Die Gartenlaube (1889)/Heft 25

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[409]

No. 25.   1889.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


König Karl I. und Königin Olga von Württemberg.
Nach Photographien von H. Brandseph in Stuttgart und Schemboche in Florenz.

[410]

Zum Jubiläum des Königs Karl von Württemberg.

Seit der Wiener Kongreß der Karte Europas und im besonderen derjenigen Deutschlands nach den großen vielgestaltigen und rasch aufeinanderfolgenden Wandlungen der napoleonischen Kriege eine neue dauerndere Gestalt verliehen hat, sind an die Souveräne der kleineren deutschen Staaten wohl kaum jemals schicksalsvollere Entscheidungen herangetreten, als sie eine Regierung aufzuweisen hat, die mit diesem Jahre die Grenze des ersten Vierteljahrhunderts erreicht. Es wäre eine Beeinträchtigung der Hochachtung, welche wir diesen deutschen Fürsten schuldig sind, wollten wir verkennen, daß die Ereignisse, welche der Lösung der deutschen Frage in ihrem heutigen Sinne näher führten, für die Beherrscher der einzelnen Staaten ebenso viele Akte der Entsagung, der Selbstüberwindung bedeuteten, daß das Metall zu der Form, in welcher das Deutsche Reich gegossen wurde, dem Schatze ihrer Selbstherrlichkeit entzogen worden ist. Und diese Akte der Selbstüberwindung wiegen um so schwerer, je größer und abgerundeter das Staatsgebiet, je mehr das innere Leben des Volkes ein blühendes, in sich gesättigtes war; sie sind geschichtliche Thaten, wie nur irgend ein Schlachtensieg oder eine gesetzgeberische Idee.

Es wird unter den Verdiensten, die sich König Karl von Württemberg während einer nunmehr fünfundzwanzigjährigen Regierung um Land und Volk erworben hat, einer der schönsten und dauerndsten Ruhmestitel bleiben, daß er in diesen entscheidungsschweren Zeitläuften sich stets von den hochherzigsten Gefühlen, von den selbstlosesten Erwägungen leiten ließ, und es ist mehr als eine bloße Form, es liegt eine tiefe geschichtliche Wahrheit darin, wenn bei den mancherlei Huldigungen, welche dem Fürsten im Laufe seiner Regierung aus den vielfältigsten Veranlassungen dargebracht worden sind, gerade dieser Gesichtspunkt in den letzten Jahren immer wieder hervorgehoben worden ist. Und doch ist diese Regierung auch sonst nicht arm an Früchten schönster Art, deren der Württemberger dankbaren Sinnes gedenkt und die an der Schwelle der Jubiläumstage, gleichsam zu einer reichen Garbe gesammelt, überall im schwäbischen Lande aus vollem Herzen gepriesen werden.

Als König Karl am 25. Juni 1864 seinem Vater, dem König Wilhelm, in der Regierung folgte, stand er, geboren am 6. März 1823, in seinem zweiundvierzigsten Lebensjahre, ein gereifter Mann, dem eine ausgezeichnete, sorgfältig geleitete Vorbildung alles gegeben hatte, was ihn zu seinem fürstlichen Berufe tüchtig machen konnte. Auf der Kriegsschule zu Ludwigsburg, an den Universitäten Tübingen und Berlin, auf Reisen nach England, Italien etc. hatte er reiche Kenntnisse gesammelt, seinen Geist erweitert, seine Anschauungen geklärt. Seit achtzehn Jahren stand ihm eine edle Fürstin zur Seite, die Königin Olga, die Tochter des Kaisers Nikolaus von Rußland, der er im schönen Süden zu Palermo sich verlobt und die er nach der am 13. Juli 1846 zu Peterhof vollzogenen Vermählung am 23. September desselben Jahres unter dem Jubel der Bevölkerung in seine Heimath eingeführt hatte. König Wilhelm hatte achtundvierzig Jahre regiert und als er, ein zweiundachtzigjähriger Greis, gestorben war, da sah sich sein Nachfolger vor eine Reihe von ernsten Aufgaben gestellt, insofern es galt, da und dort in Verfassung und Gesetzgebung, wo die schwerere Beweglichkeit des Alters seinen königlichen Vater an den Gewohnheiten eines langen verdienstreichen Lebens hatte festhalten lassen, den Forderungen einer vorgeschrittenen Zeit Rechnung zu tragen. „So Vieles und Großes in Gesetzgebung und Verwaltung unter König Wilhelm geschehen war,“ sagt einer der besten Kenner des württembergischen Staatslebens, Staatsrath Rieke, „die nächstfolgende Regierungsperiode, welche mit der Thronbesteigung des Königs Karl ihren Anfang nahm, sollte als eine nicht minder fruchtbare sich erweisen.“ Das Wahlgesetz zur württembergischen Abgeordnetenkammer, das Justizwesen, die innere Verwaltung erfuhren Neuerungen, in denen ein freierer Geist wehte, und eines der ersten Gesetze, die unter König Karl erlassen wurde, befreite die Presse und das Vereinswesen von den Beengungen, unter denen sie seit 1855 gelitten hatten. Die Grundsätze religiöser Toleranz fanden allseitige Durchführung und in der That gehört gerade auch die Erhaltung des konfessionellen Friedens in Zeiten, da rings umher der böse Hader herrschte und auch im Württemberger Lande streitlustige Zungen vereinzelt zum Streite schürten, zu den glänzendsten, ganz persönlichen Verdiensten des Königs Karl.

Es würde zu weit führen, wollten wir die Entwicklung des württembergischen Staatswesens unter der Regierung König Karls hier weiter in alle Einzelheiten verfolgen. Es genüge, daß wir den Geist, in welchem sie geschah, gekennzeichnet haben. Insbesondere hat natürlich der Beitritt Württembergs zum Deutschen Reiche dem Lande eine umfassende Gesetzgebung auf allen Gebieten des nationalen Lebens gebracht. Hatte es, nach dem Urtheile desselben Gewährsmanns, unter Herzog Christoph gegolten, den Stammlanden gleiches Recht zu geben, unter den beiden ersten Königen, die Gleichheit herzustellen zwischen dem altererbten Besitz und den neuerworbenen Gebietstheilen, so handelte es sich unter König Karl „um das Einleben in eine höhere, die überwiegende Mehrzahl der deutschen Stämme umfassende Ordnung“.

Die Regierungsthätigkeit im engeren Sinne, gleichsam die dienstlichen Verrichtungen sind nur ein Theil des Wirkens eines Fürsten. Neben ihnen her geht eine zweite, nicht minder wichtige und folgenreiche, mehr persönliche oder private Einflußnahme auf das Leben des Volkes. Auch hier begegnen wir gleich am Anfange der Regierung König Karls einer an und für sich unscheinbaren, aber doch für den Sinn, in welchem der neue Fürst seine Pflichten erfaßte, bedeutungsvollen Anordnung. Auf Veranlassung des Königs wurden vom Winter 1865 ab im großen Saale des Königsbaus von Stuttgarter und Tübinger Professoren öffentliche Vorträge gehalten, die jahrelang eine eifrige, zahlreiche Zusprache fanden und einen nicht zu unterschätzenden Faktor im geistigen Leben der Hauptstadt bildeten, bis das gegebene Beispiel genügende Nachfolge gefunden hatte. Und so haben denn auch alle Anstalten und Einrichtungen des Landes, welche den Zwecken der geistigen Bildung dienen, von der Landesuniversität bis herab zu der letzten Volksschule, sich der eifrigen Förderung des Königs und der Königin zu erfreuen gehabt. Der hohe Ruf, den das württembergische Schulwesen in ganz Deutschland, ja selbst im Ausland genießt, ist ein Erbtheil von der Regierung König Wilhelms her; seinem Nachfolger blieb die nicht minder verantwortungsvolle Aufgabe, das Unterrichts- und Erziehungswesen auf einer Höhe zu erhalten, die diesen Ruf fortgesetzt rechtfertigte. In gleichem Maße hat das künstlerische Leben in dem Königspaare fürstliche Gönner gefunden, insbesondere der Schwaben Schoßkind unter den Künsten, die Architektur; zwei der schönsten Bauten im Lande, die königliche Villa zu Berg und das Kloster Bebenhausen, sind in seinem persönlichen Auftrage erbaut, beziehungsweise in ihren alten reinen Formen wiederhergestellt worden.

Hervorragende Werke der Bildhauerkunst und der Malerei verdanken die öffentlichen Plätze der Residenz und die Galerien des Staats der unmittelbaren Freigebigkeit der königlichen Schatulle. Handel und Gewerbe blieben nicht unbedacht; neben manchen anderen nützlichen Einrichtungen hat hier insbesondere die unter dem Protektorate des Königs stehende Ausstellung im Jahre 1881 segensreich gewirkt. Das Gedeihen der Landwirthschaft und damit eines wichtigen Volkstheils, des grundsässigen Kleinbauernthums, ist unter König Karl regsam gefördert worden. Ein volles Zehntheil des Staatsgebiets, eine Fläche von 2000 qkm wurde durch die Albwasserversorgung einer nutzbringenden Bewirthschaftung erschlossen. Still aber und ohne Aufsehen ging neben dem allem die Fürsorge für Noth, Armut und Elend her, und auch hierin, in der Ausübung der erhabensten aller fürstlichen Pflichten, standen dem König die Königin und, es bleibe nicht vergessen, die Mitglieder des königlichen Hauses überhaupt in großherziger, werkthätiger Liebe zur Seite.

Dies ist das Bild der Regierung, deren fünfundzwanzigjähriges Jubeljahr das schwäbische Volk in allen seinen Gliedern festlich zu begehen sich anschickt. Es ist ein schönes Bild, seine Farben sind dem Auge wohlthuend und seine Linien verrathen eine sichere, zielbewußte, sorgsame Hand. Möge sie dem württemberger Lande noch lange erhalten bleiben!




[411]

Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Herr von Prasch setzt unweigerlich am einundzwanzigsten März den weißen Strohhut und am dito September die Pelzmütze auf,“ sagte Bendel und wandte sich dem Kellner zu, mit ihm über den Belag von Brötchen, die er essen wollte, zu unterhandeln.

Herr von Prasch that, als höre er die Hänselei nicht. Bendel hatte damals eine nette Notiz über das Wagnerbuch gemacht und er hoffte, daß Bendel über das bevorstehende Buch über Hölderlin eine noch nettere machen werde, und somit hätte er sich von Moritz Bendel sogar mißhandeln lassen.

„Aber bester Steinweber, Sie waren nicht im Theater?“ sagte auch er, „es war ein Abend – roh – empörend – man hat diesen armen Weinhardt ausgepfiffen – nun, wie man eben nur in Berlin auspfeifen kann. Mein Gott, der Mann muß sich ja wie geächtet fühlen!“

„Ausgepfiffen?“ rief Marbod, „aber ich fand bei der Lektüre das Stück nicht unbedeutend, und in Hamburg, Frankfurt und Leipzig hat es gefallen.“

„Du meine Güte,“ sprach Bendel mit ruhiger Verächtlichkeit, „was Prasch für enfantile Ansichten hat! Weinhardt sich geächtet fühlen! Mit der Hautbeschaffenheit! ‚Kinder,‘ sagte er zu mir und Müllberg, ‚den Sekt trinken wir beim nächsten Stück.‘ Und das reussirt auch. Das ist er und das Publikum bei seinen Schauspielen so gewohnt – einmal auf und einmal nieder. Wäre das heutige zufällig an einem Tage drangekommen, wo ein Erfolg an der Reihe war, hätte man rasend geklatscht.“

„Mit welchem Cynismus Sie von dem Werke mühseliger Arbeit sowohl als von dem Urtheil des Publikums sprechen, Sie, der Sie auf beides angewiesen sind und vor beidem Respekt haben sollten!“ sagte Marbod unwillig.

Bendel zuckte die Achseln.

„Ich würde mich nie getrauen, hier ein Stück aufführen zu lassen,“ sagte Herr von Prasch ängstlich.

„Sie gehören auch nicht zu denen, die in Versuchung kommen, eins zu schreiben“ bedeutete ihm Bendel, „Sie leben von Küchenabfallen.“

„Wieso?“ fragte Prasch ganz unbefangen.

Bendel wollte ihm darauf mit noch größerer Unbefangenheit die tiefe Verachtung klar machen, die er – Bendel – für jene hätte, welche nichts zu schreiben imstande wären, wenn andere nicht vorher geschrieben hätten; für jene, welche aus gleichgültigen Briefen, nebensächlichen Anekdoten großer Männer so lange Bücher und Artikel machten, bis sie selbst einen Namen hätten.

„Wie ich sie hasse,“ sprach Bendel, der mit olympischer Ruhe gegenwärtigen Personen die allergrößten Unannehmlichkeiten sagen konnte, „wie ich sie hasse, diese Goethe-Müller, Schiller-Meier, Wagner-Lehmann, Lessing-Schulze, die dann Autoritäten über ihren Helden geworden sind, ohne auch nur eines einzigen eigenen Gedankens fähig zu sein! Im ganzen halte ich es für geschmacklos, eine alte Anekdote zu erzählen, aber vielleicht kennen Sie sie nicht, lieber Prasch, und wenn Sie erst der Hölderlin-Prasch geworden sind, mögen Sie sich ihrer erinnern.“

„Ich bitte Sie!“ sagte Marbod, der die Anekdote kannte. Prasch sah ihn ängstlich an.

„Also,“ begann Bendel unerbittlich, „beim Bauern Klaas wird Heu gefahren und man hat von der Tenne bis zum Boden eine schräge Stiege errichtet, auf welcher das Heu hinauf geschafft wird. Der Ochs des Bauern frißt von den Abfällen, die auf der schrägen Ebene verstreut sind. Mit einem Male sieht unser Klaas, der vor der Thür steht, das Haupt seines Ochsen käuend aus der Bodenluke gucken. ‚Jehann,‘ fragt er seinen Knecht, ‚uns Os is up’n Böhn, woans is he rupper kamen?‘ – ‚Je, Herr, he hett sik rupper lickt.‘“

Einige hinzukommende Kollegen Bendels überhoben Prasch der Qual, auch noch zu lachen. Während Bendel diese begrüßte, flüsterte Prasch.

„Er ist doch boshaft.“

„Widerlegen Sie ihn, indem Sie Eigenes schaffen,“ sagte Marbod.

„Das hat die Gräfin Mollin mir auch schon gerathen,“ gab Prasch mit einer wahrhaft unglücklichen Miene zu. Man sah es dieser Miene an, daß er zugleich die Verpflichtung und das Nichtkönnen fühlte, seiner Freundin „Genie“ zu zeigen.

Nun wurde es sehr laut und lustig am Tisch; alle Welt machte gute und schlechte Witze über das zu Grabe getragene Stück. Fast jedermann zeigte Schadenfreude darüber, daß der allzu rasch emporgestiegene Autor wieder zurückgeschleudert worden sei.

Marbod mußte des Vergleiches gedenken, den Alfred einmal gemacht hatte, als er sagte, er sähe die ganze Welt auf einer Leiter klettern. Und Marbod fühlte den Unterschied zwischen sich und diesen Männern. Diese sahen höhnisch hinab auf die Nachklimmenden oder neidisch auf die Voranstrebenden; er aber sah nur empor zum Ziele.

Die Zerstreuung, die er gesucht, hatte er gefunden, aber ihm war doch recht leer ums Herz, als er spät in der Nacht heimkam. Und aus dem ganzen Chaos von Eindrücken, die er heute hatte aufnehmen müssen hob sich wieder lebhafter als jemals die wohlthuende Erinnerung an das blonde Mädchen, welches er beim stillen Samariterthum beobachtet hatte.

Aber zu dem Brief an seine Schwester war es nun zu spät geworden und er verschob ihn auf den folgenden Abend.

Am nächsten Morgen dachte er ernstlich nach, auf welche Weise er Alfred und seinem jungen Weibe wohl eine festliche Ankunft bereiten könnte. Er erbat sich Urlaub für diesen Tag und – sich seiner Mutter erinnernd, die alle Familienfeste so heiter zu verschönern gewußt hatte durch eine kleine Verschwendung in Blumen – kaufte er eine ganze Menge von blühenden Gewächsen, Sträußen und Kranzgewinden. Er ließ alles nach der alten Wohnung Alfreds schaffen, wo die Wirthin weitere zwei Zimmer herrichtete und dem jungen Mann auch gutwillig half, den blühenden Schmuck anzubringen.

Marbod war bei diesem festlichen Thun recht weh ums Herz. Ihm war es, als ob Gerdas Augen ihm zusähen und als ob er in diesen Augen eine große schmerzliche Frage läse. „Weiß sie davon?“ dachte er plötzlich. Und eine große Sorge ergriff ihn. „Was wird sie beginnen, wie es ertragen? Kann sie das überleben? Ist es nicht eine Schmach für sie? Muß sie sich nicht vergessen wähnen? Oder wenn sie ihn so durchschaut, daß sie weiß, er handelte in trotziger Verzweiflung – wird sie nicht kommen und diesem Weibe sagen: ‚Er ist dennoch mein‘?“

Je mehr die Stunde nahte, wo er Alfred begrüßen sollte, je mehr ergriff ihn, den stets Gesammelten, eine Nervosität, die ihn wahrhaft peinigte.

In den letzten Minuten vor der Einfahrt des Zuges, während er in der riesigen Glashalle des Bahnhofes stand, schlug ihm das Herz bis zum Halse hinauf.

Da – da kroch eine schwarze Schlange langsam heran; ein geller Pfiff durchschnitt die Luft.

Und da war Alfreds Gesicht am Fenster. Marbod lief am Zuge entlang bis zu dem Wagen, wo er den Freund gesehen hatte, und mit einer Bewegung, die sie beide sonst nie nach langer Trennung gezeigt hatten, fielen sie sich in die Arme.

Dann sah Marbod den Freund an. Der erschien ihm sehr bleich und überwacht, wie ein Mensch, dessen Züge von vielen schlaflosen Nächten zerstört sind. Und auf der Stirn, zwischen den Brauen hatte er eine Falte, die da früher so tief nicht gestanden.

Sie wechselten kein Wort, nur Blicke, tiefe, ernste Blicke.

„Und Dein Weib?“ fragte Marbod dann.

„Mein Weib? Ja – so,“ sagte Alfred aufwachend.

Auf der langen Reise, in vielen harmlos zerstreuenden Gesprächen mit Germaine hatte er fast vergessen, was gestern auf dem Standesamt in Baden geschehen war.

Er wandte sich um; Marbod sah voll Spannung auf die schöne, hohe Gestalt, die, ihm den Rücken wendend, noch beschäftigt war, Handgepäck aus dem Coupé zu nehmen. Er sah unter dem schwarzen Hut einen dicken Haarknoten hervorquellen.

„Seltsam – ebenso blond,“ dachte er.

[412] „Komm, Marbod, ich will Dich vorstellen,“ hörte er Alfred sagen, und dann kein Wort mehr.

Nicht imstande, seinen tödlichen Schrecken zu bemeistern, stand er und sah Germaine an, die ihrerseits nach einigen Augenblicken, in denen es schien, als sammle sie eine Erinnerung, sehr freundlich sagte:

„Ich glaube, ich habe schon einmal flüchtig das Vergnügen gehabt – in Schwalbach, nicht wahr, durch Frau von Zech. Wie geht es Frau Hauptmann von Zech? Wir haben nicht wieder von ihr gehört, seit sie aus Schwalbach ging.“

Und zu ihrem Unbehagen wurde Germaine bei den alltäglichen Worten ganz roth und fragte sich, wo in aller Welt denn hier eine Veranlassung zum Erröthen sei.

Alfred aber sah die vollkommene Fassungslosigkeit in seines Freundes Gesicht. Erst begriff er nicht, was das bedeute. Dann, als Germaine sprach, kehrte plötzlich in sein Gedächtniß zurück, was Marbod ihm einmal gesagt von einem Mädchen, „blond und ruhevoll, kraftvoll und rosig, das ganze Wesen eine Wohlthat“. Er lächelte. Ein sonderbares, ironisirendes Lächeln.

Er klopfte Marbod auf die Schulter und sagte:

„Ich hoffe, Ihr werdet die besten Freunde sein. Germaine soll der gute Engel unserer Winterabende werden. Aber nun komm! Gieb ihr den Arm, wir wollen einen Wagen nehmen. Du fährst doch mit uns? Hast Du alles besorgt?“

Marbod hatte sich bezwungen. Mit ruhiger Stimme, die aber feindselig kalt klang, antwortete er:

„Nicht alles. Nur die Wohnung. Was die kirchliche Trauung anbetrifft, so waren Deine Befehle zu ungenau, um ausgeführt werden zu können.“

„Desto besser. Wir verzichten auf eine Trauung – allerlei Gründe – genug, es kann nicht sein, lassen wir es. Vorwärts also zum Wagen!“

Und Alfred ging so hastig voran, daß Marbod nichts übrig blieb, als mit Germaine zu folgen.

Er fühlte, daß er etwas sagen müsse. Doch wollte ihm kein leeres Wort über die Lippen. Wenn er sie nicht felsenfest geschlossen hätte, würde eine heftige, vorwurfsvolle, erniedrigende Frage herausgekommen sein. „Wie konntest Du, gerade Du, ohne Liebe heirathen? Ist Deine Weiblichkeit also nur Komödie gewesen?“ Der Schmerz, den jede Enttäuschung bereitet, war ihm sehr bitter.

Germaine wunderte sich, daß er nicht sprach, auch ihre erste Frage nach seiner Schwester nicht beantwortet hatte. Ein Gespräch über gemeinsame Bekannte ist doch sonst die willkommenste Aushilfe zwischen Fremden, die zusammen sprechen müssen.

Sie wartete so lange auf eine Anrede von ihm, bis auch sie zu verlegen ward, um ihrerseits anzufangen.

Alfred erwartete sie am Wagen und sah sie so schweigsam nebeneinander herankommen.

„Du fährst mit uns?“

„Nein!“

„So kommst Du heute abend?“

„Nein!“

„Aber ich bitte Sie,“ begann hier Germaine mit unsicherer Stimme, „mich nicht glauben zu machen, daß meine Gegenwart Ihren freien Verkehr mit Alfred stört. Ich weiß, daß Ihre Freundschaft das Beglückendste für ihn ist. Sie werden nicht aufhören dürfen, ihm Beweise derselben zu geben, wenn Sie ihn nicht unglücklich machen wollen.“

„In der That,“ sagte Marbod, sich zu einer Lüge aufraffend, „ich fürchtete zu stören.“ Er wußte recht gut, daß Alfred einfach sagen würde. „Wir brauchen Dich nicht,“ wenn er mit Germaine hätte allein sein wollen.

„Wir wollen immer so wahr bleiben, wie wir es gewesen sind,“ sprach Alfred, gab ihm die Hand und sah ihn fest an.

Dieses Wort und dieser Blick trafen Marbod; ihm schien es, als durchschaute Alfred ihn vollkommen.

„Also heute abend,“ sagte er tonlos.

Alfred und Germaine fuhren davon. Er stand und sah dem Wagen nach.

„Und ich – ich habe ihr die Rosen auf die Schwelle der neuen Heimath streuen müssen,“ dachte er bitter.




12.

Die Ravenswann und die Schneider hatten nach der interessanten Hochzeit nicht mehr lange Ruhe in Baden-Baden gehabt. Sie packten ihre Sachen und beschlossen, nach einem kleinen Besuch in Heidelberg, wo der Assessor studiert hatte, nach Berlin zurückzukehren.

In Heidelberg wurde den beiden Frauen eine Begegnung, die sie dann noch tagelang beschäftigte. Während ihre Männer Ravenswanns alte Corpskneipe zu einem Frühschoppen aufsuchten – eine Unregelmäßigkeit in der Lebensweise, die der Assessor sich nur einmal jährlich und nur hier gestattete – saßen die Frauen reisemüde und gelangweilt auf der Terrasse vor ihrem Hotel, den Mittagsschein der Herbstsonne noch benutzend.

Da fuhr ein Wagen vor, der Portier eilte heraus, öffnete den Schlag und wartete, bis die Herrschaften, die ihn benutzen wollten, aus dem Hause kamen.

Eine mittelgroße Dame erschien; sie trug einen Reisemantel, einen grauen Filzhut und über diesem, sowie um Gesicht und Haar einen grauen Gazeschleier. So ein glänzender Seidenschleier, der Hut und Haupt umhüllt, wirkt undurchdringlich; Marie Ravenswann konnte nicht einmal sehen, ob die Dame jung oder alt sei. Aber das Kind, welches an der Hand des Mädchens folgte, kam ihr sehr bekannt vor.

Auf einmal, durch einen Blick von Jettchen Schneider belehrt, wußte sie es: der kleine Offingen.

Mit athemloser Spannung sahen sie nun zu, wie die verschleierte Dame einstieg, wie die Jungfer das Kind in den Wagen hob und es mit einer Reisedecke umwickelte. Dann schloß der Portier den Wagen und kehrte mit der Jungfer in das Haus zurück.

Als wenige Minuten nachher der Oberkellner unter die Thür trat, winkte Frau Doktor Schneider ihn heran.

„Bitte, sagen Sie doch, Herr Oberkellner, wohnt eine Baronin Offingen hier?“

„Allerdings. Die Dame sind aus Baden-Baden mit dem jungen Herrn Baron und Bedienung,“ antwortete der beflissene Mann.

„Schon lange?“

„Seit gestern.“

„Wissen Sie, ob die Herrschaft lange hier bleibt?“ fragte Frau Schneider weiter. Frau Marie besaß nicht die Souveränität im Ausfragen wie ihre Freundin und setzte ein bißchen zu ängstlich vor dem Kellner hinzu:

„Wir kennen die Dame nämlich, daher interessirt es uns.“

„So viel ich weiß,“ sagte der Mann höflich, „sind Frau Baronin hier, um den berühmten Professor Willradt zu konsultieren.“

„Sie ist krank!“ riefen beide Frauen und sahen sich an.

„So viel ich weiß, der kleine Junker. Wie die Bonne sagt, soll es erblich sein.“

„Danke,“ sagte Frau Doktor Schneider, gnädig mit dem Kopfe nickend. „Du mußt wissen, Mietze, daß der erste Mann der Offingen an der Schwindsucht starb.“

„Wie gräßlich! Da kann man wirklich von der sichtbaren S-trafe des Himmels s-prechen, die die leichtsinnige Frau trifft. Das einzige Kind! Ja, wo einmal Auszehrung in der Familie ist …“

„Unsinn,“ sagte Frau Doktor Schneider, „mein Mann sagt, Auszehrung giebt es nicht, das sind Tuberkeln und das ist organisch, freilich auch erblich und ansteckend.“

Sie harrten auf ihrem Platz aus, bis die Baronin Offingen zurückkam, und konnten, als sie mit dem Kinde vorüberging, den halblauten Ausruf „wie elend!“ nicht unterdrücken, wobei Gerda von Offingen sichtbar zusammenzuckte, ohne übrigens aufzusehen. War dieser Ausruf Mitleid mit dem zarten Kind? Mit der geprüften Mutter? War er das triumphirende Gefühl, mit dem der vermeintlich Gerechte sich über den vermeintlich Ungerechten erhebt? Vielleicht war beides, das Mitleidige und das Schadenfrohe, darin vermengt, denn die Regungen des Herzens sind oft unentwirrbar verwoben aus Schlechtem und Gutem.

Tagelang sprachen sie noch davon, und Frau Mietze nahm sich vor, bei der ersten Gelegenheit Alfred davon zu erzählen. Sie brannte darauf, ihn wiederzusehen, und sowie sie in Berlin ihre ganze Wohnung reingemacht hatte, mit einer Umständlichkeit, als habe sich dort in den fünf Wochen der Staub eines Jahrhunderts angesammelt, erließ sie Einladungen zu einer Abendgesellschaft.

[413]

Der Eiffelthurm.
Nach einer photographischen Aufnahme gezeichnet von C. Kolb.

[414] Sie hatte das Recht, hiernach zu erwarten, daß „die Haumonds“, wie sie Alfred und Germaine nun nannte, ihr sofort einen Besuch machen würden, um selbst für die Einladung zu danken.

Richtig erschien auch Germaine schon am folgenden Tag.

„Ich bitte Sie, Alfred zu entschuldigen. Er ist sich vollkommen der Unhöflichkeit bewußt, die er begeht, allein er rechnet auf Ihre freundschaftliche Nachsicht, die Sie ihm so oft bewährt haben. Er ist so in Arbeit vertieft, daß er sich ungern seine besten Stunden durch gesellschaftliche Pflichten zerstört,“ sagte Germaine.

Sie sah noch gerade so aus wie in Baden, worüber Frau Mietze sich wunderte, denn sie hatte immer die naive Vorstellung, man müsse den Menschen jede Veränderung ansehen, und ebenso eine naive Unbescheidenheit, die Leute daraufhin anzustarren.

„Man ist es ja gewohnt, Herrn von Haumond alles immer anders machen zu sehen, als andere Leute es thun,“ sprach Frau Ravenswann spitzig. „Ich hatte gedacht, daß Sie ihn ein bißchen erziehen sollten. Aber morgen abend hat er doch Zeit, uns die Ehre zu schenken?“

Germaine sagte, daß sie so frei sein würden.

Hierauf fand Frau Ravenswann ihren wohlwollenden Beschützerton wieder und fragte:

„Na Kinder, wie habt Ihr es Euch denn eingerichtet, und seid Ihr glücklich?“

Sie betrachtete es als ihr einfaches Recht, von Germaine in alle kleinen Geheimnisse ihres neuen Lebens aufs genaueste eingeweiht zu werden.

„Wir haben uns vorerst gar nicht eingerichtet, sondern bewohnen einige möblirte Zimmer. Alfred denkt, sich auf dem Lande anzukaufen. Und wir haben uns zunächst nur auf Steinwebers Zureden entschlossen, hier zu bleiben, bis Alfred mit der Uebersetzung eines englischen philosophischen Werkes fertig ist. Marbod Steinweber fand das Begonnene zu werthvoll, um es als Bruchstück ungenützt liegen zu lassen,“ erzählte Germaine.

„Ach – auf dem Lande will er sich ankaufen? Das kann reizend werden. Nur ja dicht bei Berlin, dann kommen wir im Sommer immer hinaus. So auf dem Lande zu Besuch sein, ist meine Schwärmerei. Aber sagen Sie doch, wie ist er so als Ehemann – ganz leicht ist wohl nicht mit ihm umzus-pringen. Zeigt er Ihnen auch ein bißchen die Sehenswürdigkeiten von Berlin?“

Germaine wußte wirklich nicht recht, wie sie diese mit ganz gutmüthiger Zudringlichkeit gestellten Fragen beantworten oder abweisen sollte.

„Ich mag nicht ausgehen,“ sagte sie, „wir sind immer zu Hause und jeden Abend kommt Marbod Steinweber.“

„Was? jeden Abend? zu einem jungen Ehepaar? wie unpassend! Ich hätte ihm mehr Zartgefühl zugetraut,“ rief Marie in heller Entrüstung.

„Er ist uns beiden sehr willkommen,“ sprach Germaine, während ihr Gesicht ganz roth wurde.

Was ist denn das? dachte Frau Marie. „Wenn Sie und Alfred denn nicht ohne Marbod S-teinweber sein können, so wird es Sie freuen, daß er morgen abend auch hier ist,“ sagte sie.

Beide wußten nicht mehr, was sie zusammen sprechen sollten. Germaine erhob sich. An der Thür begann Marie nochmals, allerlei zu fragen, nach der Bedienung und der Art, wie sie sich beköstigten, und andern Nebenumständen, die sie allesammt nichts angingen. Zum Schluß betonte sie noch mit einem unausgesprochenen, aber fühlbaren Tadelhinweis auf Alfreds Unhöflichkeit, daß sie, und natürlich ihr Mann mit, morgen vormittag einen Besuch bei Haumonds machen würden.

Wirklich erschienen sie denn auch, beide in ganz feierlichen Besuchsanzügen. Bei diesem Wiedersehen mit Alfred fühlte Frau Mietze sich sehr enttäuscht, denn er kam ihr gerade so „sonderbar“ vor wie früher und ebenso boshaft.

Der Assessor sprach sehr steif und gemessen mit Germaine, Alfred unterhielt Frau Ravenswann. Dabei sah er sie aus seinen hellen durchdringenden Augen mit seinem kältesten Blick an, gleichsam als sähe er sie zum erstenmal und wollte sie ergründen.

„Mein Gott,“ dachte er dabei, „wie elend muß ich gewesen sein, um dieser Frau Freundesrechte an mich und Germaine einzuräumen!“

Und er staunte sie immerfort an.

Dieser Blick ärgerte natürlich Frun Marie um so mehr, als sie ihn nicht verstand. Der Wunsch regte sich in ihr, ihn wieder zu ärgern.

„Wir haben die Offingen in Heidelberg gesehen,“ sagte sie plötzlich, „sie war dort, um für ihr krankes Kind den Professor zu konsultieren.“

Alfred erblaßte so, daß selbst Marie erschrak und es ihr wirklich leid that, den Namen der Baronin genannt zu haben.

Er faßte mit eisernen Fingern die Falten der Tischdecke zusammen, blieb wie athemlos unbeweglich auf seinem Stuhl und hielt die Lider sekundenlang geschlossen.

Er antwortete nichts. Kein Laut, nicht einmal ein Seufzer kam von seinen Lippen.

Germaine hatte den Vorgang wohl bemerkt. Sie wandte sich augenblicklich an Marie mit der Frage, wie sie dieses Zimmer und die Lage der Wohnung finde und ob es ihr – Germainen – nicht gelungen sei, dem Raum einen Anstrich von intimer Gemüthlichkeit zu geben, was allerdings angesichts der furchtbaren rothen Plüschmöbel sehr schwer gewesen sei.

Marie erklärte alles für entzückend und bat, die ganze Wohnung sehen zu dürfen, was Germaine sonderbar, aber nicht zu verweigern fand.

Auch dieser Besuch endete.

Auf der Straße trennte Frau Marie sich von ihrem Gatten und nahm einen Wagen, um schnell zu ihrer Freundin Schneider zu gelangen.

„Denke Dir,“ berichtete sie dieser mit fliegendem Athem, „bei den Haumonds ist es nicht richtig. – Nein, danke; ich kann mich nicht erst setzen; ich muß noch Besorgungen für heut abend machen. Aber ich mußte Dich schnell s-prechen. – Gestern war sie bei mir, sie wird roth, wenn man von S-teinweber s-pricht. Heute war ich da; er wird blaß, wenn man von der Offingen anfängt. Und ich habe ihre Wohnung besehen: er schläft im ersten, sie im vierten Zimmer, dazwischen liegen Eß- und Wohnzimmer. Daß das mindestens komisch ist, mußt Du zugeben.“

Natürlich gab Frau Schneider es zu, aber sie hatte es sich gleich gedacht, daß diese überstürzte Ehe kein Glück bringe. Wer wußte, ob die Offingen ihn nicht mit Vorwürfen oder gar noch mit ihrer Liebe verfolge, und ob die arme junge Frau sich nicht mit Steinweber tröste.

Wenn dem so wäre, meinte Frau Mietze, wollte sie doch als warnende und wachsame Freundin dazwischen treten.

Vorderhand beschlossen sie, zunächst sehr genau aufzupassen.

Und die drei Verdächtigen gaben denn auch am Abend eine Unmenge Stoff zu Bemerkungen.

Erstens kamen sie zusammen an und Marbod erwähnte, daß er Alfred und Germaine abgeholt habe.

Dann zeigte Alfred sich den ganzen Abend von einer übermüthigen Heiterkeit, sprach aber fast nie und dann in ganz alltäglichem Ton zu Germaine. Es gelang den beiden Wächterinnen nicht, nur einen zärtlichen Blick, nur ein Schmeichelwort aufzufangen zwischen Alfred und Germaine.

Wohl aber glaubte Marie zu sehen, daß Alfred zuweilen forschend von Germaine zu Marbod sah, wenn sie, was fast unausgesetzt geschah, zusammen sprachen. Andererseits flog oft ein beobachtender Blick von Germaine zu Alfred, als dieser begann, „auf Tod und Leben die Kour zu schneiden“, und zwar Frau Marien.

Mit einem eifersüchtigen Mann haben Frauen immer Mitleid, mit einer eifersüchtigen Frau niemals.

Marie hielt Germainens Blicke für Eifersucht, fand das albern, denn sie – Marie – hatte Alfred schon gekannt, als er noch gar nicht an Germaine dachte, und bedauerte Alfred von Herzen, denn es war doch offenbar, daß er Grund zur Eifersucht hatte und daß, wenn nicht alles so war, wie es sein sollte, die Schuld an Germaine lag. Sie beschloß, mit Marbod ein ernstes Wort zu reden.

Beim Aufbruch kam ihr Mann ihr zu Hilfe, natürlich ohne von ihrem Vorhaben eine Ahnung zu haben.

„Noch ein Wort, Steinweber,“ bat er, als alle fünf Gäste zusammen sich verabschiedeten.

(Fortsetzung folgt.)




[415]

Von der Pariser Ausstellung.

Von Eugen v. Jagow.
(Mit Abbildungen S. 413 und 417.)

Die Pariser Ausstellung hatte in ihrem Entstehen mit zwei Schwierigkeiten zu kämpfen, einerseits mit der unklaren politischen Weltlage und mit volkswirthschaftlichen Krisen, andererseits mit der begreiflichen Abneigung der monarchistischen Staaten, die Revolution und den einhundertsten Jahrestag der Ereignisse verherrlichen zu helfen, welche der Republik die Wege bahnten.

Diese zweite Schwierigkeit war im Grunde genommen eine freiwillige; ist doch die diesjährige, dritte Pariser Ausstellung die erste, welche sich mit der Politik, und zwar ganz absichtlich und ohne Hehl, zu verquicken sucht. Und so haben wir denn das merkwürdige Schauspiel erlebt, daß alle Botschafter der Großmächte sich vor der Eröffnungsfeier von Paris entfernten, daß die Senatoren und Abgeordneten der monarchisch gesinnten Rechten an dem Versailler Fest nicht theilnahmen und daß etliche Staaten, wie Deutschland, die Ausstellung gar nicht beschickten, wieder andere jeglichen Zuschuß, jeden Schutz weigerten und es der Entschließung der Privatleute überließen, auf eigene Rechnung und Gefahr sich mit den Franzosen abzufinden. Diese völlige Enthaltung oder schwächliche Betheiligung der wichtigsten Kulturstaaten konnte aber nicht ohne üble Rückwirkung auf den inneren Werth der Ausstellung bleiben.

Die andere Schwierigkeit, von der ich sprach, war nichts weniger als eine freiwillige. Eine unvernünftige, verschwenderische Finanzwirthschaft, der wachsende Mitbewerb des Auslandes, der offen betriebene Aemterschacher, das abnehmende Vertrauen des Volks zur Lauterkeit der führenden Männer, die parlamentarische Partei- und Interessenpolitik, diese und ähnliche Ursachen hatten eine Mißstimmung im Volk erregt, welche im Boulangismus in gefahrdrohender Weise zum Ausdruck gelangte. Der Panamakrach, der Zusammenbruch des Comptoir d’Escompte sind noch nicht verwunden, Handel und Industrie lagen und liegen danieder, und vor allem die Landwirthschaft.

Unter diesen Wahrzeichen hat die Ausstellung begonnen, von so manchem als Retter begrüßt, aber gewiß kein Radikalmittel gegen die Krankheit, an welcher die französische Gesellschaft leidet. Im wesentlichen dient sie dazu, die öffentliche Aufmerksamkeit von allerlei Uebelständen abzulenken und mancher Wunde zum Verharschen Zeit zu gewähren.

Paris hat sich geputzt, hat Toilette gemacht, und von dieser dürfte die eitle Schöne am Ufer der Seine manche Einzelheiten in die Zukunft mit hinüberretten, bauliche Veränderungen, erweiterte Straßen, neue Prachtpaläste, vervollkommnete Ausstattung der Hotels, etliche in der Umgebung der Ausstellung neu errichtete Cafés und vor allem den Eiffelthurm, die Maschinenhalle und manch andern Schmuck des Marsfeldes, das seinem ursprünglichen militärischen Zweck, als Exerzierplatz zu dienen, nun wohl für immer entfremdet sein dürfte.

Wo fände sich ein geeigneterer Punkt, um uns eine Uebersicht, eine Rundschau auf das weite Ausstellungsgebiet zu gestatten, als auf einer der Plattformen des Eiffelthurms selbst! Er bildet den Mittelpunkt der Ausstellung – auch in örtlicher Beziehung. Er begrenzt das Marsfeld nach der Seine zu, und jenseit derselben erhebt sich auf sanftansteigender Höhe der Trocadéro, das Wunder der Weltausstellung des Jahres 1878, heute freilich übertrumpft und, trotz seiner erhabenen Lage, zu einem kreisrunden Gebäude mit zwei dürftigen Thürmchen herabgesunken.

Vom Fuß des Eiffelriesen zweigt sich die schmale, endlos lange landwirthschaftliche Ausstellung ab, um uns am Ufer der Seine entlang bis zum dritten Ausstellungsfelde, dem der Invalidenesplanade, zu führen. Dort herrscht die bunteste Pracht, wie sich’s für die Kolonien Frankreichs schickt. Und an solchen fehlt es bekanntlich nicht, weder in Indochina, noch in Westindien, noch in Madagaskar, noch am Senegal. Aber Algerien und Tunesien nehmen doch den Löwenantheil einer Ausstellung in Anspruch, wo es von Kuppeln, Minareten, Pagoden, maurischen Gärten, arabischen Trachten, tunesischen Cafés wimmelt, wo die Spahis Wache stehen und wo es in allen Farben regenbogenartig flimmert.

Bedeutsamer ist die Ausstellung auf dem Marsfelde, dessen stolzeste Zier, die „Apotheose des Eisens und der Eisenkonstruktion“, ich wiederhole es, der Eiffelthurm ist. Ihm gegenüber am anderen Ende des in einen Garten aus „Tausend und eine Nacht“ verwandelten Geländes liegen die Hallen für „verschiedene Ausstellungsgegenstände“ und dahinter, deren gewölbtes Glasdach weit überragend, steigt die mächtige Maschinenhalle empor, von deren vulkanischen Kräften nichts eine bessere Vorstellung giebt, als die trockene Thatsache, daß nicht weniger als dreißig Riesenmaschinen nöthig sind, nur um die übrigen in Bewegung zu setzen.

Zur Rechten und zur Linken des Eiffelthurms, von dessen vierfüßigem Unterbau eine Avenue nach der einen Seite über die Jenabrücke hinweg bis in das Gebiet des Trocadéro, nach der entgegengesetzten Richtung durch den schon erwähnten Garten bis zum Ehrendom, dem Pförtner zu den verschiedenen Ausstellungen und der Maschinenhalle, in gerader Linie läuft – befinden sich die Paläste der schönen und der freien Künste.

Der Ehrendom, in welchem der Präsident der Republik, Carnot, die Ausstellung eröffnete und dessen nach dem Mittelgarten hin belegene Vorderansicht unser Bild zeigt, gehört zu den glänzendsten monumentalen Schöpfungen, welche das Marsfeld zieren. Man hat dem prächtigen Portal den Vorwurf der Ueberladung gemacht. Wohl mit Unrecht. Die Fassaden der beiden Kunstpaläste in ihren blaubraunen Tönen entbehren eines reicheren ornamentalen Schmuckes fast gänzlich. Es bedarf also um so mehr eines Gegensatzes, als der Mittelgarten mit seinen vielen Pavillons, Kiosken und Restaurants schon ohnehin einen etwas jahrmarktartigen Eindruck macht. In der That hat man mit Stuck und Gold und nackten Frauengestalten hier nicht gespart. Goldene und darüber farbige Wappen, auf der Abbildung sehr wohl erkennbar, dienen dem Auge zu willkommenen Ruhepunkten. Die Kuppel, die bei den Beleuchtungen des Ausstellungsfeldes mit flammenden Guirlanden bedeckt ist, macht einen überaus reichen und vornehmen Eindruck.

Sie ist, dem Unterbau entsprechend, gelbbräunlich getönt und bildet dadurch einen wirksamen Gegensatz zu den hellblauen, mit weißen Emailfeldern geschmückten und niedrigeren Kuppeln der beiden Kunstpaläste. Ihr Eisengerippe ist mit Zink und Kupfer reich verziert und hebt sich infolgedessen von dem metallischen Schiefer der Kuppel scharf ab. Daneben wirkt die sehr stilvolle Glasmalerei, deren gelbes Licht im Innern einen fast zu ernsten Eindruck macht, da es an das Oberlicht eines Mausoleums erinnert.

Von den Außenbalkons des Ehrendoms, welchen im Innern rundumlaufende Galerien entsprechen, hat man übrigens einen wundervollen Ausblick auf den Mittelgarten und durch die Bogen des Eiffelthurms hindurch auf den Trocadéro, welcher während der Beleuchtung einem Feuerschloß, einer weitgedehnten Walhalla ähnelt, zu der unsere Phantasie, statt auf einem Regenbogen wie die göttlichen Helden des Wagnerschen Rheingolds, auf den elektrischen Strahlen des Wunderthurms hinübergleiten kann.

Vom Eiffelthurm und am besten von seiner ersten Plattform aus – denn bei einem höheren Standpunkt verjüngt sich das Gelände gar zu sehr! – unterscheidet man mit einem Blick die oben angedeuteten Grundlinien, welche für die Anordnung des Marsfeldes maßgebend sind. Denkt man sich nun noch aller Orten, wo die eben erwähnten, zum Theil mit farbigen Kuppeln überragten monumentalen Bauten ein Plätzchen frei lassen, Pavillons, Kioske, Panoramas, künstliche Seen, Cafés, Trinkbuden, Springbrunnen, Statuen angebracht, dazu die zahllosen Seinedampfer und das kreisende Leben auf der Verbindungsbahn der Ausstellung, ein wahres perpetuum mobile, so kann man sich wenigstens eine geringe Vorstellung von dem bunten, menschenbelebten Durcheinander machen, das der Beobachter von seinem erhabenen Standpunkt unmittelbar zu seinen Füßen erblickt.

Der Eiffelthurm ist zwar nach dem Entwurf des Ingenieurs, dessen Namen er verewigt, in einem Jahre erbaut worden, aber er hat nicht nur mit Arbeitseinstellungen, sondern auch mit der Mißgunst eines großen Theils der Pariser Künstler und Litteraten zu kämpfen gehabt. Man erinnert sich noch des geharnischten offenen Briefes, in dem letztere gegen die Verunstaltung der Lichtstadt durch einen „riesigen, schwarzen Fabrikschornstein“ entrüstet Einspruch erhoben. Der oberste Bauleiter Alphand und der Unterrichtsminister [416] Lockroy gingen darüber indessen zur Tagesordnung über, und jetzt, wo der „Schornstein“ vollendet ist, zeigt es sich, daß er mit einem solchen nicht die entfernteste Aehnlichkeit hat.

Der Boden war dem Bau nicht günstig. Noch vor kaum zwei Jahrhunderten floß dort ein Nebenarm der Seine, der durch Ablagerung von Schutt nur sehr langsam ausgefüllt wurde. Und so mußten von den vier Pfeilern, welche den Riesen tragen und unter sich einen Abstand von 100 m besitzen, diejenigen, welche der Seine am nächsten sind, mit besonders soliden Grundbauten bedacht werden. Eiffel wählte dazu gewaltige metallische Kasten, welche sich 15 m tief unter der Erde, also weit unter der Sohle des Flußbettes befinden. Allein die Grundmauern nehmen einen Raum von 6000 cbm ein. Das für den Thurm, für die Hauptpfeiler, die unzähligen Seitenstreben, Verästelungen und Verankerungen verwendete Eisen besitzt das Gesammtgewicht von sieben Millionen Kilogramm, eine Last, die selbst dem Riesen Atlas zu schwer gewesen sein dürfte, sintemalen die Himmelskugel nur aus Aether besteht und Aether kein Gewicht hat. Die erste Plattform ist 55 m hoch, so hoch wie die Thürme der Nôtre-Dame-Kirche, die zweite 119 m und die Spitze des Thurms bekanntlich 300 m, den Kölner Dom, das höchste Denkmal der Gothik, hoch überragend, ohne sich mit demselben freilich in Bezug auf künstlerische Größe und Erhabenheit auch nur entfernt messen zu können.

Die erste Plattform mit ihren vier Restaurationen vermag zur Noth 2400 Menschen unterzubringen. Man gelangt zu ihr auf einer für Kurzathmige nicht sehr empfehlenswerten Treppe oder durch vier Aufzüge, welche im Innern der großen Metallpfeiler ihres Amtes walten und, je nach ihrer Konstruktion, in der Sekunde 1 oder 2 m zurücklegen und 50 bis 100 Personen fassen. So kann man denn in einem geradezu schwindelerregenden Tempo auf die Spitze des Thurmes, das heißt auf die dritte Plattform, gelangen.

Die zweite Plattform besitzt außer dem Ausstellungspavillon des „Ausstellungsfigaro“ mit vollständiger Druckerei, zwei Restaurants, in denen die Preise der Speisekarte noch viel höher sind als 64 m tiefer „bei den unteren Nachbarn“. Ueber der dritten Plattform, die trotz der Verjüngung des Thurmes noch immer 350 qm hat, erblickt man eine mächtige vierbogige Krone, zu deren oberstem Raum, der sogenannten „Laterne“, nur noch metallene Stiegen hinaufführen. Die darin befindlichen Lichtspender, denen der Küstenleuchtthürme entsprechend, werden auf 60 km hin sichtbar sein. Die ebenfalls in der „Laterne“ angebrachte elektrische Vorrichtung besitzt eine Kraft von 100 Amperen, weist mit Hilfe von drehbaren, farbigen Scheiben die Nationalfarben auf und vermag die Stadttheile von Paris und dessen Denkmäler mit Leichtigkeit zu beleuchten, da ihre Leuchtkraft auf eine Entfernung von 9,7 km sich erstreckt. In jener Laterne, die dem Besucher übrigens nicht zugänglich ist, sollen außerdem interessante physikalische Experimente und meteorologische Beobachtungen vorgenommen werden.

Und nun zur Ergänzung unserer Angaben noch die Bemerkung, daß der Preis des Ansteigens bis zum ersten Stocke 2 Franken, bis zum zweiten 3 und bis zum dritten 5 beträgt.

Ich hob schon eingangs hervor, daß der Eiffelthurm einen keineswegs schwerfälligen Eindruck macht. Aus einiger Entfernung betrachtet, macht derselbe sogar einen überaus ätherischen Eindruck. Gewaltige Eisenstreben scheinen sich in Spinnfäden verwandelt zu haben; ein eigenartiges Leben und Weben geht durch das weite Eisennetz und der Himmel wirkt in seinem lichten Glanz als Durchscheinbild. In der That versperrt der Eiffelthurm niemand die Aussicht, und beispielsweise vom Ehrendom mit seinen bräunlichen Kuppeln erblickt man quer durch ihn hindurch den Trocadéro.

Aber freilich, – ein Kunstwerk ist er nicht, wenigstens nicht das, was wir darunter verstehen, denn es fehlen ihm die Gliederung, der Wechsel der Motive, die Gegensätze, Schatten und Licht. Er ist formlos, – nicht im Sinne jener gliederlosen, gallertartigen Lebewesen am Meeresgrund, – aber insofern, als durchbrochene Arbeit und Vollwände nicht miteinander abwechseln. Ob unsere Nachkommen sich an eine Eisenarchitektur, deren Vorläufer der Eiffelthurm zu sein scheint, gewöhnen und das als Kunst empfinden werden, was uns nur das Ergebniß kühlen Denkens zu sein dünkt, das läßt sich freilich nicht vorhersagen. Hoffen wir wenigstens, daß sie in diesem Falle gegen die überbunte Bemalung des Eisens, die Herr Eiffel wohl nur gewählt hat, um der Phantasie der an der Ueberlieferung hängenden Massen den Uebergang von der steinernen zur eisernen Architektur zu erleichtern, – energisch Einspruch erheben werden. Diese Bemalung würde die Kunst in die Zeiten ihres kindlichen Lachens zurückversetzen, und unwillkürlich kommt mir das Bild jener Wilden und Halbwilden in den Sinn, welche für scharlachrote Tücher und bunte Glasperlen ihre kostbarsten Erzeugnisse hingeben.

Es giebt ja allerdings nicht wenig Leute, welche es überhaupt nicht dulden wollen, daß man einen künstlerischen Maßstab an den Eiffelthurm lege. Derselbe soll ja gar kein Kunstwerk sein, behaupten sie, sondern uns lediglich zeigen, wessen die Industrie des Landes fähig sei, welche Fortschritte die Technik des Jahrhunderts gemacht habe. Aber sie geben gleichzeitig zu, daß der Thurm ein „ziemlich nutzloses Riesenbauwerk“ sei. Schon darin liegt aber doch seine Verurtheilung. Wie kann eine Nutzlosigkeit uns die höchsten Leistungen der Industrie und Technik, dieser mächtigsten Diener des Nützlichkeitsprinzipes, verkörpern? Industrie und Technik sind im höchsten Sinn praktisch und darum dünkt es uns ein innerer Widerspruch zu sein, daß sie in diesem Fall den höheren Zweck außer Augen lassen und nur sich selbst zu verherrlichen bestrebt sind.




Die Weltpost.

Von S. Campell.

Aus meinen frühesten Kinderjahren ist mir eine Erinnerung geblieben, die jedesmal in meiner Seele auftaucht, wenn ich von einem Briefe aus Amerika sprechen höre. Damals kam nämlich in das Haus meiner Eltern ein „Brief aus Amerika“, der ein Gegenstand des Staunens, der Verwunderung, ja der Ehrfurcht war. Das beängstigend dünne Ding – man konnte mit einigem guten Willen ganz bequem den Inhalt als Spiegelschrift lesen, denn die letzte Seite des durchsichtigen Bogens bildete zugleich den Briefumschlag – war auf beiden Seiten mit verschiedenfarbigen Stempeln so dicht bedeckt, daß aus den Kreisen, Ziffern und Buchstaben nur mühsam die Adresse herausbuchstabirt werden konnte.

Besagter wunderbarer Brief meldete den Tod eines Erbonkels in Amerika. Der Brief hatte volle neun Monate gebraucht, um von Alvarado, einer Hafenstadt im Golf von Mexiko, nach unserm deutschen Heimathstädtchen zu gelangen. Wegen dieses Zeitverlustes entstand daher, nachdem der Schmerz um den „sehr entfernten Onkel“ sich gelegt hatte, große Unruhe, denn laut des Briefes sollte mit diesem zugleich die Erbschaft in Gestalt von etlichen Päckchen Goldstaub und zwei silberbeschlagenen Doppelpistolen abgeschickt worden sein. Das hohe Porto war seufzend, aber doch in einer gewissen Hoffnungsfreudigkeit mit 1 Thaler und 19 Gutegroschen bezahlt worden. Jetzt ward ein langer und ausgiebiger Familienrath gehalten, bei dem der verheißungsvolle Brief aus Amerika eine große Rolle spielte und der mit der Aufsetzung und Absendung eines ebenso energisch wie untertänig gehaltenen Briefes an die weise und löbliche Regierung des Freistaates Mexiko endigte. Darauf warteten wir abermals zwei volle Jahre, um endlich einen zweiten Brief, ganz ähnlich dem ersten, einlaufen zu sehen, der diesmal wirklich in Begleitung einer Kiste ankam, enthaltend etwas abgetragene Wäsche, einen Pistolengürtel, einen alten Basthut und ein Tagebuch. Da seufzte die Mutter vor der offenen Kiste und sagte. „Ja, wären nur die Postverbindungen gut genug, dann hätten die mexikanischen Diebe nicht Zeit gehabt, das Beste für sich zu nehmen,“ und der Vater antwortetet „Bedenke doch die ungeheure Entfernung, es sollen mehr als 6000 Seemeilen sein bis Mexiko, da geht vieles verloren und manches bleibt unterwegs hängen.“

Damit war die Geschichte mit dem amerikanischen Briefe und dem Erbonkel erledigt.

Was würden wir heute thun, wenn uns Aehnliches begegnete? Ja, so etwas begegnet eben nicht mehr, denn „die Postverbindungen sind jetzt gut genug,“ wie die Mutter sagen würde.

[417]

Der Ehrendom der Pariser Ausstellung.

[418] In der That, es kann nicht mehr geschehen, daß ein Brief von Westindien nach Deutschland neun Monate braucht, selbst nicht, wenn Sturm und Wogen Verzögerung schaffen, vorausgesetzt nur, daß der Postdampfer selbst nicht untergeht. Fast nach und von allen Ländern der Erde kann man seine Briefe um 20 Pfennig oder den entsprechenden Betrag in fremder Münze versenden, und selbst wo dieser niedere Satz nicht zutrifft, ist die zu zahlende Gebühr doch immer noch himmelweit entfernt von dem Porto von l Thaler 19 Gutegroschen welches unser amerikanischer Brief vor wenigen Jahrzehnten erforderte.

Heute haben wir die Weltpost!

Wie war es nun möglich, diesen riesigen Unterschied zwischen einst und jetzt zu erzielen? Zu einem Theile trug hierzu die Verbesserung, Vereinfachung und damit Verbilligung der Verkehrsmittel, die zugleich als Postbeförderungssmittel dienten, bei. Sodann aber hatte vor dem Jahre 1874 überall in dem Verkehre nach dem Auslande der einseitig fiskalische Gesichtspunkt seine Herrschaft geübt, das heißt, jeder Staat hatte aus den Auslandsbriefen, sowohl aus den in seinen Grenzen verbleibenden als den sein Gebiet nur durchquerenden, seinen Gebührenantheil herauszuschlagen gesucht. Kein Wunder also, daß ein Brief, der so und so viele Staaten auf seiner Reise zu berühren hatte, ein hübsches Sümmchen brauchte, um alle die Postherren unterwegs zu befriedigen. Die Verrechnung und Erhebung dieser Gebühren war zudem in hohem Maße weitläufig, die Kontrolle zeitraubend und kostspielig, kurz, die ganze Einrichtung eine verfehlte und dringend der Verbesserung bedürftige, als Generalpostmeister Stephan, beiläufig der einzige geschulte Fachmann in allen Kulturstaaten, der selbständig an der Spitze eines Postwesens steht, sich der Sache annahm. Der Grundsatz, welchen er neben dem eines möglichst niedrigen Portosatzes aufstellte, war der der vollständigen Gegenseitigkeit. jeder Staat vereinnahmt und behält das Franko für die in seinem Bereiche zur Auslieferung kommende Auslandskorrespondenz und ebenso das Porto für die nach seinem Gebiete gerichteten unfrankirten Briefe aus dem Auslande, verzichtet aber auf die Erhebung einer Durchgangsgebühr für die sein Gebiet durchlaufenden Briefsäcke aus dem Auslande nach dem Auslande.[1] Stephan war in der Lage, den Regierungen der andern Staaten ziffermäßig nachzuweisen, daß ihnen aus dieser Einrichtung ein Ausfall in den Einnahmen nicht erwachsen würde, indem einerseits der ganze schwerfällige und kostspielige Apparat der Einzelabrechnung in Fortfall kommen und andererseits der Verkehr, dank der gebotenen Erleichterung, sich steigern würde, daß es darum in ihrem eigensten Interesse liege, den von ihm empfohlenen Grundsatz anzunehmen.

So trat denn am 9. Oktober 1874 der Weltpostverein ins Leben durch Unterzeichnung des „Allgemeinen Postvereinsvertrags“, welche von den Bevollmächtigten 22 größerer und kleinerer Staaten ausgeführt wurde.

Um das Ereigniß in seiner ganzen Größe zu erkennen, ist es nützlich, einen Blick auf das Postwesen früherer Zeiten, zunächst in den deutschen Landen, zu werfen. Da sah es hiermit naturgemäß nicht besser aus als bei allen übrigen deutschen Staatseinrichtungen. Das Postwesen beruhte auf einem der Familie Thurn und Taxis gehörigen alten Privilegium, mit diesem Privilegium aber hatte es folgende Bewandtniß:

Maximilian I., deutscher Kaiser und römischer König, der von 1493 bis 1519 regierte und meist in Wien Hof hielt, lebte in den mannigfachsten Kriegen und Fehden mit Italien, Ungarn, besonders aber mit den Niederlanden. Seine Anwesenheit war oft an der einen Grenze seines Reichs so nöthig wie an der andern. Als er einst in verzweifelte Klagen ausbrach, daß er nicht an allen Orten zugleich gegenwärtig sein könnte, daß aber die Boten, so seine Briefe, Befehle und Ordres an die Grenzen und ins Burgunderland tragen solltem, an keinem Wirthshaus vorbeigehen könnten, ohne anzuhalten dem Wein zu liebe, auch sonst ihren Botendienst verabsäumten und höchst unzuverlässig wären, da trat einer seiner Hofherren der italienische Edelmann Francesco de Tassis, mit dem Anerbieten hervor, die kostenfreie Beförderung sämmtlicher kaiserlicher Befehle, Briefe und Botschaften zu übernehmen. Er verpflichtete sich für Sicherheit und Schnelligkeit seiner Boten und forderte dafür als Gegenleistung das ausschließliche Recht zur Ausübung und Ausbreitung der neuen Beförderungsart, sowie die gesammten daraus entspringenden Einkünfte für sich und seine Nachkommen.

Im Jahre 1516 ertheilte Kaiser Maximilian dieses Privilegium, und damit war dem Hause Tassis eine Gerechtsame verliehen, die zunächst wohl nicht sehr bedeutend erschien, in der Folge aber die Jahrhunderte hindurch sich als ein richtiger Goldstrom für die Eigenthümer erwies. Die erste Linie der Tassis-boten ging von Wien nach Brüssel. Die Boten waren gut beritten und trugen die Briefschaften in einem Felleisen bei sich. Die Tassis waren klug genug, jene erste Botenlinie sehr bald durch Zweigkurse nach Frankreich, Hamburg und im Süden nach Mailand, Venedig, ja bis nach Rom zu erweitern und in den wichtigsten Städten und Grenzorten Anstalten zum Sammeln und Ausgeben der Briefe, wie zum Wechseln der Pferde zu errichten. Das erste deutsche „Postamt“ in einem eigens zu dem Zweck angekauften Hause befand sich in dem durch seine Lage nahe der Landesgrenze und der Festung Philippsburg sehr wichtigen Dorfe Rheinhausen am Oberrhein.

Zunächst sollte wohl die Post dem Kaiser dienen; wie sie dessen Botschaften kostenfrei besorgte, so nahm sie auch die Briefe aller der Fürsten und ihrer Behörden unentgeltlich zur Beförderung an, durch deren Länder ihre Botenkurse gingen. Dadurch erreichte die Post der Tassis nicht nur freien Durchgang durch die betreffenden Länder, sondern durfte auch das Postgeld (Porto) für die Korrespondenzen der Unterthanen nach Belieben festsetzen.

Wie gut die Tassis dabei „herauskamen“, geht daraus hervor, daß 1588, also nach siebzigjährigem Bestehen, die Post ihren glücklichen Rechtsinhabern jährlich 100 000 Dukaten Reingewinn einbrachte, eine für die damalige Zeit unerhörte Summe.

Die neue Einrichtung erfreute sich einer von Jahr zu Jahr, namentlich bei den Kaufleuten und Gewerbetreibenden, steigenden Beliebtheit, sie hatte aber auch viele Anfeindungen, namentlich von seiten der Reichsstände, zu bestehen, die von Anfang an mit der Verleihung des Postprivilegiums an einen Nichtdeutschen höchst unzufrieden waren. Um diesen Anfeindungen die Spitze abzubrechen, ließen sich die Tassis in Deutschland naturalisiren und verwandelten dabei ihren italienischen Namen in das deutsche Thurn und Taxis. Rudolf II., der Habsburger, befestigte durch ein Patent vom Jahre 1595 dem Hause Thurn und Taxis den Besitz der Postgerechtsame in sämmtlichen kaiserlichen Landen und ernannte das damalige Haupt des Hauses, Leonhard von Taxis, zum Generalpostmeister. Dem zweiten Träger dieser Würde, Lamoral von Taxis, wurde abermals durch ein kaiserliches Dekret die Belassung des Privilegiums „für sich und seine männlichen Erben zu Lehen“ bestätigt.

Die fernere Entwickelung der Reichspost unter der Verwaltung der Thurn und Taxis kann übergangen werden. Erwähnt sei nur noch, daß sehr bald Unzuträglichkeiten sich einstellten, so daß es an Klagen aus dem Volke nicht fehlte. Gestützt auf „ihren Brief“ machten sich die Reichspostmeister übermütiger Willkür und trotziger Ueberhebung schuldig, der Portosatz ward nach Belieben hochgeschraubt, allerlei Unordnungen im Vetriebe und im Dienst rissen ein.

Es war der Große Kurfürst, der die Post in seinem Lande zu einer Staatseinrichtung machte, ohne sich um die alten Privilegien der Thurn und Taxis zu kümmern. Er schrieb bald nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges an den Reichsgeneralpostmeister, daß er in seinem Lande keine andern Posten dulden werde als die, so er selber einrichte. Und er that´s.

Die erste preußische Staatspost nahm den Kurs von Kleve bis Memel, durchschnitt also das Preußenland in seiner weitesten Ausdehnung, „zur Förderung der Kommerzien, zur Erleichterung des Gouvernements und zur Herstellung eines engeren Zusammenhanges unter den Territorien der brandenburgisch-preußischen Lande“.

Auch die folgenden Herrscher in Preußen ließen dem Postwesen die größte Sorgfalt angedeihen. Der erste König von Preußen errichtete 1701 das Generalpostamt in Berlin, welches unter dem Namen „Reichspostamt“ noch heute besteht.

Das Beispiel, welches Preußen gegeben hatte, wirkte weiter. Angesichts der jämmerlichen Verfassung der Thurn und Taxisschen Post schritten einzelne Länder und Ländchen, ja sogar Städte dazu, eigene Posten zu gründen, so z. B. Braunschweig, Mecklenburg, [419] Köln, Nürnberg etc., deren Organisation und Verwaltung keine Rücksicht auf den nächsten Nachbarn, noch weniger auf das Wohl der Gesammtheit nahmen, sondern nur den eigenen augenblicklichen Vortheil verfolgten. Dadurch, und weil auch die Taxissche Post sich kräftig wehrte, entstand eine heillose Verwirrung. In manchen Städten saßen nebeneinander drei oder vier verschiedene Posten, die einander nichts weniger als gut gesinnt waren, die sich gegenseitig chicanirten und anfeindeten, wo es nur anging. Oefters kam es unter den verschiedenfarbigen Postillonen und Postboten auf offener Landstraße oder im Wirthshause zu Raufereien und Schlägereien, durch welche weder die Sicherheit noch die Schnelligkeit der Beförderung gewinnen konnte.

Der leidende Theil blieb bei alledem das Publikum, welches unmöglich die Bedingungen einer jeden Postanstalt kennen konnte, welches mit seinen Briefen von Pontius zu Pilatus geschickt wurde, weil diese Post nur bis zu dieser oder jener Grenze ging, weil an dieser oder jener Station keine Uebergabe an die Nachbarpost erfolgte, oder auch weil ein Brief zu schwer oder zu leicht war. Das war auch die Zeit des theuren Portos, steckte doch jede Postverwaltung nach dem Vorbild der Taxisschen Reichspost ihren Satz nach Willkür fest; das war die Zeit der langsamen Beförderung und der postalischen Unsicherheit, und so blieben die Zustände des Postwesens bis tief in unser Jahrhundert herein.

Im Jahre 1830 hatten wir in Deutschland nicht weniger als 17 verschiedene „Postbehörden“, die einander nichts angingen, und 31 diesen Behörden unterstehende „Postgebiete“.

In Preußen allerdings, wo der Staat das Postwesen und damit die Verantwortlichkeit für dessen Leistungen übernommen hatte, ward der Postdienst mit Umsicht, Strenge und militärischer Präcision gehandhabt; darum stand die preußische Staatspost auch auf der verhältnißmäßig höchsten Stufe. Aber schließlich war auch Preußen noch machtlos gegenüber der kläglichen Zerrissenheit im übrigen Deutschland. In Frankfurt am Main saß die Generalverwaltung der alten überlebten Thurn und Taxisschen Post fest, auf ihre dreihundertjährigen Rechte pochend. Die andern Verwaltungen wollten sich „Preußen nicht unterordnen“. So blieb denn vorläufig noch der alte Schlendrian bestehen, wo jeder Postinhaber die Post als seine Melkkuh betrachtete, von der er allein Vortheil zu ziehen habe.

Nicht ganz so kläglich, aber immer noch dürftig genug sah es zur selben Zeit mit dem überseeischen Postverkehr aus. Bis zum Jahre 1840, wo das erste Dampfschiff der noch heute hoch angesehenen Cunardlinie Englands überseeische Brief- und Postsachen über den Atlantischen Ocean trug, wurde alles, was sich die alte und die neue Welt gegenseitig brieflich zu sagen hatten, mit Segelschiffen befördert, denen keine Verantwortung für das ihnen anvertraute Gut oblag. Man mußte von Deutschland aus seine Briefe an irgend ein Handelshaus in einem englischen Hafen - meist London - schicken, dort blieben die sich häufenden Briefschaften liegen, bis ein Schiff der Firma die Reise über das Weltmeer antrat und alles mitnahm.

Während des Zeitraumes von 1825 bis 1850 hatten sich die amerikanischen Klipper, schlanke, außerordentlich schnellsegelnde Schiffe, einen berühmten Namen im überseeischen Postverkehr erworben. Sie fuhren zwischen den Hauptplätzen Nordamerikas, New-York, Boston und Baltimore, und den wichtigsten Häfen Europas, London, Liverpool und Havre.

In Deutschland, wo die Schifffahrt noch in den Kinderschuhen steckte, wußte man nichts von den amerikanischen Klippern. Man schickte seine Briefe, wenn man den Umweg über London vermeiden wollte, an eine Bremer oder Hamburger Reederei und ließ es dann darauf ankommen ob der Brief seinen Bestimmungsort erreichte oder nicht. Wenn aber etwa ein deutsches Schiff aus Amerika ankam, dann bekam der Reeder, d. h. der Schiffseigenthümer, die mitgebrachten Briefschaften in die Hände, und es geschah wohl, daß er spät abends noch sein Dienstmädchen mit etlichen hundert Briefen ausschickte. Die mehr oder minder zuverlässige Maid raffte die großen und kleinen, die dicken und dünnen Schriftwerke in ihre Schürze zusammen und begab sich damit von einem Privathaus ins andere.

Sollte man dergleichen jetzt für möglich halte? Nein! Ebenso wenig wie es heute möglich wäre, daß ein Briefträger, der seinen ersten Rundgang in den Vormittagsstunden gemacht hat, die im Laufe des Tages etwa noch eingehenden Briefe mit nach seiner Wohnung nimmt, sie hier auf den Tisch schüttet, von wo sie seine Tochter in ihren Strickbeutel schiebt, um sich damit, „wenn sie Zeit hat“, noch denselben Abend auf die Runde zu begeben. So erzählen sich noch heute die „alten Leute“ in der Stadt Osnabrück, wenn sie der gemüthlichen alten Zeit gedenken, jener Zeit, da Osnabrück wohl mehr als 20 000 Einwohner zählte, aber statt der heutige zwanzig oder dreißig Briefträger deren nur zwei besaß.

Doch in der Stille wachsen die Vorbedingungen zu der alle Kulturstaaten der Erde umfassenden Weltpost. Allmählich, wenn zuerst auch sehr langsam, rückte das Postwertzeichen, die Freimarke, bei den Posten ein. Die Erfindung der Freimarke kam aus dem Königreich Sardinien wo sie schon im Jahre 1819 auftritt, allerdings nicht in der heute gebräuchlichen Form, sondern in Gestalt von Papierstücken, gerade groß genug, um einen gefalteten Brief einschlagen zu können, denen ein Stempel mit dem Portovermerk aufgedrückt war. Diese gestempelten Umschläge waren bei den sardinischen Postämtern käuflich.

Merkwürdigerweise dauerte es sehr lange, ehe der vortreffliche Fortschritt von andern europäischen Ländern angenommen wurde. England erhielt das Postwertzeichen durch seinen großen Postreformator Rowland Hill; die Vereinigten Staaten, die Schweiz, Brasilien, ja selbst – Finnland, sie alle bedienten sich der für Post wie Publikum gleich bequemen Neuerung eher als die preußische Post. In Preußen ward sie 1850 eingeführt. Aus den gestempelten Umschlägen wurden in der Folge die Frankocouverts, und endlich löste sich von diesen die Freimarke, die jetzt sogar im bürgerlichen Leben und Kleinverkehr eine Stelle als Zahlungsmittel sich erworben hat.

Inzwischen war auch die erste Allianz im Postwesen, nämlich der deutsch-österreichische Postvereins-Vertrag, geschlossen worden. Dieser am 6. April 1850 rechtsgültig gewordene Vertrag kann als die erste Grundlage des Weltpostvereins angesehen werden. Seine Prinzipien waren folgende: Herstellung eines großen allgemeinen Postgebietes, gleichmäßige Organisation des Dienstes und der Verwaltung, wohlfeilere, schnellere und sicherere Beförderung, periodisch wiederkehrende Postkonferenzen, Vertretung der deutschen Post in ihrer Gesammtheit dem Auslande gegenüber.

Als dann das Jahr 1866 den Machtbereich des preußischen Staates erheblich ausdehnte und den ganzen Norden Deutschlands unter Preußen als Vormacht einigte, da mußte die Taxissche Post verschwinden. Die 350jährige Gerechtsame des Hauses ward um die Abfindungssumme von 9 Millionen Mark beseitigt und der ganze Apparat, einschließlich der Generalpostdirektion zu Frankfurt am Main, ging an den preußische Staat über, nicht ohne daß die Taxissche Verwaltung noch den Versuch gemacht hätte, sich durch Eingehen auf die Forderungen der Neuzeit zu behaupten. Verwaltung und Dienst, Sicherheit und Schnelligkeit der Beförderung beruhten von da an auf der Präcision des preußischen Regiments.

Auch der überseeische Postverkehr war durch die aufblühende Dampfschifffahrt in ein neues Stadium getreten, man ließ fast bei jedem Wind und Wetter die Postschiffe zu bestimmter Stunde in See gehen. Der Norddeutsche Lloyd arbeitete Hand in Hand mit der deutschen Post und gewährte dadurch die größten Vortheile. Innerhalb des Deutschen Reiches woben die Eisenbahnen immer engere Netze, wodurch der Postverkehr an Schnelligkeit gewann.

Stephan hatte seine erste folgenreiche Idee bereits 1865 der „fünften deutschen Postkonferenz“, die in Karlsruhe tagte, vorgelegt, nämlich ein Memorandum, das zur Erleichterung und Beschleunigung des Postverkehrs die Einführung eines „offenen Briefes in gedrängter Form“ empfahl – die Postkarte. Stephan nannte seine Erfindung „Postblatt“. Er mußte aber fünf Jahre warten, ehe er seine Idee verwirklicht sah. Erst kurz vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges erfolgte endlich seitens der deutschen Postverwaltung die Einführung der „Korrespondenzkarte“. Wie sehr die Post damit einem „längstgefühlten Bedürfnisse“ entgegen kam, erhellt daraus, daß gleich am ersten Tage der Einführung, am 25. Juni 1870, allein in Berlin nicht weniger als 45 000 Stück der neuen Karten verkauft wurden. Noch deutlicher zeigte sich die Trefflichkeit der Postkarte während des Krieges. Sie war es vor allem, welche den Verkehr unserer tapferen Truppen mit den Lieben in der Heimath vermittelte. Durch die Leichtigkeit ihrer Anwendung vermochte der Soldat im Felde recht oft Nachricht zu senden; ja sogar nach eben beendeter [420] Schlacht, oder nahe dem Tode im Lazareth, wo ein Brief der Umständlichkeit halber nicht zustande gekommen wäre, vermochte der Krieger noch einige Worte auf die Postkarte zu kritzeln.

Der Umsatz an Postkarten betrug denn auch während der ersten fünf Monate des Feldzuges nicht weniger als 10 Millionen Stück.

Aber nicht nur für Kriegs-, sondern hauptsächlich für die Zwecke des Handelsstandes gewann die Postkarte weitgehende Bedeutung. Das Bedürfniß nach schriftlicher Mittheilung wuchs im selben Verhältniß wie die Leichtigkeit und Billigkeit der Beförderung.

Bald nach Deutschlands politischer Einigung erging auf Anregung von Deutschlands tüchtigstem Postmann, dem weitschauenden General-Postdirektor Stephan, an alle wichtigen Kulturstaaten der Erde der Aufruf, bevollmächtigte Vertreter behufs Gründung eines Weltpostvereins nach der Stadt Bern zu entsenden. Am 15. Sept. 1874 trat der Kongreß zusammen.

Als Grundlage der neu zu bildenden, das Postwesen der ganzen Erde umfassenden Vereinigung ward eine Denkschrift genommen die von Stephan bereits im Jahre 1868 durch das „Postamtsblatt“ des Norddeutschen Bundes veröffentlicht worden war. In scharfer logischer Entwickelung legte die Denkschrift die dem Fortschritt des Völkerverkehrs entsprechende Notwendigkeit eines alle Völker der Erde umfassenden Postvereins klar und entrollte zugleich die oben angedeuteten Grundsätze, aus denen dieser Verein aufgebaut werden müßte, wenn er Bestand haben und Segen über Länder und Völker bringen sollte. Es bedurfte der angestrengtesten Arbeit von 24 Tagen seitens der Vertreter in Bern, es trat noch manches von dieser oder jener Regierung ausgehende Hinderniß dazwischen, manche wichtige Frage, z. B. das Seeporto, mußte eingehend erörtert werden, ehe endlich am 9. Oktober der „Allgemeine Postvereinsvertrag“ von den Kongreßmitgliedern unterzeichnet werden konnte.

Der Weltpostverein war geboren. Seinen Segen konnte die briefschreibende Menschheit sofort verspüren, denn die 55 verschiedenen Portosätze, welche bis dahin in den dem Verein angehörenden Staaten bestanden hatten, waren zu einem einzigen Satz verschmolzen, statt daß man für einen Brief nach einem überseeischen Lande früher mehrere Thaler bezahlen mußte, konnte man jetzt für 20 Pfennig, später per Karte sogar für 10 Pfennig Japan, das Kap Horn und die ferne Inselgrnppe der Aleuten erreichen.

So groß und bewundernswerth, so mächtig und segensreich aber auch der gewaltige Bau gleich von seiner Begründung an war und wirkte, so überraschend entwickelte sich bald gleich einem lebenden Organismus unter der kundigen Pflege und Leitung seines Gründers das Werk, mit dem der Name Stephans für immer verbunden bleiben wird.

Werfen wir daher zum Schluß noch einen kurzen Blick auf die rasche Entwicklung und hochbedeutsame Ausgestaltung des Vereins.

Wie beiläufig bereits erwähnt, wurde sehr bald schon die Postkarte als billigstes und beliebtes Verkehrsmittel aufgenommen, die Postkarte, die in ihrer Erweiterung als „Karte mit Antwort“ zum Austausch kurzer Mittheilungen nach entfernten Ländern unübertrefflich ist.

Eine im inländischen Verkehre noch nicht eingeführte und dem Weltpostvereinsverkehr eigentümliche schätzenswerte Besonderheit bildet der Begriff der „Geschäftspapiere“. Als solche werden angesehen alle geschriebenen oder gezeichneten Schriftstücke oder Urkunden, die nicht als eigentliche und persönliche Korrespondenz betrachtet werden können, die aber gleichwohl im Inlandsverkehre das volle Briefporto bezahlen müssen, während sie im Weltpostvereinsverkehr gegen die Drucksachentaxe (je 50 g für 5 Pfennig) befördert werden

In immer weiterem Umfange ist es dann gelungen, den als mustergültig anerkannten Einrichtungen des deutschen Postwesens vertragsmäßig Aufnahme in die Vereinssatzungen zu verschaffen. Die Erweiterungen und Verbesserungen, welche in den 15 Jahren seit der Gründung des Weltpostvereins allmählich eingeführt wurden, betreffen hauptsächlich den internationalen Packetverkehr. Mit den früheren Zuständen verglichen, erfolgt die Beförderung von Postpacketen jetzt zu einem fast lächerlich billigen Portosatze (z. B. 5 Kilo-Packete nach Belgien, Dänemark, den Niederlanden, der Schweiz und 3 Kilo-Packete nach Frankreich zu 80 Pfennig, Packete bis 5 Kilo nach Norwegen l Mark, bis 3 Kilo nach England, Schweden, Italien, Spanien, Rumänien 1,40 Mark bis 1,60 Mark).

Eine nicht unwesentliche Vervollkommnung hat der internationale Packetverkehr ferner gewonnen durch die Einführung der Werthangabe, der Eilbestellung, des Verlangens von Nachnahmeerhebung und von Rückscheinen (das heißt Zustellung eines eigenhändigen Empfangsanerkenntnisses des Adressaten an den Absender). Mit mehreren benachbarten Staaten ist ferner ein Abkommen dahin getroffen, daß der deutsche Absender den Zoll, welchen seine Sendung beim Eintritt in das fremde Land zu tragen hat, selbst am Orte der Absendung entrichten und dann die Auslieferung seines Packets an den Adressaten "franko Zoll“ verlangen kann, etc.

Doch nicht genug hiermit, die Ausdauer und das Genie unseres Stephan hat es auch zuwege gebracht, die Mehrzahl der wichtigsten Vereinsstaaten zu Sonderverträgen über den Austausch von Briefen mit Werthangabe, von Postanweisungen und von Postaufträgen zur Einziehung von Geldbeträgen zu veranlassen.

In welch hervorragendem Maße dadurch die Volkswohlfahrt im großen gewinnt, das zeigen uns einerseits die alljährlich erscheinenden statistischen Uebersichten des Reichspostamts und andererseits die Berichte unserer Handelskammern. Wie aber auch bis in die untersten Schichten des Volkes hinein die Weltpost segensreich wirkt, dafür statt vieler nur ein Beispiel.

Ein verheirateter Zimmergesell ist vor mehreren Jahren allein nach den Vereinigten Staaten ausgewandert. Nach einem halben Jahre theilt er seiner Frau mit, es gehe ihm gut und sie möge nachkommen. Das Reisegeld habe er bei einem Bankier eingezahlt, den dafür erhaltenen, mit eingeschlossenen Wechsel möge sie versilbern. Der Wechsel wird nach Bremen gesandt, kommt aber kurz nachher zurück mit der Auskunft, der Bankier habe inzwischen fallirt und der Wechsel sei daher werthlos.

Der hiervon verständigte Ehemann that nunmehr, was er sicher gleich anfangs gethan hätte, wäre ihm das Verfahren nur bekannt gewesen: er zahlte das Reisegeld auf Postanweisung ein. Das Geld kam sicher an und die Frau fuhr mit dem nächsten Schiffe ab.

Will man sich ein Bild machen von der Weltpost, wie sie heute besteht, so muß man sich zunächst über die ungeheure Ausdehnung ihres Gebietes klar werden. Das verhältnißmäßig kleine Europa mit seinen 330 Millionen Einwohnern ergiebt den Kern, dem sich die anderen Erdtheile anschließen. Nur ein geringer Theil des innersten Asiens, Tibet und die Mongolei, sowie die australische Kolonien und das Kapland stehen noch außerhalb desselben. Werden diese Gebiete abgerechnet, so umfaßt der Weltpostverein buchstäblich den ganzen Erdball, genauer ein Gebiet von 85 Millionen qkm mit 915 Millionen Einwohnern.

Welch ungeheure Massen von Sendungen die Weltpost zu bewältigen hat, das kann man sich kaum vorstellen. Nach den statistischen Feststellungen des „Internationalen Bureaus des Weltpostvereins“ zu Bern betrug im Jahre 1887 die Zahl der beförderten Briefe 6810 Millionen, der Postkarten 1450 Millionen, der Zeitungen, Drucksachen und Geschäftspapiere 5490 Millionen, der Waarenproben 80 Millionen; Postanweisungen, Postaufträge und Nachnahme wurden 220 Millionen erledigt mit einem Gesammtbetrag von beinahe 12 Milliarden Franken, Packete ohne und mit Wertangabe waren es 240 Millionen mit einem Gesammtwerth von 13½ Milliarden Franken; das sind zusammen 14 290 Millionen Sendungen.

So stellt sich die Weltpost als ein ungeheurer, wohlgeordneter, mit größter Genauigkeit arbeitender Mechanismus dar, dessen Bedeutung für die Kultur der Erde noch gar nicht zu überschauen ist. Vollkommen ist ja auch der Weltpostverein noch keineswegs; ein Mangel der Vertragsbestimmungen besteht z. B. darin, daß kein Staat verpflichtet ist, für eine in Verlust gerathene Einschreibsendung Ersatz zu leisten. Die Mehrzahl der Staaten thut dies gleichwohl, ganz Amerika - abgesehen von einigen kleinen mittelamerikanischen Republiken - jedoch nicht, was namentlich für die Geschäftswelt schon öfters schwere Unzuträglichkeiten zur Folge gehabt hat. Aber unausgesetzt wird an der Vervollkommnung gearbeitet, jedes Jahr, nein, jeder Monat bringt neue Fortschritte, die der gesammten Menschheit zugute kommen.

Die Weltpost macht Schillers schönes Wort zur Wahrheit:

„Seid umschlungen, Millionen.“
[421]

Photogravure von Goupil u. Comp. (Boussod, Valadon u. Comp.) Berlin und Paris.

Im Felde.

Wenn fern das Frühgeläut verklang,
Stirbt auch das Lerchenlied im Blauen,
Ein Schweigen, süß und märchenbang,
Sinkt auf die blumenbunten Auen.

5
Dann kommst du, weicher Sommerwind,

Leis durch das Halmenmeer gegangen
Und streichst dem braunen Hirtenkind
Liebkosend über Stirn und Wangen.

Von duft’gem Wogenschlag umrauscht,

10
Sitzt es im thaubeperlten Riede,

Fügt Mohn und Klee zum Strauß und lauscht
Verzaubert deinem Sommerliede.

Frida Schanz
[422]

Ein deutscher Liebesgott.

Erzählung von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Sif war wie betäubt, als sie so plötzlich allein dastand. Noch sah sie, wie Ellen, an dem Purzelmann vorüberschreitend, zu demselben aufschaute mit einem Lachen, welches die blendenden Reihen ihrer Perlenzähnchen blitzen ließ. Dann flatterte die breite maisfarbige Moireeschärpe davon.

Sie wandte sich wie zu einem Leidensgefährten zum Purzelmann. Sie hätte ihn am liebsten wieder mitgenommen. Armes Kerlchen! Wie wird es Dir ergehen! Die Thränen, die ihr in die Augen traten, schrieb sie dem Mitleiden mit dem Götzen zu. Er aber grinste vergnügt auf sie herab. Dann ging sie.

Ehe die Thür hinter ihr zufiel, sah sie aus der Tiefe des Museums den Direktor heraneilen, die Augen verstört nach ihr gerichtet. Aber sie drückte die eisenbeschlagene Pforte fest zu und schritt dann rasch die Stufen hinab, die vor ihr schon so oft Menschenfüße begangen hatten, die auch hinter sich gelassen hatten, was des Lebens Glück genannt wird.

Als sie ihren Stubenschlüssel im Hotel verlangte, fragte der Kellner mit einem aufmerksamen Blick in ihr blasses Gesicht, ob sie auf ihrem Zimmer zu soupiren wünsche. Sie nickte und bestellte Thee. Dann stieg sie in ihr viertes Stockwerk hinauf, müde, als sei sie plötzlich um ein Jahrzehnt gealtert. Aus dem Fenster sah sie, wie der Wagen der jungen Dame von dem Kutscher langsam im regelrechten Bogen über den Platz geführt wurde. Jetzt winkte ein Diener in der Museumspforte. Der Landauer fuhr vor. Fräulein Arion erschien mit ihrem Gefolge, der Direktor an ihrer Seite.

Sif flüchtete schnell in den Hintergrund des Zimmers. Sein erster Blick war über die Front des Hotels geflogen. Er hob Ellen in den Wagen, trat mit einer Verbeugung zurück. Der Landauer rollte davon. Abermals spähte sein Blick herüber, ehe er langsam die Stufen wieder hinauf stieg. Noch einmal sah er sich um, dann verschwand er in der Thür.

Der Kellner hatte unterdessen den Theetisch hergerichtet. „Lassen Sie alles hier stehen!“ befahl Sif. „Ich wünsche, nicht wieder gestört zu werden. Punkt vier Uhr wollen Sie wecken, Rechnung und Frühstück und einen Platz im Hotelwagen bereit halten. Mit dem Fünfuhrzug reise ich ab.“

„Sehr wohl!“ Er verschwand, und Sif verschloß hinter ihm die Thür. Sie wollte auch für keine Botschaft mehr erreichbar sein. Nein, sie wollte nichts mehr von ihm wissen!

Und gleich darauf saß sie hinter dem Vorhang, um hinüberzuspähen nach der Thür, hinter welcher er weilte.

Jetzt endlich verließ er das Museum. Er stand auf dem Platz und schaute herüber, that einige Schritte, wie unschlüssig, wandte sich wieder, während er seine Handschuhe zuknöpfte, und ging endlich stracks auf das Hotel zu. Sie meinte vor Herzklopfen ersticken zu müssen. Im nächsten Augenblick erwartete sie das Pochen des Kellners zu vernehmen. Aber es blieb still. Hatte der dienstbare Geist gemeldet, daß sie nicht mehr zu sprechen war?

Sie lugte, gedeckt von der Gardine, hinab. Es dämmerte schon stark; aber sie hätte den Fortgehenden ganz gut erkennen können. Er ging nicht. Ach, er aß vielleicht zu Abend unten im Speisesaal, glaubte, sie würde auch ihr Abendbrot dort verzehren, und er wollte ganz kollegialisch mit ihr soupiren.

Würde er eine solche Voraussetzung auch Fräulein Arion gegenüber sich gestatten? Nein, o nein! Eine heiße Röthe schoß in ihr Gesicht. Und was hatte sie gethan, um so ohne Achtung behandelt zu werden? Sie war, der eigenen Würde trauend, allein hierher gefahren, hatte einen Wunsch und Auftrag ihres kranken Vaters erfüllt.

Mit hastigen Schritten ging sie in dem engen Zimmerchen hin und her. Die Zurücksetzung, die sie erfahren hatte, brannte bis in ihr Herz hinein. Vergeblich zeigte ihr die Erinnerung sein Bild, wie er sichtbar geängstigt ihr nacheilte.

Nein, sie wollte ihn nicht wieder sehen! Und dabei lugte sie doch hinab auf die Straße, wo die Gaslaternen Tageshelle verbreiteten, daß man die kommenden und gehenden Gäste deutlich erkennen konnte. Die Hünengestalt wurde nicht sichtbar.

Endlich verstummte der Tageslärm. Die Lichter, die in den langen Häuserreihen nach und nach aufgeleuchtet waren, verlöschten ebenso allmählich wieder. Die letzten Gäste gingen nach Haus. Sie hörte das Zuschlagen der großen Hotelthür. Unter dem Gewimmel von dunklen Gestalten mochte er sich mit verloren haben, wie die Menschen sich eben im Leben aus den Augen kommen.

Durch das klaffende Fenster wehte schon frische Morgenluft, und jenseit der steilen Dächer, über die sie hinweg sehen konnte, graute am Himmel der erste matte Tagesschimmer. In ein paar Stunden ging es heim.

Heim! Sie athmete tief auf bei dem Gedanken.

Und sie wollte nicht wieder fort von Tannenroda. Ihr Vater hatte doch recht. Dort droben in der Einsamkeit gewöhnte man sich leichter an den Gedanken, allein durch das Leben zu gehen. All das schöne Geräth, das sie hier entzückt hatte, es war geschaffen, um glückliche Familienkreise mit Behagen zu umgeben. Sie besaß keinen Theil daran. Das gegenseitige Sichverstehen, die Uebereinstimmung mit einem andern Menschen, die sie hier zum erstenmal gefunden zu haben glaubte, sie führten nur zum Heil bei gleicher Lebensstellung. Der berühmte Direktor und die reiche junge Dame fanden von selbst sofort das richtige Verhalten gegen einander, während sie wie das Mädchen in dem Märchen von der Frau Holle alle vorkommende Arbeit that und dann gleich Aschenbrödel im Winkel sitzen gelassen wurde.

Sie stellte die Tellerchen, von denen sie ab und zu einen Bissen genommen hatte, auf dem Theebrett zusammen. Dann machte sie Toilette zur Nacht, aber es ging langsam damit von statten. Denn während sie die langen Zöpfe flocht, mußte sie an den Flachs denken, den sie unter seinen Augen gesponnen hatte. Der herbe Dnft des letzten Wachholderzweigleins, das sie aus der Kleidertasche schüttelte, versenkte sie in wehmüthige Träumerei; sie meinte den warmen Blick zu fühlen, den er auf sie heftete, während sie das Feuer in dem Götzenbild anzündete.

Sie packte ihre kleine Handtasche wieder und seufzte: „O, hätte ich nie diese Reise unternommen! Da wäre mir die Erinnerung an den geharnischten Reiter geblieben als schönes Traumbild meiner Jugend, und ich hätte in der Einsamkeit meines Lebens doch eine lichte Erinnerung gehabt. Nun ist alles zerstört und verzerrt, daß ich das ganze Ereigniß aus meinem Leben tilgen möchte.“ Voll heißen Schmerzes drückte sie das Schloß zu. –

Zur richtigen Stunde fuhr der Hotelwagen vor. Sif warf noch einen Blick hinüber auf die hohen schmalen Fenster des Museums, dann rollte sie wieder der Eisenbahn zu.

Als sie am Schalter stand und ihr Billet bezahlte, griff plötzlich eine Hand nach der Reisetasche und eine gedämpfte Stimme sprach: „Erlauben Sie mir, wenigstens im letzten Augenblick meine Pflicht gegen den Gast üben zu dürfen.“

Es ging ihr wie ein Schlag durch alle Glieder; aber sie ließ die Tasche nicht los und trat zurück. Obgleich von Purpurröthe übergossen, sprach sie mit fester Stimme: „Ich danke. Sie haben keine Verbindlichkeit gegen mich zu erfüllen. Ich kam ja nur als Bote, dessen Pflicht es ist, das ihm übergebene Packet richtig abzuliefern.“

Er sah sie tief erschrocken an. „Sie haben sich so viel bemüht,“ stotterte er.

Je bestürzter er erschien, je mehr fand Sif ihr Gleichgewicht wieder. „Für meinen Vater,“ sagte sie kühl.

Er verlor gänzlich die Fassung. Das anspruchslose Mädchen entpuppte sich plötzlich als herbe stolze Frau. Er wagte nicht, an das alte deutsche Spinnrad zu erinnern, das sie wieder in Gang gebracht, auch ohne daß es ihr Vater gewünscht hatte, über das sie gemeinsam die Häupter geneigt, an dem sie vereint den unzerreißbaren Kreuzknoten geknüpft hatten.

Er folgte ihr in den Wartesalon.

„Ich versuchte gestern abend noch, Ihnen meine Entschuldigung zu bringen,“ begann er aufs neue; „aber der Kellner sagte mir, daß Sie nicht gestört zu werden wünschten.“ Er wollte lächeln und erzählen, daß der Kellner ihm vorwurfsvoll gesagt habe, wenn die Damen aus dem Museum kämen, wäre Schlaf das einzige Rettungsmittel für sie. Aber auch der Scherz erstarb, das Lächeln verging ihm, so fremd sah sie ihn darüber an, daß es etwas zu entschuldigen geben sollte.

[423] Scharfes Läuten kündigte den Zug an. Sie ging, er folgte ihr und stand mit abgezogenem Hut am Coupé.

Die Insassinnen desselben sahen sie respektvoll an. Wer mochte die Dame sein, der ein so stattlicher Mann so demüthig das Geleit gab?

Kühl grüßte sie zurück. Heute hatte sie in ihrem tief verletzten Stolz ihn hinabgedrückt auf die Stelle, die er ihr gestern überlassen hatte: die des untergeordneten Gefolges.

Einen Augenblick sah er noch das edel geschnittene Profil, den stolz geschürzten Mund. Dann brauste der Zug davon. Todtenblaß sah er ihm nach. Endlich wandte er sich um und ging langsam nach dem Museum. Es war zwar noch eine frühe Stunde; aber die Geschäfte drängten; übermorgen schon begann die Ausstellung.

Die eingesandten Gegenstände häuften sich. Bei der Rubrizirung der Alterthümer waren oft ernstliche wissenschaftliche Prüfungen nöthig und noch öfter Korrespondenzen mit Einsendern, die über den ihren Schätzen angewiesenen Platz haderten. Erwin Steffen zeigte auch jetzt die unermüdliche Arbeitskraft und Pflichttreue, die dem gebildeten deutschen Mittelstand von alters her eigen gewesen ist. Aber seine jungen Gehilfen wunderten sich, daß der sonst selbst im ärgsten Tumult so besonnene ruhige Mann jetzt nervös wurde, wenn es galt, die Echtheit eines Wurmstiches in einem zermürbten Betpult festzustellen oder tausend kleine Thonstücke als zu einer Graburne zusammengehörig zu erkennen. – –

„Herr Direktor,“ tönte gegen Abend die Stimme des Architekten in den Saal X hinein, „Herr Kommerzienrath Arion und Fräulein Tochter sind angekommen und wollen den Platz besichtigen, der ihrem Tafelaufsatz angewiesen worden ist. – Ja, wo ist er denn?“

Ellen schritt in ihrer leichten eleganten Art herein, die zum Abbrechen dünne Taille von einem Westchen aus golddurchwirktem türkischen Stoff umspannt, in der kleinen von mattfarbigem Seidengewebe umschlossenen Hand einen Spitzenschirm haltend, dessen Griff ein Hufeisen bildete, aus Silber zierlich gearbeitet, mit goldenen Nägeln versehen.

„Gnädiges Fräulein, er ist verschwunden,“ rief der Architekt klatschesfroh; „eben stand er noch vor dem Purzelmann.“

Ellen war betroffen. Was fand er nur an dem lächerlichen Fratz, den das Riesenweib aus dem deutschen Urwald gebracht hat? Und warum verschwand er wie von der Erde verschlungen in dem Augenblick, als sie das Museum ihres Besuches würdigte? Das war sonderbar. Sie warf dem Götzen einen ärgerlichen Blick zu.

Der grinste ganz huldvoll dagegen, als wollte er sagen: „Ich nehme es nicht übel; Liebesgötter sind gegen Launen abgehärtet.“

Vor dem kostbaren Pokal redete indessen der kleine Moses auf den Kommerzienrath ein. „Soll mir einer sagen, was ’ne Sach’ ist. Der Direktor müßte dastehen, den Hut in der Hand, schon wegen des Pokals, den wir mit Lebensgefahr hier ausstellen. Statt dessen läßt er Sie allein hier herum stehen.“

„Ach Moses, lassen Sie das,“ wehrte der Kommerzienrath, ein stattlicher Herr mit Diamantknöpfen im Chemisette, ab. „Wer mich mit Steinen wirft, den werfe ich mit Brot.“

„Aber Fräulein Ellen braucht sich ihm nicht zu dem Brot an den Hals zu werfen,“ erwiderte giftig das Faktotum.

„Moses, Sie sind unverschämt!“ rügte der Kommerzienrath in klagendem Tone.

„Ich bin nicht unverschämt,“ widersprach der kleine Moses, und seine klugen Augen blitzten energisch. „Aber der Direktor ist unverschämt, daß er mit dem sauer verdienten Geld des Herrn Kommerzienraths will in der Welt herumfahren und den Griechen helfen, ihre alten Steine ausgraben. Herr Kommerzienrath, dieses Geschäft wird nicht groß geschrieben.“

Der Kommerzienrath wand sich in Verzweiflung. „Aber Ellen will es einmal, und ich kann ihr nichts abschlagen!“ seufzte der weichherzige Mann.

„Warum will es Fräulein Ellen?“ fuhr Moses fort. „Weil hier der Direktor des Museums ein großes Thier ist, und weil die Ausstellung ihn hinstellt gleich einem Generalfeldmarschall. Wenn der Schwindel vorbei ist, kräht kein Hahn mehr nach ihm.“

Ellen schritt herein. „Ich möchte nach Hause fahren. Meine Migräne.“ Voll zärtlicher Sorgfalt geleitete sie der Vater hinweg, und Moses nahm, hebräische Worte in den Bart murmelnd, die wie eine Verwünschung klangen, wieder Platz auf seinem Wachtposten.


Endlich war die Eröffnung der Ausstellung erfolgt. Regierungskommissar und Direktor hatten hochinteressante Reden gehalten, und von morgens bis abends strömten die Besucher durch das hohe Portal ein und aus.

In einer Mittagsstunde, als eben der Zug von dem benachbarten Bade her die Stadt passirt hatte, schritt ein junger eleganter Herr mit einem mächtigen blonden Schnurrbart in die gewölbte feuerfeste Halle herein, wo die Arbeiten aus Edelmetallen ausgestellt waren. Sein Blick wurde natürlich von dem Pokal zuerst angezogen. Er trat heran und ein Ausdruck von Ueberraschung flog über seine Züge, da er ihn näher besichtigte. Er sah in dem Katalog nach, schüttelte den Kopf und schaute sich um, als suche er jemand, der Aufschluß geben könnte.

Moses, der jeden Ankömmling scharf beobachtete, kam herbei. „Wünschen Sie etwas?“ fragte er zuvorkommend.

Der Herr tippte auf eines der Wappen. „Können Sie mir sagen, woher der Pokal stammt? Das Einhorn führe auch ich. Sehen Sie?“ Und er zog seine Uhr hervor, die dasselbe Wappen trug.

Moses verbeugte sich tief. Er hatte mit raschem Blick die Grafenkrone entdeckt, die darüber gravirt war. „Der Pokal,“ berichtete er, „wurde vom Herrn Kommerzienrath Arion für fünfhunderttausend Mark gekauft von einer adeligen Familie.“ Er zuckte die Achseln. „Sie hatte vielleicht Unglück gehabt,“ setzte er zartsinnig hinzu.

Der junge Herr lachte. „Wenn sich eine Familie solche Becher anschafft und dann auch vielleicht noch recht oft austrinkt, kann es leicht kommen, daß Wein, Pokal und Familie zum Teufel gehen. Aber fünfhunderttausend Mark? Der Herr Kommerzienrath muß ein reicher Mann sein.“

Moses nickte und zwinkerte bejahend. „Eine Laune seiner einzigen Tochter mit solchem Sümmchen zu befriedigen, ist ihm eine Kleinigkeit. Fräulein Ellen Arion ist eine Dame von feinem Geschmack. Sie war eben noch hier und besichtigt nun die anderen Säle.“

Der Blick des jungen Herrn ging über den kleinen Moses hinweg in die von Fremden belebten Räume. Er grüßte freundlich und doch auf eine Weise, welche den Abstand zwischen dem Grafen und dem kleinen Moses entschieden festhielt, und ging raschen Schrittes in die Säle hinein.

Wie allmorgendlich so auch heute hatte des Direktors erster Weg dem kleinen Götzenbild gegolten. Der Mensch, der etwas Theueres verloren hat, weiht gern seinen Tag damit ein, daß er ein Andenken an das Geschiedene in die Hand nimmt, einen Blick hinüber wirft auf den Lieblingsplatz oder die letzte Ruhestätte desselben.

Und ebenso unabänderlich richtete Ellen ihren Weg dahin, aber nicht in wehmüthigem Schmerz, sondern in immer prickelnderer Empfindlichkeit und Empörung. Während sie in ihrem eleganten Landauer nach dem Museum fuhr, stieg schon heiß die Frage in ihrem Herzen auf: wird er heute wieder vor der geschmacklosen Figur stehen?

Sie ließ ihre Gesellschafterin bei einem Evangelienbuch aus dem elften Jahrhundert zurück und wandte sich dem Saal mit den Denkmalen aus der vorchristlichen Zeit zu.

Ja! Sie erkannte die Hünengestalt schon von weitem. Er stand abermals da. Die winzigen Fußspitzchen stachen förmlich in die alte graue Halle hinein und das Lachen klang scharf, mit dem sie fragte: „Können Sie sich noch immer nicht von dem schwarzen Amor trennen?“

Erwin Steffen fuhr erschrocken herum. „Gnädiges Fräulein –“

Im selben Augenblick klappte von der anderen Seite elastischer Männerschritt über die Steinfliesen heran und eine frische lachende Stimme sprach: „Wahrhaftig, da droben steht das kleine Scheusal!“

Beide wandten sich betroffen nach dem Sprechenden um.

„Herr Doktor Steffen!“ rief dieser nach einem Blick in des Direktors etwas verwirrtes Gesicht. „Ist’s möglich? Mein Lieutenant vom letzten Manöver. Der Name auf dem Katalog kam mir gleich bekannt vor. Aber wie viele Steffen giebt es nicht, und wie viele Lieutenants hat man gehabt!“ Er schüttelte ihm die Hand.

„Herr Rittmeister!“ rief Steffen, sichtlich erfreut. „Was führt Sie hierher? Sie waren doch kein Freund von Alterthümern?“

Der andere lachte. „Der dort führt mich her.“ Und er deutete auf den Purzelmann. „Aber nun – bitte –“ kam er einer neuen Frage, die dem Direktor auf der Zunge zu schweben [424] schien, zuvor, „wollen Sie mich der Dame vorstellen, die Sie ja, wie es scheint, kennen.“

„Herr Rittmeister, Graf Rossel von Rosselsprung-Steinklipp – Fräulein Arion,“ kam Steffen der Aufforderung nach.

So unbefangen die Miene war, mit welcher der Rittmeister sich verbeugte, – es traf das junge Mädchen doch ein prüfender Blick. Ja, diese pikante Schönheit war ganz chic. Ihre feine, kaum mittelgroße Gestalt erschien sehr graziös in dem schwarzen Promenadenanzug, welcher an den Aermeln und zwischen den lose flatternden langen Rockbahnen ein feuerrothes Unterkleid zeigte. Das energisch geschnittene schmale Gesicht schaute unter einem Hütchen hervor, auf welchem ein Strauß rother Federn keck emporstieg.

„Ich habe soeben das Prachtstück der Ausstellung bewundert, das mit Ihnen, meine Gnädigste, eingezogen ist,“ sprach er, und es klang eine leise Schmeichelei in dem Ton.

Sie antwortete mit dem nachlässig gesprochenen Alltagswort: „Es freut mich, daß der Pokal Ihren Beifall findet.“ Dann wandte sie sich lebhaft zum Direktor und fuhr fort: „Ich werde Ihnen ewig dankbar dafür bleiben, daß Sie uns auf dieses Kunstwerk aufmerksam gemacht und den Ankauf vermittelt haben. Ich kann mich nicht satt daran sehen.“

Der Direktor verbeugte sich stumm. Statt seiner antwortete Graf Rossel: „Damen haben immer eine Schwäche für Gold, Diamanten und Rubinen.“

Sie hob hochmüthig das feine Kinn. Ihre Augen streiften ihn mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen: eine echte Offiziersidee. Dann richtete sie wieder ihre Rede an den Direktor. „Wenn ich bei diesem Pokal an etwas Goldenes denke, so ist es das Gesetz des goldenen Schnittes, welches der Jamnitzer mit echt künstlerischer Strenge eingehalten hat. Wie der Deckel, der Pokal, der Fuß zu einander in einem wohl abgewogenen Verhältniß stehen, das ist immer wieder eine Freude zu schauen.“

Sie wartete vergeblich auf Antwort. Der Direktor schien ihre ästhetische Aeußerung nicht gehört zu haben. Er wendete sich an den Rittmeister und fragte: „Wie sind Sie zu der Bekanntschaft mit dem kleinen Erzbild, Purzelmann genannt, gekommen?“

Der Rittmeister sah seinen ehemaligen, so querfeldein redenden Lieutenant scharf an und erwiderte dann lächelnd: „Durch eine schöne blonde Dame.“

„Wie denn das?“ fragte Steffen sichtlich gespannt.

Die Augen des Grafen Rossel blitzten ihn muthwillig an. „Sind Sie eifersüchtig, bester Herr Doktor?“

Eine glühende Röthe schoß in Steffens Gesicht. Zugleich knisterte die schwere schwarze Seide von Ellens Robe, nur leise zwar, aber dem feinen Ohr des Weltmannes ganz vernehmbar.

Er strich sich lächelnd den mächtigen blonden Schnauzbart, wie er zu thun pflegte, wenn er bei Rekognoszirungen mit den scharfen Augen die Positionen überblickte und Gedanken in ihm tagten, wie dieselben etwa genommen werden könnten.

Ohne weiter der raschelnden Seide und der rothen Stirn des Direktors Beachtung zu schenken, sagte er mit seiner kräftigen Stimme, die schallend das Gewölbe füllte und alle beengende Schwüle zu zerstreuen schien: „Die Sache ist nicht der Rede werth. Ich geleitete die junge Dame, die unvorsichtigerweise ohne Kammerjungfer reiste, aus einem Coupé in das andere, da ungezogene Jungen sie um dieses kleinen schwarzen Burschen willen behelligten. Finden Sie auch bei ihm das wohlabwägende Gesetz des goldenen Schnittes beobachtet, mein gnädigstes Fräulein?“ wandte er sich wieder Ellen zu.

Es schien ihm, als habe sich das Gesichtchen unter dem wallenden Federbusch verfinstert. Und jetzt brach es mit unmuthigem Lachen erregt über die schmalen rothen Lippen: „O, der ist abstoßend, kalt, hart! Wie alles, was uns vom Norden kommt.“

„Alles?“ fragte er übermüthig lachend und wandte ihr mit einer leichten Bewegung das Gesicht zu.

Seine herrlich geschnittenen Züge, die feurigen Augen, der liebenswürdige Ausdruck des Mundes schlugen ihr Urtheil in die Flucht. Und so ruhig sie auch dastand in der Haltung der vornehmen Dame, ihr Blick konnte nicht ganz die leise Befangenheit verbergen, die sie in diesem Augenblick empfand.

Graf Rossel war ein ritterlicher Mann; er half ihr über die kleine Klippe hinweg, indem er fröhlich schwadronnirte: „Das ist eine riesige Beleidigung. Herr Doktor, die dürfen wir uns nicht bieten lassen! Ja, wohin ist er? Eben stand er doch noch da?“

Wie oft hatte Ellen diese Worte in den letzten Tagen hören müssen, wenn sie das Museum besuchte. Aber Graf Rossel ließ ihr keine Zeit, sich abermals über dieselben zu ärgern. Rasch und unbefangen fuhr er fort: „Ein netter Mann, dieser Doktor Steffen, nobler Kerl! War auch im Rrrrement gern gesehen. Niemand merkte ihm an, daß er nur Reserveoffizier war. Wahrhaftig nicht! – Und in seinem Fach eine Autorität! Von jedem alten Knopf ist er imstande, die Lebensgeschichte zu erzählen.“

Er lachte laut, und auch sie mußte lächeln. Ihre schlimme Laune verflog unter seiner Rede, sie wußte selbst nicht, warum. Es war ihr, als wichen während derselben die beiden Menschen, durch die sie sich so schwer gekränkt und gedemüthigt fühlte, aus ihrer Sphäre; als höbe eine starke Hand sie über die Zurücksetzungen, die sie in der letzten Zeit erfahren hatte, hinweg und stellte sie auf einen schönen erhabenen Platz, wo dieselben sie nicht mehr erreichen konnten.

„O,“ antwortete sie einlenkend und schmeichelnd, „Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Ich meine, der Preuße ist so in der Disziplin und Subordination aufgegangen, daß er auch seiner Phantasie eine stramme Dressur geben will. Was er schafft, kommt ihm nicht unmittelbar aus dem Herzen; er grübelt’s im Kopf aus und darum spricht es auch wieder nur zu unserem Verstand, während das Herz kalt bleibt. Bei den Werken unserer Künstler dagegen meine ich immer, sie haben eine Thräne, einen warmen Händedruck, ein herzfrohes Lachen, einen Jauchzer hinein geschmolzen. Und das ist’s, was freut und rührt.“

„Und Sie glauben, der norddeutsche Liebesgott wisse nichts von allen diesen schönen Dingen?“ fragte er, förmlich sprühend vor Uebermuth. „Sie halten ihn für einen so langweiligen Patron? Von diesem Irrthum müssen Sie bekehrt werden, es koste, was es wolle.“

„Ich bin gespannt, zu erfahren, wie Sie das auszuführen gedenken,“ antwortete sie scherzhaft herausfordernd.

„Ah, der ‚Preuße‘ ist ja gewöhnt, zu“ – er hielt einen Augenblick inne – „zu vertheidigen,“ vollendete er dann.

Da schaute sie ihn mit einem koketten Augenaufschlag an und sagte lächelnd: „Wenn er nicht gerade attackirt.“

Und wie er den Schelmenblick auffing und erwiderte, da bildete sich eine unsichtbare Brücke, auf welcher plötzlich die Gedanken beider sich zusammenfanden; und sie vergaßen, daß sie eine andere und einen andern hier im ehrwürdigen Museum gesucht hatten.

„Die Attacke der Schönheit gegenüber ist verzeihlich,“ erwiderte er mit tiefer Verbeugung.

„Sie ist nur dann entschuldigt, wenn sie glückt,“ antwortete sie, mit ihrem Fächer spielend. „Das Erobern ist gar nicht leicht.“

„Am schwersten ist das Festhalten,“ sagte er und sah ihr in die Augen.

Ihr Gesichtchen färbte sich mit zartem Rosa unter seinem Blick „O, das versteht der Preuße am besten,“ erwiderte sie leise.

Vereint verließen sie heiter plaudernd den kleinen Götzen, der dem jungen Paar auf den Höhen des Lebens mit demselben lustigen Grinsen nachschaute wie der barfüßigen Magd und ihrem Schwämme suchenden Schatz. Er ist einmal ein unverbesserlicher Demokrat.

Sie schweiften zusammen durch die Säle. Und es war sonderbar. Während Ellen neben dem jungen Grafen herschritt, dachte sie gar nicht daran, sich mit dem schwierigen Verständniß eines byzantinischen dürren Heiligenbildes zu mühen. Mit herablassender Miene hörte sie den jungen Architekten an, der ihr von einem Bauplan des Direktors sprach, verhieß dann gütevoll einen Beitrag ihres Papas und befahl, daß an verschiedenen verkäuflichen Kostbarkeiten ihr Name als derjenige der nunmehrigen Eigenthümerin vermerkt werde.

„Es ist eine hübsche Stellung für eine Dame,“ lobte sie Graf Rossel, „als Mäcenin Künste und Wissenschaften zu fördern. So nützen die verschiedenen Stände auch einander. Die Künstler etcetera finden die Unterstützung, welche sie brauchen, die liebenswürdige Gönnerin den künstlerischen Schmuck des Lebens, der ihrem feinen Geschmack unentbehrlich ist.“

Sichtbar von seinen Worten geschmeichelt, flatterte Ellen an allen Merkwürdigkeiten und Kunstwerken vorüber wie einer der zierlichen schwarz und rothen Schmetterlinge, die auch nur an den Blumenkelchen nippen und die schwere Honigtracht den fleißigen Bienen überlassen.

(Schluß folgt.)

[425]

Die Snussi und die Derwische.

Ein Streifblick auf die Zustände in Nordostafrika.

Es scheint, daß sich die Religionen mit Vorliebe an bestimmte Oertlichkeiten binden. Wir wissen, daß schon lange vor Mohammeds Erscheinen ein Hauptkult der heidnischen Araber in Mekka seine Stätte hatte. Der Tobba Abu Carib führte 206 vor Christi Geburt dort die jüdische Religion ein, während 343 nach Christi Geburt dort Theophil, abgeschickt vom Kaiser Konstantin, die christliche Lehre predigte, bis im Jahre 630 Mohammed endgültig Mekka der neuen von ihm gelehrten Religion gewann.

Denselben Wandel sehen wir sich knüpfen an Djarabub, die Hauptstadt der Snussi. Denn Djarabub ist nichts anderes als das wieder belebte Ammonium, dessen Gründung bis ins graueste Alterthum zurückreicht. Die ältesten Nachrichten über diesen so berühmten Orakelort finden wir bei Herodot. Diodor und Curtius Rufus, beide zu Anfang der christlichen Zeitrechnung lebend, geben uns eine ausführliche Beschreibung von dem damaligst Zustande der Oertlichkeiten, und in der neuesten Zeit finden wir in O. Parthens trefflicher Abhandlung über die Jupiter Ammons-Oase alles erschöpfend niedergelegt, was Ursprung, Bedeutung, Geschichte des Orakels und des ehemals und jetzt dort lebenden Volkes anbetrifft. Wir erfahren, daß Krösus von Lydien sich dort Raths erholte, daß Cambyses das Königreich der Ammonier mit Krieg überziehen wollte, sein Heer aber in der libyschen Wüste elend zu Grunde ging. Nach den Aussagen der Alten wurde es von einem Samum mit Sand überschüttet, während wir auf unserer Expedition in die libysche Wüste, auf der wir die bleichenden Knochen jener Soldaten des Cambyses gesehen haben, die Ueberzeugung gewannen, daß sie an Verdurstung zu Grunde gegangen sein müssen. Wir wissen auch, daß Alexander der Große nach dem Ammonium pilgerte und sich hier „Sohn des Zeus“ anreden ließ, daß Cato der Jüngere das Orakelheiligthum besuchte, bis dann das Christenthum seinen siegreichen Einzug hielt.

Der heidnische Tempel des Jupiter wurde nun in einen christlichen der Maria umgewandelt, wie denn die Oase nach den mittelalterlichen arabischen Schriftstellern, wie Edrisi, Abu'l Feda, Ebn el Wardi und Sakuti, die Benennung Santariat (Santa Maria) beibehielt noch lange, nachdem sie im 7. Jahrhundert die Religion Mohammeds angenommen hatte. Wenn aber Ritter meint, daß der heutige Name Siuay erst durch Wansleb im Jahre 1664 bekannt geworden sei, so können wir dagegen feststellen, daß er schon um die Wende des 14. Jahrhunderts bei Makrisi erwähnt wird.

Siuay, oder vielmehr die Stadt Djarabub ist heute wieder wie im Alterthum ein berühmter Wallfahrtsort und zugleich ein Orakelort. „Wer nach Djarabub pilgert,“ sagte der verstorbene Gründer des Ordens der Snussi, „kann die Pilgerreise nach Mekka entbehren.“

Und wie wir eingangs hervorgehoben haben, ist nun seit mehr als 3- bis 4000 Jahren das Ammonium ein berühmtes Heiligthum. Der Orden der Snussi ist gegenwärtig eine nicht zu unterschätzende Macht, er erstreckt sich, trotzdem er erst kurze Zeit existirt, über drei Erdtheile. Er hat Gelehrte, Soldaten, Feldherren, eine Unzahl von Sauyas[2], und wenn man die Zahl der ihm unmittelbar Anhängenden auf etwa 150000 veranschlagen darf, so kann man dreist alle die, welche für den Orden arbeiten, auf 2500000 bis 3000000 Seelen schätzen.

Der Stifter des Ordens war Si[3] Mohammed ben Ali el Snussi, geboren 1813 in der Tribe der Medjaher in der Umgegend von Mostaganem, Provinz Oran. Er widmete sich in der Jugend der Jurisprudenz, die wie alles bei den Mohammedanern sich innig an die Lehren des Korans anschließt. In seiner Jugend ereignete sich die Okkupation Algeriens durch die Franzosen. Und wenn er vorher schon durch die türkische Herrschaft in seinen religiösen Gefühlen gekränkt war, so steigerte sich durch die Besetzung Algeriens seitens der Christen sein religiöser Haß zu einem rasenden Fanatismus.

„Türken und Christen,“ pflegte er zu sagen, „sind vom selben Stamme, ich werde sie mit einem Schlage vernichten.“[4] Si Snussi, wie wir den Stifter jetzt schlechtweg nennen wollen, war schon zur Zeit der Türkenherrschaft in Algerien nach Marokko verbannt worden. Hier schloß er sich dem Orden Muley Thaîbs an, dem mächtigsten, den der Nordwesten von Afrika aufzuweisen hat und dem auch zahlreiche Triben in Algerien angehören. Denn es ist zu beachten, daß überhaupt in der mohammedanischen Welt jeder Erwachsene in irgend einen Orden eintritt. Es giebt fast kein Individuum in der islamitischen Welt, das nicht irgend einem Orden angehörte. Dabei ist natürlich nicht nöthig, daß die Mitglieder in einem Kloster leben, daß sie Coelibatäre sind. Im Gegentheil, je frömmer ein Mann ist, desto mehr Frauen hat er zumeist. Denn mit Frömmigkeit ist in der Regel bei dem Mohammedaner Reichthum verknüpft und dies gestattet ihm, die vier vorschriftsmäßigen Frauen zu


Das Denkmal des Herzogs Christoph von Württemberg auf dem Schloßplatze in Stuttgart.
Modellirt von Paul Müller.

[426] nehmen und noch eine Menge „Chadem“, das heißt Dienerinnen, zu halten.

Mit der französischen Herrschaft wurde die Verbannung Si Snussis aufgehoben. Er kehrte nun nach Algerien zurück, durchstreifte als Professor der Rechte und der Gottesgelehrtheit ganz Algerien und rückte so langsam vorwärts, bis er Mekka erreichte, wo zu der Zeit der Schich Ahmed ben Edris die philosophische Schule des weisen Chadeliya vertrat. Die Schule, deren Lehre innig verwandt mit derjenigen der Derkawa und Wayabiten ist, vertritt den schroffsten Gegensatz zu allem Christlichen.

In Mekka wurde Si Snussi zuerst Anhänger Ahmed ben Edris und dann bei dessen Tode der ausgesprochene Nachfolger desselben. Im Anfange durchstreifte er Yemen, suchte Schüler zu erwerben, kehrte aber bald, nachdem er das Unnütze dieses Versuches eingesehen hatte, nach Mekka zurück, um unter den dort befindlichen Berbern Propaganda zu machen und ihnen die tariqa mohammediya (den Weg des Mohammed) anzuzeigen. So nannte er seine Religion, eine Art von reformirtem Chadelismus, die er seiner Aussage nach aus dem Koran, aus den Werken der Commentatoren und aus seinen eigenen Gedanken hervorgezogen hatte, um sie seinen Schülern als den wahrhaftigsten und reinsten Islam hinzustellen, befreit von allem Nebenwerk, welches die Theologen seit 12 Jahrhunderten in die Lehre des großen Propheten eingeschmuggelt hätten. Es ist wichtig, festzuhalten, daß in der Folge die Schüler den Namen tariqa mohammédiya einfach in tariqa es snussiya umwandelten.

Si Snussi hat viele Werke veröffentlicht, von denen das bedeutendste den anspruchsvollen Titel „el schemus el schareqa“, „die aufgehenden Sonnen“, führt. Seine Lehre gipfelt in den Bestimmungen der Verehrung Gottes, ferner der Verehrung lebender Heiliger, aber nicht der verstorbenen, Mohammed selbst nicht ausgenommen. Der Gehorsam gegen den mohammedanischen Herrscher wird gepredigt, da derselbe zugleich weltlicher und geistlicher Herrscher sei, aber nur wenn er der reinen Lehre angehörig sei. Jeder Luxus in der Kleidung soll vermieden werden, Gold und Silber dürfen nur an den Handgriffen der Waffen geduldet werden, den Frauen ist das Anlegen von Seide und Gold gestattet. Gegen die Trunkenheit zieht Si Snussi stärker zu Felde als ein schottischer oder amerikanischer Temperenzler, er verbietet sogar den Genuß von Kaffee und den Gebrauch von Tabak. Er erlaubt Thee zu trinken, aber nur mit Kandiszucker, weil der weiße Zucker mit Knochenmehl versetzt ist, das von Thieren herstammt, welche von Nichtmohammedanern getödtet worden sind. Es ist streng verboten, mit Christen oder Juden zu sprechen, zu handeln oder gar ihnen zu dienen. Außerdem sind den Snussi verschiedene Gebete eigentümlich, z. B. „Gott verzeih mir“, das hundert Mal des Tags wiederholt werden muß. Alle diese Vorschriften haben die Snussi übrigens mit den meisten anderen Orden gemein, z. B. mit dem Orden Muley Thaibs, nur daß sie bei diesen langsam in Vergessenheit gekommen sind.

Der Orden der Snussi, der jüngste der mohammedanischen Religion, hat viel Gemeinsames mit dem jüngsten christlichen Orden, dem der Jesuiten: er verfolgt den Plan der Weltherrschaft und erstrebt ganz dieselben Ziele: das Bedenkliche bei den Snussi ist, daß sie auf Massen wirken, die vollkommem ungebildet sind, ja die größtentheils nicht lesen und schreiben können.

Nach einer mohammedanischen Sage sollte der Mahdi, d. h. der Reformator, der sämmtliche Menschen zu Gläubigen machen soll, im Jahre 1300 der Hedschra, also im Jahre 1883 christlicher Zeitrechnung kommen. Es war daher nicht ohne Bedeutung, daß Si Mohammed den Ali el Snussi seinen ältesten Sohn, welcher als Mutter eine „Fatma“, als Vater einen „Mohammed“ hatte, Bedingungen, an die das Erscheinen des Mahdi geknüpft war, „Mohammed el Mahdi“ nannte.

Dieser Mohammed el Mahdi regiert augenblicklich den Orden der Snussi, und wenn er sich auch im Jahre 1883 ruhig verhielt, so war diese Ruhe nur eine scheinbare. In Wirklichkeit begann der Mahdi seine Bewegung. Nur abwarten wollte er die Dinge, da in Aegypten sich wichtige Ereignisse abwickelten, welche seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Es war nun im August des Jahres 1881, als ein einfacher Zimmermeister von Dongola, Mohammed den Ahmed, der die Schulen von Chartum besucht und sich 1870 dem Orden des Abd el Kader el Djelali gewidmet hatte, zum erstenmal von sich reden machte. Er lebte am oberen Nil auf der Insel Abba gegenüber von Faki Kohe und kam bald in den Geruch großen Wissens und großer Heiligkeit. Sein Einfluß war um so größer, als er ihn verstärkt hatte durch Heirath der Töchter einflußreicher Baggarahäupter. 1881 proklamirte der Mann vollkommene Gleichheit der Mohammedaner, Gütergemeinschaft und Vertilgung der Mohammedaner, Christen und Heiden, welche seine Mission nicht anerkennen wollten. Von diesem Tage an nahm er den Titel des Mahdi an. Er war zu früh, Mohammed el Mahdi, der Snussi, zu spät gekommen.

Es ist noch frisch im Gedächtniß aller, wie alle ägyptischen Völker südlich von Chartum und selbst bis Berber hinauf ihm zufielen, wie sie, die schlechtestbewaffneten Horden, durchglüht von Fanatismus, selbst die regulären von Engländern angeführten ägyptischen Truppen schlugen. Aber der Dongolaner sollte nur eine kurze Laufbahn haben; er starb, und es folgte ihm sein Sohn Abdallah. Dieser war aber nicht vom selben Glück begünstigt wie sein Vater, und sein Statthalter Osman Digma zeigte auch nicht mehr die gehörige Schneidigkeit. Man sagte im vergangenen Jahr, daß, wenn die Engländer jetzt vorgehen würden, es ein Leichtes sein würde, den Aufstand zu bewältigen und den Mahdi - dieser Titel scheint erblich auf den Sohn Abdallah übergegangen zu sein - zu verjagen.

Da nun die ersten Rechts- und Religionslehrer in Mekka und Kairo nichts von dem Mahdithum Mohammed ben Ahmeds wissen wollten, im Gegentheil ihn exkommunicirten, so hielt es im vergangenen Jahr Sidi - er legte sich selbstverständlich wie sein Vater diesen Titel bei - Mohammed el Mahdi, der Schich der Snussi, für angezeigt, ebenfalls aus der Reserve zu treten, und exkommunicirte seinerseits Abdallah, den Mahdi. Der eine Mahdi bekämpft den anderen Mahdi, wem fällt dabei nicht der Spruch „Ihr sollt den Teufel nicht durch Beelzebub austreiben“ ein! Denn eine so große Macht Sidi Mohammed el Mahdi, der Snussi, auch haben mag, wie wir gleich zeigen werden, die Thatsache ist auch nicht wegzuleugnen, daß er von den mohammedanischen Gelehrten in Mekka, in Kairo, in Fes für den Verkündiger einer Irrlehre angesehen wird, was sich dadurch kund that, daß man die Snussi als Choms[5] bezeichnet.

Sidi Mohammed el Mahdi residirt in Djarabub, auf dem 29° 48´ N. B. und 24° 10´ O. L. v. Gr. am Rande des libyschen Wüstenplateaus gelegen. Sein Vater gründete an diesem antiken Platze, wo sich zahlreiche unterirdische Bauten und Katakomben der Aegypter, Griechen und Römer befinden, seine Sauna. Der Platz wurde ihm 1861 durch Vermittlung Mohammeds ben Dhafer, des ehemaligen Lehrers des Sultans Abd el Hamid, von diesem selbst geschenkt. Die Süßwasserbrunnen der Alten waren seit langem versiegt, alles mußte neu geschaffen werden. Hier in der Nähe befindet sich ein ausgedehntes Salzlager, wo im Alterthum das berühmte Ammonische Salz gewonnen wurde, welches die Priester des Ammontempels als besonders weiß und gut hochstehenden Persönlichkeiten zum Geschenke machten und womit sie nebenbei Handel trieben.

Im Jahre 1868 lagerte ich nur zwei Stunden von dieser berühmten Sauna entfernt bei einer Oertlichkeit Namens Hoëssa. Ich notirte damals in meinem Tagebuch: „Wahrscheinlich hat Sidi Snussi zu seinem ersten Wohnsitze alte Katakomben gewählt, wo ihm die geheimen unterirdischen Gänge zu seinen Betrügereien gut zu statten kamen.“ Wunder passiren hier denn auch noch alle Tage und werden mit großer Leichtgläubigkeit und mit lawinenartiger Vergrößerung von den Bewohnern weiterverbreitet. So läßt Sidi el Mahdi wie vordem sein Vater das Essen für die zahlreichen Verehrer und Pilger vom Himmel herabsteigen, und obschon sich in der Umgegend von Djarabub keine Aecker und Felder befinden, sind die Speicher und Vorrathskammern immerwährend gefüllt. So trinkt Sidi el Mahdi das schönste Süßwasser, obwohl der Faradgasee[6], vor der Thür der Sauna gelegen, vollkommen untrinkbares Wasser hat. Blinde und Lahme werden täglich geheilt, so nach den Aussagen der frommen Verehrer Snussis fallen auch zahlreiche ehemalige Christen, jetzt durch das allmächtige Gebet des Snussi zum Islam bekehrt, sich in der Sauna aufhalten. [427] Die Bevölkerung dieses Hauptklosters, das jetzt zu einer vollständigen Stadt herangewachsen ist, schätzte Heinrich Duveyrier 1880 auf etwa 4000 Seelen, während 1874 nur einige Rechtsgelehrte, Studenten und Sklaven vorhanden waren. Aber schon 1876 sollen Waffenfabriken errichtet worden sein, und Sidi Mohammed el Mahdi kaufte in Alexandrien 15 Kanonen und eine große Anzahl von Flinten nebst Munition. Auch wurden Pferde gekauft und eine Reiterei herangebildet. Man konnte also doch nicht umhin mit den Christen in Handelsbeziehungen zu treten.

Im Jahre 1881 hielt Sidi Mohammed el Mahdi großen Hof in Djarabub, umgeben von etwa 2000 Soldaten und vielen Algerinern, unter denen wir den Bu-Schandura nennen, welcher 1861 den Aufstand in Djelfa in Algerien angezettelt hatte.

Die Verwaltung dieser Hauptsauya ist vollkommen staatlich zugeschnitten. Die Verwalter führen den Titel „Uisir“, also Minister. 1876 war erster Minister Sidi Ali Ben Abb el Mula von Sfax, zweiter Minister war Sidi Amran von Sliten, der Direktor der theologischen Studien war Sidi Mohammed Scherif, Bruder Sidi Mohammed el Mahdis, der Imam in der großen Moschee endlich war Sidi Mohammed Seruali von Fes.

Der Orden hat nach Duveyrier 17 Klöster in Aegypten, in Europa eins, nämlich in Konstantinopel, in der asiatischen Türkei je eines in Mekka und Medina und zwölf andere Klöster; in Tripolitanien und Cyrenaïka 86, so daß man sagen kann, die Cyrenaïka ist ganz für die Snussi gewonnen. Ebenso ist das Gebiet der Tebu ganz den Snussi zugethan. Die Herrscher von Uadaï waren immer Anhänger der Lehre. Sultan Ali sowohl wie sein Nachfolger und Bruder Yussuf haben sich als eifrige Snussisten gezeigt. Und erst kürzlich kam mir über Bengasi die Nachricht von einem Bündniß zu, das die Snussi mit dem Sultan von Uadaï abgeschlossen hätten. Ebenso giebt es jetzt Sauyas in Tunesien und Marokko, in der ganzen Wüste, bis zum Senegal hin, hat er seine Anhänger.

Als ich im Jahre 1879 in Kufra weilte, kamen mehrere Pilger aus dem französischen Senegal, deren Ziel nicht etwa Mekka, sondern Djarabub war. Eine solche weite Reise, die sie für verdienstvoller zu halten scheinen als eine Reise nach Mekka, erhob sie in den Augen der Bewohner, deren Länder sie durchzogen, zu verdienstvollen und heiligen Männern.

Der tiefe Einfluß des Snussi Sidi Mohammed el Mahdi erstreckt sich also über den ganzen Norden von Afrika, und vorzugsweise über den Nordosten. Daß Mohammed el Mahdi wohl imstande ist, Krieg zu führen, namentlich mit schlechtbewaffneten Truppen darf man dreist behaupten. Wenn sich nun auch nicht die Nachricht von der Einnahme Chartums seitens der Snussi zu bewahrheiten scheint, so bleibt es doch immer zweifelhaft, wer den Sieg über die Abessinier errungen hat. Waren es die ehemals aufrührerisch gegen Aegypten stehenden Rebellen, oder war es Sidi Mohammed el Mahdi? Das Telegramm soll vom Mahdi gezeichnet gewesen sein, das ließe vermuthen, daß die Snussi es gewesen sind. Andererseits soll das Telegramm aber auch von einem anmaßenden Brief an den Chedive, sowie an die Königin Viktoria reden, und letzterer Umstand, wenn wahr, spräche dafür, daß der alte Rebellenchef der Absender wäre. Oder nennt sich der Sohn auch Mahdi?

Daß Sidi Mohammed el Mahdi ben Snussi keinen beleidigenden Brief an den Chedive schreiben wird, glaube ich annehmen zu dürfen, denn er wohnt ja schließlich auf ägyptischem Gebiet, und wenn er auch befreit ist von allen Abgaben, so halte ich ihn doch für viel zu klug, als daß er sich ohne weiteres mit der ägyptischen Regierung entzweien sollte.

Die Stellung der Snussi ist in Nordafrika augenblicklich derart zugeschnitten, daß sie in erster Linie Frankreich Schwierigkeiten zu bereiten versuchen. Duveyrier geht sogar soweit, sie für alle Aufstände und für alle Morde, die an französischen Reisenden begangen worden sind, verantwortlich zu machen. Ja, nicht nur die Morde der französischen Reisenden schiebt er ihnen in die Schuhe, sondern auch Vogel, v. Beurmann, die Tinne und von der Decken sollen auf ihre Aufreizungen hin getödtet worden sein.

Ich glaube, daß dies übertrieben ist. Die Snussi streben wohl nach der Weltherrschaft, ich habe aber mehrere Male direkte Beweise ihres Wohlwollens erhalten.

Den größten Beweis ihrer Macht aber sollte ich in Kufra erhalten. Dort herrschen die Snussi in der That als unumschränkte Herren.

Ich wurde in Kufra mit meiner Expedition überfallen, meine sämmtliche Habe mir geraubt. Da änderte sich einige Tage später plötzlich meine Lage – wir hatten nur unser nacktes Leben gerettet –, als ein direkt von Djarabub geschickter Abgesandter eintraf: Sidi el Hussein. Nicht nur überbrachte er mir Grüße von Sidi Mohammed el Mahdi, sondern er betonte auch, daß er ausdrücklich hergeschickt worden sei, uns beizustehen und Gastfreundschaft zu erweisen. Wären die Befehle von Djarabub nur einige Tage früher eingetroffen, ich wäre nicht überfallen und ausgeplündert worden, sondern hätte meine Unternehmung mit Erfolg zu Ende führen können. Und wenn die Snussi früher durch ihre feindselige Haltung die Ursache der Katastrophe gewesen waren – wie hatte ich zu leiden gehabt durch die fanatischen Hetzereien ihrer Unterbeamten! – so gebietet die Gerechtigkeit, zu sagen, daß sie von dem Augenblick an, als der Befehl von Djarabub gekommen war, gut für uns zu sorgen, es in der That an nichts fehlen ließen. Ja ich glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich sage, daß wir Kufra ohne die Snussi wohl nicht lebendig verlassen haben würden.

Wir ersehen aus Vorstehendem, daß es mit dem Fanatismus Sidi Mohammed el Mahdis, des Snussi, nicht so schlimm steht. Es ist bei den Snussisten eine gewisse Sättigung eingetreten, die zur Ruhe mahnt. Nach einer Zeitdauer von kaum 50 Jahren hat dieser Orden eine Macht erlangt in der mohammedanischen Welt, die alles übersteigt, was je ein anderer Orden erlangt hat. Und wenn die Snussisten auch mit der Regierung, deren Ausbreitung sie am meisten fürchten in Nordafrika, wir meinen die französische, auf gespanntestem Fuße leben, so haben sich die Franzosen das ohne Zweifel selbst zuzuschreiben. Wenn es der französischen Regierung gelang, den Schich der Muley Thaïb in Marokko, Sidi el Hadj Abd es Ssalem, zu sich herüberzuziehen und ihn sich vollkommen dienstbar zu machen, so würde es meiner unmaßgeblichen Meinung nach auch nicht so schwierig sein, Sidi Mohammed el Mahdi zu gewinnen.

Augenblicklich fühlen sich aber die Snussi bedroht von den Derwischen, deren Führer sich den Titel eines Mahdi angemaßt und der große Siege über die Aegypter errungen hat. Sie bekämpfen ihn, und wenn es nicht so schwer wäre, einer mohammedanischen Regierung einen Rath zu ertheilen – in Konstantinopel sowohl wie in Kairo weist man jeden Rath, der sich auf die eigenen Angelegenheiten bezieht, namentlich wenn es sich um religiöse Dinge handelt, schroff zurück – würden wir der Regierung von Aegypten den Rath ertheilen, die Derwische nur durch die Snussi zu bekämpfen und diese aufs kräftigste zu unterstützen.




Blätter und Blüthen.

Herzog Christoph von Württemberg. (Zu dem Bilde S. 425.) Dem Leser sind vielleicht in freundlicher Erinnerung geblieben die Bilder aus Stuttgart, welche die „Gartenlaube“ im Jahre 1887 gebracht hat. Eines derselben zeigte die hochragende Jubiläumssäule mit der ehernen Concordia, eine Erinnerung an das fünfundzwanzigjährige Regierungsjubiläum des Königs Wilhelm im Jahre 1841. Der prachtvolle Schloßplatz, dessen Mittelpunkt die Säule bildet, erhält in diesen Tagen – und zwar abermals im Zusammenhange mit einem fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum, demjenigen, welches König Wilhelms Nachfolger, Karl I., feierlich zu begehen sich anschickt – einen neuen künstlerischen Schmuck von hervorragender Bedeutung, ein Denkmal des Herzogs Christoph.

Es ist nicht ohne tieferen Sinn, wenn König Karl im Jubeljahre seiner Regierung gerade diesen unter seinen Vorfahren durch die Errichtung eines Standbildes in der Hauptstadt des Landes ehrt. Die Regierungszeit des Herzogs Christoph, 1550 bis 1568, ist die erste für die Gesetzgebung des Landes bedeutsame Periode in der Geschichte Württembergs. Aus kleinen Anfängen heraus hatten sich die Grafen, dann Herzöge von Württemberg durch klugen Haushalt, politischen Verstand, Ansehen beim kaiserlichen Hofe, theilweise auch durch Heirath und kriegerische Eroberung nach und nach zu Herren eines stattlichen Gebietes gemacht, und insbesondere waren unter Herzog Christophs Vorgänger, dem aus Wilhelm Hauffs „Lichtenstein“ bekannten Herzog Ulrich, umfangreiche Neuerwerbungen erfolgt. Es galt nun, diese mannigfaltigen Theile zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuschmelzen, aus den vielen Besitzungen einen Staat zu gestalten.

Diese Aufgabe hat Herzog Christoph mit großer Weisheit und staatsmännischer Kunst durchgeführt; die Formen, welche er der politischen und kirchlichen Verfassung des Herzogthums gegeben hat, haben sich im wesentlichen bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts erhalten. Er ist der Schöpfer eines einheitlichen Landrechts, er zuerst sorgte für gleiches [428] Maß und Gewicht im Herzogthum. Die Landwirthschaft, der Weinbau, die Forstverwaltung, Jagd und Fischerei, Bergbau und Schifffahrt erfreuten sich seiner Fürsorge; Sicherheit und Wohlfahrt seiner Unterthanen wurden durch energische Vorkehrungen gefördert, ganz besonders aber auf dem Gebiet von Kirche und Schule ist sein Wirken ein bahnbrechendes und segensreiches gewesen. Das Licht, welches von der Regierung Herzog Christophs ausgeht, strahlt um so heller, als nach ihm eine lange Periode des Stillstands, ja des Rückschritts folgt, die bis an die Schwelle der neueren Zeit heranreicht.

Wer wollte nicht verstehen, was es heißen will, wenn König Karl einem solchen Fürstenideal seine Huldigung bezeigt?

Das Denkmal ist von dem Bildhauer Paul Müller modellirt, von Hugo Pelargus jr. in Erz gegossen. Auf steinernem, reliefgeschmücktem Sockel erhebt sich die gedrungene Gestalt des Herzogs, bekleidet mit reichem, pelzverbrämtem Mantel, Haupt und Blick gerade aus, die Linke um den Schwertknauf geschlossen, während die Rechte eine Schriftrolle auf eine niedrige vierkantige, wappen- und ornamentengezierte Säule legt.

Deutsche und Amerikaner auf den Samoainseln. Es ist nicht das erste Mal, daß die deutschen und amerikanischen Interessen auf jenen Südseeinseln in Konflikt gerathen sind. Kontreadmiral Werner berichtet, daß er vor elf Jahren, als er in der Südsee das Schiff „Ariadne“ befehligte, sich ebenfalls zu kriegerischen Maßnahmen gegen die von Amerikanern aufgehetzten Eingeborenen entschließen mußte. Er berichtet, daß die Regierung auf Samoa aus zwei Körperschaften besteht, der Taimua, welche ungefähr dem Senat, und der Faipule, welche der Bürgerschaft der Hansestädte entspricht. Ihr erster Minister war damals der amerikanische Oberst Steinberger, der den jüngeren Malietoa zum König wählen ließ, sich aber selbst gegenüber dem amerikanischen und dem englischen Konsul, mit denen er sich überworfen hatte, nicht behaupten konnte; auch der König Malietoa wurde abgesetzt und damals herrschte eine gewisse Anarchie auf den Inseln. Werner hatte die Aufgabe, die deutschen Interessen dort zu schützen. „Diese beherrschen ganz Samoa, der Handel ist ausschließlich in deutschen Händen und unsere Kriegsschiffe haben in den letzten Jahren nicht nur wesentlich dazu beigetragen, den deutschen Häusern den Besitzstand ihrer durch regelrechte Kaufbriefe erworbenen großen Ländergebiete zu sichern, sondern auch die Samoaner zu belehren, daß das Deutsche Reich auch über seinen Angehörigen in der Südsee wacht.“

Es waren drei Streitpunkte zu erledigen; in allen waren die Deutschen in ihrem guten Rechte. Die samoanische Regierung hatte eine alte Schuld, den Rest einer Entschädigungssumme an die Deutschen zu zahlen; ein an der Westspitze der Insel Upolu gelegenes, in deutschem Besitze befindliches Land wurde den Deutschen neuerdings streitig gemacht; außerdem schwebte noch eine Streitigkeit wegen einer das Haus Godeffroy in Hamburg betreffenden Landfrage. Nur der zweite Punkt fand die erwünschte Lösung. Während die Verhandlungen über die andern schwebten, erschien eine nordamerikanische Korvette im Hafen von Apia, und nicht lange darauf erfuhren die Deutschen, daß die samoanische Regierung, und zwar ohne Mitwirkung der verschiedenen Landesbezirke, einen Vertrag mit Amerika unterzeichnet habe, in dem der Hafen von Pago-Pago an die Vereinigten Staaten übergeben wurde. Kontreadmiral Werner verlangte nun, auf eine schriftliche Verpflichtung der samoanischen Regierung von 1877 gestützt, der zufolge dem Deutschen Reiche stets dieselben Rechte zuzugestehen seien, die einer andern Macht etwa gewährt würden, einen gleichen Vertrag. Die Samoaner zögerten, da nahm der Kontreadmiral selbst von zwei Häfen, Saluafata und Falealili, für Deutschland Besitz.

Die Geschichte dieser Besitzergreifung ist romantisch genug. Bei dem ersten Hafen gelang es dem Muth des Kontreadmirals und des deutschen Konsuls, die vom Schiffe auf die Wohnung des Häuptlings allein zuschritten, obschon viele hundert bewaffnete Eingeborene am Wege lauerten, die Unterwerfung des Häuptlings zu erzielen. Später wurde von der Mannschaft die deutsche Flagge mit den entsprechenden militärischen Ehrenbezeigungen aufgepflanzt. Am Strande des zweiten Hafens fanden sie nur geputzte Frauenzimmer aufmarschirt, da der Häuptling nicht zu Hause war. Die geputzten Schönen begrüßten die Fremden unter Leitung eines einheimischen Missionärs. Hier wurde die Proklamation im Hause des Häuptlings angenagelt.

Das war ein Vorspiel der neuerlichen Vorgänge auf den Samoainseln, der erste Zusammenstoß der deutschen und nordamerikanischen Interessen, mit deren Ausgleichung jetzt, nachdem tapfere deutsche Soldaten und Offiziere gefallen, die Diplomatie beschäftigt ist.

Gefrorene Milch. Wer kennt nicht die Gefahren, welchen die Milch beim Transport auf weitere Entfernungen ausgesetzt ist? Die Milch verdirbt nur allzuleicht und dieser Umstand vertheuert bedeutend die Beschaffung frischer und reiner Milch für Säuglinge und Kranke. Die französische Zeitschrift „La Nature“ macht auf eine neue Methode aufmerksam, durch welche diesen Uebelständen abgeholfen werden soll. Ein Landwirth in den Vogesen Namens Guérin hat neuerdings Versuche mit gefrorener Milch angestellt und ein befriedigendes Ergebniß erzielt.

Er läßt die Milch bei einer Kälte von mindestens 15° C. gefrieren und verhütet dadurch die Rahmabscheidung und Bildung von Milchsäure. In einer Versammlung von Landwirthen wurden Vergleiche zwischen der gefrorenen oder aufgethauten und der frischen Milch angestellt, und man vermochte zwischen beiden keinen Unterschied zu finden. Der Geschmack war genau derselbe; die aufgethaute Milch konnte man ebenso gut abrahmen wie die frische und auch der Gerinnungsprozeß war laut einigen Versuchen in einer Käserei der gleiche – ja die gefrorene Milch zeichnete sich, selbst wenn sie wieder aufgethaut wurde, vor der frischen noch dadurch vortheilhaft aus, daß sie sich länger hielt. Im festgefrorenen Zustande soll sie natürlich keinem Verderben ausgesetzt sein.

Das weitere Verfolgen dieser Versuche scheint demnach empfehlenswerth zu sein, und wir können unseren Frauen bereits ein kleines Zukunftsbild des Milchhandels geben. Mit dem Milchmann, der uns die frische Milch aus der nächsten Umgebung bringen wird, wird der „gefrorene Milchhändler“ um die Gunst der Hausfrau werben. Er wird einen Eiskeller haben und in diesem zu jeder Zeit „frische gefrorene“ Milch führen.

„Gnädige Frau, wie Sie wünschen! Hier können Sie wählen. Das ist reine Schweizer Milch; sie kommt direkt von der Alm. Hier ist Voigtländer Sorte; ich kann Ihnen auch ‚Bayerisch Milch‘ empfehlen, oder wünschen Sie ein Pröbchen der ‚Holländer‘? Und die Milch ist ganz rein und ‚voll‘; dafür garantire ich. Sie ist nicht abgesahnt; ich kenne genau den Betrieb meiner ersten Milchgefrieranstalten!“

Möglich ist ein solches Zukunftsbild; denn in unsern Großstädten wird ja für Geld selbst gefrorenes Wasser – man nennt es gemeiniglich Eis – herumgefahren und findet willige Abnehmer. Unter diesen Umständen braucht ja nicht einmal eine Verkehrsrevolntion auszubrechen. Sind die Milchgefrieranstalten einmal da, dann werden auch Milchwagen und Eiswagen sich mit einander vereinigen und Wassereis und Milcheis werden sich dabei nicht mit einander vermengen, wie dies bei Wasser und Milch in flüssigem Aggregatzustand mitunter der Fall sein soll. *




Kleiner Briefkasten.

B. F. in Dresden. Ja, die näheren Bedingungen erfahren Sie durch die von Ihnen selbst angegebene Adresse.

S. Schr. in Brünn. Der von Ihnen gesuchte Artikel über die Wasserversorgung der schwäbischen Alb ist in Nummer 37 des Jahrgangs 1881 erschienen. Die großen Verdienste, die sich der am 30. April d. J. verstorbene Baudirektor Dr. von Ehmann durch die Schöpfung dieses Werkes um einen nothleidenden Theil seiner engeren Heimath erworben hat, treten dort in helles Licht, die Anregungen, die der geniale Mann gegeben, wirken auch heute noch in seinem Vaterlande, Wohlfahrt und Segen spendend, fort.

A. W., Petersburg. Der genannte Schriftsteller lebt in Berlin.


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Die Verlagshandlung.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Nur Belgien, die Schweiz und Italien, die einen unverhältnißmäßig erheblichen Durchgangsverkehr haben, erhalten eine besondere Vergütung für denselben, da sie eben von den den Durchgang benutzenden Ländern keine entsprechende Gegenleistung empfangen.
  2. Sauya ist ein Kloster; damit verbunden ist in der Regel eine höhere Schule, ein Gasthaus und gewöhnlich das Asylrecht.
  3. Nicht Sidi obschon er später so genannt wurde und auch derzeit sein Sohn so titulirt wird. Denn „Si“ heißt schlechtweg „Herr“, „Sidi“ aber „mein Herr“, und auf diesen Titel wie auch auf den von „Mulen“ haben nur die Schürfer (Mehrzahl von Scherif), Abkömmlinge van Mohammed, ein Recht.
  4. Wir entnehmen dies der sehr interessanten Broschüre von Henri Duveyrier: „La confrérie musulman de Sidi Mohammed ben Ali es Snussi et son domaine géographique en l’année 1300 de l’hégire, 1883 de notre ère. Paris.“
  5. Die Mohammedauer haben ihre vier rechtgläubigen Ritisten, die Hanbaliten, die Hanesiten, die Schaffeiten und die Malekiten, alle, die einer dieser vier Riten angehören, werden als orthodox bezeichnet, alle, die außerhalb derselben stehen, sind „Choms“, d. h. Fünfte.
  6. Jetzt hat übrigens Sidi Mohammed el Mahdi mehrere Süßwasserbrunnen bohren lassen.