Schmetterlings, als er den Rüssel weit abwärts drückte, ein herabhängendes Segel, das beim Erklingen des Tones stark vibrirte, ähnlich den Kehlkopfbändern höherer Thiere.

Ohne Zweifel ist Acherontia Atropos einer der merkwürdigsten Schmetterlinge, und ich möchte ihn deshalb einer weiteren genaueren Beobachtung empfehlen.




Ein deutscher Liebesgott.

Erzählung von Stefanie Keyser.
(Schluß.)


Mit vollkommen hergestelltem Selbstgefühl, in heiterster Laune verließ Ellen das Museum. Graf Rossel geleitete sie zu ihrem Wagen.

Während der Diener davon eilte, die Gesellschafterin herbei zu rufen, sprach er: „Ich erinnere mich, daß in unserer Familienchronik Aufzeichnungen über die Entstehungsgeschichte des Pokals vorhanden sind. Wenn dieselben Sie interessiren, will ich die betreffenden Stellen ausziehen lassen.“

„O sehr, sehr gütig!“ antwortete sie und drückte die feinen Finger wie zu einer Dankesbetheuerung gegen einander.

„Und würden Sie gestatten, daß ich Ihnen die Aufzeichnungen überbringe?“

„Wird Papa und mir eine große Ehre sein.“

Er legte ihr den schwarz und roth schillernden seidenen Staubmantel um die Schultern und hob sie in den Wagen. „Also darf ich sagen: ‚Auf Wiedersehen!‘ mein gnädiges Fräulein?“

„Auf Wiedersehen!“ wiederholte sie ganz süß und lieblich. Dann fuhr sie davon. Graf Rossel sah dem Wagen nach. Eine schöne Schildjungfrau Wodans hatte er gesucht, eine pikante Dame Kobold gefunden. Nachdenklich ging er nach seinem Hotel zurück.

Er war ein vorzüglicher, aber flotter Offizier, der in stetem Kampfe mit den unbändigsten Pferden und den unverschämtesten Wucherern lebte. Einmal hatte er schon vor der Aussicht gestanden, „schwimmen“ zu müssen, wie der technische Ausdruck für „nach Amerika auswandern“ lautet; denn seine Familie hatte keinen Antheil mehr an dem Preis für den alten Familienpokal [439] gehabt. Das Vermögen des alten Arion würde ihn für immer von den verfluchten Kravattenfabrikanten und von der Sorge um lahmende Pferde befreien. Und was schadete es, wenn die Schätze in dem eisernen Geldschrank mobil gemacht wurden? Das viele Geld mußte ins Rollen gebracht werden, was doch einmal seine Bestimmung war.

Und die kleine Ellen? Na! die würde das Regiment nicht durch schief getretene Absätze verunzieren. Sie hatte ein ganz reizendes Füßchen. Und wie sie gewandt die Spitze nahm, als er ihre über gelehrten Krimskrams erhabene Stellung andeutete, so gewandt wie seine „Maggie“ bei guter Führung die Hindernisse auf der Rennbahn! Und die entzückende Schelmerei! Wie sie auswich und dann doch so gern sich fangen ließ! Er strich vergnügt seinen Schnurrbart. Sie war eine allerliebste kleine Hexe! –

Während das junge Paar zum Ausgang des Museums heraustrat, war der Kommerzienrath zum Eingang hereingekommen und stand jetzt vor Moses.

„Ich sage Ihnen, Herr Kommerzienrath,“ sprach dieser, „ein Graf und ein Bild von einem Mann. Wie viele Herren ‚Von‘ und Barone sich schon um Fräulein Ellen bemüht haben – ein Graf ist noch nicht darunter gewesen; das ist immer was Apartes. Und er hat mich gefragt nach Fräulein Ellen. Nicht direkt! Sondern wie wir fragen nach einem Papier, über das wir uns erst unterrichten wollen, ehe wir es kaufen.“

„Ach Moses,“ klagte der Kommerzienrath, „quälen Sie mich nicht. Sie wissen, ich will Ellens Gefühlen keinen Zwang anthun. Sie ist eine Seele von einem Mädchen. Man kann in sie sehen wie in einen goldenen Kelch.“

Moses ließ sich nicht irremachen. „Das wird auch für den Herrn Grafen ein Segen sein, wenn er in seine Gemahlin sehen kann wie in einen goldenen Kelch. Gerechter Gott! Auf der einen Seite ein schöner stolzer Herr mit einer Grafenkrone und einem Wappen, das auch Ihr Tafelaufsatz trägt, als sei er für ihn bestellt, ein Herr, der für gewöhnlich gewiß in einer Uniform steckt, und zwar in einer vornehmen – das sieht man an seinem Schnurrbart; und auf der andern Seite ein simpler Federfuchser mit einem Bauernnamen, der beim höchsten Staat es nur zu einem Schwalbenschwanz und einer Angströhre bringt!“

Er verstummte; Steffen kam mit seiner jungen Schar vorüber.

„Herr Direktor!“ rief ihn der Kommerzienrath an, „wann wird die Besprechung des Pokales, die Sie haben schreiben wollen im ‚Anzeiger für das Museum‘ gedruckt?“

„Ich selbst habe leider augenblicklich keine Zeit,“ entschuldigte sich Steffen, vorüber schreitend, „und habe das Referat meinem Vertreter übertragen. Ich muß zunächst eine Abhandlung über den Purzelmann vollenden.“ Er verschwand.

Der Kommerzienrath verstummte vor Erstaunen.

Der junge Architekt trat hinzu. „Dieser Purzelmann,“ erklärte er, „besitzt nämlich die Eigenschaft, alle Leute zu bezaubern, die mit ihm in Berührung kommen. Unseren Direktor hat er förmlich hypnotisirt.“ Auch er eilte davon.

Moses verdrehte die Augen. „Ein Mann, der einen mit Diamanten und Rubinen besetzten Pokal einem alten Oelgötzen nachsetzt! Na, was ich mir dafür kaufe!“


In der Heimath des kleinen Götzen erwartete man allstündlich das Eintreffen der Nachricht, der Purzelmann habe die Welt erobert. Daß er der Mittelpunkt der Ausstellung sei, daran glaubte jeglicher Einwohner von Tannenroda.

Wenn der alte Postbote am Dienstag oder Freitag über die Brücke aus Fichtenstämmen nach dem Ehrlichschen Haus hinüber schritt, dann kam eiligst der Bibliothekar ihm entgegen und griff erregt nach den Anzeigeblättern, welche das Museum herausgab.

Heute langten zwei Exemplare an; das eine trug Sifs Adresse in einer schönen großen Männerschrift. Ueber ihr Gesicht flog eine leichte Blässe beim Anblick derselben. Dann ging sie schweigend mit dem Blatt in den Garten.

Hulda hatte den Kopf aus der Küche gesteckt, wo sie mit dem Schwumprich um Preißelbeeren handelte. Sie sah Sif bedenklich nach. Wenn die Leute beim Empfang der Postsachen blaß werden, das hat etwas zu bedeuten. Wer hatte nur ihrem guten Fräulein etwas gethan? Natürlich war es ein Mann. Nur diese schrieben solche barbarische Buchstaben.

„Was sind das für Beeren? Da sind ja unreife dazwischen!“ fuhr sie den messenden Schwumprich an.

„Aber Hulda, nur eine einzige!“ bat er vor.

„Wenn man Euch Männern nicht gleich den Daumen aufs Auge drückt, kommt Ihr aus Rand und Band. – Und nennst Du das reell messen? Wenn Du knickerst, kann ich Dir nicht versprechen, daß wir Dir die Lieferungen an die vornehmen Professoren drunten verschaffen.“

Er gab eilig ein paar Händevoll zu. Dann flüsterte er. „Sag’ einmal, hat das Fräulein wohl einen Liebsten drunten gelassen? Einen Studenten? Sie ist gar zu traurig und blaß.“

„Ach nein!“ wehrte Hulda ab. „Sie war im Anfang ganz vergnügt, als sie herauf kam.“

Er sah bedenklich drein. „Es ist gerade, als sehnte sie sich nach dem Purzelmann.“

Da sah ihn Hulda mit langem Blick an und sagte kopfschüttelnd: „Die Männer sind doch alle ganz erschrecklich dumm.“

Er fuhr auf. „Seitdem der Purzelmann fort ist, ist kein Auskommen mehr mit Dir.“

„Wie mit Dir nichts los war, bevor wir ihn gefunden hatten,“ zankte sie dagegen. Dann trennten sie sich patzig.

In das altersbraune Mooshüttchen hatte Sif sich bisher stets mit den Blättern zurückgezogen. Hier konnte sie dieselben durchlesen, ohne daß jemand sie störte. Ihre Augen konnten an dem ach! so schönen Namen Erwin Steffen hängen, und ihr Vater rief nicht dazwischen: „Auf der ersten Seite steht etwas Interessantes.“

Heute erst recht flüchtete sie dahin, das Blatt mit der Aufschrift ihres Namens an sich gedrückt. Sif breitete mit bebenden Fingern das Blatt aus und las: „Der Purzelmann. Von Erwin Steffen.“

Ihr Herz stockte. Sie begann zu lesen, und jedes Wort traf sie wie ein elektrischer Schlag. Die wissenschaftliche Beleuchtung des Fundes war schon mit sichtlicher Parteinahme für denselben geschrieben; aber die Hauptsache war die Abschweifung auf die Liebe, welche der kleine Gott vertreten sollte. Er schilderte diese mit den Worten, die Sif zu der Besitzerin des elfenbeinernen Amors gesprochen hatte. Das deutsche Weib, welches er als Ideal aufstellte: schön, frisch, stark, von strenger Sitte, in allen häuslichen Arbeiten bewandert, hilfreich, erkannte Sif mit aufjubelndem Herzen als ein Bildniß ihrer selbst. Er hatte doch ihre demüthige Hilfeleistung nicht vergessen; er würdigte sie weit über Verdienst.

Selig faltete sie die Hände. Wieder und wieder las sie den Aufsatz, bis die Dämmerung die Buchstaben verschleierte. Dann überflog sie flüchtig die kleinen Notizen. Plötzlich blieben ihre Augen an einer Stelle haften. Da stand als zweiter Aufsatz, mit einem Winkelmaß als Chiffre, eine Besprechung des Pokales. Der Schluß lautete: „Das Prachtstück wird seiner ehemaligen Bestimmung zurückgegeben werden und in kurzem auf einer Hochzeitstafel prangen.“

Das Blatt rauschte und knisterte zu Boden; es wurde todtenstill im Mooshüttchen. – –

Der Bibliothekar rief aus der Hofpforte nach Sif; aber nichts regte sich. Nur das Heimchen im nahen Backhaus ließ sein eintöniges Gezirp hören. Er meinte, sie sei spazieren gegangen, und begab sich wieder in seine Stube zu der Ehrenrettung des Purzelmannes.

Die Nacht war längst hereingebrochen, als Hulda Sif auffand.

Das treue Mädchen hatte den gutmüthig zurückgekehrten Schatz an die Ofenröhre gestellt, daß er die Kartoffelschnitzchen für das Abendbrot zur rechten Zeit wendete, und die junge Herrin gesucht.

Mit gewaltsamer Fassung erhob sich Sif. Gott sei Dank! Es war finster, und kein Licht außer Huldas Küchenlämpchen zu sehen.

Sif ging mit abgewandtem Gesicht vorüber ist ihre Kammer und schloß hinter sich die Thüre.

Als der Vater am anderen Morgen mit seinem dicken Brief an den Direktor zu Sif kam und fragte, ob sie ihm nicht auch ein freundliches Wort für den alten Herrn Kollegen auftragen wolle, da sie ihn doch persönlich kenne, erklärte sie entschieden, das verbiete die weibliche Würde.

Er zuckte die Achseln. Lieber Gott! Solch guter gelehrter Mann in Schlafrock und Filzsocken würde der weiblichen Würde nicht zu nahe treten.

Der Brief des Bibliothekars ging ab. Einen Gruß von Sif enthielt er nicht. – – –

Und dann wurde es still zwischen der „suezen Juncfrouwe“ und dem mittelhochdeutsch redenden geharnischten Reiter.

[440] Desto lauter fochten andere um den Purzelmann. Alle Fachblätter waren in Aufruhr. Steffen hatte zu sehr an blaue Augen, statt an gelehrte blaue Brillen gedacht. Er sollte sich blamirt haben mit seinem Essay. Der Streit hallte bis nach Tannenroda. In der Honoratiorenstube des Sichelhammers war von nichts anderem die Rede. Der junge Forstkandidat glaubte an den Amor, der Apotheker hoffte auf ihn wegen seiner neuen Heidelbeerweinetikette.

Man berieth, ob man eine Erklärung loslassen solle. Aber der Schulze entschied mit der alten Bauernweisheit: „Wem die tolle Kuh gehört, der packe sie am Schwanz. Das ist der Herr Bibliothekar, der den Purzelmann erfunden hat.“

Der that das Seinige, schrieb dickleibige Aufsätze und schickte sie an alle ihm zugänglichen Zeitschriften ein, stand dem „alten Herrn Kollegen“ mit gelehrten Auseinandersetzungen bei, ertrug standhaft die scharfen Widerlegungen, den Spott, der wie immer die Hypnotisirten traf, und vertrieb die Lose der Ausstellungslotterie, deren Gewinnste aus Nachbildungen alten Geschirres bestanden.

Endlich erstarb der Streit an der Unbedeutendheit des Gegenstandes; aber der alte Optimist nahm das auf als Sieg seiner guten Sache. – – –

So kam der Herbst allmählich ins Gebirge. Welkes Laub gab es wenig in den Nadelwäldern; das Moos grünte in der feuchten kühlen Luft noch frischer. Aber Nebel umhüllten die Brandkuppe; in der Schlucht „brauten die Hirsche Thee.“

An einem kalten Novembertag kam der Purzelmann zurück, als fege ihn der Herbststurm herein. Ohne Sang und Klang, wie eine Beerenkiste beim Schwumprich, wurde er bei dem Bibliothekar abgeladen.

„Der Purzelmann ist wieder da,“ rief dieser athemlos vor Freude, als käme der verlorene Sohn heim. „Wo ist der Schwumprich mit Hammer und Zange?“ Und das Klopfen und Auspacken begann.

„Da ist unser Gewinnst: eine Kopie der alten Lebkuchenform,“ verkündete der alte Herr.

„Ach, welch schöner Reitersmann!“ rief Hulda. Sif warf einen finsteren Blick auf den geharnischten Reiter.

Der Bibliothekar wickelte den Purzelmann aus seinem Strohbett und löste vorsichtig die Papierhüllen ab.

Nicht genug Zärtlichkeit konnte der Vater dem altdeutschen Liebesgott erweisen. Und wie hatte der seines Amtes bei ihr gewaltet! – Sif dachte mit Wehmuth daran.

Hulda glättete die Zeitungsbogen und nahm sie mit sich zum Anzünden des Herdfeuers.

„Das muß eine Pracht gewesen sein,“ rief sie Sif zu, die an der Küchenthür vorbeiging. Und sie studirte eifrig weiter in dem Blatt.

„Was meinst Du?“ fragte Sif.

„Die prächtige Hochzeit. Da ist das Tageblatt aus der Stadt, wo das Fräulein war. Das beschreibt die Festtafel mit dem Pokal. Haben Sie den auch gesehen?“

Ob Sif ihn gesehen hatte! Sie konnte plötzlich nicht weiter kommen. Und halb betäubt sank sie auf den alten treuen Küchenschemel. Hulda hielt das Blatt ihr vor das Gesicht. Ja! was war denn das? Sie las noch einmal, sie wischte sich die Augen, sie starrte darauf nieder: es blieb die Vermählung des Grafen Rossel von Rosselsprung-Steinklipp mit Fräulein Ellen Arion.

Sif stützte das Haupt in die zitternden Hände und ließ Hulda lesen von dem Polterabend, den der Direktor seinem ehemaligen Rittmeister mit feinem Geschmack veranstaltet hatte; von dem Gipsabguß des Purzelmannes, der dabei paradirt hatte, weil ohne ihn der Bräutigam nie zu der Braut gekommen wäre.

Dann schlich sie hinauf. –

Auf seinem Ehrenplatz thronte wieder der kleine Götze. Sie warf einen vergebenden Blick auf das runzlige Gesichtchen. „Du hast Deine Pflicht gethan; aber in mir war der Stolz größer als die Liebe.“ Jetzt stellte alles sich ihr anders dar. Sie sah Steffen, wie er ihr nacheilte; sie hörte seine stockende Stimme am letzten Morgen; sie las zwischen den Zeilen des Aufsatzes. Immer hatte Liebe zu ihr gesprochen; aber diese war nicht von ihr verstanden worden. Und nun hatte sie ihn für immer von sich gescheucht. Nur die Erinnerung blieb ihr.

Es war einmal ihre Bestimmung, daß die Liebe, die Krone des Lebens, wie ein Schatten an ihr vorüber gehen sollte. Das erste Sehen: ein flüchtiger Augenblick; das erste Sprechen, die Offenbarung, daß sie zu einander gehörten: ein paar rasch hinschwindende Stunden. Und Sif neigte das Haupt wie draußen im Garten die letzte weiße Aster, vom scharfen Reif getroffen.


Es wurde Winter. Auf diesen Höhen schüttelt Frau Holle ihr Bett ganz anders als drunten in der Ebene. Von den kleinen Häusern dicht am Wald kam die Mär, die Leute hätten aus den Schornsteinen steigen müssen. Die Kinder, nur in ihren groben Hemdchen, hopsten wie die Frösche in die weißen Flaumen, die über ihnen zusammenschlugen. Das schadete ihnen nichts; denn gleich ging es dann hinter den heißen Kachelofen.

„Das sind die russischen Bäder der Waldleute!“ rief der Bibliothekar. „Glückliche Kinder! Ihnen werden nicht erst Strümpfe, dann Stiefel, dann Gamaschen, dann Höschen angezogen. Kein Muff ist in acht zu nehmen, wie im Sommer kein Kate Greenwayhut, der so beflissen die Sonne auf die aufgestülpte Nase herableitet. Fessellos liegen sie der alten Mutter Natur an der Brust, die sie einmal tüchtig mit Schnee abreibt, einmal ihnen bis ins Herz hinein Wärme gießt, unbekümmert darum, ob in der Haut ein Sommersprößchen aufkeimt.“

Sif ging still ihren Weg wie bisher. Nur wunderte sich ihr Vater, daß sie nicht mehr gerne spann.

Einmal wollte er sie dazu bereden, weil das Schnurren des Rades gut zu dem Knacken der Scheite im Ofen stimmte. Aber sie sagte sanft: „Es ist genug Leinwand für das Altjungferhäuschen vorräthig, um ein halbes Jahrhundert damit zu wirthschaften.“

Der Weg in den Wald war durch Schneewälle verbaut, das Mooshüttchen trug eine Haube aus weißem Flaum. Sif mußte sich in der Dämmerung mit dem Platz am Fenster begnügen.

Das letzte Abendroth schien durch die runden Scheibchen; von dem rosigen Grunde hoben sich die Gebilde ab, die der Frost mit zartem Finger darauf zeichnete. Da sah sie die Mauerzinnen mit dem Stachelbeerbüschchen zwischen allerhand großem Gekräut aufragen, und sie meinte die heitere Stimme sprechen zu hören: „Sueze Juncfrouwe“. Und dort ragten die Spitzen der alten Thürme in die Luft, wie sie damals ihren Augen erschienen waren, als er todtenbleich am Coupé stand. Der geliebte Schatten, der sie von ihrem Eintritt in die Jugend an begleitet hatte, schwebte an ihrer Seele vorüber. Das war ihr Theil am Glück.

Draußen aber knirschte ein elastischer Schritt über den Schnee. Der junge Forstgehilfe, die Flinte übergehangen, eilte vorüber. Er kam aus dem Wald, wo er die Futterplätze des Wildes mit Heu hatte versehen lassen; und trotz der grimmigen Kälte scheute er auf dem Heimgang nach der Försterei den Umweg an der Pfarre vorbei nicht. Und richtig! Mariechen stand an dem erleuchteten Fenster; der Schattenriß zeigte das hohe nickende Schöpfchen.

Und jetzt erklang Schellengeläut. Der Apotheker fuhr mit seinem wohlgenährten Schimmel die brave Eulalia vorüber, die ihm zu einem guten Geschäft gerathen hatte; beide waren, wenn nicht ein Herz und eine Seele, so doch ein Pelzmantel und ein Fußsack.

Unten aber aus der warmen Küche tönte Huldas schnappende Weise; ihre Spule war wieder einmal voll gesponnen. Des Schwumprichs Zither schwirrte dazwischen, und das Pärchen sang so einträchtig wie ein Paar Drosseln, die zu Neste tragen:

„Du, du liegst mir im Herzen.“

Ein leiser Seufzer hauchte durch Sifs stilles Zimmer: „Glückliche Menschen!“ – – –

Endlich war der kürzeste Tag, die längste Nacht herangekommen.

„Diesmal wird Sonnenwende richtig gefeiert von dem ganzen Ort auf dem großen Tanzboden des Sichelhammers,“ erklärte der Bibliothekar eines Abends in der Honoratiorenstube.

Und alt und jung, hoch und niedrig stimmte ein.

„Wir schlachten den Jul-Eber!“ fuhr er fort.

„Ach lieber gar, Herr Bibliothekar,“ sagte der Schulze. „Ein appetitliches Wurstschweinchen wird geschlachtet. Das giebt gute Braten.“

„Der Herr Forstgehilfe besorgt die Fichte, die wir zu Ehren der Sonnenwende anzünden.“

„Mit tausend Freuden, Herr Bibliothekar.“

„Wir zünden die Lichter an zur Feier der Geburt unseres Heilandes,“ verbesserte sanft der Pfarrer.

Der Bibliothekar gerieth in Eifer. „Bei unseren Voreltern erinnerten die brennenden Kerzen der Tanne an die Wiederkehr

[441]

Die Aufführung des „König Lear“ auf der neuen Shakespeare-Bühne im königlichen Hoftheater zu München.
Nach einer Zeichnung von Fritz Bergen.

[442] des Sonnenlichtes, bei uns an den Aufgang des göttlichen Lichtes, das die Erde mit eitel Liebe zu erfüllen bestrebt ist. Ob der Lichterbaum nun einst in der Methhalle stand zur Feier der Sonnenwende, ob heute in der Familienstube zur heiligen Weihnacht, immer tönt von ihm der Gruß: ‚Ich verkündige Euch große Freude.‘ – Und unter der Tanne raucht diesmal der auferstandene Purzelmann.“

„Aber der ist gar ein heidnisches Götzenbild,“ mahnte der Pfarrer.

„Er war der Beschützer der echten deutschen Liebe,“ trat der Bibliothekar für den kleinen Götzen ein. „Als solchem gebührt ihm ein Ehrenplatz bei einem deutschen Fest.“

Der Pfarrer wollte noch einmal gegen diese wunderliche Christfeier Einspruch erheben. Aber die treuherzigen Augen des jungen Forstgehilfen sahen ihn flehend an, und er meinte die Worte seines Töchterleins zu hören, die jetzt früh und spät in sein Ohr klangen: „Ach, gebt es doch zu! Wir haben uns so lieb; wir wollen warten; wir können uns einschränken; wir sind noch so jung.“ So schwieg er denn.

Triumphirend kehrte Doktor Ehrlich nach Hause zurück.

„Hulda!“

„Herr Bibliothekar!“

„Es werden runde Gebildbrote gebacken zu Ehren des runden Sonnengesichtes, das sich uns nun wieder zuwendet.“

Hulda schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Die Christwecken müssen länglich sein; das ist auch viel besser theilbar.“

„Schwumprich!“

„Zu Befehl!“

„Die Lichtchen für die Tanne gießen wir selbst. Schicken Sie nur die bunten gemalten Dingerchen wieder fort. Das Wachs wird vom Bienenvater drunten im Thal geholt; solche selbstgemachten Lichter riechen wie eitel Honig und sitzen so fest auf den Zweigen wie die Reiterchen, während die modernen Lichter vor Verfälschung nicht einmal ordentlich kleben.“

„Ja woll, Herr Bibliothekar!“

„Und Du, Sif,“ wandte er sich an diese, „bäckst die Pfefferkuchen in der gewonnenen Form: lauter Reiter mit goldenen Helmen und silbernen Harnischen.“

„Ja, Väterchen,“ flüsterte Sif mit versagender Stimme. Wie kann sich doch das schönste Fest in eitel Traurigkeit verwandeln!

Endlich waren alle feierlichen Vorbereitungen getroffen, der große Tanzboden des Sichelhammers mit Tannenreis und Moos geschmückt. Die Gesellschaft stand im Kreis, und – es war wunderbar! – alles paarweise: der Apotheker und Eulalia neben der dampfenden Punschterrine, der Forstgehilfe und das Pfarrerstöchterlein hinter der Tanne, unter der Thürguirlande Hulda und der Schwumprich.

Jetzt flammten alle die gelben Wachslichtchen. Und nun wurde es still wie immer in den ersten Minuten, wenn die Tanne brennt, als töne es wirklich von ihr herab:

„Ich verkündige Euch große Freude!“

Durch die kleinen Scheiben strahlte das Licht weit hinaus in das Dunkel. Ein einsamer Wanderer fing es auf und folgte ihm nach. Tönte auch in ihm der Gruß wieder: Ich verkündige Euch große Freude?

Kinder flogen noch in ihren flachen Schlittchen über den Weg. Sie hatten die schönste Bahn; denn sie fuhren von den Dachfirsten ihrer verschneiten Heimstätten herab.

„Warum sind die meisten Häuser dunkel? Und was ist das dort für ein großes Gebäude, das so hell erleuchtet ist?“ fragte der Wanderer.

„Das ist der Sichelhammer; und dort raucht unser Purzelmann,“ riefen die Kinder stolz. „Fräulein Sif zündet ihn eben an.“

Ja, Sif zündete ihn wieder an. Das Herz wollte ihr brechen, als sie die Wachholderzweiglein durch den kleinen Mund schob und nun ihre Lippen an das Oehrchen des Purzelmannes schmiegte – ganz so wie damals! Sie vergaß den Tanzboden des Sichelhammers, all die getreuen Nachbarn und guten Freunde. Sie meinte, in der gewölbten Halle des Museums zu stehen, sie meinte, seinen Blick auf sich ruhen zu fühlen – wie damals an dem glückseligsten Tag ihres Lebens. Thränen drangen in ihre Augen. Sie mochte nicht aufsehen, damit die Täuschung dauere.

Der kleine Götze dampfte sie wie zuredend an; sie mußte sich endlich doch aufrichten. Aber durch Thränen und Dampf sieht sie noch immer die großen grauen Augen auf sich gerichtet.

Da – neben dem von Moos umwundenen Sockel des kleinen Götzen steht er leibhaftig. Und jetzt tritt er langsam zu ihr heran. Er neigt sich ihr zu und spricht in gedämpftem Tone: „In der Nacht, die unserem Volke heilig war von Uranfang an, ruhte aller Kampf. Sollte nicht auch für mich da ein Wort der Vergebung gesprochen werden können?“

Sif senkte demüthig das Haupt. „Ich allein habe um ein solches zu bitten,“ sagte sie mit leiser bebender Stimme.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich war schuldig.“ Er atmete tief auf wie einer, der eine schwere Last endlich von der Seele gewälzt hat. Und ohne auf ihre abwehrende Bewegung zu achten, fuhr er fort: „Es war ein strenges, aber gerechtes Verhängniß, daß ich mir selbst die Strafe bereitete, während die Erkenntniß meiner Irrthümer und Fehler in mir zu tagen begann. Ich, der Angehörige des deutschen sonst allezeit vernünftig genügsamen Gelehrtenstandes, strebte nach der Verbindung mit einem reichen Mädchen. Und warum? Weil mir Schliemanns Ruhm nicht Ruhe ließ. Ich wünschte, auch Ausgrabungen zu machen in Griechenland, ich, der Direktor des deutschen Museums. Und zu diesem Zweck wollte ich die Tochter des orientalischen Stammes heirathen, die Ellen hieß, und deren Vater seinen einst so hoch geehrten Namen Aaron in den griechischen Arion gewandelt hatte. Ich wollte ein feudales Haus bauen, anstatt es belehrend zu schildern; ich wünschte, selbst die schönen Geräthe zu besitzen, die ich den Künstlern und Kunsthandwerkern zu Nutz und Frommen ihres Berufes zugänglich machen sollte; ich wünschte, einen Eros auszugraben, und erstickte die deutsche Liebe in meinem Herzen.

Da kamen Sie! Und gottlob! Ich hatte meine Natur noch nicht ganz zu verderben vermocht, wie ich auch daran herum gestümpert hatte; sie war besser und stärker als mein Wille. Das Gerüst von Berechnungen, das ich künstlich aufgestellt hatte, brach zusammen, und ich wurde noch gewürdigt, eine richtige Liebe zu empfinden. Es war der demüthigendste Augenblick meines Lebens, als ich zwischen Ihnen und Fräulein Arion stand. Und ich blieb, wie alle gründlichen Gelehrten, in dieser Schwierigkeit stecken, über die der gewandte ritterliche Graf Rossel so leicht hinwegglitt. Und das geschah mir recht. Warum war der Schuster nicht bei seinem Leisten geblieben? Bei ehrlicher Arbeit, bei einfachen Ansprüchen an eine gemüthliche Häuslichkeit und dem Ruf eines gewissenhaften Forschers auf den erwählten Gebieten?

Aber ich habe gebüßt und gesühnt. Und nun beschwöre ich Sie, Sif, bei Ihrem kleinen Liebesgott, der da so freundlich lacht – verzeihen Sie mir!“

Sie legte ihre Hand, unter Thränen lächelnd, in die seine, und er flüsterte ihr zu:

„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin, – ahi!“

Hand in Hand gingen sie zu dem Bibliothekar – und baten um seinen Segen.

Das starre Staunen der Versammlung löste sich in hellen Jubel auf.

Des Bibliothekars Verwunderung über den jungen Kollegen und unerwarteten Schwiegersohn ging im allgemeinen Tumult unter, bis plötzlich auf der andern Seite des Saales abermals ein junges Paar knieend um den elterlichen Segen flehte, Pfarrers Mariechen und ihr Forstmann, und nun die ganze Gesellschaft dorthin sich wandte, um zuzusehen, wie die Frau Pfarrerin sich mit Würde in ihr Schicksal fand.

Da trat mit dem ersten Glase Punsch der Bibliothekar vor den Purzelmann und sprach:

„Das bringe ich Dir, mein kleiner Gott! Du hast die klugen Menschen, die an Dir zweifelten, Deine Macht fühlen lassen, hast sie ohne Barmherzigkeit mit der alten einfältigen deutschen Liebe beglückt – sie mochten wollen oder nicht. Du hast gezeigt, daß es trotz aller neuen Weisheit bei der alten Thorheit bleibt, und daß das thörichte Herz immer wieder dem unfehlbaren Einmaleins ein Schnippchen zu schlagen vermag!

Und nun tanzt einen deutschen Ringelreihen um den braven kleinen Mann!“

Die Dorfmusik fiel ein, und im fröhlichen Reigen drückte jeder glückliche Bräutigam seine Liebste aus Herz.




[443]

Eine neue Shakespeare-Bühne.

(Zu dem Bilde S. 441.)

Unsere Zeit sieht manchen Gegenstoß in menschlichen und künstlerischen Dingen, den man sich vor zwei Jahrzehnten nicht hätte träumen lassen. Was damals herrlichste Errungenschaft schien, findet heute scharfe Kritiker und das ist nur natürlich. Denn die Opposition beginnt stets bei Uebertreibung einer ursprünglich berechtigten Neuerung und ist deshalb ihrerseits wieder berechtigt. Sicherlich gilt dies nirgends mehr als bei dem modernen Ausstattungsfieber der Bühnen, welches, vom Spektakelstück ausgehend, sich bereits auch des klassischen Dramas bemächtigt, zum großen Schaden der hohen und reinen Kunst. Denn zu einem Publikum, welches den raschen Wechsel und die „ungeheure Echtheit“ von Kostüm, Scenerie und Geräth als Maßstab für den Werth eines „Julius Cäsar“ oder „Wallenstein“ nimmt, zu ihm reden Shakespeare und Schiller vergebens, es hat das Gefühl für die innere Schönheit der Dichtung verloren und steht an Begeisterungsfähigkeit weit unter den Zuschauern, die einst im Black Friars- oder Globe-Theater voll Entzücken die gänzlich fehlende Ausstattung durch ihre eigene Phantasie ergänzten und im übrigen Shakespeare und seine Genossen sahen und hörten. In dieses „echte“ Shakespeare-Theater sollte man die Fanatiker der Echtheit einmal zurückversetzen können und sich an den Gesichtern ergötzen, mit welchen sie den kleinen, halbdunklen Zuschauerraum, „diese Hahnengrube“, wie Shakespeare selbst sagt, sowie die schmale Bühne ohne alle Coulissen betrachten würden. Nicht die kleinste Landstadt möchte sich heute mit einem solchen Lokal begnügen. Die Bühne war ein auf drei Seiten von Zuschauerlogen umgebener, nur mit Teppichen behängter, kleiner Raum, vor welchem sich die Holzbänke des Parterres ausbreiteten. In der Mitte des Hintergrundes befand sich ein durch einen Vorhang zu schließender abgesonderter Raum, welcher für einen raschen Scenenwechsel gute Dienste that. Hinter dem Vorhang bereiteten sich alle Ueberraschungen, Belauschungen, Mordanfälle u. dgl. vor. Ueber dieser vermuthlich durch ein paar Säulen flankirten Nische erhob sich eine zweite, ebenfalls mit Vorhang versehene, als oberes Stockwerk, davor ein Balkon, von welchem herab die Ansprache der Könige, das Herunterrufen von der Stadtmauer etc. stattfand. Eine bescheidene Abwechslung war also durch das Oeffnen und Schließen der Vorhänge, das Ersteigen der Treppen, die zum Balkon führten, ermöglicht, auch wurden, um der Phantasie der Zuschauer zu Hilfe zu kommen, kleine Versatzstücke, Bäume, Büsche, ein Stückchen Mauer, Tische und Stühle auf die Scene geschoben, dazu durch eine herabhängende Tafel der Name des Landes oder der Stadt, worin augenblicklich die Handlung spielte, angezeigt. Das war der scenische Apparat, und er genügte völlig, nicht nur den Matrosen, Soldaten, Handwerkern und verlarvten Schönen, welche in solcher Gesellschaft das Theater aufsuchten (anständige Frauen besuchten es nie), sondern auch den jungen Lords, die das Schauspiel zu ihren Lebensbedürfnissen zählten und mit den Schauspielern auf dem Fuße einer herablassenden Vertraulichkeit standen. Selbst Shakespeare fand an ihnen seine besten Gönner und Förderer. Natürlich erlaubten sich die jungen Herren für solche Protektion eine Menge von Freiheiten; sie verschmähten den Aufenthalt in dem unsäuberlichen, gedrängt vollen Parterre und nahmen ihre Plätze auf der Bühne selbst, in den Logen oder an den Teppichdekorationen der Seitenwände. Dort saßen sie auf Stühlen oder lagen auf Binsenmatten, ihre Pfeifen rauchend, während sich das übrige Publikum die Zeit mit Bier und Tabak, mit Aepfelessen und Nüsseknacken, in den Zwischenakten auch mit Liebeshändeln und Kartenspiel vertrieb.

Minder anspruchslos als diese vornehmen und geringen Londoner Zuschauer waren freilich die gereisten Leute, die etwa in Frankreich oder Italien schon die dortige viel reichere Bühnenkunst mit allerhand Maschinen und gemalten Coulissen gesehen hatten. Einer davon, Philipp Sidney, spottet bereits 1583 folgendermaßen über die Armseligkeit der englischen Bühne:

„– – Auf der einen Seite haben wir Asien, auf der andern Afrika oder irgend ein Königreich, so daß der Schauspieler, wenn er auftritt, erst damit beginnen muß, uns zu erzählen, wo er ist . . . Jetzt sehen wir drei Damen erscheinen, welche Blumen sammeln, und wir müssen deshalb die Bühne für einen Garten halten. Gleich darauf hören wir von einem Schiffbruch und wir würden uns schämen müssen, wollten wir die Bühne nicht für einen Felsen erkennen. Aus dem Hintergrund desselben kommt ein scheußliches Ungeheuer mit Feuer und Rauch, natürlich nöthigt uns dies, uns in eine Höhle zu versetzen. Gleich darauf aber sehen wir zwei Armeen vorüberziehen, dargestellt durch vier Schwerter und Schilde – und welches Herz wäre dann so hart, das Theater nicht für ein Schlachtfeld anzusehen?“

Waren solche Spöttereien der Scene gegenüber wohl begründet, so gab dafür das Kostüm keinen Anlaß dazu, denn dieses war, wie erhaltene Theaterrechnungen bezeugen, ganz besonders reich und prachtvoll. Schwere Sammt- und Brokatstoffe, kostbare Schmuckstücke und Waffen befriedigten die Schaulust des Publikums und gaben der Truppe das höfische Ansehen, welches nothwendig war, wenn sie auf den Schlössern des hohen Adels in der rasch hergerichteten Halle vor der Königin Elisabeth spielte. Denn diese war eine große Theaterfreundin, hielt auch ihre eigene Kapelle und Schaubühne und bezahlte für Personal und Ausstattung einschließlich der „Livereydiener und Bärenwärter“ die für jene Zeit bedeutende Summe von 25 000 Mark jährlich. Aber sie vermochte nicht, ihren Geschmack dem eigentlichen guten Bürgerthum, den puritanischen Beamten mitzutheilen, sie konnte nicht verhindern, daß der Lord Mayor von London die Schauspielhäuser planmäßig aus der inneren Stadt hinausdrängte und das Spiel am Sonntag verbot. „Denn,“ hieß es in einer bezüglichen strengen Auslassung, „zweihundert in Seide gekleidete Komödianten, während so viel Arme mit Mühe ihr Leben fristen, müssen durchaus den Zorn Gottes auf England herabziehen.“

Diese starre Opposition wichtiger Volksschichten verhinderte indeß das englische Theater keineswegs, den festländischen Mustern nachzustreben; bald nach Shakespeares Tod gab es auch hier bewegliche Coulissen und gemalte Prospekte.

Im übrigen war die so hoch gerühmte französische Bühnenverfassung für unsere heutigen Begriffe auch nur ein bescheidener Anfang. Auch dort saßen die Stutzer reihenweise zu beiden Seiten der Bühne oder standen aufwartend hinter den Stühlen ihrer Damen, noch zu Corneilles und Molières Zeiten, als die sittsamer gewordene Bühnensprache weibliche Ohren im Theater möglich machte. Es muß sich wohl sehr komisch ausgenommen haben, wenn Phädra, umgeben von Pariser Stutzern, ihrem Liebeskummer einsam nachhing, oder Tartuffe umherspähte, ob niemand sein Zusammensein mit Elmire belausche, während er sich in acht nehmen mußte, nicht mit den Ellbogen an die doppelte Reihe Menschen anzustoßen, die ihn einschloß. Auch war das Publikum durchaus gewohnt, während der feierlichsten und rührendsten Scenen durch die Mittelthür rückwärts einen verspäteten Kavalier hereinkommen zu sehen, und hundertmal geschah es, daß die Zuschauer die Worte: „Da kommt er! Ich sehe ihn!“ auf einen solchen zufällig gerade Eintretenden bezogen. Wenn die Handlung drohte, langweilig zu werden, ließ sich wohl einer der Kavaliere herbei, seinen mitgebrachten Hund Kunststücke machen zu lassen, und diejenigen im Parterre, welche hieran etwas auszusetzen fanden, blieben in der Minderheit. Das Endurtheil über das Stück aber ging doch schließlich von diesem Parterre aus, wie uns viele Stellen französischer Komödien bezeugen, die sich über die vornehmen Ignoranten oben lustig machen.

Am genügsamsten war sowohl das französische als das englische Publikum hinsichtlich der Beleuchtung. Auf Shakespeares Bühne brannten armselige Unschlittkerzen im Hintergrund, was zur Folge hatte, daß die Schauspieler nur von rückwärts beleuchtet waren und von vorn ganz schwarz erschienen.

Auf der französischen Bühne fügte man noch ein paar Leuchter rechts und links der Scene hinzu, die aber völlig frei und offen an sichtbaren Schnüren dahingen und von Zeit zu Zeit herabgelassen und geputzt werden mußten. Die Glanzzeit Ludwigs XIV. brachte hierin wie in den Dekorationen viele Verbesserungen; sagt doch ein begeisterter Autor im Jahr 1682: „Das Theater ist nun auf der höchsten Stufe der Vollkommenheit angelangt, denn die Stücke haben nun fast immer einiges Verhältniß und einige Aehnlichkeit mit der Scene, auf der sie vor sich gehen.“

Ungefähr das Gleiche hätte man von dem antiken und orientalischen [444] Kostüm sagen können, nur daß hier die Aehnlichkeit doch etwas entfernt war. Die Götter trugen Allongeperücken, die Römerhelden blanke Feuerwehrhelme mit großen Federbüschen, die Hebräer des alten Testamentes spielten mehr ins Unbestimmte hinüber, man charakterisirte sie durch kleine Glöckchen, welche den unteren Rand ihrer Tuniken umgaben, und durch turbanartige Gebilde auf den Köpfen.

„Warum lachen wir eigentlich nicht über diese Helden und Heldinnen?“ fragte der geistvolle Fontenelle. „Weil wir nicht gelehrt genug sind, weil wir nichts von den Sitten der Römer und Griechen wissen. Um darüber lachen zu dürfen, müßte man sehr viel wissen. Die Sache ist lächerlich genug, aber die Lacher gehen uns ab.“

Welcher ungeheuere Gegensatz zu unseren Tagen! Heute sind wir gelehrt genug, wir kennen die Sitten der Griechen und Römer bis ins Kleinste, ihre Ebenbilder in Chiton und Toga wandeln auf einer Bühne, deren Säulenhallen und Prachttempel das alte Athen und Rom vor unseren entzückten Augen erstehen lassen, wir sehen ganze Gewerbemuseen entfaltet, wo es gilt, ein mittelalterliches Stück zu insceniren; Agnes Sorel und ihre Frauen erscheinen in echtesten Zuckerhut-Kopfthürmen vor uns, Burgund und Dunois tragen Wunder von heraldischer Genauigkeit auf Brust und Schild, Porzias Kästchen sind Juwelen venetianischer Schmiedekunst. Und nun gar die Beleuchtungseffekte! Der magisch durchglühte Zauberwald im Sommernachtstraum, das blaue Mondlicht über Cypressen und Marmorwänden im Garten des Brutus, wo die weißen Gestalten wie ein Bild von Alma-Tadema anmuthen! Ist das alles nicht der höchste Triumph der Kunst?!

– Die Antwort hierauf hat R. Genée im Jahre 1887 und zwar in Gestalt eines Warnungsrufes in der „Allg. Ztg.“ gegeben.[WS 1] Er führt darin aus, wie das übermäßige Steigern bloßer Hilfsmittel und Nebensachen mit Nothwendigkeit dem eigentlichen Wesen der Kunst schaden müsse, weil an die Stelle der reinen Hingabe an die Dichtung, also der eigentlichen großen Illusion die andere, niedere Art der Täuschung durch möglichste Natürlichkeit gesetzt wird. Da nun aber diese Täuschung trotz der gewaltigen Bühnenmittel ihre sehr engen Grenzen hat, so wird der Zuschauer gerade ins Gegentheil von dem gedrängt, was wünschenswerth ist: statt des Vergessens aller Nebensachen über dem großen Eindruck des Ganzen entsteht ein nüchternes, gespanntes Auflauern, ob auch alles richtig klappt – was dann daneben noch gesprochen wird, ist eigentlich gleichgültig. Genée trat dringend für eine Rückkehr zu größerer Einfachheit ein, besonders aber verlangte er sie für Shakespeare, dem mit der modernen Dekorationskunst geradezu Gewalt angethan werde. Auf der altenglischen Bühne ohne Dekorationswechsel rollte das Drama mit seiner schnellen Scenenfolge als Einheit dahin, während es in unserer herkömmlichen Inscenirung durch den schwerfälligen Dekorationsapparat überall gehemmt und zerstückelt wird und seine beste Wirkung verloren giebt.

Freiherr v. Perfall, der verdienstvolle Leiter der Münchener Hofbühne, nahm sich diese Worte zu Herzen und wagte einen Versuch mit der so dringend befürworteten Reform. Der Erfolg gab ihm glänzend Recht und zeigte, wie dankenswerth seine That war.

Am 1. Juni dieses Jahres fanden sich die Besucher von „König Lear“ einem in alterthümlichen Feldern gemalten Vorhang gegenüber, der sich auf den Glockenschlag in der Mitte theilte und eine kurze Vorbühne zeigte, die auf beiden Seiten statt der Coulissen Vorhänge als Ein- und Ausgänge hatte. Die Rückwand war eine romanische Architektur mit einer zweiten verhängten Bühnenöffnung in der Mitte, Thüren auf beiden Seiten. Die der alten Bühne eigenthümliche Galerie erhob sich mit Bogenfenstern über diesen; sie sowohl, als alle Thüren waren durch schwere Vorhänge geschlossen. Und mit dieser einfachen Scenerie wurde das große Drama so einheitlich, so vorzüglich gegeben, daß es uns in einer ganz neuen Beleuchtung erschien.

Bei geschlossenem Mittelvorhang fand auf der Vorbühne die erste Scene zwischen Kent, Gloucester und Edmund statt, unter Trompetenschall öffnete der Vorhang sich darauf und die Mittelbühne mit gemaltem Hintergrund, die königliche Halle wurde sichtbar, in welcher sich die nun folgende Scene, die Verstoßung Cordelias und Kents abspielte, welche der Zeichner unseres Bildes wiedergiebt.

„Nun gut; nimm deine Wahrheit denn zur Mitgift!“

ruft Lear Cordelien zu,

„Hier geb’ ich auf all meine Vatersorgen,
Verwandtschaft und Gemeinschaft des Geblüts;
Ein Fremdling meinem Herzen so wie mir
Seist du von jetzt für immer! Der barbarische Skythe,
Selbst, der zur Speise macht sein eignes Kind,
Zu sättigen seine Gier, sei meinem Herzen
So nah gestellt, bedauert und getröstet,
Als du, einst meine Tochter.“

Das letzte Gespräch von Regan und Goneril nach dem Weggang der anderen fand wieder auf der Vorbühne statt, während hinter ihnen der Mittelvorhang sich schloß, um unmittelbar nach ihrem Abgang das Schloß des Grafen Gloucester für die folgende Scene zu zeigen. Und so ging es in raschem Wechsel weiter; die Hintergründe gehören sämmtlich einer großen Wandeldekoration an und bewegen sich rasch und geräuschlos seitwärts ab und zu. In welchem Grade diese Inscenirung dem Inhalt des Stückes, der Aufmerksamkeit auf das Spiel günstig ist, das erfuhren Darsteller und Publikum in ungeahnter Weise: die ersteren fühlten sich augenscheinlich durch den ununterbrochenen Fluß der Handlung getragen, und letzterem erwachte sofort ein Gefühl der Selbstverständlichkeit, welches sogar eine gefährliche Klippe des Ganzen siegreich überwand, die Scenen auf der Heide nämlich, wo es in dem landschaftlichen Hintergrund blitzt und donnert, der obdachlose und frierende Lear aber mit Kent und dem Narren nach einer Hütte ausspäht, um sich zu bergen, während sie doch in dem sicheren Porticus eines Palastes stehen. Aber auch hier verlor man doch keinen Augenblick das Gefühl des Symbolischen und folgte mit gespannter Theilnahme der gewaltigen Steigerung dieser wunderbaren Scenen. Durch eine sekundenlange Verdunkelung der Mittelbühne war mitten darin Gloucesters Schloß zu dem kurzen, wichtigen Gespräch zwischen diesem und Edmund hergestellt, unmittelbar darauf schob sich eine zweite Dekoration der Heide vor und Lear erschien wieder. So ging es weiter; das ganze lange Stück konnte unverkürzt, völlig in der ursprünglichen Gestalt gegeben werden.

Alle wahren Freunde der Kunst müssen dringend wünschen, daß die Neuerung, die Freiherr v. Perfall mit dieser Einrichtung anbahnte, in ganz Deutschland Zustimmung und Nachahmung finde. Ob das mit Effekten verwöhnte Theaterpublikum ihr dauernd seine Gunst zuwenden wird, nachdem der erste Reiz der Neuheit verflogen ist?! Dies muß die Zukunft lehren, aber hoffen und wünschen wollen wir es. R. Artaria.




Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Eine neue Vorrichtung zum Stimmen der Klaviere.

Wer unter unsern Lesern wüßte nicht den oder jenen Bekannten zu nennen, der einmal den Fürwitz besaß, sein verstimmtes Klavier selbst stimmen zu wollen, und dabei die verhängnißvollsten Erfahrungen machen mußte, trotzdem er zu seinem Versuche eine leidliche Kenntniß der nothwendigen Handgriffe und ein gutgeschultes, sicheres musikalisches Gehör mitbrachte. Die Erklärung seines Mißerfolgs ist zu einem Theile in der bisherigen Gestaltung der Stimmvorrichtung zu suchen. Wie sich jeder Klavierbesitzer überzeugen kann, sind bei dem üblichen System die Saiten des Instruments an dem einen Ende festgemacht, mit dem andern um einen drehbaren Wirbel oder Stimmstift gewunden, dessen Drehung je nach dem Nachlassen der Spannung oder Erhöhung derselben und damit Tiefer- oder Höherstimmung des Tons bewirkt. Diese Einrichtung bringt mancherlei Schwierigkeiten mit sich. Einmal ist es selbst durch die solideste Herstellungsart nicht zu umgehen, daß mit der Zeit an vielbenützten und daher häufiger der Stimmung bedürftigen Klavieren die Wirbel in ihren Holzlagern sich ganz leise zu lockern und dem bedeutenden Druck der gespannten Saite immer weniger Widerstand zu leisten beginnen; sodann – und an diesem Umstande scheitern wohl meistens die dilettantischen Stimmversuche – bewirkt bei der unmittelbaren Uebersetzung der Spannung vom Wirbel auf die Saite besonders bei den hohen Lagen schon eine ganz leichte Drehung an dem Stimmgriff eine verhältnißmäßig starke Veränderung des Tones, und es bedarf demnach einer recht geübten, sicheren Hand, um hier zwischen dem Zuviel und Zuwenig die richtige Mitte zu finden.

Das hätte nun an und für sich nicht so viel zu sagen, denn solcher geübter sicherer Hände giebt es viele, die sich mit ihrer Kunst ein sauer genug verdientes Brot erwerben. In den Städten, am Sitze von Pianofortefabriken mögen die verstimmten Instrumente daher auch nach wie vor der Sorge des zünftigen Klavierstimmers anvertraut werden. Anders liegen die Dinge, wenn wir in Betracht ziehen, in welche entlegenen Winkel der Erde das Klavier vorgedrungen ist. Wir brauchen noch gar nicht an unsere zahlreichen Pfarrer und Schullehrer auf entlegenen Dörfern zu erinnern, für welche die Gewinnung eines Klavierstimmers schon mit [445] recht erheblichen Umständen und Kosten verknüpft ist. Man erkundige sich bei dem exportirenden Fabrikanten und man wird die merkwürdigsten Namen vernehmen von Orten, nach denen ihre Ware wandert, vom Hause des deutschen Gouverneurs in Kamerun bis zur einsamen Farm im amerikanischen Westen. Für solche Klavierbesitzer ist ein zünftiger Stimmer unter gewöhnlichen Verhältnissen einfach unerreichbar; sie müssen, wenn sie nicht unter ewiger Verstimmung leiden wollen, zur Eigenhilfe greifen, und da ist allerdings eine Erfindung mit Freuden zu begrüßen, die diese Eigenhilfe weniger „schrecklich“ macht.

Eine solche Erfindung nun ist „Wilhelm Fischers patentirte Stimmvorrichtung, D. R. P. Nr. 40440“. Sie besteht im wesentlichen in der Ersetzung des Stimmwirbels durch die Stimmschraube. Wir wollen versuchen, unsern Lesern ein Bild von derselben zu machen.

Die Anwendung von Stimmschrauben an Stelle der gewöhnlichen Wirbel oder Stimmstifte ist 1845 von Morgenstern und sodann kurz nach der Pariser Weltausstellung 1867 in Deutschland mehrfach versucht worden. Als das beste Ergebniß dieser Versuche erschien die Stimmvorrichtung des Königsberger Pianofortefabrikauten Gebauhr, welcher von der Jury der Wiener Weltausstellung im Jahre 1873 durch Verleihung der Fortschrittsmedaille

ausgezeichnet wurde. Der Gebauhrsche Stimmapparat erwies sich jedoch nicht hinreichend leistungsfähig und verschwand mit der Zeit wieder aus den Pianofortewerkstätten. Auch ein weiterer, von den Franzosen ausgehender Versuch einer Stimmschraubenvorrichtung konnte im praktischen Pianofortebau nicht durchdringen, obgleich amerikanische Fabrikanten, durch denselben angeregt, einzelne Pianino und Flügel mit Stimmschrauben versahen.

Jenen nicht gelungenen Versuchen ist die neue Stimmvorrichtung von Wilhelm Fischer in Leipzig als eine in allen Einzelheiten vorzüglich durchgeführte Leistung entgegenzusetzen. Dieselbe ist als der bedeutendste Fortschritt in dieser Richtung zu bezeichnen und scheint berufen zu sein, die früheren mit Schwächen behafteten Einrichtungen im Stimmwesen vollständig zu verdrängen. Die Stimmvorrichtung von Fischer ist um so leichter einzuführen, als sie nur eine geringe Aenderung in der gewöhnlichen Konstruktion der Flügel und Pianino bedingt.

Zum besseren Verständniß des Gegenstandes möge die beigegebene einfache Zeichnung dienen. In dieser ist die Saite mit a, der Winkel mit b, die Millimeterschraube mit c und die das Ganze zusammenhaltende Eisenplatte mit d bezeichnet. Diese kräftige Eisenplatte d ist an die Stelle des bisherigen Stimmstockes aus Holz gesetzt, sie ist in einheitlicher Form mit dem Eisenrahmen des Instrumentes gegossen, mit welchem sie ein unverrückbares Ganzes bildet. An die Stelle des sonst üblichen Wirbels oder Stimmstiftes ist in der Fischerschen Stimmvorrichtung der metallene Winkel b getreten. Derselbe findet seinen Stützpunkt in einer halbkreisförmigen Vertiefung der Eisenplatte d; an seinem unteren Schenkel ist die Saite a befestigt, während die Millimeterschraube c, welche ihr Gewinde in derselben Eisenplatte hat und dem Winkel gleichzeitig festen seitlichen Halt giebt, durch ihren Druck auf den anderen Winkelschenkel der Saite die nöthige Spannung giebt und durch ihre mit einem Schraubenzieher ungemein leicht zu bewerkstelligende Drehung die Saite in die gewünschte Tonhöhe bringt. Jene Metallwinkel bedürfen kaum eines größeren Raumes als die Wirbel, mit welchen sie auch die örtliche Anordnung gemein haben. Da bei der Fischerschen Stimmvorrichtung die Saiten an den beiden Enden ihre Befestigung im Eisen haben (nicht im Holz, wie bei einem gewöhnlichen Stimmstock mit Wirbeln), so verbürgt diese Konstruktion die denkbar längste Haltbarkeit der Stimmung; sie ermöglicht aber auch, wegen des engen Gewindes der regulirenden Schraube, die geringsten Tonveränderungen, was, wie oben angedeutet, ganz besonders für die höheren und höchsten Lagen des Bezuges vom größten Werthe ist. Die ungemein leichte Handhabung macht das sonst so schwierige Geschäft des Stimmens auch dem Laien ohne weitere Uebung möglich, wenn derselbe ein gutes Gehör besitzt und die Intervalle für die temperirte Stimmung richtig zu beurtheilen weiß. Jedenfalls ist von allen Stimmvorrichtungen diejenige mit der Fischerschen Millimeterschraube die einfachste, zuverlässigste und verhältnißmäßig billigste. Außerdem hat sich dieselbe in der Praxis trefflich bewährt; denn die Leipziger Pianofortefabrik von Fischer und Fritzsch, deren Mitbesitzer der Erfinder ist, hat bereits eine große Anzahl ihrer mit der angezeigten Vorrichtung versehenen Flügel und Pianino versandt und allenthalben Anerkennung der Vorzüge gefunden. Prof. Dr. Oskar Paul.




Blätter und Blüthen.

Frauenbildung. Unter diesem Titel hat Helene Lange eine Schrift (Berlin, L. Oehmigkes Verlag) herausgegeben, in welcher sie für die wissenschaftlichen Studien der Frauen und für ihre Berufsthätigkeit in einzelnen Fächern eine Lanze einlegt. Jedenfalls enthält die Schrift, der man Freimuth der Meinungsäußerungen und Wärme der Darstellung nachrühmen muß, eine Menge interessanter Angaben über die englischen Verhältnisse auf dem Gebiete der Frauenbildung. Von den dortigen Anstalten, welche erwachsenen Mädchen eine gründliche Ausbildung zu theil werden lassen, wurde als die erste Queens College in London im Jahre 1848 errichtet. Dies College stand stets und steht noch heute unter männlicher Leitung und befolgt den Schülerinnen gegenüber ein vorsichtiges Anpassungssystem. In demselben Jahre gründete Miß Reid in London, anfangs nach dem Vorbilde des erwähnten College, ein zweites, Bedford College, welches sich aber später höhere Ziele steckte und unmittelbar auf die Prüfungen der Londoner Universität vorbereitete. Seit jener Zeit hat sich eine vollständige Umwälzung in der Frauenbildung vollzogen. Wesentlich darauf eingewirkt haben die bahnbrechenden Schriften von Miß Emily Davies; doch auch tonangebende Gelehrte förderten die Bewegung. In der Nähe von Cambridge wurde 1872 das Girton College eröffnet, das gegenwärtig über hundert Studentinnen birgt. Hier halten auch einzelne Professoren von Cambridge Vorlesungen. Seit der Gründung des College haben 129 Girtonians ihr Examen ehrenvoll in Cambridge bestanden und zwar 44 in klassischer Philologie, 36 in Mathematik, 1 in Mathematik und Geschichte, 23 in Naturwissenschaften, 14 in Philosophie, 8 in Geschichte. Aehnliche günstige Ergebnisse hat das in Cambridge selbst befindliche Newnham College aufzuweisen. Als ein Wunder der Gelehrsamkeit wird Miß Ramsay gefeiert, die beim Examen in der klassischen Philologie die höchsten Ehren errang. Die „Times“ schreiben über sie:

„In der That, eine erstaunliche Leistung! Miß Ramsay stand den philologisch durchgebildeten jungen Leuten unserer besten öffentlichen Schulen gegenüber, und sie hat ihre Nebenbuhler auf deren eigenem Gebiete geschlagen. Ja, sie hat sich ihnen allen um den Unterschied einer ganzen Abtheilung überlegen gezeigt, ist nicht nur die erste einer Klasse, zu der mehrere andere Kandidaten zugelassen werden, nein, sie befindet sich in der ganzen ersten Abtheilung allein. Zu einer gleich hohen Auszeichnung ist noch nie ein männlicher Student gelangt.“ Doch sie hat bald darauf ihren Mitbewerbern das Feld geräumt, indem sie sich mit dem Master vom Trinity College in Cambridge verheirathet hat.

Ein wichtiges Ziel war die Berechtigung der Frauen zu den akademischen Graden. Auch dieses wurde erreicht; im Jahre 1878 wurde die Londoner Universität mit allen ihren Graden den Frauen eröffnet.

Im Jahre 1886 wurde in Gegenwart der Königin das Royal Holloway College eröffnet, das schon wegen der Großartigkeit seiner Gebäude besondere Erwähnung verdient. Es liegt etwa anderthalb Stunden von London nahe bei Egham auf einem mäßigen Hügel inmitten einer der lieblichsten englischen Landschaften. Die Gebäude sind wahrhaft fürstlich. Die für ihre Errichtung und Ausstattung verwendeten Summen belaufen sich auf 600000 Pfund Sterling. (12000000 Mark), sie sind im französischen Renaissancestil gehalten und umschließen zwei durch ein Quergebäude getrennte Höfe. Das College hat 1000 Zimmer und 3000 Fenster, ist auf etwa 250 Studentinnen berechnet, hat Dampfheizung, elektrische Beleuchtung, weitläufige wirthschaftliche Baulichkeiten und eine Gemäldegalerie im Werth von 90000 Pfund Sterling.

Was die Berufswahl der wissenschaftlich gebildeten Frauen betrifft, so galt als besonders unweiblich die Medizin, schon bei der Abstimmung über die Freigebung der Londoner Universitätsgrade stieß diese bei den Medizinern auf die stärkste Opposition. Der erste weibliche Arzt war Miß Elisabeth Garrett; in Edinburgh wurde Miß Jex Blake im Jahre 1869 als erste Studentin der Medizin aufgenommen; doch das führte zu den häßlichsten Scenen und die zum Studiren zugelassenen Frauen siedelten nach London über. Eine unabhängige Hochschule für Aerztinnen wurde 1874 in London eröffnet; sie steht gegenwärtig in Blüthe. Bis jetzt sind 60 Frauen in das Register der staatlich anerkannten Aerzte eingetragen. Nicht in den vornehmsten, aber in den gebildetsten Kreisen und unter den Armen finden sie hauptsächlich ihren Wirkungskreis. Auch giebt es Hospitäler für Frauen, die nur von Frauen geleitet werden.

Papst Julius II. besichtigt die ausgegrabene Statue des Apollo von Belvedere. (Zu dem Bilde S. 432 u. 433.) Ueber die Entstehung dieses Gemäldes giebt uns der Künstler, Professor Karl Becker ist Berlin, selbst nähere Auskunft. Während seines Aufenthalts in Rom im Winter 1880 bis 1881 malte er die ausführliche Studie einer Halle, welche seiner Zeit von Papst Julius II. in der Nähe des Weges nach der Via Appia erbaut worden war und die jetzt sehr versteckt in Weingärten liegt. Einige Zeit darauf las er, daß zu jener Zeit, im Jahre 1495, die Statue des Apollo bei Ostia gefunden und vom Papste angekauft worden sei. So entstand das Bild, indem der Maler annahm, daß der Papst nach der Reinigung und Wiederherstellung der Statue dieselbe in der von ihm erbauten Halle aufstellen ließ und sie dort zunächst mit seinem Gefolge und mit den damaligen berühmten Künstlern in Augenschein nahm, ehe sie in dem berühmten „Hof des Belvedere“ im Vatikan, von welchem sie ihren Namen bekommen hat, dauernde Unterkunft fand.

Wir sehen auf dem Bilde den kunstsinnigen Papst in das Anschauen des antiken Meisterwerkes, über dessen Urheber die Kunstforscher heute noch nicht einig sind, vertieft, neben dem Papste den Baumeister Bramante, welcher mit Beredsamkeit und Begeisterung dem Kirchenfürsten die nöthigen Erklärungen giebt, etwas weiter zurück den idealen Künstlerkopf Raphaels, der in schwärmerische Bewunderung der Statue vertieft ist. Auf der andern Seite im Vordergrund steht Michel Angelo, der kraftgeniale Meister mit den ernsten bedeutenden Zügen, und neben ihm sitzt seine berühmte Freundin Viktoria Colona, aus deren Augen ein feuriger Dichtergenius leuchtet.

Das ganze Bild athmet den Geist der Renaissanceepoche in einer idealen Beleuchtung, durch welche besonders die Züge der Künstler und Künstlerinnen verklärt sind. Es befindet sich jetzt in einer der größten Kunstsammlungen Amerikas, der Corcoran Gallery in Washington.

Fallschirme. (Mit Abbildung S. 429.) Es giebt Erfindungen, die nach Jahren aufgewärmt werden und vielen neu erscheinen, weil sie inzwischen von der große Masse vergessen wurden. Eine solche Erfindung ist der Fallschirm. Der berühmte Leonardo da Vinci war der erste, der das Projekt eines Fallschirmes beschrieb und zeichnete; hundert Jahre später regte der venetianische Architekt Fausto Veranzio die Idee von neuem an und wir haben eine Abbildung seiner Zeichnung im [446] Jahrgang 1885, S. 467 unseren Lesern vorgeführt. Die Projekte blieben unausgeführt. Als nun der Luftballon erfunden wurde, dachte man gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts auch an den Fallschirm; denn man hatte inzwischen auch erfahren, daß chinesische Gaukler mit aufgespannten Schirmen von hohen Thürmen sich herabgelassen haben sollten, und solche Apparate mochten manchem als gute Rettungsgeräthe in Feuersgefahr erscheinen. In der That gelang es Sebastian Lenormand in Montpellier, mit einem aufgespannten und gegen das Umkippen gesicherten Regenschirm sich von seiner Wohnung auf die Straße hinabzulassen. Die Versuche wurden fortgesetzt, man ließ zuerst Thiere an Fallschirmen hinab, und endlich erfand im Jahre 1797 Jacques Garnerin einen brauchbaren Fallschirm. Der kühne Mann wagte am 22. Oktober desselben Jahres in Paris den Sprung vom Ballon aus einer Höhe von 1000 Metern und langte glücklich auf der Erde an. Seine That ist bis jetzt von anderen schwerlich übertroffen und auch sein Fallschirm wesentlich nicht verbessert worden. Er hatte die Form einer Kugelcalotte von 7,8 Meter größtem Durchmesser und auch das kleine Loch in der Mitte, durch welches die komprimirte Luft abfließen konnte und welches so viele Reklamehelden des 19. Jahrhunderts als ihre ureigenste Erfindung ausgegeben haben.

Der Fallschirm kam später in Mißkredit und schuld war daran eine „Verbesserung“ desselben. Der englische Gelehrte Cayley, der Erfinder der Luft- oder Flugschraube, die der Leser im Jahrgang 1882, S. 216 der „Gartenlaube“ abgebildet und beschrieben finden kann, verfiel auf den Gedanken, einen Fallschirm von der Form der Samenkrone der Kompositen zu konstruiren. Es fand sich ein „Amateur“, der seine ganzen Glieder der Idee anvertraute. Am 27. September 1836 nahm der Luftschiffer Green den Amateur Cocking in seinem Ballon von Vauxhall in London aus in die Höhe. Cocking ließ sich, als der Ballon die Höhe von 1200 Metern erreichte, nieder, aber der neue Fallschirm funktionirte schlecht; der Unglückliche sauste herab und wurde auf dem Erdboden zerschmettert. – Erst nach geraumer Zeit nahm man wieder Fallschirmexperimente auf, wobei man im großen und ganzen dem Modell Garnerins treu blieb. In Amerika wurden diese Schaustellungen, die ja ohne Zweifel interessant sind, Mode und die amerikanischen Luftstürzler kamen auch nach Deutschland.

Der Fallschirm des Luftschiffers Leroux hat kürzlich in der deutschen Hauptstadt auch seitens der militärischen Behörden Beachtung gefunden. In dem Gehöfte der Luftschifferabtheilung auf dem Tempelhofer Felde wurde der zwischen 11 und 12 Meter hohe seidene Ballon mit etwa 700 Kubikmetern Leuchtgas gefüllt und dann, trotz ungünstigen Wetters, für die Auffahrt in Bereitschaft gesetzt. Der Fallschirm war an der Seite des Ballons befestigt, von wo er durch eine einfache Vorrichtung leicht gelöst werden kann. Bis zu der Höhe von über tausend Metern war Leroux bereits emporgestiegen, als sich durch starke Ferngläser seine Vorbereitungen zum Fall erkennen ließen. Er löste den Schirm und im nächsten Augenblick glaubte man ihn auf die Erde niederstürzen zu sehen, aber schon hatte sich der Schirm entfaltet, aufgebläht und schwebte nun ruhig und langsam zur Erde nieder. Das Experiment war gelungen.

Der Aufstieg in dem Ballon ist in Berlin wiederholt worden und jedesmal der Absturz mit dem Fallschirm ohne Unfall von statten gegangen. Unsere Abbildung zeigt in der linken Ecke oben den aufsteigenden Ballon mit dem seitwärts daran befestigten „Schirm“, für den die Bezeichnung Reifrock vielleicht passender wäre. In einer am Ballon angebrachten Gondel hat neben Leroux sein Genosse Loyal Platz genommen, der in derselben bleibt, um nach dem Absturz des Fallschirmes seinerseits mit dem Ballon irgendwo zu landen. Die Darstellung rechts oben auf unserem Bilde zeigt den Schirm unmittelbar nach der Lösung vom Ballon, noch schlaff und mit schwindelerregender Schnelligkeit niedersausend. Doch nur eine oder zwei Sekunden noch, dann hat die Luft den Schirm gefüllt und ihm die Gestalt verliehen, welche unser Hauptbild wiedergiebt.

Seine ersten Versuche mit dem Schirm machte Leroux in New-York von sechs- und siebenstöckigen Häusern herunter, um zu erproben, ob bei Feuersbrünsten auf solche Weise Rettungen zu ermöglichen seien. Ob seine heutigen kühnen Experimente zu praktischeren Ergebnissen führen, wird wohl erst die Zukunft ausweisen können. Die Einführung des Schirmes zu Rettungszwecken bei Feuersbrünsten scheint vor der Hand ausgeschlossen. Das Interesse der Militärbehörden für den Fallschirm läßt aber seine Verwendung in Kriegszeiten nicht unmöglich erscheinen. **

Aus dem wissenschaftlichen und künstlerischen Leben Bayerns. Die Liebe zur Heimath, die den Deutschen so mächtig beseelt, daß sie im Widerstreit mit anderen Gefühlen bei ihm stets die Oberhand behauptet, hat von jeher in allen deutschen Gauen einen regen Wetteifer in Bekundung dieses angeborenen Triebes genährt. In allen Zeiten und selbst in jenen, da der unselige Hang, das fremde Ausland zu bewundern und nachzuahmen, auf dem Gipfelpunkte stand, hat es in allen Gegenden, wo Deutsche wohnen, Männer gegeben, welche die Vorzüge der Heimath zu ergründen und ihr Lob aller Welt zu verkünden ihr Leben lang beflissen waren. Scheint nun auch in dieser eingeschränkten Beschäftigung eine gewisse Einseitigkeit zu liegen, so wird gerade durch solche dem Sonderleben der einzelnen Glieder unserer Nation gewidmete Schriften die gegenseitige Erkenntniß und Werthschätzung der Brüder Eines Volkes unter einander am allermeisten gefördert.

Schriften dieser Art haben nicht wenig unserer politischen Wiedervereinigung vorgearbeitet und manchem Schriftsteller, der scheinbar in dem Leben seiner engeren Heimath aufging, ist ein unvergängliches Verdienst auch dem großen Vaterlande gegenüber zuzusprechen. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist jedes Werk, welches sich mit der Geschichte eines einzelnen deutschen Staates oder Stammes beschäftigt, ein allen Volksgenossen dargebotenes Geschenk. Wenn wir daher schon aus dieser Erwägung eine als gediegen anerkannte Schrift, welche Ludwig Trost unter dem Titel „Aus dem wissenschaftlichen und künstlerischen Leben Bayerns“ herausgegeben hat (München, M. Riegersche Universitätsbuchhandlung), den Lesern der „Gartenlaube“ gern empfehlen, so wirkt dabei auch noch ein anderer Beweggrund mit, den eine kurze Angabe über den Inhalt des Buches von selbst ans Licht stellen wird.

Die Reihe der Aufsätze eröffnet ein „Die Pflege der Geschichte durch die Wittelsbacher“ betiteltes Kapitel, welches von den die ganze ausgedehnte bayerische Geschichte durchdringenden Kenntnissen des Verfassers ein glänzendes Zeugniß ablegt und in dem darauf folgenden Kapitel „Der bayerische Schatz“ eine Ergänzung findet. Die beiden folgenden Monographien „Zur Geschichte der den historischen Fresken in den Münchener Hofgarten-Arkaden beigesetzten Aufschriften“ und „Die Grundsteinlegung der Allerheiligen Hofkirche in München“ enthalten höchst beachtenswerthe Beiträge zur Charakteristik des genialen ersten Ludwigs, welchem, soviel wir wissen, Ludwig Trost ein ausführliches litterarisches Denkmal auf Grund besonderer, ihm in seiner Stellung als Staats- und Hausarchivar erschlossener Quellen zu errichten beschäftigt ist. Auf König Max II. beziehen sich die beiden folgenden Abschnitte, welche gleichfalls nur infolge landesherrlicher Ermächtigung überhaupt veröffentlicht werden konnten, „Drei Briefe des Joseph Freiherrn von Hormayr zu Hortenburg an den König Maximilian II. von Bayern“ und „Das Sanktuarium des Königs Maximilian II. von Bayern“.

An diese Abschnitte schließt sich das Kapitel, welches für den Leser der „Gartenlaube“ ein ganz besonderes Interesse hat, „Zur Erinnerung an Herman von Schmid“ überschrieben. Wir haben in dieser von berufener Freundeshand geschriebenen Skizze die einzige bisher erschienene Biographie des berühmten bayerischen Volkserzählers. Herman von Schmid hat auch Stoffe aus der nichtbayerischen, zumal aus der Tirolergeschichte behandelt. Aber das außerordentliche Verdienst, welches er sich dadurch erworben hat, daß er, ohne eigentlich ein Dialektdichter zu sein, der unerreichte Darsteller seines heimathlichen Volksthums und damit auch der Vermittler desselben an die übrigen Glieder unseres großen Volkes geworden ist, geben das Recht, ihm den Ehrentitel eines bayerischen Volkserzählers dennoch beizulegen. Niemand aber hat die Natur und Eigenart dieses köstlichen Erzählers besser erkannt und überzeugender geschildert als sein treuer Landsmann Ludwig Trost.

Diese von so würdiger Hand uns geschenkte, ansprechende und zuverlässige Lebensbeschreibung kommt um so gelegener, als eben eine neue Ausgabe der Gesammelten Schriften Herman von Schmids im Erscheinen begriffen ist. Vielleicht könnten auch die im Anhang des Trostschen Buches mitgetheilten „Gedichte aus dem Nachlaß Herman von Schmids“ in vermehrter Zahl besonders herausgegeben werden. Das Gesammtbild des Dichters würde hiernach uns erst voll vor Augen treten.

Der Riesenweinstock von Kinnel. In dem romantisch gelegenen schottischen Schlosse Kinnel, dem Besitzthum des Marquis von Breadalbane, befindet sich ein Riesenweinstock, der ebenso wie der berühmte Weinstock von Hampton Court zu den Wundern der Pflanzenwelt zählt. Er wurde im Jahre 1831 oder 1832 von dem ersten Marquis von Breadalbane gepflanzt und fand zufälligerweise äußerst günstige Bedingungen, die sein Wachsthum ungemein förderten. Gegenwärtig befindet er sich in einem Treibhause, das 51,81 m lang und 17 bis 18 m hoch ist, und bedeckt mit seinen Trieben die ansehnliche Oberfläche von 387 qm. Sein Stamm, der an einem Ende des Gewächshauses wurzelt, hat in der Höhe von 0,3 m über dem Erdboden einen Umfang von 0,6 m und theilt sich in der Höhe von 1,8 m in zwei Hauptzweige, aus denen zahlreiche traubentragende Reben emporschießen. Die größte Weintraube wurde im Jahre 1879 gezeitigt, sie wog 2265 Gramm. Von den angesetzten Trauben läßt man nur einen Theil reif werden. So fand man z. B. im verflossenen Jahre an dem Weinstock 3170 Trauben vor; von diesen wurden aber 2620 grün abgeschnitten, so daß nur 550 reifen konnten. Das Ergebniß der Lese war trotzdem nicht gering, denn das Gesammtgewicht der gelesenen Trauben betrug 408 kg, also über 8 Centner. – Die Pflege dieses Riesenweinstockes ist ziemlich einfach; die Temperatur des Treibhauses wird stets auf der Höhe von 15,5° bis 18,5° C. erhalten. *

Die Zimmerpflanzen im Juli. Wenn man sagen könnte, daß in der Pflege der Pflanzen jemals ein Stillstand eintreten dürfte, so könnte man den Monat Juli nennen. In diesem Monat muß alles fertig und in Ordnung sein. Aber ein aufmerksamer Pflanzenpfleger findet immer etwas zu thun und zu verbessern. Die erste Bedingung ist das tägliche Begießen der Pflanzen mit nicht kaltem Wasser, oder sagen wir lieber, das tägliche Nachsehen, ob die Pflanzen des Begießens bedürfen, denn tägliches Begießen würde in vielen Fällen selbst die gesündesten Pflanzen zu Grunde richten. Wir wollen bei dieser Gelegenheit einige allgemeine Vorschriften für das Begießen der Topfpflanzen wiederholen. 1) Je wärmer die Temperatur, desto größer ist das Bedürfniß der Pflanzen nach Wasser. 2) Große stark durchwurzelte Pflanzen bedürfen mehr und öfter Wasser, als kleine und solche, deren Wurzeln das Gefäß noch nicht ausfüllen. Bei Pflanzen, die eben frisch in neue Töpfe gekommen sind, muß die Erde stets mäßig feucht sein und darf nie ganz trocken werden, aber Wasserbedürfniß haben diese eigentlich nicht. Die eingekürzten Wurzeln können kein Wasser aufnehmen und gerathen durch übermäßiges Begießen in Fäulniß, so daß der Tod der Pflanze daran erfolgen kann. Man muß, wo es angeht, durch Bespritzen das entzogene Wasser zu ersetzen suchen oder auch durch Umgeben der Töpfe mit feuchtem Moos. Großblätterige Pflanzen kann man durch tägliches leichtes Abwaschen mit einem Schwamm erfrischen. Die Zeit, wo das eigentliche Begießen wieder nothwendig wird, erkennt man in dem erneuten Wachsthum. Wenn die Pflanzen in Untersätzen stehen und dadurch bewässert werden, schüttet man stehenbleibendes, nicht aufgesogenes Wasser nach einigen Stunden wieder ab. Sollte man bemerken, daß eine noch nicht genug bewurzelte Pflanze zu viel Wasser bekommen hat, so legt man sie vorsichtig um, damit das Wasser wieder ablaufen kann. Dies muß auch mit schon eingewurzelten Pflanzen geschehen, wenn sie durch zu reichliches Begießen oder im Freien durch starken Regen so viel Wasser bekommen haben, daß es oben auf der Erde stehen bleibt. In diesem Falle sieht man zuerst nach, ob das Abzugsloch unten nicht durch Erde oder Regenwürmer verstopft ist, in welchem Falle die Pflanze aus dem Topfe genommen und das Abzugsloch gereinigt wird. Ist die Erde sehr naß, so läßt man die [447] Pflanze einen Tag außerhalb des Topfes stehen. 3) In leichter, lockerer Erde trocknen die Pflanzen mehr aus als in schwerer, müssen deshalb in ersterer mehr und öfter, als in letzterer begossen werden. Unter leichter Erde verstehen die Gärtner die zum größten Theil aus Humus, verwesten organischen Stoffen und viel Sand bestehenden Bodenarten, besonders sogenannte Heideerde, Moorerde und manche Art von Laub- und Holzerde, vorzugsweise Heideerde. Dieselbe nimmt, wenn sie stark ausgetrocknet ist, so schwer Wasser an, daß man stark durchwurzelte Pflanzen stundenlang ins Wasser stellen muß, bis die Erde sich vollgesogen hat, was man an der Schwere des Topfes erkennt. Man kann dabei die ganze Pflanze unter Wasser tauchen, damit der durch die Blätter verlorene Saft ersetzt wird. Unter schwerer Erde versteht man solche, welche größtentheils aus Lehm besteht. Schwere Erde lieben alle Pflanzen mit fleischigen dicken Wurzeln, leichte dagegen die mit feinen Wurzeln.

Das Begießen der Zimmerpflanzen kann jederzeit vorgenommen werden, doch ist es gut, sich eine gewisse Zeit festzustellen. Den Feuchtigkeitszustand erkennt man durch das Ansehen, Befühlen und bei freistehenden Töpfen durch das Gehör, indem trockene Töpfe beim Beklopfen mit dem Finger oder einem Stück Holz heller klingen als nasse. Sieht man bei dem Begießen, daß auf einem Topfe, welcher für trocken gehalten wurde, das Gießwasser nicht einsickert, so muß es sofort wieder abgegossen werden. In wenig geheizten Zimmern, Kellern u. s. w. brauchen im Winter die Pflanzen kaum wöchentlich einmal begossen zu werden.

Höhlenwohnungen bei Langenstein im Harz. Gelegentlich eines recht lohnenden Ausfluges von Halberstadt nach dem 1/2 Stunde entfernten Spiegelberge, welcher jedem Harzreisenden zu empfehlen ist, fand ich in Meyers „Wegweiser durch den Harz“, daß in den nahen Klusbergen uralte, in Felsen gehauene menschliche Wohnungen vorhanden seien. Als ich mich näher danach erkundigte, wurde mir angerathen, nicht nur diese, welche nicht mehr als Wohnungen benutzt werden, sondern auch das 1 Stunde südlich gelegene Dorf Langenstein zu besuchen; dort seien noch jetzt von Menschen bewohnte Höhlen zu sehen.

Die Höhlenwohungen bei Langenstein im Harz. Nach einer Zeichnung von E. Krell.

Höhlenbewohner fast mitten im Herzen unseres hochcivilisirten Deutschen Reiches! Diese merkwürdige Thatsache bestimmte mich, nach genanntem Orte zu pilgern. Und richtig, oberhalb des großen, wohlhabenden Dorfes Langenstein, und zu diesem gehörig, liegen etwa 10 in den Felsen gehauene Wohnungen; das Ganze wird „die Burg“ genannt, und einige 40 Menschen haben darin Unterkunft gefunden.

An der dem Felsen abgetriebenen Frontseite sieht man eine Reihe regelrecht angebrachter Hausthüren und Fenster, fast immer eine Thür und nur ein Fenster zu einer Wohnung gehörig. Die älteste dieser Höhlenwohnungen ist vor 29 Jahren von einem armen jungen Ehepaar, welches in Langenstein kein Unterkommen finden konnte, angelegt und nach und nach erweitert worden, ein recht beachtenswerthes Theil Arbeit, wenn man bedenkt, daß der Mann erst ein bedeutendes Stück Felsen abtreiben mußte, um eine Front zu erhalten. Und zwar mußte er diese Frontfläche sowie die Wohnräume mit einem einfachen Werkzeug, der „Picke“, Stückchen für Stückchen „auspicken“, wie man dort sagt, während der Frau das Wegschaffen der Schuttmassen oblag.

Durch die Eingangsthür der sehr sauber gehaltenen, wenn auch ärmlichen unterirdischen Wohnung gelangt man zunächst auf einen geradeaus führenden Gang (Hausflur), von welchem rechts eine Thüröffnung in die geräumige, mit einem großen Fenster, dem einzigen der Wohnung, und einem Ofen ausgestattete Stube führt. Dieser gegenüber, links vom Gange, befindet sich ein muschelartig ausgehauener Schlafraum, in welchem man sich den Luxus einer Bettstelle erspart und als Unterlage Stroh unmittelbar auf den Felsen gelegt hat. Hinter diesem Schlafraum, links vom Gange, dem Innern des Felsens zu, ist ein großer Vorrathsraum; rechts hinter der Stube die Küche mit Herd und darüber der Schornstein, welcher außen an der Erdoberfläche mit großen Steinen umlagert ist, damit niemand hineinstürzt. Hinter der Küche ist noch ein Schlafraum, und obwohl diese hinteren Räume kein unmittelbares Licht haben, so sind sie doch durch den Schornstein und durch die in der bessern Jahreszeit meist offenstehende Hausthür leidlich erhellt. Die stehen gebliebenen Wände sind natürlicherweise Felsen, und die Stärke der obern Decke bewegt sich je nach der äußern Form des Felsens zwischen 1 und 2 Metern.

Grundriß einer Höhlenwohnung.

Sämmtliche Räume sind vollständig trocken, und da man über der Eingangsthür eine schmale Oeffnung gelassen hat und keiner der Räume noch durch eine besondere Thür abgeschlossen ist, so geht, auch wenn Hausthür und Fenster nicht geöffnet sind, immer ein leichter Luftzug durch die ganze Wohnung und hinten zum Schornstein hinaus.

Die Wohnungen sind im Winter warm, im Sommer kühl und nach den Versicherungen der Bewohner, welche meist recht kräftige, rothbäckige Leute sind, vollständig gesund.

Da nun einige Familien die Front ihres Heims weiß getüncht haben und oben aus den Felsspalten Gras und Wiesenblumen herausschauen, auch theilweise vor den Wohnungen winzige Gärtchen angelegt sind, so ist das Aeußere gar nicht so unfreundlich. Jedenfalls sind diese Höhlenwohnungen bei weitem gesünder als die vielen Kellergeschoßwohnungen, die gemauerten Höhlen unserer Großstädte.
E. Krell.     


Die Sitte des Anstoßens mit Gläsern hat ihren Ursprung unzweifelhaft von dem Gebrauche des Zutrinkens abzuleiten, das hauptsächlich unter der Bedingung erfolgte, daß der Annehmende ebensoviel zu bewältigen hatte, als der Vorgänger mit einem Zuge zu leisten beliebte. Die Sitte des Zutrinkens, die später zur Unsitte auswuchs, ist uralt. Im Propheten Jesaias liest man, daß die Juden beim Leichenschmause sich gegenseitig einen Becher Weins zugetrunken und dabei einander getröstet haben. Die Griechen weihten ihren Trunk dem Preise einer seligen Gottheit, der Verherrlichung des Schönen und Guten, dem Heile der Geliebten. Die Römer erfanden die Galanterie des Namentrinkens, indem sie so viele Becher leerten, als der Name der Geliebten Buchstaben enthielt. Ueber das Zechtalent der alten Franken berichtet der Dichter Benantius Fortunatus, um 530 Bischof zu Poitiers: „Sänger sangen Lieder und spielten die Harfe dazu. Umher saßen Zuhörer bei ahornen Bechern und tranken wie Rasende Gesundheiten um die Wette. Wer nicht mitmachte, ward für einen Thoren gehalten. Man mußte sich glücklich preisen, nach dem Gelage noch zu leben.“ Das Zutrinken ward bei den Deutschen allmählich zum Wetttrinken, so daß Luther nicht unrecht hatte, als er in seiner Auslegung des 101. Psalmes sagte: „Es muß ein jeglich Land seinen eignen Teufel haben – unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muß ‚Sauf‘ heißen.“ Dieser Teufel „Sauf“ war die Veranlassung des Gebotes Karls des Großen, daß kein Graf, der nicht nüchtern sei, zu Gericht sitzen solle, und der an jeden Kaiser vor der Krönung in Rom gerichteten Frage: „Willst du mit Gottes Hilfe dich nüchtern halten?“ Zu Anfang des 16. Jahrhunderts hatte die Unsitte des Zutrinkens so um sich gegriffen, daß im Jahre 1513 Kurfürst Friedrich von Sachsen und sein Bruder Johann von Weimar aus eine Verordnung gegen das Laster des Zutrinkens erließen; andere Fürsten folgten mit ähnlichen Verordnungen, Mäßigkeitsorden wurden gestiftet, und auch die Schriftsteller kämpften gegen diesen Feind. Bei allen größeren Zechgelagen der Vorzeit ist es sehr laut hergegangen, und es bedurfte nur eines Schrittes, um vom Zutrinken zum Anstoßen zu kommen, dessen Töne den allgemeinen Lärm und damit die allgemeine Heiterkeit nur zu erhöhen geeignet waren. Es ist wahrscheinlich, daß das Anstoßen aber erst dann zur allgemeinen Sitte ward, als man [448] Gläser, die einen „guten Klang“ gaben, bei den Gelagen benutzte, denn hölzerne, thönerne und metallene Becher geben beim Anstoßen keine Musik. Nun hatten allerdings schon die Römer Gläser mannigfacher Art; eine Stelle, welche von dem Anstoßen derselben berichten würde, ist uns aber nicht bekannt. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß das Anstoßen erst zu Ende des Mittelalters und am Beginn der neuen Zeit, als das Zutrinken so arg ausgeartet war und die Fabrikation von Gläsern Fortschritte machte, allgemein in Schwang kam. Das sind aber alles Hypothesen, für welche der strenge Beweis mangelt. Es läßt sich der sichere Nachweis über den Ursprung dieses Gebrauches ebensowenig erbringen, als über die schöne Sitte des Küssens, des Grüßens und anderer Gebräuche, die wir doch auch üben und täglich vor Augen haben.

Die praktischen Amerikaner. Daß die Bewohner Nordamerikas schon vor hundert Jahren sehr praktische Leute waren, geht aus einer aus England kommenden Zeitungsnotiz hervor, die sich in Nr. 17 des „Friedens- und Kriegs-Couriers“ vom 19. Jaunar 1788 findet und folgendermaßen lautet: „Zur Beförderung des Ehestandes in Amerika hat ein dasiger Patriot in einer eigenen, dem Kongresse empfohlenen Schrift folgendes in völligem Ernste vorgeschlagen: Erstlich, daß es keinem Mädchen, nachdem es das Alter von 9 Jahren erreicht hat, erlaubt sein soll, ein Hemd oder eine Mütze zu tragen, welches es nicht entweder selbst gemacht, oder wenigstens mit daran gearbeitet. Zweitens, daß kein Mädchen, nachdem es das gedachte Alter erreicht, von irgend einem zu Tische gebrachten Essen genießen soll, es sei denn, daß es wisse, wie es gemacht werde, oder daß es selbst das Gericht verfertiget, oder dazu behilflich gewesen. Drittens, kein Mädchen soll vor seinem zwanzigsten Jahre Erlaubniß haben, in Karten zu spielen.“

Die Zeitung bemerkt hierzu: „Vermuthlich dürfte solche weibliche Erziehung in Amerika nicht leicht eingeführt werden, und wenn hier in England solche Gesetze stattfänden, so würden die meisten jungen Frauenzimmer vom höhern und mittlern Stande ohne Leinengeräthe gehen und bei Tische bloß Zuschauerinnen abgeben müssen. Der amerikanische Patriot schlägt vor, daß ein junges Frauenzimmer, welches bei einer vorgeschlagenen Heirath nach gehöriger Untersuchung so befunden wird, daß es den drei vorgedachten Regeln gemäß gehandelt, als eine Jungfrau angesehen werden solle, die ihrem Ehemann eine Mitgäbe von 500 Pfd. Sterling oder 3000 Rthlr. bringet. Ob der Bräutigam den Werth dieser ökonomischen Tugenden so hoch als die vorgedachte Summe baren Geldes anrechnen werde, läßt sich bloß aus dem Erfolge entscheiden, den dieser Vorschlag haben möchte.“ Wenn der gute Amerikaner heute leben würde! H. B.

Smyrna-Teppiche als Handarbeit. Bei der heute vorherrschenden Liebhaberei für echte orientalische Teppiche dürfte auch weiteren Kreisen die Mittheilung willkommen sein, daß diese köstlichen, weichen Gewebe durch Handarbeit in jeder beliebigen Größe den echten völlig gleich hergestellt werden können. Erfinderin des Verfahrens ist Frau A. von Frankhen in Görlitz; diese Frau hat zwei Anstalten zur Herstellung solcher Teppiche gegründet und dadurch die persische Fabrikation als Haus- und Familienindustrie in Deutschland eingeführt. Ohne große und theure Webstühle, wie sie die Fabriken zur Nachahmung der echten persischen Ware nöthig haben, auf einem einfachen Tisch wird der Teppich mit der Nadel gearbeitet. Ein starkes Hanfgewebe dient als Untergrund, darauf werden dann die regelmäßigen Stiche und Schlingen ausgeführt. Alles Nähere erläutert ausführlich die Schrift der Erfinderin: „Lehrbuch für Anfertigung der echten Smyrna-Knüpfteppiche, mit Abbildungen. Im Selbstverlag von A. v. Frankhen, Görlitz, O.-L.“ Das Arbeitsmaterial, Untergrund und Wolle, wird um billigen Preis von derselben Stelle geliefert. Wir glauben unseren Leserinnen einen Gefallen zu thun, wenn wir sie auf diese eben so schöne als lohnende Technik aufmerksam machen, welche Arbeiten zu Tage fördert, die entschiedene Vorzüge vor den sonst üblichen Smyrna-Nachahmungen besitzen. Br.

Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Abonnentin in K. Wir wüßten Ihnen schon einen Rath zu geben, der gerade jetzt in der Kirschenzeit am Platze ist. Obgleich nämlich das beste Erwärmungsmittel für kalte Füße tüchtiges Waschen und Abreiben vor Schlafengehen ist, giebt es doch Leute, besonders ältere, die künstliche Erwärmung vorziehen. Solche benutzen gern die altmodischen Säckchen mit Kirschenkernen, die außerordentlich lange die eingesogene Wärme aufbewahren und später während der Nacht nicht unangenehm kalt werden wie die metallenen Bettflaschen. Wenn in einer Familie während der ganzen Kirschenzeit die Kerne gesammelt, in heißem Wasser abgebrüht und an der Luft getrocknet werden, so ist hinlänglicher Vorrath zur Füllung von mehreren Säckchen für Großmama und Großpapa vorhanden. Diese Säckchen werden dann im Winter tagsüber auf den Porzellanofen gelegt und abends mit ins Schlafzimmer genommen. Für die liebe Jugend aber: kaltes Wasser, einen Schwamm und ein derbes, rauhes Handtuch – das sind die besten Mittel, um das Leiden der kalten Füße niemals an sie herantreten zu lassen!

Abonnent in Sch. Wenden Sie sich gefl. an einen Rechtsanwalt.

„Modestus 145.“ Ihr Gedicht „Prometheus“ veranlaßt uns, Ihnen den Rath zu geben: Lassen Sie sich Zeit zum Ausreifen, zur Klärung, und es ist nicht unmöglich, daß Sie noch recht gute Früchte zu Tage fördern werden. Legen Sie den Hauptnachdruck nicht auf die Geschwindigkeit, mit welcher Sie Ihre Gedichte vollenden, sondern auf die Klarheit der Gedanken und Abrundung der Form.

K. Str. in Oldenburg. Wir danken Ihnen bestens für Ihre freundlichen Mittheilungen. Vielleicht bietet sich einmal Gelegenheit, auf die Sache zurückzukommen.

W. S. in New-York. Das Gedicht „Galileo Galilei“ finden Sie im Jahrgang 1855 der „Gartenlaube“, S. 297. Nochmaliger Abdruck ist nicht möglich.

Hermann K. in Langenbielau. In der Form, wie sie aufgestellt wurde, ist die Behauptung Ihres Gegenüber nicht richtig. Das Lateinische des augusteischen Zeitalters wird heute nirgends mehr auf der Welt, auch nicht in Ungarn oder in den Balkanländern, als lebendige Sprache rein und unverfälscht gesprochen. Aber die Ahnung von etwas Richtigem steckt doch darin. In gewissen Theilen von Graubünden, Tirol und Friaul wird heute noch vom Volke ein Dialekt gesprochen, den es selbst als „Romontsch“ oder „Ladin“ bezeichnet. Schon die Vergleichung dieser beiden Wörter mit den entsprechenden lateinischen „romanice“ und „latine“ zeigt Ihnen, wie weit dieser Ueberrest der lateinischen Sprache sich in seinen Formen von denen der klassischen Zeit entfernt hat. Immerhin aber ist dieses „Ladin“ merkwürdig als unmittelbarer Abkömmling der Sprache, welche einst die römischen Herren dieser Alpenthäler gesprochen haben.


Für unsere Knaben und Mädchen empfohlen:
Deutsche Jugend.
Herausgegeben von Julius Lohmeyer.
Inhalt des eben erschienenen 9. Heftes (Preis 40 Pf.):

Ein Frühlingsmärchen. Unserm jungen Kronprinzen zu seinem Geburtstag am 6. Mai 1889 gewidmet. Von Emil Frommel. Mit Originalzeichn. von Alex. Zick. – Das verunglückte Dachsgraben. Eine heitere Jugenderinnerung. Erzählt von C. Wilhelmi. Mit Originalzeichn. von Herm. Vogel. – Beschauliches. Von Julius Lohmeyer. – Hermann Grein, der Bürgermeister von Köln. Eine rheinische Sage. Ballade von Johann von Wildenradt. Mit Zeichn. von A. Baur. – Der Leander- oder Jungfrauenturm. Eine Reiseerinnerung vom goldenen Horn von Ottilie Mühlmann. Lithographie nach einer Aquarelle von Eugen Klimsch. – Pfingstfrühe. Von A. Nicolai. – Andreas Hofer und sein Land Tirol. Ein Lebens- und Volks-Charakterbild von Bernhardine Schulze-Smidt. Mit Illustr. von Defregger, A. Gabl und A. v. Rößler. – Fortschritte im Verkehr. Von Franziska Jarke. – Das Brünnlein am Wege. Von Julius Lohmeyer. – Orientalische Körbchen. Von Minna Laudien. – Sprüche. Von F. W. Weber. – Meckermäulchen-Leckermäulchen. Eine heitere Reiseerinnerung aus den Bergen. Von M. Reymond. Mit einem Bild von Carl Jutz.


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 429. – Das Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes in Berlin. Von Rudolf Virchow. S. 435. – Ein unheimlicher Gast auf Deutschlands Fluren. Von Professor Dr. Pabst. Mit Abbildung von E. Schmidt. S. 437. – Ein deutscher Liebesgott. Erzählung von Stefanie Keyser (Schluß). S. 438. – Eine neue Shakespeare-Bühne. Von R. Artaria. S. 443. Mit Illustration S. 441. – Fortschritte und Gründungen der Neuzeit. Eine neue Vorrichtung zum Stimmen der Klaviere. Von Prof. Dr. Oskar Paul. S. 444. – Blätter und Blüthen: Frauenbildung. S. 445. – Papst Julius II. besichtigt die ausgegrabene Statue des Apollo von Belvedere. S. 445. Mit Illustration S. 432 und 433. – Fallschirme. S. 445. Mit Illustration S. 429. – Aus dem wissenschaftlichen und künstlerischen Leben Bayerns. S. 446. – Der Riesenweinstock von Kinnel. S. 446. – Zimmerpflanzen im Juli. S. 446. – Höhlenwohnungen bei Langenstein im Harz. Mit Abbildungen. S. 447. – Die Sitte des Anstoßens mit Gläsern. S. 447. – Die praktischen Amerikaner. S. 448. – Smyrna-Teppiche als Handarbeit. S. 448. – Kleiner Briefkasten. S. 448.


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Die neue vierzehnte Auflage ist von dem durch seine populär-medicinischen Arbeiten bekannten Herausgeber Dr. med. von Zimmermann, einem Schüler Bock’s, wiederum auf das Sorgfältigste durchgesehen und den Fortschritten der stetig und rastlos sich entwickelnden Wissenschaft entsprechend mit zahlreichen Zusätzen, Berichtigungen und Ergänzungen versehen worden.

Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Natürlichkeit und die historische Treue in den theatralischen Vorstellungen. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (München), Jg. 1887, Nr. 161, S. 2361 f. und Nr. 164, S. 2401 f. digiPress