Die Gartenlaube (1890)/Heft 19
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Halbheft 19. | 1890. | |
„Wenn Dir nicht wohl zu Muthe ist, hättest Du die Gesellschaft absagen lassen sollen, Hedwig!“
„Was Dir einfällt! Jetzt, im letzten Augenblick, vierundfünfzig Personen und – – und das ganze Essen fix und fertig! Ueberdies fühle ich mich körperlich wohl, mir thut nichts weh – nur seelisch – ich weiß nicht recht, wie ich Dir’s schildern soll! Als ich soeben in den Spiegel sah, fand ich mich angegriffen aussehend, was mir unangenehm war unserer Gäste wegen, und nun bestätigst Du es mir auch noch.“
„Der Wahrheit gemäß! Nun sei aber auch vernünftig und sage mir, was Dir eigentlich fehlt!“
„Weiß ich es denn? Es ist mir so eigenthümlich beklommen zu Sinn, mir lastet ein Alp auf der Seele, das Athmen macht mir Mühe. Wenn ich nicht wüßte, daß Du mich wieder auslachst, Robert, dann würde ich sagen –“
Der Gemahl hob beschwörend seine beiden Hände auf.
„Um Gotteswillen, Kind, doch nur keine von Deinen sogenannten – Ahnungen!“
Die zarte Blondine senkte geknickt und ergebungsvoll das Haupt.
„Ja, Robert! Thu’ mit mir, was Du willst, aber ich habe wieder meine Ahnungen!“
Er warf einen empörten Blick nach der hohen gemalten Zimmerdecke empor, von der die vielarmigen Kronleuchter mit heiter brennenden Kerzen herabhingen.
„Was soll ich mit Dir thun – wie?“ Er trat nahe an sie heran und hob mit dem Zeigefinger ihr Kinn in die Höhe, um ihr in die Augen zu sehen. „Vernunft predigen? Ist bereits hundertmal ohne den leisesten Erfolg geschehen! Ja und Amen zu diesen Thorheiten sagen? Da müßte ich kein aufgeklärter Mann sein! Dich schelten? Dazu habe ich Dich zu lieb und Du thust mir zu leid, denn Du quälst Dich ohnehin schon genug mit den unsinnigen Geschichten ab!“
„Unsinnigen Geschichten? Robert! Wenn Du ehrlich sein willst … hat meine Ahnung mich betrogen, damals, als meine arme Mutter so plötzlich starb, die wir vor kaum acht Tagen gesund und frisch verlassen hatten? Und das Unglück bei Deinem Vetter – den Trauerfall bei Deinen Verwandten in England … wer war es, der alles das kommen sah?“
„Aber, gutes Kind, es geschehen alle Tage traurige Dinge in der Welt, leider Gottes! Und in einer großen, weitverzweigten Familie, wie die unsere es ist, kann nicht immer alles so glatt und schön sich abwickeln. Und weil Du nun ein kleines nervöses Persönchen bist und ein paar Mal bei dieser
[582] nichtswürdigen Gedankenleserei, die der Böse holen mag, ein passendes Medium abgegeben hast, darum bildest Du Dir nun ein, sowie irgend eine Erscheinung von Blutarmuth und hochgradiger Nervosität bei Dir auftritt, es müsse nothwendigerweise ein Unglück geschehen, welches Du als moderne Kassandra zu verkünden hättest. Stirbt dann irgend ein Mensch aus unserem nach Hunderten zählenden Bekanntenkreise oder eine Firma macht Bankerott oder es entspinnt sich irgendwo eine fatale Liebesgeschichte …“
„Nein, Robert, jetzt schweigst Du. Du bist geradezu beleidigend!“
„Daß ich nicht wüßte! Wenn zwei seit zwölf Jahren verbundene Eheleute einander nicht die Wahrheit sagen wollen, wer in der Welt hätte sonst ein Recht dazu?“
„Es ist gut! Mit Dir ist nicht zu streiten, das hätte ich wissen müssen, es war eine Dummheit von mir, überhaupt über dies Thema mit Dir zu reden. Ich wollte, ich würde mich irren!“
„Ich auch!“ bemerkte er trocken. „Und nun Deinen Arm, liebste Kassandra – beschauen wir uns einmal unsere Salons!“
Diese waren in der That des Beschauens werth, denn ein feiner Geschmack waltete darin. Nichts hob sich aufdringlich hervor, jedes einzelne Stück stand im Einklang mit dem ganzen, und dies war das Verdienst der anmuthigen blonden Frau, die jetzt langsam in ihrem goldgrün schillernden Seidenkleide am Arm ihres Gemahls durch die geräumigen Gemächer dahinwandelte; aber der Bankier Robert Weiland war auch nicht ohne Ruhm dabei – er verdiente das Geld zu all den hübschen Dingen.
„Es sieht gut aus bei uns!“ sagte der stattliche Herr und sah sich vergnügt in seinem Rauchzimmer um.
„Ja – – nur – die fremden Elemente heute abend – es wird mir ganz sonderbar bei uns vorkommen –“
„Ach, das halbe Dutzend Ulanen –“
„Und Conventius –“
„Ah so, der neue Prediger! Ja, da werden ’mal die jungen Mädchen Augen machen! Gieb acht, übermorgen, am Sonntag, ist kein Platz in der ganzen großen Lukaskirche zu bekommen und eine hübsche Zuhörerschaft wird er haben!“
„Ja, er ist aber auch eine wundervolle Erscheinung. Man vermuthet eher alles andere als einen Prediger in ihm! Für meine junge Damenwelt ist überhaupt heute der Tag der Ueberraschungen – sie bekommen ja auch Delmont zu sehen!“
„Da werden sie sich, fürchte ich, auch mit dem Sehen begnügen müssen! Der Mensch redet ja nichts, vollends nicht mit jungen Mädchen; er macht von dem Vorrecht berühmter Künstler, launenhaft, wortkarg und unliebenswürdig zu sein, den ausgiebigsten Gebrauch – aber damit gerade hat er die Weiberchen alle an der Angel … es ist ja so interessant, sich von seinen finsteren Augen angrollen zu lassen! Was mag er alles denken! Was mag durch seine Seele stürmen! Welche wilden Phantasien mögen ihn begeistern – ich wette, er hat heute doch noch mehr Erfolg als Conventius!“
„Das bringt schon sein Stand mit sich! Ich bitte Dich, ein Maler – fährt nicht ein Wagen vor? Ich hoffe, es wird Annie sein!“
„Hast Du sie gebeten, früher zu kommen?“
„Wie immer! Sie ist mein bestes gesellschaftliches Element, klug und heiter – stets bereit, sich und andere zu unterhalten – bildhübsch – und so herzensgut …“
„Ja, ja, ich weiß! Auf diese neunzehnjährige Annie Gerold werde ich mit meinen zweiundvierzig Jahren doch noch eifersüchtig sein müssen!“
„Unsinn, Robert! Wenn ich Dir nun aber sage, daß meine bösen Ahnungen heute abend gerade, ich weiß selbst nicht wie, mit Annie zusammenhängen –“
Weiter redete Frau Weyland nicht, denn hinter dem Thürvorhang fragte eine weiche Altstimme:
„Anmelden, Christoph? Wozu? Ich bin doch die erste und hier zu Hause!“
„Ja, mein Herz, das bist Du!“ Und Frau Hedwig schloß das schlanke, weißgekleidete Mädchen zärtlich in die Arme.
Annie Gerold sah sich mit ihren leuchtenden braunen Augen wohlgefällig um.
„Sehr hübsch! Möchten nur alle die Leute, die geladen sind, ebenso sein!“
„Na – einen guten Anfang hätten wir ja!“ schmunzelte Herr Weyland.
„Bin ich das?“ gab Annie wohlgemuth zurück. „Dank’ schön, fahren Sie, bitte, nur so fort! Wie findest Du mein Kleid, Hedwig?“ Sie that, als stände sie auf einer Drehscheibe. „Fein, nicht wahr? Eigentlich wollte ich eine blaßblaue Schärpe statt dieser weißen, aber Thea wollte nicht, und Du weißt, Thea giebt allemal den Ausschlag in Toiletten- und andern Fragen.“
„Sie hat recht gehabt, Kind! Wie geht es ihr heute?“
Das jugendstrahlende Gesicht wurde plötzlich ernst und besorgt.
„O, nicht gut – leider! Sie hat große Schmerzen und muß die ganze vergangene Nacht wieder gewacht haben, ich sah es an den tiefen Schatten, die sie um die Augen hat. Und ich habe ahnungslos geschlafen bis an den hellen Morgen!“
„Liebchen, Du hättest ihr ja doch nicht helfen können!“
„Dochl Ein paar Mal, wenn ich zufällig aufgewacht war und darauf bestand, bei ihr zu bleiben, hat sie es gelitten, daß ich neben ihrem Bett saß und ihre armen Hände streichelte, die immer vor Schmerz zuckten, und dann las ich ihr stundenlang aus ihrem geliebten Hegel vor, – sie behauptete, das thäte ihr gut!“
„Eine so gelehrte Lektüre!“
„Ja, aber ich verstehe alles ganz gut, weil Thea es mir erklärt. Sie leidet wie ein Held. Herzlos komme ich mir vor, mich herauszuputzen und auf Gesellschaft und Tanz zu gehen, während meine einzige Schwester sich so quält. Warum dies edle, kluge, gute Geschöpf so leiden muß … darüber werde ich nie hinwegkommen, und wenn ich alle philosophischen Systeme der Welt verstünde!“
Frau Hedwig ergriff sanft die Hand des jungen Mädchens.
„Aber es ist doch nicht schlimmer mit Theklas Zustand geworden? Was sagt denn der Arzt?“
„Der kommt sehr oft und giebt sich alle Mühe, aber er kann nicht helfen; solange sie lebt, ist sie krank. Und wenn ein Witterungswechsel bevorsteht, geht es ihr jedesmal schlechter; ich denke, wir bekommen bald Frühling!“
Herr Weyland lachte laut auf.
„Aber Annie, wo denken Sie hin! Heute früh hingen bei uns noch die Eiszapfen am Dach, und wir hatten fünf Grad Kälte.“
„Das war heute früh – der Lenz kommt rasch – ich denke immer“ – sie wiederholte es beinahe träumerisch – „wir bekommen bald Frühling!“
Drunten fuhren die Wagen vor und die Gäste huschten die breiten, mit weichen, tiefrothen Decken belegten Treppenstufen empor. Oben füllten sich die Säle mit geschmückten Gestalten; es war viel Jugend vertreten, namentlich viel hübsche weibliche Jugend.
Aber die jungen Mädchen hatten Kummer, einen großen, ernsten Kummer. Vor kurzem waren die Dragoner, die so lange in F… gestanden hatten, fortkommandirt worden, die netten, lustigen, fixen Dragoner mit ihren freundlichen, hellblauen Waffenröcken und ebenso freundlichen, wenn auch nicht immer hellblauen Augen, … und statt ihrer waren nun Ulanen gekommen. Das sollte eine „schneidige Waffe“ sein, und die jungen Damen wiederholten sich das Wort recht oft zu ihrem Trost; es klang so gut, „eine schneidige Waffe!“ Aber, ach Gott, die lieben, reizenden Dragoner! Man war so gut Freund mit ihnen gewesen, man hatte so angenehme Beziehungen angeknüpft, … und nun aus! Aus und vorbei! Heute hatten Herr und Frau Weyland die Aufmerksamkeit, ihren Gästen eine kleine, auserlesene Probe der neuen Truppen aufzutischen, ... einen Rittmeister und fünf oder sechs Lieutenants. Weylands hatten immer so nette Ideen, das mußte man ihnen lassen. Nun konnte man sich ein vernünftiges Urtheil bilden.
Die junge Damenwelt stand, wie eine lichte Frühlingswolke anzusehen, in einer breiten Fensternische und redete eifrig durcheinander. Es war ja von der größten Wichtigkeit, sich unter den Ulanen, den neuen Sternen am Gesellschaftshimmel von F., etwas zurechtzufinden, und da war einer, welcher die Aufmerksamkeit der Mädchen ganz besonders in Anspruch nahm; merkwürdigerweise war gerade er allein in Civil erschienen.
Von den schweren Falten des halb zurückgeschlagenen bronzefarbenen Sammetvorhangs hob sich der lichtblonde aristokratische [583] Männerkopf mit den ebenmäßigen, feinen Zügen wirkungsvoll ab. Der stattliche Ulan, der neben dem Herrn im schwarzen Gesellschaftsanzug stand, sah an dessen Seite fast unbedeutend aus. Die zwei sprachen lebhaft miteinander – der Offizier machte oft eine Bewegung mit seiner behandschuhten Rechten, setzte das Monocle ein, ließ es wieder herabfallen – der andere bewahrte seine ruhig-stolze Haltung und ließ seine Blicke ernst über die glänzende Versammlung hingleiten, während er ab und zu ein Wort erwiderte.
„Er sieht aus wie ein Fürst!“ flüsterte es in der Mädchenschar.
„Eine echt aristokratische Erscheinung!“
„Warum er nicht in Uniform erschienen ist?“
„Schöner kann er auch als Ulan nicht aussehen!“
„Habt Ihr denn gehört, heute soll ja auch der neue Prediger an der Lukaskirche hier sein, Papa sagt, er wird eine Koryphäe!“
„Prediger? Gnade Gott, wer den zum Tischnachbar bekommt! Na – die Langeweile, ich danke!“
„Ist Delmont noch nicht erschienen?“
„Nein, er ist noch nicht da! Am Ende kommt er gar nicht. Er soll ja so menschenscheu sein, und nur weil Herr Weyland seit Jahren sein Bankier ist und ihm viele Dienste erwiesen hat, ließ er sich bereit finden, hierher zu kommen.“
„Sein neuestes Bild soll himmlisch sein, ich brenne auf die Eröffnung der Ausstellung.“ –
Hier schritt der Herr des Hauses mit dem schönen, aristokratischen Mann, den die jungen Mädchen eben so überschwenglich bewundert hatten, an der Gruppe vorüber zu Annie Gerold hin und sagte laut genug, daß die Damenwelt es verstehen konnte:
„Sie gestatten, liebe Annie, daß ich Sie mit Ihrem Tischnachbar bekannt mache: Herr Reginald von Conventius, neu angestellter Prediger unserer Kirche zu St. Lukas.“
Die Wirkung dieser Worte war eine großartige. Beinahe betäubt vor Staunen, Schreck, Enttäuschung sahen alle die hellen und dunkeln Mädchenaugen auf Herrn Weyland zuerst, dann auf seinen Begleiter, als sei das, was sie eben gehört, nur ein schlechter Witz gewesen, und als müßte noch eine Aufkärung nachkommen. Aber als gar nichts weiter erfolgte wie eine höfliche, kleine Unterhaltung Annies mit dem zukünftigen Tischnachbar, da löste sich der Zauber.
„Das also –“
„Unglaublich!“
„Wie ist es nur möglich, daß ein Mann mit dem Gesicht und der Figur Prediger werden konnte!“
„Vielleicht war er arm!“
„Aber sein Name – der hätte ihm doch überall geholfen, vorwärts zu kommen. Habt Ihr wohl gehört: Reginald von Conventius!“
„Ein reizender Name!“ –
Wieder steuerte der Gastgeber auf die Nische zu, diesmal aber von einem ganzen Schwarm von Herren begleitet – die Massenversorgung zu Tisch sollte beginnen. Es waren die Ulanen dabei, dann einige Assessoren, Kaufleute, junge Aerzte, die den Damen schon bekannt waren. Eine unwillkürliche, leichte Bewegung entstand in der Damengruppe, als einer der Ulanen, eine flotte Erscheinung mit einem zierlichen Bärtchen, als Lieutenant von Conventius vorgestellt wurde. Verschiedene Köpfe drehten sich nach dem schönen Blonden zurück, der mit Annie Gerold sprach; es war, als wünschte man, einen Vergleich zu ziehen. Der findige Lieutenant sah dies kleine Manöver sofort, er lächelte, drückte ein wenig die Augen zusammen und sagte mit einer leichten Bewegung nach der betreffenden Seite hin: „Mein Vetter!“
Bei Weylands war alles von sprichwörtlicher Pünktlichkeit. Das Essen war auf acht Uhr angesagt, jetzt war die Uhr halb neun vorüber, die Gäste schienen vollzählig versammelt – auf wen oder auf was wartete man denn noch?
Frau Hedwig bemühte sich, heiter und unbefangen auszusehen und recht fröhlich zu plaudern, aber sie hatte das sichere Gefühl, daß ihr das alles mißlang. Sie hob die Augenbrauen und sah fragend zu ihrem Gatten hinüber: sollte man nicht doch auftragen lassen? Herr Weyland hatte ein kleines ungeduldiges Fältchen auf der Stirn, aber er schüttelte den Kopf. Also warten! Frau Hedwig wünschte, der Abend wäre erst vorüber; ihre trüben Ahnungen verließen sie nicht, und wenn sie daran dachte, bis zwei, drei Uhr morgens fortgesetzt Komödie spielen zu müssen, ihren Gästen zuliebe, dann wurde es ihr eiskalt vor Schreck.
„Sie erwarten noch jemand?“ fragte eine ältere Dame, deren helles, auffallendes Seidenkostüm mit ihrem Aeußeren durchaus nicht im Einklang stand, den Hausherrn.
„Allerdings – und doch werden wir uns ohne den Herrn zu Tisch setzen müssen, wenn er nicht bald erscheint. Die Augensprache meiner Frau wird immer ausdrucksvoller … ah! Da kommt er!“
Herr Weyland machte der Dame in der jugendlichen Toilette eine abschiednehmende Verbeugung und ging einem Herrn entgegen, der eben unter die Thür trat. Die Dame hob neugierig ihr an einem langen, schwarzen Stiel befestigtes Lorgnon an die Augen, und sie ließ es davor, denn es lohnte schon der Mühe, sich diesen schlanken Mann mit der trotzigen Stirn und dem darüber fallenden schwarzbraunen Haar anzusehen, wie er dem Hausherrn die Hand schüttelte und seine mächtigen, gebieterischen Augen wie einen Blitz, der rasch erlosch, über die Versammlung flammen ließ.
„Wer kann denn das sein? Liebe, wissen Sie es vielleicht?“ fragte sie, zur Frau eines Journalisten gewendet, die doch eigentlich verpflichtet war, jedermann zu kennen. Zum Glück entsprach diese den an sie gestellten Anforderungen.
„Das ist der Maler Delmont, seit ganz kurzer Zeit hierher als Professor an unsere Akademie berufen – man sagt, er habe die Ausstellung mit einem wunderschönen, ganz überwältigenden Gemälde beschickt –“
„Nun – wer ihn ansieht, kann es ihm schon zutrauen. Anziehend genug sieht er aus, obschon nicht gerade liebenswürdig!“
Und wenig liebenswürdig war allerdings die Miene, welche Professor Delmont zeigte, als er jetzt von Herrn Weyland der Dame, die seine Tischnachbarin werden sollte, vorgestellt wurde. Er hatte einen flüchtigen Blick auf sie geworfen, dann die Augen gesenkt und so, mit einem Gesicht, das von kalter Höflichkeit wie überfroren schien, ein paar herkömmliche Redensarten mit ihr ausgetauscht. Und sie war doch ein hübsches Mädchen, diese brünette Hertha Kreutzer, etwas kokett und herausfordernd dreinschauend freilich und ein wenig gepudert – sie wurde leicht erhitzt beim Weintrinken und Tanzen – aber so hochfein gekleidet, wenn auch ein wenig dekolletirt, und so gut frisirt … lauter gebrannte schwarze Löckchen, die alle wie gedrechselt saßen. –
„Meine Herrschaften, ich bitte, zu Tische!“ – „Ah!“ – Allgemeine Bewegung – die Thürflügel weichen weit zurück – zahlreiche Arme krümmen sich – zahlreiche zarte Händchen legen sich hinein – vorwärts!
Da saß nun die Gesellschaft an der von Silber, Lichtglanz, Blumen und Fruchtpyramiden strotzenden Tafel. Frau Hedwigs ahnungsvoller Blick überflog das Ganze – alles in Ordnung – die Schlacht konnte beginnen! –
„Sehen Sie doch, bitte, die hübschen Tischkarten!“ Hertha Kreutzer reichte ihrem Herrn die ihrige hin, in der stillen Erwartung, er werde ihre niedliche Hand dabei bewundern, die sie zur Feier des Tages mit süßduftender Lilienmilch gewaschen hatte. „Aber – ich vergaß – Sie verachten gewiß solch’ kleine Malereien auf Karten und dergleichen.“
„Ich verachte nichts, mein Fräulein, als absichtliche Fälschung der Natur! Weiß oder roth gefällig, gnädiges Fräulein?“
„Roth, bitte, und etwas Soda hinzu – danke sehr! – Ist es wahr, Herr Professor, daß wir auf der Ausstellung ein Gemälde von Ihnen werden bewundern können?“
„Ja, es ist eins von mir da! Ob Sie es bewundern werden, lasse ich dahingestellt.“
„O, natürlich! Sicher ein Meisterwerk!“
Seine dichten, schwarzen Brauen schoben sich so unmuthig zusammen, daß sie einander berührten. Das hatte er nun davon! Warum war er gekommen? Er hätte es ja im voraus wissen können, daß er gezwungen sein würde, fades Geschwätz anzuhören! Diese albernen, koketten, heirathssüchtigen Mädchen! Diese jungen Gänse! Wie ihre dummen Bemerkungen ihn ärgerten, ihre dünnen, hoch hinaufgeschraubten Stimmchen sein empfindliches Ohr quälten!
Von seiner linken Seite sagte eine dunkle, ein wenig verschleierte Stimme:
„Was das ist, sich langweilen – sehen Sie, Herr Prediger, das kenne ich wahrhaftig nicht! So lange ich lebe, habe ich das noch nie empfunden – ich denke, es muß das Verdienst meines Vaters und meiner Schwester sein, die mich lehrten, mich immer [584] zu beschäftigen und aus allem etwas zu ziehen, sei es, was es sei: eine Nutzanwendung – ein Beispiel – ein Vergnügen – oft auch einen guten Witz. Ich habe jederzeit etwas, was mir zu denken, zu überlegen oder zu lachen giebt!“
Delmont wendete sich langsam um, – er hatte seine linke Nachbarin bisher weder bemerkt, noch sich ihr vorstellen lassen, eine Unterlassungssünde, die ihm jetzt erst fühlbar wurde, die er aber im Augenblick nicht gutmachen konnte, ohne das Gespräch nebenan zu unterbrechen.
Die junge Dame hatte sich ganz von ihm abgewendet, er sah nur ihre schöne, geschmeidige Gestalt in einem mattweißen, enganliegenden Kleide, einen leuchtend zarten Nacken, dessen wundervolle Form das braune, hoch emporgenommene Haar völlig frei ließ. Dies Haar wies hier und da einen schwachen goldenen Reflex auf, es war mit einem schmalen Kamm von edler, altdeutscher Arbeit festgesteckt und hatte weiter keinen Schmuck. Die Augen des Herrn, zu dem das Fräulein sprach, hafteten mit offener Bewunderung auf seiner Nachbarin. –
„Wollen Sie mir den Gegenstand Ihres Bildes nicht verrathen, Herr Professor?“ fragte wieder die dünne, durchdringende Kinderstimme neben Delmont.
Er drehte sich wie eine Puppe zu seiner Dame herum.
„Nein!“ Dann, sich besinnend, wie schroff das geklungen haben müsse, fügte er hinzu: „Sie werden ja bald sehen, mein Fräulein!“
„Ah so! Es soll eine Ueberraschung sein?“ –
„Ja – eine Ueberraschung!“ –
„Ihr Herr Vater beschäftigt sich viel mit Ihnen, Fräulein Gerold?“ fragte Reginald von Conventius auf der andern Seite.
„Er that es bis zu seinem Tode – vor vier Jahren wurde er uns genommen!“ Die Sprecherin, an Selbstbeherrschung gewöhnt und keinen Augenblick vergessend, daß Ort und Gelegenheit jeden Gefühlsausbruch ausschlossen, konnte es doch nicht verhindern, daß es leise um ihren schönen Mund zuckte – sie athmete tief auf.
„Es kommt mir vor, als müßte jeder Mensch, der meinen Vater nicht gekannt hat, dies als einen Verlust beklagen – Sie werden vielleicht darüber lächeln, es unbegreiflich finden, Herr von Conventius.“
„Keins von beiden, mein Fräulein! Denn mit meiner Mutter ist es mir ganz ebenso ergangen.“
„Und sie ist auch todt?“
„Auch todt!“ kam es wie ein trauriges Echo zurück.
Die beiden, von Lärm und Lust, von Lachen und Heiterkeit umringt, sahen einander verständnißvoll in die Augen; es gab schon ein gemeinsames Band zwischen ihnen.
Conventius hatte feine gesellige Formen und ließ keine seiner Pflichten außer acht, er goß aufmerksam Annies Glas voll, hob ihr den herabgefallenen Blumenstrauß auf und hatte nichts vom Geistlichen an sich – dagegen alles vom Weltmann.
„Man hat mir gesagt,“ begann Annie von neuem, „Sie würden am nächsten Sonntag zum ersten Male in der Lukaskrche predigen – ist das wahr?“
„Jawohl; es ist eine schöne alte Kirche mit bewundernswerther
[585] Akustik und einer prachtvollen Orgel – ich bin gleich am Tage nach meiner Ankunft hingegangen und habe meinen Vorgänger im Amt reden hören.“
Annie Gerold dachte sich den Klang der Stimme, die sie neben sich hörte, hinein in die Lukaskirche.
„Wie er wohl sprechen wird?“ Diese Frage hielt ihre Gedanken eine Zeitlang so umsponnen, daß sie eine erneute Anrede ihres Tischnachbars überhörte unb nun verwirrt zusammenschrak, als sie ihres Versehens inneward.
„Ich sprach von der Psyche dort,“ sagte er und deutete auf ein reizendes Köpfchen in schönstem Marmor, das von einer hohen schwarzen Säule an der gegenüberliegenden Wand zu ihnen herübersah, „die ist eine liebe Bekannte von mir!“
„O – so waren Sie in Neapel?“
„Gewiß! Und Sie auch?“
„Nein, ich nicht! Aber meine Schwester hat eine sehr ernste und große Hinneigung zu der Kunst, sie hat eine solche auch in mir zu wecken verstanden, und wir besitzen beide ein paar große Mappen mit Bildern, die schon eine ganz anständige Sammlung ausmachen – darunter befindet sich auch die Psyche.“
Sein Blick ging vergleichend und prüfend zwischen dem Marmorbild und Annie hin und her. In der Art, wie das feine Köpfchen sich an den Hals ansetzte, in der Haltung des Nackens und in der einfach anmuthigen Anordnung des Haars lag eine augenfällige Aehnlichkeit.
Annie sah dies Vergleichen und verstand es auch – eine zarte Röthe trat ihr ins Gesicht, und ihre breiten, sanftgeschweiften Augenlider senkten sich; sie war Weib genug, sich zu freuen, und sie fand es taktvoll von ihm, daß er schwieg und seinen Beobachtungen nicht in einer Schmeichelei Ausdruck verlieh.
„Waren Sie lange in Italien?“ fragte Annie, und nun konnte sie wieder aufsehen.
„Fast ein ganzes Jahr, – dann in Spanien, Griechenland, Südfrankreich, Konstantinopel.“
Ihrem Mienenspiel merkte er das Staunen an, das dieser Bericht in ihr erregte: ein Geistlicher, und so weite, lange Reisen!
„Ich ging auf Wunsch meines Vaters überall hin – er hoffte, ich würde in der weiten, schönen Welt lernen, zu vergessen … nein, nein, es war kein Herzenskummer, den man in mir zu ersticken strebte.“
„Den Tod Ihrer Mutter wohl?“ fragte Annie leise.
Er schüttelte ernst den Kopf.
„Auch das nicht! Es war ein harter Schlag, als sie mir genommen wurde, aber er traf mich nicht unvorbereitet – sie war hoffnungslos krank seit Jahren. Was ich auf Reisen vergessen und aufgeben lernen sollte, war mein Beruf, den ich gegen den Willen meines Vaters und der ganzen Familie ergriffen und, wie Sie sehen, trotz allem festgehalten habe!“
Aus seinen Augen brach ein siegesgewisser Glanz hervor, der ihn noch viel schöner erscheinen ließ, und Annie Gerold wollte ihm eben antworten, als eine fremde Stimme zu ihrer Rechten erklang. „Sie gestatten, gnädiges Fräulein, daß ich, wenngleich spät, eine versäumte Pflicht nachhole und mich Ihnen vorstelle: Karl Delmont, Maler.“
[586] Annie hatte sich einmal in der Stille über den unhöflichen Nachbar gewundert, ihn flüchtig von der Seite angesehen, gefunden, daß er ein anziehendes Gesicht habe, und sich dann weiter nicht um ihn bekümmert. Jetzt sah sie ihm gerade in die Augen, in diese machtvollen, zwingenden Augen, die alles in Besitz zu nehmen schienen, was sie überhaupt der Nähe des Anschauens für werth hielten.
„Ich bin spät gekommen und gehe nicht in die Gesellschaft, daher sind mir fast sämmtliche Anwesenden fremd; Sie würden mich verpflichten, wenn Sie mich mit Ihrem Nachbar bekannt machen wollten, meine Gnädigste!“
„Herr von Conventius – Professor Delmont.“
Die beiden Herren verneigten sich höflich gegen einander.
„Wir sind Leidensgenossen, Herr Professor,“ sagte Conventius verbindlich, „beide fremd noch in F., beide bemüht, festen Fuß zu fassen. Ich will hoffen, daß die Eindrücke, welche Sie bisher hier empfingen, ebenso freundlich und wohlthuend sind wie die meinigen.“
„Mir würde es schwer werden, irgend welche Eindrücke zu verzeichnen, denn bis zur Stunde habe ich hier noch gar keine empfangen.“
Dies „bis zur Stunde“ wurde ein wenig schärfer betont. Ueber das Haupt des jungen Mädchens hinweg trafen sich die Blicke der beiden Männer und blieben ein paar Sekunden in einander haften.
„Leben Sie so zurückgezogen?“ fragte Annie.
„Ganz und gar; es wird Ihnen vermuthlich als eine Sonderbarkeit erscheinen, daß ich nie Reisebekanntschaften mache, außer solchen allerflüchtigster Natur.“
„Das befremdet mich nicht so sehr. Wer jahrelang auf Reisen lebt wie Sie – es ist das einzige, was mir Herr Weyland über Ihr Leben zu sagen wußte – bei dem muß, so denke ich mir, der Sinn für Reisebekanntschaften sich allgemach abstumpfen und endlich ganz in dem einen Zweck, der die weiten Fahrten veranlaßte – in dem Beruf untergehen!“
„Sie haben ganz richtig geurtheilt: ich lebe nur meiner Kunst.“
„Weylands sprachen mir von einer Orientreise.“
„Ja – ich bin in Persien, Indien, Arabien gewesen, ... dann in Aegypten … dann ging’s quer durch Afrika zur Insel Madeira, wo ich wartete, bis ein Schiff kam, das mich nach Portugal herüberbrachte; von da nach Spanien, Frankreich – ein Stück Oberitalien und Schweiz – ein halbes Jahr in Ungarn und Oesterreich … nun, und das ist alles!“
Annie brach in ein lustiges Lachen aus.
„Wirklich? Also das ist alles! Ich sollte meinen, es wäre gerade genug! Wie einfältig ich mir vorkomme zwischen zwei so weitgereisten Herren – denn Herr von Conventius hat gleichfalls ein sehr schönes Stück Welt gesehen, ich aber kenne nur unsern Rhein, den Harz und ein Ausschnittchen der Alpen. Ach, und dabei bin ich so reisedurstig, daß ich manchmal denke, es befällt mich ein wahres Fieber. Meine Schwester will immer, ich solle mich einer befreundeten Familie anschließen und eine weite, schöne Reise unternehmen, aber sie selbst ist krank und könnte nicht mit mir kommen, und ich hab’ es bis jetzt nicht übers Herz bringen können, sie zu verlassen!“
Ihr Antlitz war jetzt Delmont voll zugewendet, Schönheit und Jugend leuchtete ihm daraus entgegen – über allem aber ein Zug von Seelengüte, der diesen Zügen erst den rechten Adel verlieh. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
„Also, meine Gnädigste,“ sagte in diesem Augenblick der Lieutenant von Conventius am andern Ende der Tafel zu seiner Dame, einer aufgeweckt aussehenden Blondine. „Sie wünschen von mir einigen Aufschluß über die Familie Derer von Conventius? Dies Vertrauen ehrt mich in der That, und ich entspreche Ihrem Wunsch um so lieber, als ich mir später die Freiheit zu nehmen gedenke, Sie um einen kleinen Gegendienst zu ersuchen. Soll ich Ihnen die ganze Stammtafel hersagen?“
„Um Gotteswillen!“ wehrte das Fräulein ab.
„Nun,“ begann der Lieutenant lachend, „daß unser Urahn, Reginald Convent, woraus später Conventius entstand, im zwölften Jahrhundert aus Schottland einwanderte und in Deutschland festen Fuß faßte, kann ich Ihnen nicht ersparen. Auf diesen alten Knaben sind wir nämlich sehr stolz, denn er hat viel für die spätern Geschlechter gethan, unter anderem ein feudales, altes Schloß – zu seiner Zeit war’s freilich ein neues – in Böhmen erbaut, das heute noch steht und dann und wann alle Sprößlinge der Familie, soweit man ihrer habhaft werden kann, in seinen Mauern versammelt. Auf Ihren Befehl, mein Fräulein, übergehe ich sämmtliche Nachkommen dieses Ehrenmannes bis zu dem älteren Bruder meines verstorbenen Vaters, Reginald von Conventius – in dieser Linie heißt jeder älteste Sohn Reginald – welcher Großgrundbesitzer in der Mark, Kammerherr Ihrer Hoheit der Prinzessin Mathilde, Ritter hoher Orden, mit einem Wort, ein echter Edelmann, eine Säule des Staats und ein vortrefflicher Unterthan ist. Er beging die Thorheit, sich in eine junge Dame zu verlieben, die ihm in allen Stücken ebenbürtig war, überdies eine blonde Schönheit von großem Reichthum … nur war sie … ich bitte Sie sehr, mich nicht mißzuverstehen, … sehr fromm! Sie werden mir sagen, das sei die holdeste Blüthe der Weiblichkeit – ich weiß das wohl, – aber doch! Hier hat sich diese Thatsache gerade nicht segensreich erwiesen. Die Gattin meines Onkels war mehr in Kirchen und Wohlthätigkeitsanstalten als daheim zu treffen, das gesellige Leben und Treiben war ihr ein Greuel, sie strebte aus aller Kraft, ihren Gatten demselben zu entziehen und zu ihrer Richtung zu bekehren. Er, seinerzeit ganz toll in sie verliebt und keiner Warnung guter Freunde, welche die hochgesteigerte Frömmigkeit der jungen Gräfin kannten, zugänglich, wollte von einer Aenderung seiner Lebensweise, von Buße und Bekehrung nicht das mindeste wissen, und das Ende vom Liede war, daß das Verhältniß vollständig erkaltete und jeder der beiden Eheleute seinen eigenen Weg einschlug. Ich bin der letzte, der das hübsch findet, aber dergleichen kommt leider oft im Leben vor und hat, außer für die zwei Betheiligten, weiter keine Folgen. Hier sollte es anders sein; ein einziges Kind, ein Sohn, Reginald, war dieser Ehe entsprossen, schön und klug, ein Prachtjunker, der ganze Stolz und die Hoffnung seines Vaters. Körper und Geist hielten gleichen Schritt bei der Entwicklung, glänzende Zeugnisse – Verbindungen – alter Name – alles, wie am Schnürchen! Der Alte, der seinerzeit ein berühmter Gardeoffizier gewesen war, flott und schneidig vom Wirbel bis zur Zehe, konnte die Zeit kaum abwarten, den Sohn in derselben Uniform zu sehen … allein wer beschreibt sein Entsetzen, als dieser Sohn ihm mit all der ruhigen Festigkeit, die seine Mutter ihrem Gatten stets gezeigt hatte, erklärte, er fühle nicht die mindeste Neigung für den Soldatenstand, dagegen eine leidenschaftliche Liebe für den Predigerberuf, weshalb er gedenke, Geistlicher zu werden. Zuerst hielt sein Vater dies für einen schlechten Witz und lachte darüber – aber das Lachen sollte ihm bald vergehen! Bitten, Drohungen, Vorstellungen, Wuthausbrüche, Thränen, das Massenaufgebot der ganzen Familie, Aussicht auf Fluch und Enterbung … alles das prallte ab an dem eisernen, unerschütterlichen Willen dieses damals blutjungen Menschen, der einfach erklärte, sein Beruf ginge ihn allein an, es sei eine tiefernste Sache damit, von der alles abhinge – er wisse genau, dies sei sein Beruf und kein anderer, und er müsse der inneren Stimme, die ihn dazu treibe, folgen, komme es wie es wolle, allen weltlichen Verhältnissen zum Trotz. Der Alte beschwor ihn, noch zu warten, erst zu reisen, die Welt zu sehen und kennenzulernen – der Sohn gab nach und reiste. Er schrieb gute, inhaltreiche Briefe, kam heim, drückte seiner sterbenden Mutter die Augen zu und verkündete dem in athemloser Spannung auf seinen Entschluß harrenden Vater ganz gelassen und in ehrerbietigster Haltung, daß sich an seinen Absichten, sich dem Berufe des Geistlichen zu widmen, auch nicht das Geringste geändert habe. Neue Scenen – neue Wuthausbrüche – Jammer über Jammer – Familienräthe – Elend und Thränen … nun, Sie sehen ja, mein gnädiges Fräulein, wozu das alles bei meinem Vetter Reginald geführt hat: da sitzt er am andern Ende der Tafel als wohlbestallter Prediger an der St. Lukaskirche!“
Das junge Mädchen hatte in großer Spannung zugehört. Jetzt bog sie den Kopf weit vor, um den schönen, blonden Helden dieser Erzählung durch das Gewirr der Flaschen, Gläser, Blumen und Silbersachen sehen zu können.
„Nun – und sein Vater?“ fragte sie dann.
Der Offizier zuckte die Achseln.
„Was will er machen? Den einzigen Sohn, der ihm sonst nie eine trübe Stunde bereitet hat, nur um deswillen zu verstoßen und zu enterben, weil er statt Offizier Pfarrer geworden [587] ist – das hat der alte Herr denn doch nicht übers Herz gebracht. Er grollt und schmollt und ist ganz aus dem Geleise gekommen, denn den Gardeobersten kann er nicht verschmerzen, und wenn’s sein Reginald zehnmal zum Generalsuperintendenten bringt! – So, mein gnädiges Fräulein, das wäre die Lebensgeschichte … meines Vetters … darf ich nun um meine Belohnung bitten?“
„Halt, halt, noch nicht!“ wehrte die schelmische Blondine ab. „Wo bleibt denn Ihr eigenes Lebensläufchen? Das ist doch gewiß auch sehr interessant!“
„Dieses bietet nicht viel des Bemerkenswerthen, soll daher thunlichst abgekürzt werden: Mein Vater, Onkel Reginalds jüngerer Bruder, war ein flotter Soldat – wohl etwas zu flott … mit einem Wort, er quittirte den Dienst und ging, die Empfehlung eines Freundes in der Tasche, nach den Azoren, wo besagter Freund einen reichen Vetter besaß. Seine Braut, eine junge Oesterreicherin, ließ er sich nachkommen, als er sich dort eine gesicherte Stellung erworben hatte, und so genieße ich wenigstens den Vorzug, sehr romantische und phantastische Kindheitserinnerungen zu besitzen, denn meine ersten acht Lebensjahre brachte ich auf den Azoren zu, von Schwarzen gewiegt, von Palmenwedeln gefächelt, von leuchtenden Kolibris und handgroßen, buntschillernden Schmetterlingen umflattert, von zahmen Hausschlangen, die zutraulich bei uns aus- und einschlüpften, umspielt. Da meiner Mutter das Klima nicht bekam, siedelten wir nach Europa über. Ich wurde in aller Eile ein wenig zurechtgestutzt – was meinen Lehrern mindestens eine ebenso peinliche Aufgabe war als mir selber – und dann in ein Kadettenhaus gesteckt. Das war denn nun freilich dort ein anderes Leben als auf den Azoren, und es spielten sich viele Auftritte mit mir als Mittelpunkt ab, die jetzt in der Erinnerung humoristisch wirken, aber als Erlebnisse weniger erheiternd waren. Meine Eltern behielt ich nicht lange mehr, und es fiel nun meinem Onkel Reginald die Pflicht zu, für mich zu sorgen. Daß er dies mit Vergnügen that, kann ich nicht behaupten; man hatte mich ihm als einen kleinen Satan geschildert, ein tropisches Gewächs ohne jede Zucht und Kultur, und da mich mein Onkel gleich sehr hart anfaßte, so hätte das bei meinem angeborenen Trotz leicht eine sehr böse Geschichte abgeben können, wäre nicht mein Vetter Reginald gewesen. Von dem Wechsel, der ihm zu Gebote stand, gebrauchte er kaum ein Drittel für sich, er konnte also seiner Neigung zum unbegrenzten Wohlthun ungehindert die Zügel schießen lassen. Nun – er fand eben, auch mir könnte er wohlthun, und ich kann sagen, er hat an mir gehandelt wie ein Bruder … nein, hundertmal besser, als man leibliche Brüder oft gegeneinander handeln sieht. Auch jetzt, da wir beide hier fremd hergekommen sind … er hat mir’s angeboten, mit ihm in einem Hause zu wohnen, er oben und ich unten, und ich weiß nur zu gut, was er sich dabei denkt und was er damit bezweckt! – Ich bin zu Ende, mein Fräulein!“
„Vielen Dank!“ sagte die Blonde freundlich. „Sie haben sehr hübsch erzählt, und wenn jedermann von Ihrem Herrn Vetter das wüßte, was ich weiß, so würde er allen noch tausendmal interessanter erscheinen, als es jetzt schon der Fall ist, und die Lukaskirche würde die Andächtigen nicht fassen. – Um was aber wollten Sie mich denn bitten?“
Der Lieutenant sah sie etwas besorgt von der Seite an.
„Um einige Aufklärung in betreff der jungen Dame dort drüben, die neben meinem Vetter sitzt. Ich fragte schon zuvor eine ihrer Freundinnen nach ihr, erhielt aber eine ziemlich ungnädige und kurze Antwort.“
„Ach, das ist nichts als purer Neid, glauben Sie ja kein Wort davon!“ platzte Hedwig Rainer – so hieß das blonde Mädchen – ziemlich ungestüm heraus. Und sie schilderte dem aufhorchenden Lieutenant Annie und Thea so warm und herzlich, daß ihr fast der Athem ausging.
„Das muß ja eine höchst anziehende Familie sein, diese Gerolds!“ sagte Lieutenant von Conventius endlich, als seine Nachbarin schwieg. „Kann man denn dort auch gelegentlich einen Besuch machen?“ „ Gewiß kann man das! Gerolds sind ungemein gastfrei und geben in jedem Winter ein paar Gesellschaften, bei denen auch getanzt wird. Nur schade – – für dies Jahr ist es zu spät!“
„Das wird den Kameraden sehr leidthun! Parsifal war Feuer und Flamme für Fräulein Gerold!“
„Parsifal? Wer ist das?“
„Entschuldigen Sie! Es plaudert sich so ungezwungen und angenehm mit Ihnen, Fräulein Rainer, daß ich in der Einbildung lebte, wir seien alte Bekannte. Also der ursprüngliche Name dieses Kameraden – der dort links sitzt mit dem martialischen rothen Schnauzbart – ist Thor von Hammerstein. Er ist übrigens trotz seiner grimmigen Miene ein lammfrommes Geschöpf und schlechten Witzen gegenüber ziemlich wehrlos. Der bartlose bewegliche Kamerad rechts drüben ist der Lieutenant Gründlich, er muß seines Namens wegen viel ausstehen, hat aber Haare auf den Zähnen und kann sich seiner Haut wehren.“ – –
Die Stimmung rund um die Tafel wurde immer belebter, man unterhielt sich gut, und die Ulanen, die alle neben hübschen Mädchen untergebracht waren, fanden, daß die Weylands ein reizendes Haus machten und daß es schon der Mühe lohne, sich demselben zu widmen. Freilich fanden sie es in der Stille etwas wunderlich, daß gerade das unstreitig schönste Mädchen der ganzen Gesellschaft zwischen zwei Zivilisten gesetzt worden war – anziehende, gescheidte Männer ohne Zweifel, die sich auch mit Ehren sehen lassen konnten – aber man hätte diese entzückende Erscheinung von Rechts wegen einem Ulanen zutheilen müssen!
Unter der Wirkung des Weines, der verschiedenen Tischreden und der aufmunternden Blicke ihres Mannes fühlte auch Frau Hedwig Weyland die Bürde ihrer „Ahnungen“ minder schwer als zuvor. Sie versuchte es, sich selbst recht ernstlich auszuschelten. Alles um sie her war so hell, so fröhlich und festlich, und sie wollte ihre Zeit mit dunkeln Grübeleien verderben? Robert hatte recht, sie müßte zu klug für solche Thorheiten sein! Nicht weit von ihr saß ihr Liebling, Annie Gerold, und unterhielt sich allem Anschein nach vortrefflich. Nun ja! Dafür hatte sie, Frau Weyland, ihr auch die zwei bedeutendsten Männer aus der ganzen Gesellschaft zu Tischnachbarn ausgesucht! Sie und Pfarrer Conventius waren ohne Zweifel die beiden prächtigsten Erscheinungen an dieser von hübschen Menschen so reich umgebenen Tafel. Aber auch Professor Delmont sah vorzüglich aus! Wo hatte denn sie, Hedwig Weyland, bei dem Anstandsbesuch Delmonts ihre sonst so guten Augen gehabt? Das war ja ein ausfallend hübscher Mann, zumal wenn er wie eben jetzt lachte und seine mächtigen Augen so wunderbar glänzten! Freilich – damals bei dem Besuche hatte er gar nicht gelacht! –
Eben jetzt, wie Frau Weyland ihn schärfer ansah, verwandelte sich sein Gesicht von neuem – ein glückliches Leuchten dämmerte in seinen Augen auf und verklärte das ganze Antlitz, dem die tief in die Stirn fallenden dichten braunen Haare etwas von dem Anblick eines gezähmten Löwen gaben. Dann wieder, als hätte eine harte Hand allen Jugendglanz und allen Frohsinn von diesen Zügen hinweggewischt, waren sie plötzlich wieder wie kalter Marmor, aus dem die großen Augen mit dem eigenartigen Räthselblick schauten.
Und angesichts dieses raschen Wechsels schoß der beobachtenden Frau heiß und jäh wieder dieselbe unerklärliche Angst zum Herzen, die sie den ganzen Abend hindurch bekämpft hatte und jetzt fast ganz verjagt zu haben glaubte. Sie hätte aufspringen, hineilen, Annie bei der Hand fassen und mit ihr irgend wohin flüchten mögen, sie kam sich selbst unverantwortlich vor, daß sie dem jungen Mädchen gerade diese Nachbarschaft gegeben hatte. Freilich, sie hatte es gut gemeint; was wußte sie denn von Delmont? Daß er sich einen großen Namen gemacht hatte, daß er für einen berühmten Künstler galt – sie hatte gedacht, das würde Annie anziehen – und in der That – so schien es – sie hatte ihren Willen! –
„Nach Tisch – was thut man da?“ hatte Delmont soeben gefragt.
Und Annie hatte lachen müssen.
„Was man da thut? Komische Frage, nicht wahr, Herr von Conventius? Professor Delmont muß an den Ufern des Ganges und des Nils jeden Begriff einer stilgerechten Abendgesellschaft in Deutschland verloren haben. Was soll man denn nach solchem Essen anderes beginnen als tanzen?“
Sein Gesicht wurde finster.
„Dann sind Sie uns beiden also verloren!“ sagte er kurz.
„Ihnen beiden? Sie tanzen auch nicht, Herr Professor? Gar nicht? Nicht einmal die solideste Française?“ In ihrem Ton klang eine ehrliche Enttäuschung mit.
„Ich und Française tanzen! Eine schöne Rolle würde ich dabei spielen! Ich glaube, es ist fünfundzwanzig Jahre her, seit ich zuletzt getanzt habe!“
[588] „Fünfundzwanzig Jahre! Das ist doch nicht möglich! Wie alt können Sie denn damals gewesen sein?“
„Nun – vielleicht dreizehn- oder vierzehnjährig – dann hat der Tanz für mich aufgehört!“
Es klang so herb, daß Annie fast erschreckt ihm ins Antlitz blickte. Sie begrüßte es in diesem Augenblicke als einen willkommenen Ausweg, daß hinter ihr der aufwartende Diener mit einer Schale Eis erschien. „Wahrhaftig, jetzt geht schon der Nachtisch herum! Sind wir wirklich schon mit dem ganzen Essen fertig?“ sagte sie, um rasch über die Verstimmung hinüberzuleiten, welche aus dem letzten Worte Delmonts gesprochen hatte.
Sie hob ihr gefülltes Champagnerglas gegen Frau Hedwig, die gerade zu ihr herübersah, mit einem strahlenden Aufblick, der sagen wollte: „Ich bin Dir dankbar, Liebste, und unterhalte mich vortrefflich!“
Die ältere Freundin verstand diesen Blick, sie lächelte und nickte wieder, aber sie unterdrückte einen Seufzer, als sie ihr Glas an die Lippen setzte und Annie Gerold zutrank.
Vor dem Geroldschen Hause, einem stattlichen Gebäude älterer Zeit, reich mit Schnitzwerk und alterthümlichen Zieraten versehen, hielt ein Miethwagen.
Sofort öffnete sich eines der Fenster im Oberstock und eine Stimme fragte in die Nacht hinaus: „Sind Sie das, Fräulein?“
„Ja, Elise! Ist denn der Lamprecht nicht da?“
„Gewiß, er bastelt ja schon unten am Hausthor herum, das Schloß ist wieder ’mal verquollen!“
Besagtes Hausthor wich jetzt mit vernehmlichem Geknarre zurück, und in seinem Rahmen erschien die Gestalt eines grauhaarigen Mannes in schlichter, dunkler Dienertracht, der ein hellbrennendes Laternchen in der Hand hielt und vorsichtig über das schlüpfrige Straßenpflaster schritt. Der Wind hatte umgesetzt, vom sternlosen, wolkenverhangenen Himmel fielen große Tropfen, die Luft war eigenthümlich still und weich.
„Hier, nimm meine Cotillonsträuße, lieber Lamprecht – bitte, laß keinen fallen, acht müssen es sein! Da ist mein Fächer – die Tanzkarte – das Menu – jetzt komme ich selber! Aha! Hab’ ich’s nicht gesagt: wir bekommen Frühling?“
Annie blieb mitten auf der dunklen, nassen Straße stehen, warf den Kopf hintenüber und sah wie verzaubert zu dem lichtlosen Nachthimmel empor.
„Um Gotteswillen, Fräulein Anniechen! Wollen Sie sich den Tod holen? Hier auf der stichdunklen Straße, im zerlassenen Schnee, Punkt Glock’ drei Uhr!“
Eben holte eine Kirchenuhr in unmittelbarer Nähe zu drei tiefen, dröhnenden Schlägen aus.
Mit einem hörbaren Athmen wandte sich die junge Dame um.
„Komme schon! Dir ist auch nicht wohl, wenn Du nicht mit mir schelten kannst! So – nun leise, leise! Halt’ meine Sträußchen fest! Da wären wir drinnen! Hast Du schon Licht für mich angezündet im Wohnzimmer?“
„Was sich Fräulein Anniechen bloß denken! Fräulein Thekla sind ja noch auf und warten –“
„Meine Schwester? Was? Gar nicht zu Bett gewesen?“
„Gar nicht!“
Annies Brust hob sich in einem leisen Seufzer.
„Dann hat sie gewiß wieder böse Schmerzen – und ich – und ich – so, Lamprecht, nun geh’, da ist der Mantel, die Tücher! Gieb die Blumen her – gut’ Nacht, grüß’ Deine Frau! Was möchtest Du noch haben?“
„Haben?“ murmelte der Graukopf, der sich Annies Mantel über den Arm legte und mit einem halb bewundernden, halb vorwurfsvollen Blick das reizende junge Geschöpf in dem weißen Kleide musterte. „Nichts will ich haben! Aber daß ich nicht ’mal zu hören bekomme, wie es denn nun gewesen ist bei Weylands, daß ich doch der Agathe sagen kann: ‚sie hat sich amüsirt‘ – oder: ‚sie hat sich nicht‘ –“
„Ach so! Nimm mir’s nicht übel, ich dachte an Thea! Sag’ Deiner Frau, es war wunderschön; es war – ich – morgen, morgen! Gute Nacht!“
Sie gab dem Alten mit einem freundlichen Nicken den Abschied, dann schlich sie auf den Zehen nach der Thür des Nebenzimmers, um zu lauschen.
„Vögelchen – Du?“ kam eine müde Stimme von drinnen.
„Ja, liebste Thea!“ Und wirklich so leicht und rasch wie ein Vogel huschte das junge Mädchen ins Zimmer. – Dieses, von den Damen „die Wohnstube“ genannt, war trotz seiner Größe und Höhe ein äußerst behaglicher Raum mit seiner dunklen Eichentäfelung, welche die halben Wände bedeckte, mit den breiten, tiefen Fensternischen, in denen, um ein paar Stufen erhöht, Näh- und Arbeitstische, sowie einige Blumenständer mit schönen Blatt- und Topfpflanzen Platz hatten, mit der prachtvollen, alterthümlichen „Kredenz“, in deren Fächern es von kostbarem Porzellan und Krystall, von Silber- und Glassachen glitzerte, mit seinen schweren, gediegenen Möbeln, die von ehrwürdigen Zeiten redeten. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Eichentisch auf massiven Kugelfüßen, drüber hing eine große Ampel an sechs Kupferketten. Sie brannte sehr hell und zeichnete in das ernste, dunkel gehaltene Gemach eine helle Lichtinsel hinein. Auch den hohen, breiten, mit tiefrothen Polstern belegten Lehnsessel traf voller Lampenschimmer, ebenso das Leidensgesicht, das in den Kissen lag, wachsweiß, mit bläulich gefärbten Augenlidern, glanzlosen schwarzen Haaren und übernatürlich großen Augen. Wohl schienen diese Augen, wie sie klug und lebhaft aufblickten, von keinem Schmerz erzählen zu wollen – desto mehr that dies der Mund, der beständig von einem gequälten Zug umgeben war. Eine durchsichtige Hand lag auf der weichen türkischen Decke, die über die Kniee der Kranken gebreitet war, neben dem Sessel lehnte ein hoher Krückstock mit gepolstertem Griff.
Annie warf all ihre Blumen auf den Tisch und beugte sich über das blasse Gesicht, das sie mit ihren beiden jungen warmen Händen streichelte.
„Thea, Thea! Da bin ich wieder! Wie geht Dir’s?“
„Kleiner Schelm, Du willst jetzt natürlich, ich soll sagen: Gut, da ich Dich wieder habe! Aber das kann ich doch nicht – Du hast Dir ja auch ein für allemal feierlich solche Rücksichtslügen verbeten! Wie soll es mir gehen? Es war recht schlimm eine Zeitlang, die Schmerzen sehr arg, danach führten die Nerven einen ganz tollen Tanz auf, aber die letzten Tropfen, die Heimbucher mir verschrieben hat, thaten mir wirklich gut, ich konnte doch wieder lesen, und Du weißt, dann sind wir übern Berg; mir war die letzten Stunden ganz leidlich zumuthe, nur an Schlaf wäre ohnehin kein Gedanke gewesen, darum blieb ich lieber auf. So! Dies leidige Thema wäre abgethan! Jetzt kommt unser Vergnügen! Du siehst ja keine Spur müde aus, und ich kenne Dich, Du mußt Dich immer erst ausplaudern. Also setz’ Dich dahin und erzähle!“
„Das Neueste, Thea! Wir bekommen Frühling! In allem Ernst!“
„Wirklich?“ – In den klugen Augen wachte etwas Schwermüthiges auf, das aber rasch verflog. „Nun aber – Deinen Bericht!“
„Zuerst eine Frage: Findest Du, Thea – aber Du mußt ganz, ganz aufrichtig sein wie immer! – daß ich heute … daß ich heute … Du brauchst nicht zu lachen – besonders hübsch aussehe? Hübscher als sonst?“
Thekla blickte verwundert auf. Ihre junge Schwester stand vor ihr; schlank hob sich die weiße Lichtgestalt von dem dunklen Hintergrund des Eichengetäfels ab, die schönen Hände spielten mechanisch mit den über den Tisch hingestreuten Blumen, die Augen, in denen eine seltsam lebhafte Erwartung glänzte, hingen in selbstvergessener Spannung an Theklas Antlitz.
Diese überflog das reizvolle Bild mit ihrem prüfenden Blick.
„Ja!“ sagte sie dann kurzweg.
Ein halb unterdrückter Jubellaut antwortete ihr. „Also wirklich! Siehst Du, das freut mich aber!“
„Ja – ich sehe! Und warum freut’s Dich so besonders?“
„Ach – nun – weißt Du, ich bin heute ein bißchen sehr gefeiert worden – noch mehr als früher! Die beiden interessantesten Herren von der ganzen Gesellschaft hat mir Hedwig zu Tischnachbarn gegeben, und Du kannst Dir denken, da hieß es natürlich wieder gleich, ich hätte sie angelockt, und die anderen Mädchen besprachen und beneideten mich – das natürlich machte mir keine Freude …“
„Was also sonst?“
Annie wurde verlegen und senkte die seidenen Wimpern.
[589] „Ich … aber Thea, ich sagte Dir doch, man hat mich ausgezeichnet – mir den Hof gemacht – all die neuen Ulanen waren da – sieh nur die vielen Cotillonsträuße! Ich bin ja doch jung, mir machte es Spaß –“ sie stockte und verwirrte sich immer mehr – „ich möchte wissen, warum Du mich so ansiehst?“
„Weil Du mir nicht alles sagst!“
„Ich – Dir? Aber ich will Dir ja alles sagen!“
„Schön! Zunächst: wer waren diese beiden interessanten Tischnachbarn?“
„Ach, Dich hätten sie auch interessirt! Mein Kavalier war Herr von Conventius, der neue Prediger an der Lukaskirche! Ich gehe hinein, wenn er seine Antrittspredigt hält, ja, Thea, ich thu’ es wahr und wahrhaftig, Du kannst dazu sagen, was Du willst!“
„Ich sage gar nichts dazu!“
„Gar nichts? Also dann erst recht! Ein bildschöner Mann, groß, schlank, blond, recht wie der Abkömmling eines alten Adelsgeschlechtes; und das ist er auch; sein Vetter, ein fideler Lieutenant, mit dem ich den Cotillon tanzte, hat es mir erzählt, und wie er aus Liebe zu seinem Beruf, aus Ueberzeugungstreue sich mit seiner ganzen Familie überworfen und fast mit seinem Vater entzweit habe, der mit Gewalt einen Offizier aus ihm machen wollte. Ist das nicht edel, nicht bewunderungswürdig? Und dabei keine Spur von einem finsteren Eiferer – ein Weltmann von feinsten Manieren, gewandt und dabei gediegen in der Unterhaltung, sogar humoristisch – ich wollte, ich könnte Dir sein Gesicht beschreiben!“
„Schon gut, Vögelchen! Und der andere?“
„Der andere? Ah ja, den Lieutenant von Conventius meinst Du! Der ist ganz hübsch und lustig, sieht aber seinem Vetter gar nicht ähnlich.“
„Den meine ich überhaupt nicht! Dein zweiter Nachbar bei Tisch.“
„Mein zweiter Nachbar? Professor Delmont!“
„Der hier neu an der Akademie angestellt ist? Von dem die Zeitungen soviel Aufhebens machen?“
„Ja!“
„Ebenfalls bildschön?“
„Nein!“
„Auch Kavalier von den feinsten Manieren? Gewandt? Humoristisch?“
„Nein.“
„Also ein unangenehmer Mensch?“
„Nein, … nicht unangenehm!“
Eine Pause entstand. Die Hand der älteren Schwester strich mechanisch über die feinen Haare des Teppichs auf ihrem Schoße, die Hand der jüngeren zerzupfte die Blumen.
„Die armen Dinger! Alle an Draht geschnürt!“ hieß es dann, und Annie griff ein kleines Sträußchen von weißem Flieder und dunkeln Veilchen aus den andern heraus und wickelte behutsam den Draht davon los.
„Morgen ist das alles verdorben! Hast Du nicht Wasser hier, Thea? – Danke!“
Sie holte aus der Kredenz eine schöne, schlanke, kleine Vase in Form einer Lilie, goß Wasser aus Theklas Glas hinein und setzte mit sorgsamer Hand das Sträußchen von Veilchen und weißem Flieder in den Lilienkelch.
Als sie von ihrem Werk aufsah, begegnete sie dem ruhig und aufmerksam auf sie gerichteten Blick ihrer Schwester.
„Wünschest Du noch etwas, Thea?“
„Nein, mein Kind!“
„Dann möchte ich doch schlafen gehen, mich überkommt eine plötzliche Müdigkeit; Du mußt doch endlich auch zur Ruhe! Wollen wir gehen?“
„Gewiß wollen wir. Zünde die kleine Lampe für uns an und lösch’ die Ampel aus. – So ist’s recht!“
Sie warf einen raschen Seitenblick auf die übrigen Blumen, die vergessen und halb verschmachtet auf dem Tisch umherlagen, und erhob sich mit Hilfe Annies, welche die gebrechliche Gestalt liebevoll stützte und mit einem Arm umfaßt hielt, während sie sie sorgsam über die Schwelle leitete.
Die beiden Schwestern bewohnten zwei luftige, nebeneinander liegende Schlafzimmer; ein gemeinsamer Aufenthalt in einem Raum verbot sich dadurch, daß Annie oft spät heimkam und Thekla sich zuweilen früher zurückzog, oft auch in der Nacht vor Schmerzen
[590] nicht schlafen konnte und Licht anzündete, um zu lesen oder Medizin zu nehmen.
Die Verbindungsthür stand wie immer so auch jetzt offen. Schweigend geleitete Annie die Kranke, half ihr rasch und geschickt beim Entkleiden und küßte sie dann zur Gutenacht. Etwas wie Unentschlossenheit und hilflose Verlegenheit malte sich in den ausdrucksvollen Zügen des jungen Mädchens, während sie, ohne ein Wort zu sprechen, die gewohnten Handreichungen leistete. Auch Thekla blieb stumm, sie hatte die Augen gesenkt und vermied es, ihre Schwester anzublicken.
„Willst Du die Lampe brennend behalten, Thea?“
„Nein, lösche sie nur aus!“
„Gute Nacht, liebste Thea, schlaf’ wohl!“
„Du auch, Kleine!“
Und jetzt wurde es ganz still. Thekla lag regungslos, mit weitoffenen Augen, und starrte in den Lichtstreif, der sich durch die Thür des Nebenzimmers ein Stück in ihr Gemach hineinschlich; dann und wann huschte ein flüchtiger Schatten drüber weg – Annie, die geräuschlos hin- und herging und einzelne Stücke ihrer Gesellschaftskleidung verwahrte.
Sonst war das immer anders gewesen nach solch’ einem Fest – ganz anders! Da hatte Annie drüben im Wohnzimmer schon des Plauderns und Lachens kein Ende finden können, und Thekla mußte wiederholt mahnen, endlich zur Ruhe zu gehen. Aber dazu kam es noch lange nicht – die jüngere Schwester hatte dann immer noch auf der Bettkante der älteren gesessen und von neuem angefangen, zu berichten, so drollig und hübsch, daß Thekla oft ihre mütterlichen Pflichten vergaß und das „Kind“ in Gottes Namen erzählen ließ, … es war so reizend, ihr zuzuhören! O, sie hatte oft mit Feuereifer von diesem und jenem Herrn gesprochen, sich ihrer Triumphe gefreut – hatte sie doch schon mehr als einen Bewerber ausgeschlagen! – und begeisterte Schilderungen wie heute die von Conventius waren bei Annies lebhaft empfänglicher Natur gar nichts so Seltenes. Ein so seltsames Ausweichen aber und Verstummen war bisher noch nie dagewesen. Sollte – –
Und Theklas wandernde Gedanken, gleich aufgescheuchten Vögeln um ihr Nest flatternd, das ihnen plötzlich fremd erscheint, tauchten weit, weit rückwärts in ihre eigene aufdämmernde Kindheit und sahen, wie wenn es eine ganz andere Persönlichkeit wäre, das kleine, bleiche, verkümmerte Mädchen auf seinem hohen Polsterstuhl sitzen, oder auf dem Ruhebett liegen, immer, immer mit Schmerzen und ohne Mutter! Die hatte das Kind nie gekannt, sie war von ihm gegangen, als es erst wenige Monate zählte, aber es kam kaum dazu, sich nach ihr zu sehnen – der Vater war ja da! Er hob und trug seine kleine, er reichte ihr die Medizin und den Wein, er schnitt ihr das Fleisch zurecht, erzählte ihr Märchen und spielte mit ihr, und seine Hand war frauenhaft weich und behutsam wie die einer Mutter, seine Stimme immer sanft, wenn er zu dem Kinde sprach, seine Augen stets voll Liebe, wenn sie auf ihm ruhten. Den „gelehrten Gerold“ nannten ihn die Leute und wunderten sich, daß er, der einzige Sohn eines reichen, alten Patrizierhauses, sich nie zu einem Brotstudium entschlossen hatte – er würde sicher ganz hervorragendes geleistet haben. Er hatte sich nur den Doctor juris erwerben und sich dann mit der Rechtswissenschaft nur noch gelegentlich abgegeben – Philosophie und Sprachen, die alten wie die neuen, waren seine Steckenpferde, und wer Gelegenheit fand, ihn in eingehende Gespräche wissenschaftlichen Inhalts zu verflechten, der mußte über die Fülle von Kenntnissen staunen, die er hier vereinigt fand. Gerold ging sehr selten aus, empfing aber gern und häufig Besuche und konnte, sobald er sich mit diesen in interessante Fragen vertieft hatte, so anziehend und inhaltreich reden, daß seine Gäste Zeit und Stunde darüber vergaßen und nicht selten die Thurmuhr der nahen Lukaskirche Mitternacht schlug, ehe man sich entschließen konnte, aufzubrechen.
Seine kleine Tochter unterrichtete der Doktor selber, „nach eigenster Methode“, wie er lächelnd zu sagen pflegte. Thatsache war, daß das Kind bei dieser Methode erstaunlich rasch vorwärts kam, obgleich der Vater es eher zurückhielt, als antrieb; aber ein glühender Lerneifer, gepaart mit ungewöhnlicher Begabung und dem leidenschaftlichen Wunsch, dem Vater Freude zu machen, hob den jungeu Geist siegreich über alle Schranken hinweg, die der gebrechliche Körper ihm zu ziehen drohte. So kam es, daß
Thekla, „des gelehrten Gerold gelehrte Tochter“ wurde, daß sie Lateinisch lernte und Griechisch trieb, daß sie sich allgemach in die philosophischen Systeme vertiefte und mit ihrem ursprünglich schon so scharfen und dann vortrefflich beschulten Geist des Vaters junger „Amanuensis“ ward, wie er sie zu nennen liebte, sein bester Freund und Gehilfe, ja zuweilen, worauf sie unsäglich stolz war, sein Rathgeber. Denn Gerold verschmähte es durchaus nicht, ehrlich zuzugestehen, daß ein gewisses Ahnungsvermögen, feinfühliges Tasten und Finden weit mehr Frauen- als Männersache sei, und daß seine Tochter ihn auf solchem Gebiet zuweilen übertreffe.
In dies gelehrte Stillleben, dies Arbeiten und Streben zu zweien fiel urplötzlich wie ein zündender Blitz aus wolkenlosem Himmel Gerolds auflodernde Leidenschaft für ein junges, schönes und reiches Mädchen, das er im Hause eines seiner wenigen Freunde flüchtig kennengelernt hatte. Völlig umsonst, daß er sich an sein ergrauendes Haar, seine fünfzig Jahre, seine erwachsene Tochter erinnerte, daß er sich die Unmöglichkeit, dies junge bildschöne, lebensfrohe, vielumworbene Geschöpf für sich, den so viel älteren Mann, zu gewinnen, mit grausamer Schärfe vorhielt – umsonst, daß er es vermied, sie wiederzusehen, sogar, eine bisher unerhörte Thatsache, sich von seiner kranken Tochter trennte, um eine Reise zu machen und zu vergessen, – daß er sich wie ein Schwimmer in den reißenden Strom mit einer Art von Verzweiflung in seine Arbeiten stürzte. Die Leidenschaft hatte ihn gepackt und ließ ihn nicht los, er fühlte, er müsse zu Grunde gehen, wenn er nicht Gewißheit habe, und sei es die schmerzlichste. – – Aber das vollständig Unerwartete geschah: der einsame, gelehrte Witwer, der alternde Mann hatte es dem reizenden jungen Wesen angethan, alle Bitten und Vorstellungen, alle Warnungen vor der stillen Häuslichkeit, der überstudierten Tochter, dem bedenklichen Altersunterschiede fruchteten nichts, Ellinor bestand fest auf ihrem Willen und legte mit hellen Freudenthränen in den wunderschönen, leuchtenden Augen ihre Hand in die des überglücklichen Verlobten.
Die Art, wie Gerold seiner Tochter Thekla beichtete, die Worte, die er ihr damals sagte, voll felsenfesten Vertrauens in ihren Charakter, in ihre Liebe zu ihm, voll innigster Vaterzärtlichkeit – nie würde die Tochter das vergessen bis ans Ende ihres Lebens! Sie that alles, was sie konnte, sich der hohen Meinung, die der Vater von ihr hegte, werth zu zeigen, sie brachte der zukünftigen Mutter, die kaum so alt war wie sie selbst, Freundlichkeit und guten Willen entgegen – mehr konnte sie nicht!
Wie sie aber das schöne, liebliche Geschöpf zum ersten Mal sah, als es befangen über die Schwelle ihres Zimmers trat und ihr mit einem bittenden Blick die Hand hinhielt, da wurde ihr wie mit einem Zauberschlage die Gewalt klar, die ein solches Glückskind selbst über einen Mann, wie ihr Vater es war, auszuüben vermochte – da griff sie nach dem schüchtern entgegengestreckten Händchen, drückte sprachlos ihr Gesicht dagegen und brach in eine Fluth von Thränen aus. So fanden sich gleich beim ersten Male diese beiden grundverschiedenen Naturen zu einander, so hielten und behielten sie sich bis zum Scheiden.
Wie einen ganzen Strom goldigsten Sonnenscheins goß Ellinors Wesen seinen eigenartigen Zauber über das ernste, stille Patrizierhaus; von dem Herrn dieses Hauses und seiner Tochter, von den jetzt häufigeren Gästen bis zu den Bediensteten, Ellinors ehemaliger Wärterin Agathe, jetzt Wirthschafterin, und dem ältlichen Diener des Geroldschen Hauses Lamprecht, die sich nach kurzer Frist zu einem zufriedenen Paar verbanden – da war keiner, welcher der jungen Frau nicht blindlings ergeben gewesen wäre. Ihr glockenreines Lachen, ihre helle Stimme belebte Haus und Garten, Flur und Treppen.
Sie hatte die landläufige Töchterschulbildung genossen und zeigte, trotz großer Fassungsgabe, keine besondere Lust, ihre Kenntnisse noch irgendwie zu vermehren. „Ich bin ja meinem Richard klug genug!“ sagte sie zuweilen lachend. Und in der That – sie war ihm klug genug, mit ihrem raschen Geist, ihrer lebendigen Auffassung, dem glücklichen Humor und jener sprudelnden Einbildungskraft, die von trockenem Wissenskram wenig wissen will, dagegen das Gemüth wie ein frischer Bergquell erquickt und allen Dingen im Alltagsleben einen eigenthümlichen Hauch von Poesie zu geben weiß. Oft ließ sich die junge Frau gutmüthig mit ihrer geistigen Trägheit necken und lachte selbst am heitersten mit – die wenigsten nur wußten, daß es nicht nur Bequemlichkeit war, [591] die sie an den Studien ihres Gatten scheinbar wenig Antheil nehmen ließ! Sie wollte Thekla das einzige Recht, das diese voll und ganz genoß, das der geistigen Gemeinschaft mit ihrem Vater, nicht entziehen, da sie das Herz des geliebten Mannes schon ohnehin zu eigen hatte. Sie fuhr aus, machte Einkäufe und Besuche oder lud sich eine Freundin ein, nahm wohl auch ein hübsches Buch vor, während die beiden miteinander lasen und disputirten, um dann, schön und hell wie ein Maientag, in das Studierzimmer zu treten und sich mit einem Sturm von Jubel und Zärtlichkeit begrüßen zu lassen. Sie verstand es, aus allem etwas zu machen, das unbedeutendste Erlebniß anmuthig oder witzig zu schildern; dabei blieb ihr Gemüth rein und ihr Herz weich, nie kam ein hartes oder liebloses Urtheil aus ihrem Munde. Unmöglich, sie nicht zu lieben – unmöglich, die drei Jahre voll ungetrübten Sonnenscheins zu vergessen, die sie dem Hause gebracht hatte.
Ihr Töchterchen Annie, Zug um Zug ihr Ebenbild, lebte schon ein Jahr und gab durch sein Dasein der schönen, jungen Mutter einen neuen Reiz, als eine Typhusepidemie ausbrach und im ganzen Hause ein einziges Opfer forderte.
Sie litt nicht lange, sie starb, wie man mit rascher Hand eine Blume knickt, die eben in vollem Prangen ihren köstlichen Kelch erschlossen hat – aber die sie zurückließ – –
„Gut, daß Du von all dem Jammer keine Ahnung hast!“ dachte Theka Gerold und starrte mit heißen Augen auf den Lichtstreifen, der eben wieder durch Annies vorüberhuschende Gestalt verdunkelt wurde. Der unglückliche Gatte war in einen trostlosen Zustand gerathen; er konnte das Kind in der ersten Zeit nicht sehen, das ihn mit den Augen der Entschlafenen anlachte, er konnte lange den Ton des feinen Stimmchens nicht hören, das ganz so glücklich aufjauchzen konnte, wie die Mutter es verstanden hatte, er wollte auch keinen Zuspruch, kein Trosteswort hören. Ach, wo blieb nun die vielgerühmte Macht der Wissenschaft, wo die stolze sieghafte Kraft seiner Philosophen? Sie waren alle, alle machtlos, ihm zu helfen, sie konnten sein wundes Herz nicht heilen und ihm seinen Liebling nicht zurückgeben!
Er wäre gern gestorben, aber … erst zögernd, dann lauter und bestimmter sagte er sich’s: „Das darfst du nicht – was würde aus dem Vögelchen werden?“
„Das Vögelchen“ – so hatten sie Ellinor genannt, so nannten sie auch die Kleine, wenn sie in ihrem kurzen, weißen Röckchen die dunkeln langen Treppen heruntergeflattert kam und sich mit einem hell zwitschernden Laut dem Vater in die Arme warf. Das Kind liebte den stillen, traurigen Vater abgöttisch, und dieser konnte schließlich nicht anders – er mußte diese Liebe erwidern! Gewiß, Thekla war gut und behütete das Kind wie ihren Augapfel, aber sie war so ernst, und ein Kind, gar dies Kind, das Kind dieser Mutter, brauchte Freude! Die mußte der Vater ihm verschaffen, und er that es, soviel in seinen Kräften stand. Sein „Amanuensis“ stand ihm getreulich bei. Als der Vater gefragt hatte: „Willst Du es übernehmen, Thekla, das Kind mit mir zusammen zu erziehen?“ da hatte sie ein feierliches „ja“ gesprochen, und sie ordnete sich in allem ihrem Vater unter. Er putzte die Kleine heraus wie ein Prinzeßchen – Thekla schüttelte insgeheim den Kopf dazu, sagte aber kein Wort, und es kam die Zeit, da sie dem Vater recht gab, wenn er behauptete, das Vögelchen sei auch darin seiner Mutter echtes Kind, daß es keine Spur eitel sei. Es freute sich des neuen schönen Kleidchens, weil das Kleidchen schön war, nicht aber, weil es ihm besonders gut zu Gesicht stand, es spielte mit dem kleinen abgegriffenen Gummiball ebenso gern wie mit der kostbaren Pariser Puppe, es hatte immer soviel zu thun und zu denken in seinem lustigen kleinen Köpfchen, und es hatte sich den ganzen Tag zu freuen und den Vater zu streicheln und zu küssen und Thekla zum Lachen zu bringen mit seinen drolligen Kindereinfällen … wo hätte das Vögelchen wohl die Zeit hernehmen sollen, um eitel zu werden? –
Es wurde fünf, es wurde sechs Jahre alt, es sollte bald sieben werden – ein kräftiges, schön entwickeltes Kind. Thekla fand in der Stille, nun sei es höchste Zeit, daß es anfange, etwas zu lernen. Sie selbst hatte in dem Alter schon fließend lesen und schreiben können. Allein der Vater wünschte es nicht, Vögelchen sollte seine Kindheit herrlich genießen. Das that es denn auch und jubelte und lachte im Garten und tollte mit Agathe und dem ehrbaren Lamprecht und mit den kleinen Freunden und Freundinnen, daß es im ganzen Hause einen lauten Widerhall gab. Endlich fing der Vater doch an, seine Annie zu unterrichten, aber es wurden andere Lehrstunden als damals bei Thekla. Diese hatte haarscharf aufgemerkt, faßte jede Sache mit gleichem Eifer an, wollte lernen, lernen um jeden Preis. Annie aber hatte ihre Lieblingsstunden, ihre ausgesprochenen Neigungen – was nicht zu ihrem Gemüth, zu ihrer Phantasie sprach, das ließ sie ganz kalt, sie lernte es wohl, dem Vater zuliebe, aber es blieb gleichsam ein todtes Kapital in ihr – sie war auch hierin ihrer Mutter echtes Kind!
Der „gelehrte Gerold“ sah es – und sah es mit Freude! Hatte er an einer studierten Tochter genug, oder rührte ihn die Aehnlichkeit, die das Kind in allen Stücken mit der geliebten Frau hatte, so tief?
Gerold lebte mit beiden Töchtern auf seine Weise: Thekla war recht eigentlich das Kind seines Geistes – Annie das seines Herzens, und doch theilte er jedem von beiden mit! Auch in religiöser Beziehung hatte er es mit den Töchtern verschieden gehalten. Während er Thekla allmählich in die freie, feine Luft der philosophischen Gedankenhöhen hinaufgeführt, sie zu scharfem, logischem Denken erzogen und einen Freigeist aus ihr gemacht hatte, der alles hinnahm, wie es eben kam, als eine unerbittlche Nothwendigkeit, war es ihm ein unabweisliches Bedürfniß gewesen, Annies Kinderhändchen allabendlich zum Gebet zu falten, sie hinaufschauen zu lehren zu dem Gott, den ihre Mutter in ihrem reinen Sinn gesucht und gefunden, dem sie so unendlich oft für ihr Glück gedankt und der ihr geholfen hatte, das Scheiden zu ertragen.
So lebten diese drei Menschen ihr Leben, vereint in innigster Liebe und doch in den Grundelementen durchaus von einander verschieden, - der Vater gewissermaßen als Vermittler zwischen den beiden Töchtern stehend, welche die schärfsten Gegensätze darstellten. Und so ging es, bis Annie fünfzehn Jahre alt war. Da fanden sie eines Abends – es war wenige Tage nach Annies Konfirmation – den Vater in seinem Lehnsessel todt, friedlich und heiter anzusehen, und das lebensgroße Bildniß seiner Ellinor, das ihm gegenüber hing, lächelte auf den stillen Schläfer herab.
Das Herz sei nicht so ganz in Ordnung gewesen, erklärte der Hausarzt – aber an ein so rasches Ende hatte wohl niemand gedacht, niemand als der Verstorbene selbst. –
Die zurückgebliebenen Töchter fanden sich in ihrem tiefen, großen Schmerz noch inniger zusammen als bisher. Annie in ihrem Jammer war ganz fassungslos, und Thekla, obschon bis ins innerste Herz hinein wund, raffte sich gewaltsam empor, um die junge Schwester zu trösten. Sie hatte ihren Vater gehabt, jetzt hatte sie Annie, für die sie leben wollte!
Und Annie schloß sich, nachdem der erste heftige Schmerz ausgetobt hatte, immer mehr der ernsten, um mehr als zwanzig Jahre älteren Schwester an, begehrte immer mehr theilzunehmen an ihren Arbeiten, und das Trauerjahr, das den fröhlichen Verkehr des Hauses theils verbot, theils beschränkte, kettete die Schwestern so unauflöslich aneinander, daß Annie unwillkürlich nach Ablauf der Trauerzeit einen andern Maßstab an ihre Altersgenossen legte, sie mit Thekla zu vergleichen begann. Sie löste und lockerte das Band allmählich da, wo sie nicht fand, was sie suchte, ernstes geistiges Streben und lauterste Wahrheit – und sie knüpfte da an, wo ihr beides begegnete.
Sie hatten ein wunderschönes Zusammenleben geführt, die beiden Schwestern, und eben der Umstand, daß sie, so verschieden sie in Alter, Aussehen und Lebensweise voneinander waren, doch alles und jedes theilten, gab ihrem engen Verkehr einen eigenen Reiz, eine immer neue Frische. –
Heute schien Annie nicht geneigt, zu theilen, und das machte Thekla traurig. Es gab ja so vieles, was Annie genoß und was die ältere Schwester nur vom Hörensagen kannte: Bälle und Damenkaffees, Eislauf und Waldpartien, Reitfeste und Spazierfahrten. Auf alles dies hatte sie von jeher verzichten müssen, und es hatte Zeiten gegeben, da auch die „gelehrte“ Thekla Gerold, die Philosophin, heimlich bittere Thränen vergossen und eine brennende Sehnsucht empfunden hatte nach jenen Freuden, die sie nie genießen sollte.
Nun, das war freilich lange her, sie hatte es seitdem gelernt, ihre Bücher als ihre vertrautesten Freunde zu lieben, denen sie zahllose schöne und erhebende Stunden verdankte; jetzt begehrte sie für sich selbst nichts mehr von Lebensfreude und Genuß. Aber für Annie, die das Dasein eines wirklichen jungen Mädchens [592] führte, umschwärmt und gefeiert und dennoch gegen Verflachung und hohles Scheinwesen geschützt – da erwartete und verlangte sie viel, und oft hatte sie in der Stille gesonnen, wie wohl der Mann beschaffen sein müsse, den sie – Thekla – ihres Lieblings für werth halten würde. Ach, ihre sorgende mütterliche Liebe würde ihn ja nicht aussuchen können, aber sie konnte warnen, zu- oder abreden, loben und tadeln … Annie war ja so lieb, so kindlich, unterwarf sich so gern dem Urtheilsspruch ihrer klugen Thea! –
Konnte der schräg in ihr Zimmer fallende Lichtstreifen sie blenden? Was war es, das ihre Augen feucht werden ließ?
Jetzt erlosch das Licht nebenan, tiefe Finsterniß umfing sie. Wer nun schlafen könnte, fest und traumlos! Das junge Geschöpf nebenan würde es können – welches Bild es doch mit hinübernehmen mochte in seinen sanften Schlummer? Die Schwester wußte es nicht, sie war ja ausgeschlossen – heute zum ersten Male! – Vier Uhr! Die tiefe, dröhnende Stimme vom Sankt Lukasthurm war Theklas älteste Freundin, die hatte dem kranken Kinde schon vor langen, langen Jahren den Weg durch die endlosen Nächte gewiesen. Sie hatte sich seitdem üben können im Wachen und Leiden; die gleichmäßigen Athemzüge, die aus dem benachbarten Zimmer kamen, hatten sie zuweilen eingewiegt – wer konnte sagen, wie lange sie dieselben noch hören würde?
Ein leichtes Rascheln nebenan – Theklas scharfes Ohr unterschied einen leisen Fußtritt, der sich näherte – dann eine flüsternde Stimme: „Thea, bist Du noch wach?“
„Ja, Vögelchen! Warum schläfst Du nicht?“
„Ich kann nicht! Es kommt mir so unrecht vor, wie ich heut’ zu Dir gewesen bin! Dir nicht auch?“ Hier tastete eine suchende Hand über Theklas Bett, und zwei weiche Arme legten sich gleich darauf im Dunkel der Nacht um Theklas Nacken. „Ich hab’ Dir ja immer und immer alles gesagt, und ich will es auch heute – wenn ich nur wüßte“ – ein tiefer, beklommener Seufzer hob die junge Brust – „wie ich Dir sagen soll, was ich selbst nicht recht verstehe. Gut, daß es wenigstens dunkel ist – im Geist seh’ ich ohnehin deutlich genug, wie Du mich fragst mit Deinen großen, allwissenden Augen. So wie jetzt ist mir noch nie zumuthe gewesen – traurig und auch wieder glücklich dabei und so, wie mir heute ein einziger gefallen hat … ach Gott, was ich rede! ‚Gefallen‘ ist gar nicht das Wort dafür! Weißt Du, wie Werther sich darüber aufregt, als ihn jemand fragt, ob ihm Lotte ‚gefiele‘! Thekla – Du denkst jetzt gewiß, es ist dieser schöne Prediger, der mich so beschäftigt –“
„Nein, mein Kind, das denke ich nicht!“
„Wie klug bist Du doch, und wie genau kennst Du mich! Sieh, daß ich dem Prediger sehr gefiel, das merkte ich gleich, freute mich auch darüber, denn er hat mir einen bedeutenden Eindruck gemacht. Ob ich dem – dem – andern gefiel, das weiß ich eigentlich gar nicht“ – wieder ein langer Seufzer – „er sah so finster und verschlossen aus, da that er mir leid und ich dachte: ob der wohl lachen kann? Ob du ihn wohl zum Aufthauen bringst? War das unrecht, Thea? Ich wollte ja nichts Schlimmes, dachte noch nichts weiter, nur, ob es mir gelingen könnte, ihn heiter zu machen. Ich denke, das war nicht kokett – nein, Thea?“
„Ich meine nein, Annie!“
„Und es gelang mir so gut! Du hättest es nur sehen sollen! Ein ganz anderer Mensch ist er geworden – und was er mir alles erzählt hat! Aber das will noch nichts sagen … die andern Herren werden uns alle Besuch machen, Thea, in den nächsten Tagen, und er hat kein Wort davon gesagt. Nun bekommen wir ja auch Frühling, und dann geht er gewiß wieder auf Reisen, und es kann sein, daß man sich nicht wiedersieht. Ja – das wollt’ ich Dir gern noch sagen, Thea! Bist Du noch böse?“
„Böse bin ich überhaupt nicht gewesen. Kleine!“
„Aber enttäuscht und betrübt?“
„Das muß ich zugeben!“
Annies Lippen fanden im Finstern der Schwester Gesicht und preßten sich ungestüm dagegen.
„Mein Närrchen, mein liebes! Nun ist alles, alles wieder gut, ich weiß in Dir Bescheid, das ist die Hauptsache! Warten wir alles weitere ab! Mit dem Nimmerwiedersehen wird es ja wohl so schlimm nicht sein, wenn jemand in derselben Stadt an der Akademie eine Professur hat und man einander zehnmal im Monat in denselben Kreisen begegnen kann.“
„O nein, er sagt, er besucht gar keine Gesellschaften!“
„Nun, er hat doch die heutige besucht.“
„Ja – das war eine Ausnahme.“
„Solche Ausnahmen werden des öfteren vorkommen – vielleicht bekomme ich diesen Vogel Phönix dann auch noch einmal zu sehen!“
„Siehst Du, Thea, das ist schlecht von Dir! Jetzt machst Du Dich lustig über mich!“
„Wahrhaftig nicht, Liebchen!“
„Und ein Vogel Phönix ist er durchaus nicht! Ich hab’ es so im Gefühl, Dir würde er gar nicht gefallen!“
„So? Das sollte mir leid thun!“
„Viel eher Conventius! Der ist ganz ein Mann für Dich!“
„Vielen Dank! Wir werden ja sehen! Aber jetzt rasch ins Bett, Kind, oder ich mache Dir eine Scene!“
„Und Du hast mich wieder lieb?“
„Am liebsten von allen Menschen – ist Dir das genug, Du anspruchsvolle, verzogene Prinzessin?“
„Ja, gerade genug, Thea! Gute Nacht! Ach, wenn Du doch schlafen könntest!“
„Ich glaube, ich kann Dir, zum ersten Male in Deinem Leben, diesen Wunsch zurückgeben!“
„Ach, wenn ich auch nicht schlafen kann! Ich habe soviel zu denken!“
Damit huschte es wieder auf lautlosen Füßchen davon, und Thekla wandte zufrieden ihr Haupt nach der andern Seite. Gottlob, „ihr Kind“ gehörte ihr noch!! –
„Und in Jene lebt sich’s bene,
Und in Jene lebt sich’s gut,
Bin ja selber dort gewesen,
Sechs Semester wohlgemuth!“
So lange zwar nicht, aber doch manchen herrlichen Tag meiner zu schnell verrauschten Studentenzeit! Unsere alles ausgleichende Zeit hat auch dem Studentenleben auf den meisten Hochschulen seinen Nimbus genommen, es hat seine goldene Freiheit und Ungebundenheit aufopfern müssen, und Heldenthaten, wie sie im Kommersbuch, dieser versifizierten Geschichte des deutschen Studententhums, fortleben, gehören heutzutage zu den Seltenheiten des akademischen Lebens. Nur an den kleineren Universitäten, in Jena vor allem, lebt die „alte Burschenherrlichkeit“ in unverfälschter Weise fort, von der auch ein goldener Strahl auf uns „Finken“ fiel, die weder zu Corps noch Burschenschaft Farbe bekannten.
Das freundliche Jena, das „liebe närrische Nest“, wie Goethe – das „kleine Florenz“, wie Karl V. es nannte, ist noch heute mit seinen Studenten eng verwachsen. Während diese in anderen Universitätsstädten im Strom des täglichen Lebens verschwinden, sind sie in Jena am Fuße des Hausberges, von dem der alte Fuchsthurm, der König des Saalethales, herablächelt, noch in Wahrheit die Beherrscher der Stadt. Der Jenenser „Philister“ betrachtet die Spritzfahrten, Biersuiten, Fackelzüge, Mensuren und Kommerse seiner Studenten als ein Stück Weltgeschichte, seine Gattin, die „Phileuse“, betrachtet es als schönste Lebensaufgabe, einen Herrn „Doktor“ zu bemuttern, und die „Philine“, ihr blondes, braunes oder schwarzes Töchterlein, spielt ihre schönste Rolle als Ehrenjungfrau bei den Festlichkeiten des Bruder Studio. Unter solchen Verhältnissen ist es kein Wunder, wenn das alte Jena tief in die Herzen eingeschrieben ist und in der Erinnerung der „Alten Häuser“, wie beim Herrn Pastur in „Hanne Nüte“, noch fortlebt, wenn ihre Scheitel längst kahl geworden sind wie der Jenzig, das Wahrzeichen Jenas.
Wir haben das wieder recht deutlich gesehen, als wir den 4. August gen Jena pilgerten, um dem 75jährigen Burschenschaftsjubiläum, das vom 4. bis 6. August festlich in Jena begangen wurde, beizuwohnen. In der besonders errichteten „Festhalle“, die mit grünem Tannenreisig, Fahnen, studentischen Abzeichen, Blumenampeln u. s. w. reichlich geschmückt war, fand am Abend des 4. August die erste Begrüßung der Festtheilnehmer statt. Da fanden sie sich wieder, die alten Burschen, die seitdem der Beruf des Lebens in alle Welt zerstreut hatte. Ihr Haar war ergraut, Band und Mütze verblichen, aber das Herz noch frisch und das Auge noch so klar wie einst, da die neue Mütze beim ersten feierlichen „Landesvater“ vom Schläger durchbohrt ward.
Aber auch ganz Jena hatte ein Festgewand angethan. Von allen Häusern wehten die Fahnen, glänzten die Wappen der Burschenschaften Und glühten grüne Guirlanden. In erster Linie ist der Stätten zu gedenken, an denen sonst die Burschenschaften hausen. Festlich prangte der alte „Burgkeller“ mit dem urgemüthlichen bilderreichen Arminenzimmer,
[593][594] der sich so traulich an die alte, spätgothische Stadtkirche anlehnt. Der Burgkeller wurde 1546 erbaut und hat eine große Vergangenheit. In dem eigenartigen Renaissancebau berieth einst der hochherzige sächsische Kurfürst Johann Friedrich der Großmüthige, als er 1547 von Karl V. mit einem spanischen Heer durch Jena geführt wurde, mit seinen Söhnen über die Gründung einer Universität daselbst. Hier hausten später die „Burgkelleraner“, ehe eine Spaltung der Burschenschaft in Burschenschaften eingetreten war. Festlich prangte auf der Camsdorfer Flur unmittelbar an der Brücke die alte „Tanne“, in welcher sich einst die Gründung den deutschen Burschenschaft vollzogen hat. Festlich prangten auch die neuen Kneiphäuser, das reizende Germanenhaus am Markt und das prächtige Teutonenhaus am Löbder Graben. Auch das alte Karzer hätte gewiß geflaggt, wenn es nicht sammt seinen historischen Wandgemälden niedergerissen gewesen wäre.
Am 5. August versammelten sich die Burschen am Vormittag auf dem Marktplatz, der immer der Ort öffentlicher Scenen aus dem Studentenleben gewesen ist. Hier werden die Fackeln niedergeworfen, hier werden Versammlungen abgehalten, und in der guten alten Zeit mußte sich das ehrsame Rathhaus gar manchesmal gefallen lassen, daß vor seinen Augen eine regelrechte Mensur ausgepaukt wurde. In des „Rathes Zeise“, einem winkeligen, absonderlichen Bierlokal, hauptsächlich aber auf dem freien Marktplatz saßen die Füchse, Brandfüchse und Burschen unter den alten Herren, um sich bei „Creo“ und „Crollo“, dem Weiß- und Rothwein von Jenas Bergen, für den Festzug zu stärken. Auch das Denkmal Kurfürst Johann Friedrichs des Großmüthigen hatte Festschmuck erhalten. Der gute „Hannefriede“ trug einen Eichenkranz, und das Schwert, das schon manchen vorwitzigen Cylinder durchbohren mußte, war mit Tannenreisig geziert. Vom Markt bewegte sich der Festzug nach dem Eichplatz, auf welchem Donndorfs Burschenschaftsdenkmal steht. Hier bildeten die Burschenschafter eine schöne Gruppe um das Denkmal, vor dem Rechtsanwalt Dr. Harmening aus Jena, ein alter Armine, eine kernige Ansprache hielt, die mit einem Hoch auf die Burschenschaften schloß. Der Anblick, der sich hier den Zuschauern bot, war ein prächtiger. Hatten doch die Burschenschaften aller Hochschulen ihre Vertreter entsandt, Berlin, Greifswald, Königsberg, Halle, Straßburg, Gießen, Göttingen, Freiburg, Erlangen, Marburg, München, Bonn, Leipzig, Breslau, Kiel, Heidelberg, Rostock, Tübingen, Würzburg, ja sogar die Oesterreicher (Wien, Prag, Innsbruck) waren im Festzuge vertreten. Voran ritt ein Herold, dem drei Chargierte der Jenaer Arminia, Teutonia und Germania im Wichs zu Pferde folgten. Dann kamen die liebreizenden Ehrenjungfrauen, die am Burschenschaftsdenkmal Kränze niederlegten, Musikcorps, und nun die lange Reihe der alten und jungen Musensöhne. Sie boten zum Theil im Schnürrock, dem Sammetbarett mit der wallenden Straußfeder, der weißen Lederhose, den „Kanonen“ mit Sporen und dem blanken Paradeschläger einen malerischen Eindruck, den unser Hauptbild festzuhalten gesucht hat.
Vom Eichplatz ging es über den Markt nach der „Festhalle“, wo der allgemeine „Frühschoppen“ alsbald eine feuchtfröhliche Stimmung unter die akademischen Bürger und ihre Gäste brachte. Manches kräftige Kneiplied wurde vom Stapel gelassen, manche begeisterte Ansprache gehalten, und auch das Oberhaupt der Stadt Jena, Oberbürgermeister Singer, ließ es sich nicht nehmen, den Gefühlen, welche Jena für die Studentenschaft und insbesondere die Burschenschaft hegt, beredten Ausdruck zu verleihen. Am Nachmittag folgte die Aufführung eines poesievollen „Festspieles“ mit lebenden Bildern und Gesängen von Prof. Naumann, das eine Geschichte der Burschenschaft in dichterischem Gewande bot. Die wirkungsvollen lebenden Bilder stellten die Gründung der deutschen Burschenschaft auf der „Tanne“, das große Wartburgfest, die Auflösung der Burschenschaft, Barbarossa im Kyffhäuser, die Wacht am Rhein und eine Apotheose des burschenschaftlichen Geistes dar. In der Dichtung des Herrn Redakteur Schneider in Berlin findet sich manches markige Wort, das als ein schöner Beweis dafür gelten kann, wie die jüngern Burschenschafter gleich den alten den rechten, edlen Ausdruck für „Ehre, Freiheit, Vaterland“ zu finden wissen. Am Abend fand der eigentliche Festkommers in der Festhalle statt, der wieder durch Festlieder, ernste, begeisterte Ansprachen und launige „Bierreden“ ausgezeichnet wurde. Daß dabei insbesondere auch der Deutsch-Oesterreicher in warmen Worten gedacht wurde, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Die „alte Burschenherrlichkeit“ feierte einmal wieder ihre schönsten Triumphe. Am Gasthaus zur „Tanne“ wurde überdies eine Marmortafel mit der Inschrift: „Hier wurde die deutsche Burschenschaft gegründet, 12. Juni 1815“ enthüllt.
Ein fideler Frühschoppen am Markt in der „Zeise“, Ausflüge in die reizende, romantische Umgebung Jenas und ein gemüthliches Beisammensein mit einem Jubiläumstänzchen, bei dem auch die „Philinen“ zu ihrem Rechte kamen, bildeten den Abschluß des schönen Festes am 6. August. Die alten und jungen Burschenschafter, die jetzt wieder daheim sind, werden sich dieser Augusttage mit freudigem Herzen erinnern. Ist doch durch sie das Band, das die deutschen Burschenschaften umschlingt, wieder neu gefestigt worden. Was aber die deutsche Burschenschaft in der Geschichte des deutschen Geisteslebens zu bedeuten hat, das ist bereits von anderer Seite in der „Gartenlaube“ geschildert worden. Das Jubiläumsfest bekräftigte die Wahrheit des alten Liedes:
„Allein das alte Burschenherz
Kann nimmermehr erkalten,
Im Ernste wird wie hier im Scherz
Der rechte Sinn stets walten.
Die alte Schale nur ist fern.
Geblieben ist uns doch der Kern,
Und den laßt fest uns halten!“
Leicht und mühelos ist gegenwärtig und wohl noch auf Jahrhunderte hinaus der Kampf ums Dasein, welchen der Mensch in Sibirien zu bestehen hat, leicht und mühelos namentlich in den von der Natur überreich begabten Gefilden im Süden des Landes, nicht allzuhart und schwer aber auch in jenen Gegenden, welche wir als eine eisige Wüste, als unwirthliche Einöde zu betrachten gewohnt sind. Wohl tritt im hohen Norden Westsibiriens das Klima dem Menschen rauh und streng entgegen; wohl weigert sich hier die in geringer Tiefe unter ihrer Oberfläche für ewig erstarrte Erde, nährende Frucht zu bringen, aber auch hier schüttet die Natur gütig ihr Füllhorn aus, und was das Land versagt, gewährt das Wasser. In unseren Augen mag der in jenen Breiten seit Jahrhunderten ansässige Mensch arm und elend erscheinen, in Wahrheit ist er weder das eine noch das andere. Auch der Ostjake gewinnt sich seine Bedürfnisse; auch er umgiebt sein Dasein mit ihn beglückenden Reizen, denn seine Heimath schenkt ihm mehr, als er zum Leben bedarf.
Es mag sein, daß der Stamm der Ostjaken, der zu der finnischen Völkerfamilie gehört, in früheren Zeiten zahlreicher gewesen ist als gegenwärtig; ein Volk nach unseren Begriffen aber hat er wohl nie gebildet. In einzelnen Theilen des von ihm besiedelten oder wenigstens von ihm durchwanderten Gebietes soll die Einwohnerzahl stetig abnehmen, in anderen dagegen in geringem Grade sich vermehren; von erheblichem Belang scheint aber weder die Zu- noch die Abnahme zu sein. Man rechnet hoch, wenn man den Gesammtbestand auf fünfzigtausend Köpfe anschlägt. – Alle am Irtisch und oberen, beziehungsweise mittleren Ob hausenden Ostjaken wohnen in feststehenden, sehr einfachen, den russischen ähnlichen Blockhäusern, und nur hie und da trifft man zwischen diesen bereits eine höhere Gesittungsstufe anzeigenden unbeweglichen Wohnungen auch einmal auf ein Birkenrindenzelt, „Tschum“ genannt, wogegen dieses am unteren Ob unbedingt vorherrscht und, wie erklärlich, die alleinige Behausung des wandernden Renthierhirten ist. Fast, wenn auch nicht vollständig im Einklange damit steht, daß die in feststehenden Dörfern lebenden Ostjaken der russisch-katholischen Kirche angehören, wogegen die im Tschum hausenden ihrem uralten Glauben noch gegenwärtig treu sind. Mit der Annahme des Blockhauses und des Christenthums geht ebenso Hand in Hand, daß die im mittleren Ob- und unteren Irtischgebiete ansässigen Ostjaken nicht allein ihre Kleidung bis zu einem gewissen Grade mit der des benachbarten russischen Fischers vertauscht, sondern im Umgange mit diesem auch viel von seinen Sitten und Gewohnheiten angenommen, von den ihrigen dagegen verloren, zum Theil auch die Reinheit ihres Stammes eingebüßt und eigentlich nichts weiter behalten haben als die unveräußerlichen Merkmale des Stammes, die Sprache, sowie vielleicht noch die dem ganzen Volke gemeinsame Geschicklichkeit, Anstelligkeit und – harmlose Gutmüthigkeit. Ich beschränke meine Mittheilungen im wesentlichen auf diejenigen Ostjaken, welche ihren alten Glauben, ihre alten Sitten bis heute festgehalten haben.
[595] Von einem ostjakischen Stammesgepräge ist schwer zu reden, dasselbe zu beschreiben, noch schwieriger. Die Leute sind hinsichtlich ihrer Gesichtsbildung, der Färbung ihrer Haut, ihres Haares und ihrer Augen ungemein verschieden; ihre Rassenangehörigkeit, also ihr Mongolenthum, ist keineswegs immer so leicht wahrzunehmen, und wenn man wirklich einmal glaubt, bestimmte, durchschnittlich gültige Merkmale festgestellt zu haben, wird man durch eine Anzahl anderer Angehöriger des Stammes belehrt, daß denselben keinesfalls eine unbedingte Gültigkeit zugesprochen werden darf.
Die Ostjaken sind mittelgroß, durchschnittlich schlank gebaut, ihre Hände, Füße und Glieder überhaupt verhältnißmäßig. Ihre Gesichtsbildung steht gewissermaßen zwischen der anderer Mongolen und der der nordamerikanischen Indianer in der Mitte; die braunen Augen sind klein, nicht auffallend, aber stets merklich schief geschlitzt, die Backenknochen nicht wesentlich vorgedrängt, die unteren Theile des Gesichtes gegen das stets schmale und spitzige Kinn zu aber so zusammengedrückt, daß das ganze Gesicht winkelig erscheint und, da auch die Lippen scharf geschnitten sind, bei vielen, zumal bei Kindern oder Frauen, zu einem wahren Katzengesichte wird, obgleich die Nase im ganzen wenig abgeplattet ist. Das reiche, schlichte, aber nicht straffe Haar ist gewöhnlich schwarz oder tiefbraun, seltener lichtbraun und noch seltener blond gefärbt, der Bart schwach, jedoch nur infolge der Gewohnheit junger Stutzer, denselben sich auszurupfen, die Augenbrauen sind stark, oft buschig. Die Hautfärbung endlich steht an Weiße der eines viel an frischer Luft, Wind und Wetter sich bewegenden Europäers kaum nach, und der gelbliche Schein, welchen sie in der Regel zeigt, kann sich fast gänzlich verwischen.
Ueber die Sprache der Ostjaken vermag ich kein Urtheil zu fällen, kann daher nur sagen, daß sie in zwei, auch dem Ohre des Fremden deutlich erkennbare Mundarten zerfällt, von denen die am mittleren Ob herrschende sehr wohllautend, wenn auch etwas gedehnt und singend klingt, wogegen die am unteren Ob gebräuchliche, wohl infolge der hier allgemein üblichen Gewohnheit aller Ostjaken, sich mit Vorliebe des weicheren Samojedisch zu bedienen, in rascherem Flusse, obwohl noch immer mit deutlicher Abgrenzung der Silben, gesprochen wird.
Während die christlichen Ostjaken, wie bereits bemerkt, die Tracht der Russen nachahmen und die Frauen nur dadurch von denen der russischen Fischer abweichen, daß sie ihre Kleider an vielen Stellen mit bunten Glasperlen verzieren, verwenden die heidnischen Stammesangehörigen unseres Völkchens ausschließlich die Decke und die Haut des Renthieres zu ihrer Kleidung und gebrauchen Felle anderer Thiere nur ausnahmsweise zum besonderen Schmucke der Renthier- oder, wie die Russen sagen, der Hirschpelze. Die Kleidung besteht aus einem bis über die Kniee herabreichenden, eng anliegenden Pelze mit anhängender oder doch dazu gehöriger Kapuze und angenähten Fausthandschuhen, Lederhosen, welche bis unter das Knie herabreichen, und Lederstrümpfen, welche oberhalb des Kniees befestigt werden. Der Pelz ist bei Frauen mit Säumen, welche aus verschiedenfarbigen, kleinen, viereckigen, kurzhaarigen Pelzstückchen mühsam zusammengesetzt werden, unten auch regelmäßig mit einem breiten Besätze aus Hundepelz, bei Männern mindestens mit letzterem verziert, auch stets mit der Kapuze versehen; die Lederstrümpfe bestehen aus sehr vielen verschiedenfarbigen, geschmackvoll zusammengesetzten Streifen aus dem Felle der Läufe des Renthieres und einem plumpen Schuh. Ein breiter, meist mit metallenen Knöpfen besetzter Ledergurt, an welchem das Messer hängt, schnürt den Pelz des Mannes zusammen; ein buntes, mit langen Fransen besetztes Kopftuch, welches im Sommer anstatt der Kapuze getragen wird, fällt über den Pelz der Frau herab.
Um sich zu schmücken, steckt die Ostjakin soviele einfache Messing-, im allergünstigsten Falle Silberringe an alle Handfinger, als die inneren Glieder derselben zu tragen vermögen, hängt sich außerdem eine mehr oder minder reiche Kette aus Glasperlen um den Hals und sehr schwere, aus Glasperlen, Drahtwindungen und Metallknöpfen zusammengesetzte quastenartige Ohrgehänge an die Ohren und flicht endlich ihre Haare in zwei tief herabfallende, aus Wollenschnüren strickartig gedrehte Zopfhülsen ein. Letzteres thut auch der ostjakische Stutzer, wogegen der vernünftige Mann für gewöhnlich sein Haar lang, aber lose trägt.
Einfacher noch als die Kleidung, aber ebenso zweckmäßig wie sie ist die Wohnung des Ostjaken, der Tschum, die kegelförmige, mit Birkenrinde umkleidete, bewegliche Hütte des Fischers wie der Wanderhirten. Zwanzig bis dreißig dünne, geglättete, oben und unten zugespitzte, vier bis sechs Meter lange Stangen, von denen zwei gegen das obere Ende hin mittels eines kurzen Strickes vereinigt werden und allen übrigen als Stützpunkt dienen, bilden, im Kreise ausgestellt, das Gerüst, fünf bis acht nach dem Mantel des Kegels geschnittene, aus kleinen Stücken vorher gekochter und dadurch geschmeidig gemachter Birkenrinde zusammengesetzte Tafeln die äußere Umkleidung, eine vom Winde abgekehrte, mit einer anderen Rindentafel verschließbare Oeffnung die Thür der Hütte, deren Kegelspitze stets unbedeckt bleibt, um dem Rauche freien Abzug zu gestatten. Von der Thür an in gerader Richtung zur entgegengesetzten Seite des Tschums verläuft ein Gang, in dessen Mitte das Feuer angezündet wird; über ihm befindet sich, aus zwei wagerecht angebundenen Stangen hergestellt, ein Trockengerüst, an welchem auch der Kochkessel aufgehängt wird. Rechts und links von dem Gange decken Bretter oder wenigstens Matten den Boden und dienen als Laufstege sowie als Abschluß der Lagerstätten, deren Kopfende gegen die Wand sich richtet. Aus Riedgrasbündeln gefertigte Matten, langhaarige, weiche Renthierfelle und mit Renthierhaaren oder getrocknetem Wassermoose gestopfte Kissen stellen die Lagerstätten, Pelze die Decken her; ein Mückenzelt, unter welches im Sommer die ganze Familie kriecht, schützt die Schlafenden wirksamer als das am Eingange des Tschums beständig brennende, mit Weidenreisern unterhaltene Schmauchfeuer gegen die geflügelten Quälgeister. Ein Koch-, ein Thee- und ein Trinkkessel, Mulden, Ledersäcke zur Aufbewahrung des Mehles und hartgebackenen Schwarzbrotes, kleine verschließbare Truhen zur Unterbringung der werthvollsten Habseligkeiten, insbesondere auch des Theegeschirrs, ein Beil, ein Bohrer, Lederschaber, ein muldenartiges Nähkästchen, Bogen, Armbrust oder Gewehr, Schneeschuhe, sowie verschiedene Fangwerkzeuge vollenden den Hausrath; die Stelle des in den Hütten der christlichen Ostjaken selten fehlenden Heiligenbildes vertritt ein Hausgötze.
Gegen den Winter, seine Kälte und seine Stürme sucht man den Tschum durch eine außen übergebreitete, aus dem Leder abgetragener Pelze zusammengenähte Decke oder noch besser dadurch zu schützen, daß man einen zweiten Mantel aus Birkenrindentafeln über den ersten breitet.
Ist der Tschumbesitzer Fischer, so sieht man außen vor dem Tschum Trockengerüste zum Aufhängen der Netze und solche zum Dörren der Fische, sehr sauber gearbeitete, ungemein leichte und kunstvolle Reusen, mehrere unübertreffliche kleine Boote und sonstige Fischereigeräthe; ist er auch Jäger, dann allerlei Fangwerkzeuge, Stellbogen und als Selbstschüsse wirkende Armbrüste; ist der Tschumwirth Renthierhirt, dann mehrere sorgsam gearbeitete Schlitten nebst dazu gehörigem Geschirr und einem auch für ihn unerläßlichen Boote.
Jeder Ostjake ist des Fischfangs kundig, fast jeder auch Jäger oder Fallensteller, nicht jeder aber Wanderhirt. Renthiere besitzen, bedeutet unter unserem Völkchen ebensoviel als wohlhabend sein, einzig und allein von der Fischerei leben müssen, das Gegentheil. Pferde und Rinder sieht man in sehr geringer Anzahl zwar auch in einzelnen ostjakischen Niederlassungen, aber nur in denen des mittleren Stromgebietes, Schafe und vielleicht sogar eine Katze werden hier ebenfalls dann und wann gehalten; die eigentlichen Hausthiere der Ostjaken aber sind Renthier und Hund. Ohne sie, zumal ohne Renthier, vermeint der wohlhabende Mann nicht leben zu können; und sie allein ermöglichen ihm thatsächlich das, was er Freude des Daseins nennt.
Nach der Anzahl der Renthiere schätzt der Ostjake den Besitz eines Menschen, in den Renthieren sieht er seinen Reichthum, sein Glück. Daher verliert er nicht allein dieses wie jenen, wenn die würgende Seuche seine Herden vernichtet, sondern noch weit mehr: Ansehen und Rang, Selbstbewußtsein und Zuversicht, ja seinen Glauben, seine Sitten und Gewohnheiten, sich selbst.
„So lange die Seuche unsere Herden noch nicht heimsuchte,“ sagte uns der Gemeindevorsteher Mamru, der verständigste Ostjake, welchen wir kennengelernt haben, „lebten wir freudig und waren wir reich, seitdem wir unsere Renthiere verloren, werden wir allgemach zu armen Fischern; wir können ohne sie nicht bestehen, ohne sie nicht leben!“
Arme Ostjaken! – mit diesen Worten ist euer Geschick ausgesprochen. Schon gegenwärtig sind die einst nach Hunderttausenden [596] zählenden Renthiere auf fünfzigtausend zusammengeschmolzen, und nach wie vor, alljährlich fast, wüthet der Würgengel unter den geweihtragenden Herden.
Das nordasiatische Renthier ist ein von dem lappländischen wesentlich verschiedenes Geschöpf; es ist nicht allein größer und stattlicher, sondern auch ein Hausthier im besten Sinne des Wortes; dort, in Lappland, ein ewig widerstrebender, mit ersichtlichem Unwillen unter das Joch des kleinen Mannes sich beugender, unablässig auf Wiedererlangung der Freiheit bedachter Hirsch, hier in Sibirien ein folgsames, williges, an dem Menschen hängendes, ihm vertrauendes Thier. Freilich weiß der Ostjake auch vortrefflich mit ihm umzugehen. Er behandelt es zwar nicht mit der Zärtlichkeit, mit welcher er den Hund hätschelt, aber im ganzen doch auch nicht unfreundlich und nur sehr ausnahmsweise derb oder roh. Abweichend von dem Lappen, verzichtet er darauf, es zu melken, spannt es aber dafür viel regelmäßiger ein als dieser, denn es muß ihn und seine Familie, den Tschum sammt Zubehör und alle übrigen auf der Wanderung zu bewegenden Lasten im Sommer wie im Winter von einer Stelle zur anderen befördern, wogegen es der Lappe nur im Winter zum Ziehen benutzt. Das Fleisch des geschlachteten Thieres dient zur Nahrung, die Knochen und Geweihe liefern allerlei Geräthschaften, die Sehnen Zwirn zum Nähen der Kleider, Haut und Fell diese selbst und was sonst noch aus Leder gefertigt wird; selbst die Hufe finden Verwendung. Mit dem Renthier fährt der Ostjake, auf seinem leichten Schlitten sitzend, im Sommer wie im Winter von Ort zu Ort, mit ihm zur Brautschau, zu Festlichkeiten, zur Jagd, zum Begräbniß seiner Freunde; mit ihm fährt er seine Todten zur letzten Ruhestätte; das Renthier schlachtet und verspeist er, um seine Gäste und seine Todten zu ehren; in seine Felle hüllt er die letzteren wie sich selbst. Gewiß, er kann ohne das Renthier nicht bestehen, nicht leben!
Kaum minder wichtig als seine geweihtragende Herde ist ihm sein zweites Hausthier, der Hund. Ihn besitzt, ihn hegt und pflegt nicht allein der Wanderhirt, sondern jeder Ostjake überhaupt, der Fischer ebenso gut wie der Jäger, der seßhafte wie der umherschweifende Mann. Der ostjakische Hund gehört zwei verschiedenen, hauptsächlich jedoch nur hinsichtlich der Größe von einander abweichenden Rassen an. Ob unsere Liebhaber ihn schön finden würden, vermag ich nicht zu sagen; ich meinestheils muß ihn schon aus dem Grunde für schön erklären, weil er, mit alleiniger Ausnahme der Färbung, noch alle Merkmale des wilden Hundes besitzt. Am meisten kommt er mit unserem Spitz überein, er ist aber gewöhnlich größer als dieser, nicht selten so groß, daß er kaum oder nur wenig hinter dem Wolfe zurücksteht; auch sein schlankerer Bau zeichnet ihn vor dem Spitze aus. Der Kopf ist gestreckt, die Schnauze mittellang, der Hals kurz, der Leib lang, die Gliederung schlank, der Schwanz mittellang, das erzfarbene Auge schief geschlitzt, das kurze, spitzige Ohr aufrecht gestellt, das Fell außerordentlich dicht und lang, die Färbung verschieden, vorherrschend reinweiß oder weiß mit tiefschwarzer, gewöhnlich höchst regelmäßiger Abzeichnung an beiden Seiten des Kopfes einschließlich der Ohren, auf dem Rücken und an den Seiten, sonst auch wolfs-, mäuse- oder fahlgrau, gewässert und gewellt, nicht aber gestreift. Die schwachbuschige Fahne wird stets hängend oder gestreckt, niemals gerollt getragen und die Aehnlichkeit mit einem Wildhunde dadurch wesentlich vermehrt.
Der stetige und innige Umgang mit dem Menschen hat den Ostjakenhund zu einem überaus gutmüthigen Thiere gewandelt. Er ist wachsam, aber nicht bissig, muthig, aber nicht streitsüchtig, treu und eifrig, aber nicht fremdenfeindlich und hitzig; mißtrauisch, wenn auch nicht gerade unfreundlich dem Fremdling entgegeneilend, nähert er sich ihm vertrauensvoll, sobald er ihn mit seinem Herrn reden hört oder in den Tschum eintreten sieht.
In keiner Weise verwöhnt, giebt er sich, so gern er auch den Platz im Tschum mit seinem Herrn oder seiner Herrin theilt, doch, ohne Mißbehagen zu bekunden, Wind und Wetter Preis, wirft sich ohne Bedenken in das kalte Wasser des Stromes und schwimmt schnurgerade über breite Arme desselben oder trabt beim Zuge durch die Tundra unter dem Schlitten dahin, an welchen er angefesselt wurde, und ob der Weg auch durch Sumpf oder Morast, durch Zwergbirkengestrüpp oder Wasser führe, klug und verschmitzt, findig und behend, weiß er sein Leben behaglich zu gestalten und sich in allen Lagen desselben zu helfen. Im Tschum liegt er entsagungsvoll neben ihm sonst erwünschter Speise; außerhalb der Hütte seines Herrn wird er zum naschhaften und dreisten Diebe; im Zwergbirkengestrüpp der Tundra trabt er gleichmüthig unter dem Schlitten einher, im glatten Moraste oder auf sonstigem guten Wege aber stellt er sich, alle Viere von einander, auf die Schlittenkufe und läßt sich fahren; auf der Jagd begleitet er seinen Herrn als treuer und nützlicher Gehilfe; dem Fremdling aber schnappt er die Beute vor den Augen weg und verzehrt dieselbe mit einer so harmlosen Behaglichkeit, daß man dem Schelme doch nicht böse sein kann; beim Hirtendienste erweist er sich als aller Eigenheiten und Unarten des Renthieres kundig; aber niemals ist er so verlässig wie unser Schäferhund, gestattet sich im Gegentheile eigenes Urtheil und leistet seine Dienste nur dann ohne Weigerung, wenn ihm dies unbedingt nöthig zu sein scheint.
Der Hund des Ostjaken wird als Spielkamerad, als Wächter des Tschums, als Hüter der Herden und als Zugthier verwendet, jedoch auch nach seinem Tode noch benutzt. Vor den Schlitten spannt man ihn nur im Winter, legt ihm dann aber ein so ungeschicktes Geschirr auf, daß er schon nach wenig Jahren lendenlahm umherhinkt. Nach dem Tode muß er sein treffliches Fell hergeben, ja viele Ostjaken halten offenbar nur deshalb eine so unverhältnißmäßig große Anzahl von Hunden, um jederzeit im Winter über deren Felle verfügen zu können.
Zu gleichem oder ähnlichem Zwecke dienen wohl auch verschiedene, dem Neste entnommene Säugethiere und Vögel, insbesondere Füchse, Bären, Eulen, Krähen, Kraniche, Schwäne etc., welche man im oder vor dem Tschum des Fischers wie des Wanderhirten angekettet sieht. So lange solche Thiere jung sind, behandelt man sie freundlich und pflegt sie sorgfältig, sobald sie aber erwachsen und gut von Fell oder Federn sind, weiht man sie dem Tode, verspeist, was gegessen werden kann, und verwendet außerdem Fell und Federn, verhandelt namentlich das erstere zu oft erstaunlich hohen Preisen.
Alle Rechte vorbehalten.
Ein Mann
(4. Fortsetzung.)
Von seinem Versteck in Mückern aus hatte Larsen durch seine Spione ein wachsames Auge über Trollheide und erfuhr manches von dem, was dort vorging, so auch, daß der Arzt Ingeborg, sobald ihre Kräfte es gestatteten, einen Wechsel des Aufenthalts verordnet habe. Darin erblickte seine Eifersucht einen neuen Betrug, an dem nun auch noch der Arzt theilnahm, und das bestätigte ihm bis zur Gewißheit seinen schon vorher gefaßten Argwohn. Nach Kopenhagen wollte sie, zu Tromholt, aber ehe das geschah, sollten sie und Tromholt und der alte Elbe sterben durch seine Hand. In solcher Stimmung hatte er einen Brief an Ingeborg geschrieben, und in solcher Stimmung war dann später der Zusammenstoß mit dem alten Elbe in Mückern erfolgt, der Larsen von dort vertrieb. Den Brief aber hatte einer von des Kapitäns Helfern Ingeborg, da sie ihren ersten Ausgang aus der Krankenstube machte, geschickt in die Hände gespielt, und weil darin, wenn sie es wagte, Trollheide anders als in Larsens Begleitung zu verlassen oder auch nur ein Wort von dem Brief selbst den andern zu verrathen, nicht nur ihr, sondern auch Tromholt und ihrem alten Vater mit dem Tod gedroht ward, deshalb schwieg sie.
„Flieh mit mir,“ so schloß dieser Brief, „mit mir, der um Dich alles verloren, der Dir aber verzeiht und Dich heißer liebt denn je. Aber wie zum Vergeben bin ich auch bereit zur Rache. In Deiner Hand liegt mein Geschick und das Deine, das Deines Vaters und jenes Elenden, der Dich mir rauben will. Entscheide Dich, aber glaube nicht, daß Du mich noch einmal täuschen kannst!“
Daß das ihr aufgezwungene Schweigen Ingeborgs Seelenqual steigerte bis zum halben Wahnsinn, war nur zu natürlich. Uebrigens wirkte die Anwesenheit der Gäste und besonders Dinas
[597][598] sichtbar beruhigend auf sie, und seit ihrer Krankheit hatte sie nicht so wohl ausgesehen wie an diesem Tag. Während Bianca und Susanne in Altens Begleitung einen Gang nach den Mooren machten, blieb Dina mit der Freundin allein in deren Stübchen zurück und suchte durch ihr lustiges Geplauder die letzten Spuren des Kummers aus Ingeborgs Zügen zu verscheuchen. Alle ihre Erlebnisse, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, gab Dina in ihrer drolligen Weise zum besten. Es war dabei viel, sehr viel vom Grafen Snarre die Rede und auch von Susanne und Richard Tromholt.
Nachdem Dina lange geplaudert und Ingeborg ihr sinnend zugehört hatte, trat die erstere ans Fenster und rief: „Sieh doch, wie wunderschön es draußen ist! Wollen wir nicht einen Gang ins Freie machen?“ Die Natur lag in den tiefen, satten Farben des Frühherbstes, die Sonne warf goldene, gaukelnde Lichter durch das Gezweig der Bäume auf den grünen Rasen, Vögel haschten sich zwitschernd und pfeifend in dem Geäst.
„Ja, herrlich!“ rief Ingeborg, die mit vollen Zügen die Düfte, die ihr wohlthaten, einsog.
„Aber warum sehen wir das alles durchs Fenster? Laß uns doch in den Garten gehen, nur ein paar Schritte, ich führe Dich und spiele die Wärterin. Komm, Ingeborg!“ Dina glaubte damit dem Arzt, der ihr geklagt hatte, wie schwer Ingeborg zum Ausgehen zu bewegen sei, einen Dienst zu leisten. „Komm, Ingeborg, thu’s mir zu lieb!“ flehte sie, den Arm der Freundin in den ihrigen legend, und zu Dinas nicht geringer Genugthuung ließ sich Ingeborg nach kurzem Zögern zu dem Gang bewegen.
Sorgsam lenkte Dina die Schritte durch den stillen Garten; Ingeborg war wie geblendet von der Fülle des Lichts, berauscht von dem starken, langentwöhnten Hauch, den die ganze Schöpfung um sie her ausathmete. Aber als nun, wie sie um die Ecke des Hauses bogen, ein kühlerer Luftzug ihnen entgegenwehte, überlief ein leises Frösteln den Körper der Genesenden.
„Du frierst!“ rief Dina. „Wie leichtsinnig auch, daß Du nicht ein Tuch umgelegt hast, und daß ich, Deine Wärterin, nicht daran gedacht habe! Aber wart’, ich hole es Dir rasch. Bleib nur, lehne Dich hier an den Baumstamm, ich bin im Augenblick wieder bei Dir, und dann setzen wir uns auf die Bank dort.“ Ingeborg machte eine abwehrende Bewegung, aber schon war Dina, ins Haus zurückeilend, unter den Bäumen verschwunden.
Ingeborg war allein, sie stützte sich an den dicken Stamm einer alten Buche, eine große Ermattung war plötzlich über sie gekommen, sie hatte nicht einmal die Kraft, Dina nachzurufen, daß sie bei ihr bleibe, denn langsam schlich sich wieder das alte Bangen beklemmend an ihr Herz heran. Vor ihr in nicht allzugroßer Entfernung dehnte sich die Hecke, die den Garten von den Feldern abschloß; von dorther sollten Alten und die Damen kommen, welche Dina zu überraschen gedachte. Aber niemand zeigte sich in der weiten, von einem zitternden Duftgespinst verhüllten Ferne.
Da raschelte etwas im Gebüsch – Ingeborgs Sinne verwirrten sich. Träumte sie oder sah sie, erkannte sie wirklich die Gestalt des Mannes, der da auftauchte, über die Hecke sprang und auf sie, die regungslos dem Schrecklichen entgegensah, zueilte? Es war nicht Larsen und doch war er’s, er hatte nur durch Abnahme des Bartes sein Gesicht entstellt, auch die seemännische Kleidung mit der eines gewöhnlichen Landarbeiters vertauscht, und jetzt glühten seine wilden Raubtieraugen dicht vor ihrem Gesicht, sein linker Arm umschlang sie, hob sie, die in einer Art von Starrkrampf lag, vom Boden empor. Gluthheiß traf sein Athem ihre Wangen, wie er jetzt auf sie einredete: „Ingeborg, ich kann und will Dich nicht lassen! Folge mir gutwillig, ich kann nicht länger hier warten, und ohne Dich gehe ich nicht. Du hörst nicht, Du schweigst? Wohl, so trag’ ich Dich fort, und keiner“ – dabei schwang er ein Messer – „soll Dich mir lebend wieder entreißen!“
Mit Riesenkraft preßte er sein Opfer an sich und eilte mit ihm der Hecke zu.
Aber schon kehrte Dina zurück, ihr Hilfegeschrei, als sie den Vorgang von ferne sah, rief die Arbeiter von den Scheunen herbei, von verschiedenen Seiten kamen sie erst vereinzelt und dann in Scharen gelaufen, und dieweil Larsen, vor der Hecke angelangt, einen Augenblick stutzte, waren die vordersten schon so nahe heran, daß sie ihn trotz seiner Verkleidung erkannten.
Da wandte sich der Mann, und es schien einen Augenblick, als ob er ihnen allen standhalten und um die Beute mit ihnen kämpfen wollte auf Leben und Tod, da er die Unmöglichkeit, sie weiter zu schleppen, einsah. Doch der Selbsterhaltungstrieb war stärker – mit einem wilden Schrei bohrte er das gegen die Verfolger erhobene Messer plötzlich in Ingeborgs Brust. „So bleib denn!“ rief er, den blutbefleckten Stahl zurückziehend, „nun weiß ich wenigstens, daß Du keinem anderen mehr gehörst!“ Damit ließ er die Bewußtlose niedergleiten, schwang sich über die Hecke und floh. Indeß die anderen ihm nachsetzten, warf sich Dina entsetzt aufkreischend über die Freundin.
Nach diesen wechselvollen Ereignissen waren fast zwei Jahre verstrichen. Die Hoffnungen, die jeder einzelne für sich selbst oder für die ihm näherstehenden Personen genährt hatte, waren, entsprechend der Unberechenbarkeit, mit der das Schicksal seine Wege geht, nicht in Erfüllung gegangen, und es schien auch keinerlei Aussicht vorhanden, daß durch die Zeit irgend eine Aenderung eintrete werde.
Graf Snarre hatte das Vergebliche seiner Bewerbung um Susannens Hand eingesehen, ohne daß sie genöthigt gewesen wäre, Dinas Prophezeiung wahr zu machen, indem sie ihm einen förmlichen Korb gab. Er war anfangs selbst erstaunt über diese friedliche, fast schmerzlose Lösung einer Angelegenheit, die eine Zeitlang seine Gedanken so stark beschäftigt hatte. Was er für eine große Leidenschaft, von der das Glück seines Lebens abhing, gehalten hatte, war nicht viel mehr als ein flüchtiges Strohfeuer gewesen; genährt und geschürt durch die Umstände, die Verschiedenheit ihrer beiderseitigen Charaktere, war es schließlich aus Mangel an weiterer Nahrung in sich selbst zusammengesunken, und was unter der Asche einstiger Flammen fortglimmte, war nur ein Gefühl aufrichtiger Freundschaft. So schien es dem Grafen jetzt. In wie weit diese Erkenntniß mit seiner wachsenden Freundschaft für Dina, deren frisches, munteres Wesen dem seinigen mehr zusagte, zusammenhing oder gar davon beeinflußt wurde, darüber legte er sich zunächst keine Rechenschaft ab. Immerhin war ihm Susannens Wesen ein Räthsel, für das er, trotz mancher Andeutung, die sie selbst und Dina ihm gegeben hatten, keine Lösung fand. Daß er, der Graf Esbern-Snarre, der reiche, geistvolle, vielumworbene Kavalier, sich beinahe der Gefahr ausgesetzt hätte, von einer Dame, der er seine Huldigung dargebracht hatte, der er seinen Namen zu geben geneigt gewesen war, eine ablehnende Antwort zu erhalten, daß es eine solche Dame überhaupt gab, erschien ihm fast unbegreiflich und erfüllte ihn trotz allem mit einem Gefühl des Verdrusses und der Beschämung. So fest er sich auch vornahm, nicht mehr über die Ursache nachzugrübeln, immer wieder kam er mit seinen Gedanken darauf zurück; unwillkürlich verdoppelte er noch die Sorgfalt, die er von jeher auf seine äußere Person verwendet hatte, allein es fehlte ihm jetzt an Menschen, an denen er die Wirkung hätte erproben können.
Bald nach der Familie Ericius war auch die Gräfin, seine Tante, etwas verstimmt über das Mißlingen des Heirathsplanes, dessen Förderung ihr Besuch gegolten hatte, abgereist, und nun gesellte sich bei dem Grafen zu allem andern noch ein Gefühl der Verlassenheit und Langenweile, wie er es nie zuvor empfunden zu haben glaubte.
Solch übler Laune war auch der Uebereifer, mit dem Herr von Alten seiner neuen Stellung gerecht zu werden strebte, auf die Dauer nicht gewachsen, im Gegenteil, er verschärfte sie noch. Thatsächlich mochte der neue Direktor selbst fühlen, daß er sich für die Gutsverwaltung besser eigne als für die selbständige Leitung von Werken, wie sie in Limforden theils schon bestanden, theils noch im Entstehen begriffen waren. Eine Folge dieser Selbsterkenntniß mochte es sein, daß er in übertriebener Gewissenhaftigkeit den Grafen mit einer Menge meist unliebsamer Berichte über Kleinigkeiten belästigte, während er ihm andererseits wieder zu rasch und selbständig verfuhr. Daraus ergaben sich Meinungsverschiedenheiten, die nicht selten zu heftigen Auseinandersetzungen führten.
Mehrmals stand Alten im Begriff, dem „hochmüthigen Aristokraten und Besserwisser“, wie er den Grafen nannte, sein Amt vor die Füße zu werfen, und die ruhiger und nüchterner denkende Bianca hatte Mühe, den leicht Gereizten von einem so unvorsichtigen Schritt zurückzuhalten. Graf Snarre seinerseits bereute mehr und mehr den voreiligen, jetzt völlig zwecklos gewordenen Ankauf von Limforden, von welchem er nur Widerwärtigkeiten hatte.
Ja, wenn Tromholt geblieben wäre, da lägen die Dinge [599] ganz anders! Immer wieder mußte er an ihn denken. Es hieß, daß es ihm sehr gut gehe, daß er durch glückliche Bodenspekulationen sogar schon ein reicher Mann geworden sei. Wenn der Graf sich auszudenken versuchte, wie er wohl die Werke auf gute Art wieder losschlagen könnte, verfiel er immer auf Tromholt; das wäre der rechte Mann dazu, und sicher stünden ihm jetzt auch die nöthigen Mittel zur Verfügung.
Einige Monate noch hatte sich Graf Snarre unzufrieden mit sich und der Welt auf seinem Landsitz aufgehalten, dann hatte er, kurz entschlossen, all den Verdrießlichkeiten ein Ende gemacht, seine Koffer gepackt, oder vielmehr von der sorgsamen Hand des in alle Launen seines Herrn eingeweihten alten Kammerdieners packen lassen, und war abgereist, hinaus in die Welt. Ihn verlangte nach Abwechslung, er mußte andere Menschen, andere Gesichter und Verhältnisse sehen, nur so ließ sich das gestörte Gleichgewicht seiner Seele wiederherstellen.
Vor seiner Abreise hatte er der Familie Ericius in Kiel einen Abschiedsbesuch gemacht, und dabei hatte er Dina, die über den plötzlichen Entschluß beinahe ihre fröhliche Laune verlor, halb im Scherz das Versprechen gegeben, ihr und durch sie der Familie von Zeit zu Zeit briefliche Nachricht über sein Befinden, seine Eindrücke und Erlebnisse zukommen zu lassen. Dieses Versprechen hatte er auch wirklich gehalten; verschiedene Briefe waren inzwischen aus allen Weltgegenden an Dinas Adresse gelangt, sie waren meist in satirisch heiterem Plauderton gehalten und wurden regelmäßig ebenso erwidert. Der letzte, der Dina die größte Freude bereitete, meldete des Grafen baldige Heimkehr.
Aber selbst auf der Reise vermochte der Graf die Geschäfts–Sorgen, die er nun einmal auf sich geladen hatte, nicht ganz abzuwälzen; Altens Berichte folgten ihm überall hin, sie wußten ihn, wenn auch auf den größten Umwegen, zu finden. Selten war ihr Inhalt ein angenehmer, meist bezogen sie sich auf Dinge, deren Erledigung Eile gebot, und die der Graf unerledigt gelassen hatte. Diese ewigen „Molesten“, wie Snarre sich ausdrückte, verleideten ihm jeden Genuß, und fester denn je entschlossen, der Sache bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ein für allemal durch Verkauf der Werke – und wäre es selbst mit Verlust – ein Ende zu machen, trat er die Heimreise an.
Er war schon über ein Jahr fort gewesen, und da ihn der Rückweg über Kopenhagen führte, so wollte er nicht versäumen, Tromholt dort aufzusuchen. Er hatte ihm diese Absicht sowie die Zeit seiner Ankunft mitgetheilt und war aufs angenehmste überrascht, im Gasthofe bereits ein Schreiben Tromholts vorzufinden, in welchem dieser seinerseits um die Erlaubniß bat, dem Herrn Grafen die erste Aufwartung machen zu dürfen. Solche Aufmerksamkeit schmeichelte Snarres Eitelkeit, wie denn überhaupt dieser Zug seines Wesens stärker als je in manchen kleinlichen Einzelheiten zu Tage trat.
Ein heller Anzug brachte zwar seine zierliche Gestalt in vortheilhaftester Weise zur Geltung, aber Schnitt und Farbe verriethen die Vorliebe für die Uebertreibungen der herrschenden Mode. Der Aufenthalt in London und Paris und sein dortiger Verkehr mit der vornehmen Gesellschaft waren nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben, er legte noch mehr als bisher Werth auf Aeußerlichkeiten; die zahlreichen, kostbaren Kleidungsstücke und Toilettengegenstände, die vielen Kämme, Bürsten, Seifen, Pomaden und Parfüms, welche der Kammerdiener Morten eben aus den Koffern packte, legten dafür Zeugniß ab. Morten selbst trug eine neue reiche Livree mit Snarres Wappen.
Die Begrüßung der beiden Herren war eine überaus herzliche. Tromholts treffliches Aussehen überraschte den Grafen. Sein Gesicht zeigte eine frischere Farbe, sein Auge blickte weniger ernst als damals, da Snarre ihn zuletzt gesehen hatte.
Auch die Stimme klang frischer und heiterer, als er anhub:
„Ja, dem Himmel sei’s gedankt, mir geht es soweit ganz nach Wunsch! Ich habe mit meinem Gedanken, nordische Erzeugnisse nach Deutschland auszuführen, einen ungewöhnlichen Erfolg gehabt. Schon wird der dritte große Speicher für mich gebaut; in meinem Bureau arbeiten gegenwärtig über zwanzig Leute, und im ganzen Norden bis nach Hammerfest hinauf sind meine Vertreter thätig. Auch hatte ich das Glück, sehr vortheilhaft zu spekuliren, so günstig, daß ich durch einen einzigen Grundverkauf schon bald nach meiner Niederlassung hier ein bedeutendes Kapital erwarb. Zudem habe ich in Kopenhagen einen äußerst angenehmen geselligen Verkehr.“
„Sie führen also ein eigenes Hauswesen?“ bemerkte Snarre, aufrichtig erfreut über diese guten Nachrichten.
„Allerdings! Bald nach dem Tode des alten Elbe, der, wie Sie ja wissen, an den Folgen des ihm durch Larsen beigebrachten Messerstichs starb, nahm ich seine Tochter Ingeborg zu mir. Sie war von ihrer tödlichen Wunde nur wie durch ein Wunder genesen. Aus Trollheide, wo sie alles an den schrecklichen Vorfall erinnerte, wollte sie nicht bleiben, auch gebot ihr Zustand dringend eine Luftveränderung; mein Schwager Alten fand bald eine andere Hilfe, und ich war, obwohl das arme Geschöpf bis heute die Nachwirkungen ihrer Krankheit nicht ganz überwunden hat, froh, eine so zuverlässige Persönlichkeit um mich zu haben. Daß ich auf Vorurtheil und Geschwätz der Welt nichts gebe, wissen Sie, Herr Graf.“
„So – so –?“ machte Snarre überrascht, „bei Ihnen befindet sich das junge Mädchen? Ja, das sieht Ihnen nun wieder ganz ähnlich, Sie vortrefflichster der Menschen.“
„Ich bitte, ich bitte, Herr Graf –“
„Nein, Tromholt –“ betonte Snarre halb freundschaftlich, halb in seiner aristokratisch herablassenden Weise und Tromholt ohne das Wort „Herr“ anredend. „Sie sind ein seltener Mensch, und deshalb nahm ich auch den Weg über Kopenhagen. Es trieb mich, Sie wieder zu sehen und, da unter Ihrer Hand eigentlich alles gelingt, Sie auch zu bitten, mir mit Rath und That beizustehen.“
„Ich Ihnen helfen, Herr Graf?“ erwiderte Tromholt lächelnd und sich bei den wiederholten Schmeichelreden höflich verneigend. „Indessen! Ich bitte, ganz über mich zu verfügen –“
Snarre streifte die Asche einer inzwischen angesteckten Cigarre ab und neigte befriedigt den Kopf.
„Ich möchte die Ericiusschen Werke wieder verkaufen!“ sagte er dann kurz und ohne Einleitung. „Haben Sie nicht Lust, dieselben zu übernehmen, lieber Tromholt?“
„Die Werke verkaufen?“ – Tromholt sah Snarre groß an, seine Achtung vor ihm schien durch diese Erkärung nicht gerade zu wachsen. „Darf ich fragen, verzeihen Sie, Herr Graf, was Sie zu diesem mich aufs äußerste überraschenden Entschlusse bewegt? Von meinem Schwager Alten hörte ich doch nur Gutes –“
Snarre unterbrach Tromholt; eine leichte Wolke flog bei Nennung von Altens Namen über sein Gesicht.
Dies entging Tromholt nicht, und schon stieg die Befürchtung in ihm auf, daß inzwischen ein ernstliches Zerwürfniß zwischen den beiden eingetreten sei.
„Da ist mir zu viel kleiner Krimskrams, und ich habe zu viel Aergerniß,“ erklärte Snarre. „Ich nahm damals an, daß ich wenig oder nichts von Limforden und Trollheide hören würde. Jeden Monat eine Uebersicht und Abrechnung, so halte ich’s bei meinen übrigen Besitzungen. Aber der Teufel weiß, womit ich geguält werde! Widerspenstigkeit des Personals, Krankheit, Einfluß der Witterung auf die Arbeiten, Stillstand der Maschinen, Ausbesserungen, ungünstige Marktverhältnisse, Verfall der Arbeiterhäuser, Veruntreuungen, Streit zwischen den Beamten, Zahlungsunfähigkeit der Abnehmer – und so weiter und so weiter! Nein, liebster Tromholt, das ist wohl für einen Tromholt, aber nicht für Graf Snarre! Also, was meinen Sie? Oder wenn Sie nicht selbst Lust haben, – Sie brauchten mir nichts bar auszuzahlen, ich würde nur den üblichen Zins verlangen – wissen Sie mir nicht einen Käufer?“
Tromholt sah eine Weile vor sich hin, dann warf er den Kopf zurück und sagte:
„Nein, Herr Graf, ich kann nicht. Ich bin hier gebunden, das Zuviel ist der Feind jeder gesunden Entwickelung. Aber wenn’s Ihr Ernst ist, vielleicht überlassen Sie meinem Schwager den Besitz pachtweise, ich trete nöthigenfalls als Bürge für ihn ein.“
Aber dieser Vorschlag paßte Snarre durchaus nicht, und so wenig verhehlte er seine Abneigung gegen den Plan, daß er ziemlich abweisend den Kopf schüttelte.
Nach einer kurzen Pause nahm der Graf das Gespräch wieder auf. „Aus Ihrem Vorschlage, lieber Tromholt,“ erklärte er mit fast plumpem Freimuthe, „würde weder etwas Gutes für Ihren Schwager, noch für Sie, noch für mich entstehen. Offen gestanden, wir haben uns beide bezüglich der Fähigkeiten Altens, einer solch verwickelten Sache vorzustehen, geirrt. Ihr Schwager ist, abgesehen von seinen sonstigen liebenswürdigen Eigenschaften, fleißig, ehrlich und gewissenhaft, aber ihm fehlt die rechte Uebersicht, die nöthige Fähigkeit zu einer planmäßigen Leitung und vor allem
[600][601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] die Ruhe und Besonnenheit, die einen Tromholt auszeichneten. Wir passen auch sonst nicht zusammen wir sind zu verschiedene Naturen, und ganz unumwunden gesprochen, wenn ich Besitzer von Limforden bleiben sollte, wäre unser Zusammensein doch nicht von Dauer. Ich habe Veranlassung, zu glauben, daß auch Herr von Alten mit mir nicht zufrieden ist und sich nach einer Veränderung sehnt. Will er seinen früheren Posten als Gutsinspektor wieder übernehmen, habe ich nichts dagegen. Als solcher paßt er, und unser Verhältniß wird dann auch wieder ein anderes, besseres.“
Tromholt hatte in deutlicher Bewegung den schwarzen Bart gestrichen; es regte sich in ihm bei der Liebe, die er für Alten empfand, etwas wie Unmuth gegen Snarre, der denselben in so schonungsloser Weise preisgab. Aber das war doch nur vorübergehend. Er mußte zugeben, daß Snarres Auseinandersetzungen eine anerkennenswerthe Aufrichtigkeit bekundeten, die dem Manne zur Ehre gereichte und der einmal bestehenden Sachlage durchaus angemessen war. Künstliche Verhältnisse soll man nicht aufrecht erhalten wollen, und daß Alten als Durchgänger sich nicht immer im Zaum zu halten verstand, das wußte Tromholt.
Er ging deshalb vorläufig nicht weiter auf den Gegenstand ein, sprach nur in höflicher Weise sein Bedauern aus, daß der Graf seine Voraussetzungen bezüglich Altens nicht bestätigt gefunden habe, und schloß mit dem Versprechen, daß er sich die Sache überlegen und darauf zurückkommen werde.
Snarre schien durchaus befriedigt, er war es stets, wenn er keinen Widerspruch fand; und seine Hochachtung vor Tromholt wuchs.
Am Schluß ihrer sich um Allgemeines drehenden Unterhaltung fragte Snarre nach Utzlar. „Fräulein Dina, mit der ich recht fleißig Briefe wechsle und die mir erst heute wieder geschrieben hat, weiß nichts von ihm. Haben Sie zufällig Kunde, wo er sich aufhält?“
„Ja,“ entgegnete Tromholt einfach. „Seit drei Monaten steht er bei mir in Diensten und macht sich – gut.“
„Graf Utzlar bei Ihnen in Diensten?“ Snarre riß die Augen weit auf und machte ein Gesicht, als ob er glaubte, Tromholt habe einen Scherz gemacht.
Ueber Tromholts Angesicht zog ein liebenswürdiges Lächeln.
„Ich begreife, Herr Graf,“ entgegnete er, „daß Sie sich darüber wundern. Ich muß gestehen, daß ich vor zwei Jahren jeden andern Gedanken hätte fassen können als den, dem Grafen Utzlar in solcher Weise die Hand zu reichen. Aber vor der Noth schweigt selbst die Empörung. Er war in einer furchtbaren Lage, und zuletzt ohne seine Schuld. Nachdem er – wie das bei einem so ungewöhnlich leichtsinnigen Menschen wie Utzlar vorherzusehen war – das ihm von der Familie Ericius ausgezahlte Vermögen verthan hatte, suchte er zu arbeiten. Er mußte! Seine gewissenlosen Pläne, sich lediglich durch eine reiche Frau wieder emporzurichten und sich ein arbeitsloses Genußleben zu verschaffen, waren mißlungen. Die Gesellschaft bleibt sich doch mitunter noch treu, man wies ihm ziemlich allgemein die Thür. Nachdem er als Agent bei einer Versicherungsgesellschaft Stellung gefunden hatte, erkrankte er und verlor diesen Posten wieder. Später war er in einem Reitinstitut in Hamburg beschäftigt, und hier lernte er einen sehr verkommenen und völlig erwerbslosen Menschen kennen, der ihm den Vorschlag machte, mit ihm nach Kopenhagen zu gehen und daselbst ein ebensolches Institut zu gründen. Allein das Unternehmen scheiterte an dem Mangel genügender Betriebsmittel. Als die Dinge schief zu gehen anfingen, machte der ‚gute Freund‘ noch rasch alles vorhandene Material zu Geld, suchte mit der gemeinsamen Kasse das Weite und ließ den Kompagnon in einem kläglichen Zustand zurück. Da suchte dieser mich auf und bat, von allem und jeglichem entblößt, um Unterstützung. Ich habe kaum etwas ähnliches von Elend und Jammer gesehen. Tagelang konnte ich den Anblick nicht vergessen. Da schwieg alles andere in mir, und selbst auf die Gefahr hin, von der Ericiusschen Familie wegen dieses Schrittes falsch beurtheilt zu werden, gab ich ihm Arbeit und Verdienst.“
„Tromholt!“ rief Snarre aufspringend und die Hand seines Gastes ergreifend, „Sie sind ein herrlicher, ein großartiger Mensch! Ich bewundere, ich beneide Sie. Ach, was gäb’ ich darum, Ihnen gleichen zu können!“
Er sprach die Wahrheit. Wie klein kam sich der glänzende Aristokrat in diesem Augenblick neben dem schlichten, bürgerlichen, alle Lobsprüche bescheiden ablehnenden Mann vor, der einzig in treuer Pflichterfüllung gegen sich und andere das Glück fand, das Graf Snarre vergebens in den Zerstreuungen der Welt suchte! Wie arm war er gegen ihn!
„Was hören Sie von den Ericius?“ fragte der Graf plötzlich, und es war zweifelhaft, ob er mit dieser Frage die frühere Gedankenreihe verließ oder fortsetzte.
„Nichts, gar nichts, Herr Graf!“ erwiderte Tromholt fast barsch ablehnend, „ich habe keine unmittelbaren Beziehungen zu der Familie mehr, und auch von Alten habe ich keinerlei Nachricht über sie.“
Einen Augenblick sah der Graf Tromholt, dessen Augen sich unter seinem Blick senkten, scharf an, dann brach er das Thema, das jenem peinlich schien, ebenso unvermittelt, als er es begonnen hatte, wieder ab und fragte nach Larsens Schicksal. Auch von ihm wußte Tromholt nichts, seine Spur schien verloren, ohne Zweifel hatte er über dem Ocean ein sicheres Versteck gefunden, das ihn dem Arm der Gerechtigkeit für immer entzog. Noch eine halbe Stunde unterhielten sich die beiden Herren über allgemeinere Gegenstände, dann trennten sie sich für heute, nachdem Tromholt noch den Grafen für den andern Tag bei sich zu Tisch geladen und dieser die Einladung angenommen hatte.
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In dem nach dem Hafen liegenden Wohngemach der Familie Ericius saß acht Tage später Susanne um die Mittagszeit neben ihrer Mutter.
Die beiden Damen waren mit Handarbeiten beschäftigt, als Dina, einen Brief in der Hand bewegend, ins Zimmer stürmte. „Neuigkeiten!“ rief sie lustig, „das Allerneueste, und rathet nur, woher!“
Susanne war bei dem ungestümen Eintritt ihrer Schwester erschreckt zusammengefahren. Wie es jetzt oft geschah, waren ihre Gedanken weit abgeschweift von der zierlichen Spitzenarbeit, mit der sich ihre Hände mechanisch beschäftigten. Eine leichte Röthe flog über ihr bleiches Gesicht, während ihr Blick erwartungsvoll auf das Schreiben gerichtet war, das Dina mit geheimnißvoller Miene noch immer wie eine Fahne schwenkend emporhielt.
„Nun, woher denn?“ hub Frau Ericius an, „von Ingeborg Elbe – oder – von dem Grafen Snarre? Das sind ja die beiden Menschen, die Dich am lebhaftesten in Anspruch nehmen.“
„Von Ingeborg? – Nein! Die läßt, seit sie in Kopenhagen ist, selten etwas von sich hören! Auf zehn eingehende, ausführliche, höchst zärtliche Briefe von meiner Hand kommen kaum zwei von der ihrigen, aber –“
Hier entfaltete Dina ihren Brief und begann ihn den andern vorzulesen:
Daß ich diesen Brief, an meinem Schreibtisch in Snarre sitzend, an Sie richte, wird zur Folge haben, daß eine Unmuthsfalte auf Ihrer schönen Stirn erscheint. Sie hatten ein Recht, zu erwarten, daß ich nach so langer Abwesenheit und bei unserm kameradschaftlichen Verhältniß zuerst Sie und die Ihrigen bei meiner Rückkehr begrüßen und auf dem Düsternbroker Weg vorsprechen würde. Aber kennen Sie den Wunsch, den Drang, das Beste sich bis zuletzt aufzusparen? So erklären Sie sich, ich bitte, abgesehen von einigen andern Gründen, mein Verhalten! Den ersten Brief aus Snarre jedoch empfangen Sie, und ich spreche die Wahrheit, wenn ich Ihnen sage, daß ich es kaum erwarten kann, mich wieder einmal anders als nur schriftlich von Ihnen necken und hänseln zu lassen. Sie erinnern sich, wie Sie mich verhöhnten, weil ich auf meiner Weltreise mich weder entschließen konnte, einen Elefanten, noch ein Dromedar zu besteigen. Ich füge hinzu, daß ich meinen Kopf darauf setzte, mich parisisch in Paris zu kleiden, daß ich, abgesehen von Ihnen und den Ihrigen, die Menschen im allgemeinen mittelmäßig erträglich und überhaupt das Dasein nicht sehr lebenswerth finde. Ich sende Ihnen zur Erhärtung meiner ersten Behauptung meine Photographie, und ich weiß, ohne zu sehen und zu hören, daß Sie alle Schalen Ihres Spottes über dieselbe ausgießen werden. Aber von Ihnen mag ich das! Nehmen Sie diese Erklärung, daß ich eine förmliche Sehnsucht danach habe, mich von Ihnen auslachen zu lassen. Wenn es der verehrten Familie Ericius genehm ist – und es würde mich das sehr glücklich machen – so erscheine ich in etwa acht Tagen und bringe Ihnen als Geschenk eine ausgestopfte Giraffe mit. Ich hoffe, daß Sie die Kleinigkeit annehmen und als Miniaturnippes auf Ihren Schreibtisch stellen werden. Immer in gleicher Verehrung und Bewunderung Ihrer [603] liebenswürdigen Eigenschaften, auch mit der Bitte, mich den Ihrigen aufs angelegentlichste zu empfehlen, bin ich
„Furchtbar nett und lustig! Nicht wahr, Mama? Was sagst Du, Susanne?“ rief Dina nach Schluß der Vorlesung.
Susanne, die wie ein schönes, bleiches Madonnenbild dasaß, nickte sanft.
„Ja, Dina, Graf Snarre ist ein moderner Mensch mit all den guten Eigenschaften und Fehlern, die einmal zu einem solchen gehören. In erster Linie hat er trotz aller seiner Standesvorurtheile, seiner Selbstliebe und einer gewissen Unfertigkeit, die ihm stets anhaften wird, doch einen guten, ritterlichen Zug, und dieser hilft ihm und denen, die auf seinen Umgang und Verkehr angewiesen sind, immer über alles fort. Ich freue mich, daß Du ihn zum Freund gewonnen hast, vielleicht, und ich wünsche es Dir von Herzen –“ hier veränderte sich Susannens Gesicht und nahm einen liebenswürdig neckischen Ausdruck an – „wird er Dir bald noch etwas anderes und mehr sein!“
„Aber Susanne,“ eiferte Dina, nun ganz von Purpur übergossen. „Wie kannst Du nur so reden! Wenn der Graf Dich hörte, sein Standesgefühl müßte sich entsetzlich gekränkt fühlen. Ein Graf Esbern-Snarre kann mindestens auf eine Gräfin, wenn nicht auf eine Prinzessin Anspruch erheben, und Du glaubst, er könnte sich zu einer so kleinen Person, wie es Fräulein Dina Ericius ist, mit anderen als rein freundschaftlichen Absichten herablassen? Was würden seine hohen Ahnen dazu sagen! Es gäbe ja eine förmliche Revolution in ihren Gräbern, bis sie sich alle umgedreht hätten! Und weißt Du denn, ob das genannte Fräulein Ericius überhaupt geneigt wäre, ihre goldene Freiheit für eine neunzackige Grafenkrone hinzngeben? O, da kennst Du diese junge Dame doch sehr schlecht, sie hat auch ihren Stolz, und sie wird ihre bürgerliche Freiheit vertheidigen bis zum letzten Blutstropfen.“
Frau Ericius und Susanne lächelten über Dinas Rede, und namentlich die erstere sah ihre Tochter mit einem freundlichen Blick an.
In Dina schien sich Susanne noch einmal verjüngt zu haben, aber Dina war weniger wählerisch, als ihre Schwester es gewesen war, und, wenn auch bei geringerer Tiefe, liebenswürdiger und lebensfroher. Wie ein Sonnenstrahl glitt sie durchs Haus. Trat etwas Unliebsames an sie heran, wurde sie rasch damit fertig; mit unnöthigem Grübeln und Kopfhängen gab sie sich nicht ab. Gegenwärtig ward sie besonders durch ihre stillen Hoffnungen belebt. Wenn sie auch wie alle Liebenden Zweifel hegte, ob Graf Snarre ihr gleiche Empfindungen entgegenbringe, so that dies doch ihrem Glücksgefühl keinen Abbruch. Täuschte sie sich, so blieb Zeit genug, sich dem Schmerz dieser Enttäuschung hinzugeben. –
Kaum nach Verlauf einer Woche traf der von ihr ersehnte Brief des Grafen ein. „Ich komme morgen an und werde mir erlauben, Ihnen bereits mittags meinen Besuch zu machen. Vergessen Sie nicht, recht liebenswürdig zu sein gegen Ihren u. s. w.“ So lautete sein Inhalt.
Inzwischen hatten sich in Limforden recht unliebsame Dinge zugetragen.
Am Tage der Abreise des Grafen von Snarre saß Alten mit tief herabgebeugtem Haupt in dem einstigen Arbeitszimmer seines Schwagers Tromholt und starrte finsteren Blickes vor sich hin. Er unterbrach erst sein stummes Grübeln, als Bianca, die ein wenig an Körperfülle zugenommen hatte, aber fast noch schöner geworden war und an diesem Tage besonders anziehend aussah, das Gemach betrat.
„Nun, mein armer Freund,“ hub sie an und legte, mit theilnehmendem Blick auf ihn zutretend, ihre Rechte auf sein Haupt. „Frißt noch immer der Aerger in Dir? Ich bitte Dich, wirf die Erinnerung an das Geschehene von Dir! Laß uns unser Augenmerk auf die Zukunft richten!“
Alten hörte, was seine Frau sprach, aber zunächst erwiderte er nichts.
„Ah, wie ich diesen hochmüthigen Aristokraten hasse!“ rief er dann plötzlich, sprang empor und maß mit aufgeregten Schritten das Zimmer. „Wie mir überhaupt die ganze Brut zuwider ist, obgleich ich – Gott sei’s geklagt – vermöge meiner Geburt zu ihr gehöre! Aber meine Voreltern erkannten das Merkmal des Adels in der Gesinnung. Vornehmes Denken und Handeln, Gerechtigkeit, Menschlichkeit war ihr Wahlspruch. Unter solchem Beispiel bin ich aufgewachsen. Diese Gesellschaft jedoch glaubt schon viel zu thun, wenn sie dem Bürgerlichen oder dem weniger gut gestellten Standesgenossen ein gezwungenes Lächeln schenkt. Nicht einen Augenblick kann ein solcher Mensch vergessen, daß er der hochgeborene Graf ist, nie kommt ihm auch nur der Gedanke, daß ein anderer ihm gleichwerthig oder gar mehr sein könnte als er. Ein ritterlicher Zug, sagst Du und sagen andere, soll in Snarre stecken? Ja, wenn man anbetend vor ihm im Staube liegt, wenn seiner Eitelkeit geschmeichelt wird, dann zeigt sich etwas Menschliches, Gutherziges in ihm; wenn sein schlauer Instinkt, nicht sein kleiner Verstand, es ihm räth, dann streut er Wohlthaten aus, aber nur – nur, um desto reichlicher zu ernten. Nein, nein, liebe Bianca, ein sehr gewöhnlicher Bursche ist er, fast ein Zwillingsbruder von Utzlar, nur stärker gefirnißt. Alles eine Sorte! Ich möchte mal sehen, wie er sich ausnähme, wenn er wie jener ein Habenichts wäre! Aber alle lassen sich von ihm blenden. Selbst Dein Bruder Richard –“
Hier unterbrach Bianca, die den Aufgeregten nicht durch Widerspruch hatte reizen wollen, ihren Mann und sagte milde: „Du irrst, Konrad! Richard sieht wohl des Grafen Schwächen, aber er rechnet mit ihnen, da er seiner eigenen gedenkt. Du aber übertreibst in Deinem Zorn. Snarre hat wirklich gute Eigenschaften, aber Ihr paßt einmal nicht für einander, und wo die Zuneigung fehlt, da nutzt es nichts, Pakte schließen zu wollen. Sei nicht böse, lieber Mann, aber Dein Benehmen war keineswegs besonnen, viel weniger weise. Snarre ist doch einmal Dein Vorgesetzter, und viel mehr hättest Du erreicht, wenn Du, statt so maßlos heftig zu werden, ruhig Deinen Standpunk erörtert hättest. Ich möchte den sehen, der solche Ausfälle gutwillig hinnähme und dessen Vorurtheilsfreiheit nicht durch solche Grobheiten getrübt würde. Du sagtest ihm fast dasselbe, was Du hier eben wie ein Feuer und Dampf ausspeiender Krater von Dir gestoßen hast. Ich bitte Dich, lieber Mann, konntest Du etwas anderes erwarten, als daß er Dir Deine Stellung kündigte? Ich gestehe, ich muß seine Mäßigung bewundern, die bewirke, daß er trotz seiner Empörung nicht mehr sagte als: ‚Sie wissen in Ihrem Zorne nicht, was Sie sprechen. Dem trage ich Rechnung und will mich als Entgegnung nur auf die Erklärung beschränken, daß ich unsern Vertrag als gelöst ansehe. Das Nähere wird Ihnen von Schloß Snarre aus zugefertigt werden!‘“
„Ja! Ja! Von Schloß Snarre aus zugefertigt werden!“ wiederholte Alten mit dunkelrothem Kopf, statt auf seiner Frau verständige Reden einzulenken. „Das ist ja eben jenes empörende Vonobenherab. O, es tut mir leid, daß ich ihm meine Ansicht nicht noch viel deutlicher gesagt habe!“
„Konrad, Konrad!?“ rief Bianca kopfschüttelnd. „Wenn ich Dich nicht kennte, wenn ich nicht wüßte, daß Du bei ruhigem Nachdenken stets gerecht und vorurtheilsfrei bist, ich könnte an Dir zweifeln. Was Du ihm ins Gesicht schleudertest, konnte jemand, der Ehrgefühl besitzt, nicht ruhig hinnehmen, und deshalb fand ich in des Grafen Haltung eine gewisse Hoheit. Er trug den Umständen Rechnung, er blieb dessen eingedenk, daß er Dich gereizt hatte, daß Du erregt warst, nicht wußtest, was Du sprachst – er nahm Rücksicht auf mich – kurz, er beherrschte sich, obgleich er vor Erregung bebte und Blässe sein Angesicht bedeckte. Sich beherrschen aber heißt, ein Mann sein. Darum ist Richard ein Mann, und Du wärest ihm in allem gleich, wenn Du Dich bezähmen gelernt hättest und Dich gewöhnen könntest, wie er die Dinge mit dem Auge des Philosophen anzusehen. Ich bitte Dich, zürne mir nicht, Konrad, daß ich so zu Dir rede. Es ist die Liebe, die aus mir spricht. Laß uns sinnen, wie wir jetzt unser Leben einrichten! Das erste wird sein, daß Du nach Kopenhagen reisest und mit Richard Dich beredest.“
Diesmal erwiderte Alten nichts. Er stellte sich ans Fenster und schaute stumm hinaus. Eben fuhren zahlreiche Wagen mit frisch geschnittenen Brettern und Bohlen vorüber. Sie kamen von den Dampfsägen und nahmen den Weg nach der Eisenbahnstation, damit ihr Inhalt von dort nach südlichen Plätzen verladen werde.
Alten beneidete in seiner gedrückten Seelenstimmung die Arbeiter um ihr Loos. Wenig Ansprüche erheben, wenig Bedürfnisse haben, hieß glücklich sein! Reue saß in seinem Herzen, schwere Sorgen reckten ihr Haupt empor, und alles, alles schien ihm schwarz und dunkel, jetzt und in der Zukunft. – –
[604] Während sich Alten in solcher Weise in seinen Unmuth verbiß, verlebte Graf Snarre sehr vergnügte Tage in Kiel. Man hatte ihn wie einen lieben, langjährigen Freund im Ericiusschen Hause empfangen, und es schien ganz selbstverständlich, daß er schon vom zweiten Frühstück an sich nicht mehr von der Familie trennte. Frau Ericius begünstigte, theils aus wirklicher Vorliebe für Snarres Person, theils auch von dem Wunsche beseelt, einen so überaus angesehenen Mann als Schwiegersohn für ihre Tochter zu gewinnen, seine Neigung für Dina, und auch Susanne, so sehr sie die mögliche Trennung von ihrer Schwester bedauerte, hatte keinen lebhafteren Wunsch als eine Vereinigung beider. Eine offene Unterredung mit dem Grafen hatte ihr Verhältniß gleich am ersten Tage geklärt und die Gefühle freundschaftlichen Vertrauens in ihnen von neuem befestigt. Die alte Wahrheit, daß durch mündlichen Austausch die Herzen sich am besten aufschließen, hatte hier wieder ihre Bestätigung gefunden.
Wohl hatte sich bei seiner erneuten Begegnung mit der schönen Frau, die einst, wenn auch nur kurze Zeit, eine so große Rolle in seinem Leben gespielt hatte, in des Grafen Brust die verletzte Eitelkeit wieder geregt; es war wie das Zucken einer alten, lang vernarbten Wunde, die sich unter bestimmten Witterungseinflüssen wieder fühlbar macht. Selbst einer leichten Verlegenheit vermochte der Weltgewandte nicht ganz Herr zu werden. Sie aber, wohl ahnend, was in ihm vorging, kam ihm mit so unbefangenem, herzlichem Vertrauen entgegen, daß seine erste bittere Empfindung bald den Gefühlen aufrichtiger, freundschaftlicher Theilnahme und wunschloser Bewunderung Platz machte.
Es war ein tiefer Blick, den sie ihn in ihr Gemüthsleben thun ließ, in die Vergangenheit, die wie eine lange Reihe schwerer, selbstverschuldeter Irrthümer hinter ihr lag, deren Folgen sie nun tragen mußte, so gut es eben ging. Blind, nur dem Gesetz ihrer Laune folgend, war sie an dem Glück, wo es sich ihr in seiner reinsten und edelsten Verkörperung darbot, achtlos vorbeigegangen, ja sie hatte es trotzig beiseite gestoßen, um einem Idol nachzujagen, das sich, wie sie es erhascht hatte, als ein schillerndes Nichts entpuppte; und auch dann noch, als sie es in seiner Nichtigkeit erkannt, hatte sie sich aus Trotz und Eigensinn daran geklammert, unbekümmert um die warnende Stimme in der eigenen Brust, um das Weh, das sie sich selbst und andern damit bereitete, bis ihr endlich die Enttäuschung die Augen öffnete, da es zu spät war. Zu spät – einen Augenblick hatte sie es selbst kaum zu fassen vermocht, sie hatte gehofft, es müsse sich das Unrecht, das sie andern zugefügt, wieder gut machen lassen, aber es war zu spät, und das war die letzte, schmerzlichste Enttäuschung. Das Glück, das sie einst verschmäht hatte, dessen vollen Werth sie jetzt erst erkannte, das höchste Glück, das einem Weib bestimmt ist, ihr war es auf ewig verloren, sie hatte keinen Anspruch mehr darauf.
Sie war wieder frei, das war das einzige, was sie noch hatte erreichen können, und vor ihr lag die Zukunft nicht grau und trüb, nein, freundlich klar wie eine Herbstlandschaft mit sanft abgetöntem Licht, das die Augen nicht blendet, sondern nur um so deutlicher die Ziele erkennen läßt, denen man zustrebt.
„Eine Sühne der Vergangenheit,“ so schloß Susanne, „soll diese Zukunft für mich sein. Was nützen Reue und Selbstvorwürfe? Sie bringen das Verlorene nicht zurück. Aber im freudigen, selbstlosen Wirken und Sorgen für das Wohl anderer liegt eine Quelle der Zufriedenheit, jenes wunschlosen Glückes, das keine Enttäuschung kennt. Mir diese Quelle immer voller und reicher zu erschließen, das, Herr Graf, ist fortan mein Beruf. Es ist ein schöner, edler Beruf, und wenn Sie mich darin unterstützen wollen, so reichen Sie mir die Hand zu einem Bund uneigennütziger Freundschaft.“
„Gern und von ganzem Herzen!“ rief Snarre, indem er Susannens Hand ergriff und gerührt an die Lippen zog.
Der letzte Rest kleinlicher Eitelkeit schwand vor dieser Entsagungskraft, die er bewunderte, beneidete, ohne sich je zu ihr aufschwingen zu können. Ein Gefühl der Beschämung überkam ihn bei ihren Worten wie jüngst in Kopenhagen als er vor Tromholt stand. Tromholt – sollte er es sein, um den sie trauerte, den sie verschmäht und zu spät erst in seinem wahren Werth erkannt hatte, sollte er das verkörperte Glück sein das sie beiseite gestoßen? – Ja, es war kein Zweifel, Tromholt allein wäre dieser Frau würdig gewesen, er war ein Nebenbuhler, vor dem selbst ein Graf Snarre neidlos zurücktreten mußte. Ihn verkannt zu haben, das war freilich ein Irrthum, der einer großen Sühne werth war.
So dachte Snarre in diesem Augenblick, aber das Eintreten Dinas unterbrach seine Grübeleien, und da nun Susanne mit freundlichem Kopfnicken, als sei sie durch eine Beschäftigung abgerufen, das Gemach verließ, war ihm die Unterhaltung des liebenswürdigen Mädchens um so willkommener, als er sich nicht gerne allzulange dem für ihn demüthigenden Eindruck so ernster Gespräche wie das eben geführte hingab, sondern seinem ganzen Wesen nach einer leichteren Lebensauffassung zuneigte.
Dina stand noch unter dem Eindruck, den die kostbaren Geschenke auf sie gemacht hatten, welche Graf Snarre ihr mitgebracht.
„Zunächst, liebster Herr Graf, muß ich eine Weile Ihnen in stummem Danke gegenübersitzen,“ hub sie scherzend, aber doch in einem Tone, der ihre freudige Rührung nicht verbarg, an. „Bitte, hier – wenn’s Ihnen gefällig ist. Ich liebe so sehr den Blick auf den Hafen, auf die Ufer und die Kriegsschiffe – und ich weiß, Sie mögen auch den Erkerplatz am offenen Fenster – oder wünschen Ew. Erlaucht lieber in den Garten zu gehen und dort mit der kleinen bürgerlichen Ericius zu plauden?“
Snarre lachte und schüttelte den Kopf. „Darf ich fragen,“ entgegnete er, „was Sie so stumm macht, ohne daß man etwas davon bemerkt, was Sie so bewegt und wofür Sie mir eigentlich danken? Sind’s die Kleinigkeiten, die ich Ihnen mitgebracht habe?“
„Kleinigkeiten? Das Pantherfell, das chinesische Schachspiel, der Federfächer, der indische Schmuck, die seidenen Stoffe und so weiter und so weiter? Es ist wirklich, als ob Sie beabsichtigt hätten, einen Bazar im Ericiusschen Hause zu veranstalten! – Aber nun ernsthaft, Erlaucht“ – hier streckte Dina mit einem bezaubernden Ausdruck Snarre die Hand entgegen – „ich danke Ihnen tausendmal, ich habe mich ganz unbeschreiblich über die Sachen gefreut! Es ist wahrlich zu viel, Sie haben mich durch Ihre Güte tief beschämt.“
„Wenn ich Ihnen wirklich eine Freude bereitet habe, dann ist der Zweck erreicht,“ erwiderte der Graf, bescheiden ihrem Danke ausweichend. „Und wissen Sie wohl,“ fuhr er fort, „daß kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht das dringende Bedürfniß hatte, mich mit Ihnen zu beschäftigen?“
„Nein!“ entgegnete Dina kurz und mit drolligem Ernst.
„Nein?! Sie zweifeln?“
„Ja! Sie bilden es sich vielleicht ein, aber offen gesprochen, ich vermag es schon deshalb nicht zu glauben, weil Sie mir wenig Beweise dafür gegeben haben. Alle zwei Monate haben Sie einmal geschrieben. ‚Ach, da fällt mir ein, ich muß der kleinen Ericius doch ein paar Worte gönnen!‘ dachten Sie, und wirklich stand auf dem Papier häufig nichts anderes als: ‚Todmüde, zerstochen von Moskitos, verhungert wie eine Kirchenmaus, verdurstet wie ein versiegter Brunnen, kann ich Ihnen heute nur einen herzlichen Gruß senden. Nächstens Ausführlicheres von Ihrem ergebenen Graf Snarre.‘ Aber Ausführlicheres kam nicht; nicht ein Wort über die schönen Gegenden, die Sie durchreist, die merkwürdigen Bekanntschaften, die Sie gemacht haben. Und das nennen Sie: sich mit jemand beschäftigen, Erlaucht?“
„Bevor ich Ihnen, meine vortreffliche und verehrte kleine Dame, genannt Fräulein Dina Ericius, antworte, gestatten Sie mir die Frage, weshalb Sie mich stets ‚Erlaucht‘ nennen? Warum nennen Sie mich nicht schlichtweg Snarre, und –“
„Es geht nicht, Herr Graf!“
„Es geht nicht? Weshalb – wenn ich fragen darf?“
„Weil es unser schönes, freundliches Verhältniß stören würde. Seien Sie aufrichtig, Erlaucht, Sie hören ihn ja so gern, diesen Titel, sind stolz darauf, und offen gestanden, dieser Stolz gefällt mir ganz gut an Ihnen. Alle Vertraulichkeit in Ehren, aber die Etikette darf man bei Ihnen nie ganz vernachlässigen, wenn man sich Ihre Freundschaft erhalten will. Sie sind der Mann mit den angeborenen Kammerherrnschlüsselallüren. Ich bin sicher, Sie würden selbst dem Tod im letzten Augenblick mit der ausnehmendsten Höflichkeit begegnen und ihm zurufen: ‚Gestatten Sie, Herr von Klapperbein, bevor Sie mir daß Lebenslicht ausblasen, gütigst, daß ich noch das letzte Tüpfelchen in meinem Testament auf ein i setze. Ich stehe dann gleich ganz und mit größtem Vergnügen zu Ihren Diensten!‘ Würde dann der Tod erwidern: ‚Bitte ganz gehorsamst, Herr Graf! Wollen Herr Graf durchaus nach Belieben verfahren!‘ so würden Sie sich aus [605] Rücksicht sogar beeilen, mit Ihrem i-Punkt fertig zu werden und ihm in die Unterwelt zu folgen. Wehe aber, wenn der Sensenmann Ihnen zurufen würde. ‚Keine Redensarten, vorwärts!’ Dann würden Sie noch im letzten Todeskampf sich emporrichten und mit hochmütig zugekniffenen Augen, gerümpfter Nase und schnarrender Stimme ihm entgegnen: ‚Sie scheinen zu vergessen, Herr, Herr - wie heißen Sie doch gleich, Sie mit der Rippenweste? - daß Sie die Ehre haben, mit Sr. Erlaucht, dem Grafen Esbern-Snarre auf Snarre zu sprechen. Ich muß sehr bitten!’ Und der Tod, sich besinnend würde unterthänigst die Knieknochen zusammenschlagen, sich verneigen und eine Entschuldigung stammeln – das heißt, wenn nach Ihrem Willen und Ihren Anschauungen ginge, Herr Graf!“
Snarre lachte laut auf und sah dem schelmisch plaudernden und ihn nicht unrichtig kennzeichnenden Mädchen wohlgefällig in die Augen. Er mochte ihre Art gar zu gern, und so sehr ihm Susannens Ernst gefallen hatte, so fand er das neckische Wesen dieses frischen Naturkindes doch viel anziehender.
Von den Leichenfeldern des Waldes.
„… Den Bäumen nimmt der Herbst das Laub,
Der Tod im Walde tost …“ Lenau.
Die Liebe des Deutschen zum deutschen Walde ist mit ein Stück germanischer Stammesart, sie hat, so weit die deutsche Zunge klingt und Sangesbrüder wohnen, poetischen und klangreichen Ausdruck gefunden in dem herrlichen Liede „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben!“ Poeten und Tondichter preisen des deutschen Waldes Schönheit, sie pflanzen mit flammender Begeisterung in die junge Volksseele die Liebe zum göttergeweihten Hain, die mit dem Menschen wächst, groß wird und so lange währen wird, als es deutsche Wälder giebt.
Leider ist eine Zeit des Jammers für den deutschen Wald herangebrochen, eine Zeit der Vernichtung stolzer Baumriesen auf Flächen, die das Auge kaum mehr abzuschätzen vermag. Wo Jahrhunderte hindurch über allen Gipfeln Ruh' gewesen, dröhnt dumpf der Abschlag, ein Massenmorden herrlicher Waldungen hat begonnen, bedungen und erzwungen durch die vernichtende Thätigkeit des Fichtenspinners, auch „Nonne“ genannt, des Schreckens aller Forstleute.
Wohl hat es Nonnenraupen und -schmetterlinge zu allen Zeiten gegeben, aber seit der Mitte der fünfziger Jahre war ein so entsetzliches Massenauftreten dieses Waldverwüsters nicht mehr zu verzeichnen. Damals litten die Waldungen Ostpreußens bis nach Rußland hinein schwer; jetzt, fünfunddreißig Jahre später, haben wir ein Nonnenjahr zu verzeichnen, das zunächst Bayerns Waldungen gräßliches Unheil zufügt. Die stolzen schönen Bestände an Fichten und Kiefern auf der oberbayerischen Hochebene vom „Bayerischen Meere“, dem Chiemsee, herauf bis an die schmucken Anlagen Münchens und die Forste und Wildparke in nächster Umgebung der bayerischen Hauptstadt, dann die Waldungen in Niederbayern, der Oberpfalz und Schwaben sind jäh von den Nonnen überfallen worden und dem Untergange geweiht. Ein Wehschrei ganzer Völkerstämme dringt durch die Lande, vom Lech und der bergfrischen Isar, von den tosenden Gebirgsflüssen und Sturzbächen des Hochlandes, aber auch schon zittert der Klageruf über die blaue Donau und vom Norden herab, vom meerumschlungenen Schleswig-Holstein, von Oldenburg und Schlesien kommt die Trauerkunde, daß auch die dortigen mächtigen Forsten der Vernichtung anheimgefallen sind.
Wer je dem geheimnißvollen Rauschen der wie im Traume flüsternden Bäume lauschte, die Wunderwelt des Bergwaldes die Majestät der mächtigen Forste auf sich wirken ließ und all die Größe und Schönheit in sich aufnahm, dem mußte sich das Herz zusammenkrampfen bei der Kunde, daß auf Meilen in der Runde der ganze sattgrüne Kiefern- und Fichtenbestand rettungslos verloren sei durch die Gefräßigkeit eines einzigen Waldverwüsters. Der Liebe für den deutschen Wald zunächst ist es zuzuschreiben, daß in den Weheruf sich sofort die bittersten Vorwürfe mischten, [606] daß man das Unheil nicht in etwas durch rechtzeitig getroffene Maßnahmen gemindert habe. Was die bayerische Forstverwaltung zu hören bekam anläßlich dieses Unglückes, das vorwiegend den Staat getroffen hat, läßt sich nicht einmal andeuten. Allein was ist menschliches Können und Wollen höherer Gewalt gegenüber! Den Milliarden von Nonnen hätten auch alle Forstleute der Welt nicht den Raubeinfall verwehren können. Zudem haben sich alle Versuche gegen das Massenauftreten der Schmetterlinge als wirkungslos erwiesen.
Ich will versuchen, den Eindruck eines Ganges durch den Hauptherd der Nonnenverwüstung, den Ebersberger Park an der Bahnlinie München-Rosenheim, zu schildern.
Wer in Kirchseeon, dem Sitze einer Anstalt zum Kyanisiren der Lärchenschwellen (eine vom Engländer Kyan erfundene Beizmethode, welche den Eisenbahnschwellen große Dauerhaftigkeit verleiht), die Bahn verläßt, wird verwundert auf das frische Grün der angrenzenden Bestände blicken, das in nichts eine Waldkatastrophe ahnen läßt.
Allein dort an der Straße, die forsteinwärts die Höhe hinanzieht, sind Soldaten des bayerischen Eisenbahnbataillons mit der Aufrichtung von Telephonstangen beschäftigt, und weiter unten wird die Waldbahn ausgesteckt, die in wenigen Wochen an 10000 Tagwerk geschlagenes Holz zur Hauptbahn führen soll.
Die blanken Telephonstangen werden zum Führer in das Nonnengebiet, ein schmales Sträßlein biegt auf der Berghöhe ab, durch einen Wildzaun abgesperrt. Roth- und Rehwild mag dieses Parkthor abhalten, die vom Forstamt vorgezeichnete Grenze zu überschreiten, die gefräßige Nonne nicht. Schon erscheinen einzelne Fichten sonderbar weißlich, wie mit Mehl bespritzt, über das schmutziges Wasser gegossen wurde. Am Baumstamme sitzen die Falter wie angeklebt, doch noch vereinzelt. Wir haben das Parkthor hinter uns und wandern unter klatschendem Regen die tiefausgefahrene Straße quietschenden Fußes weiter. Ein schmaler Waldweg, links und rechts eingefaßt von kolossalen Baumriesen! Schon macht die Färbung stutzen, die Wipfel sind nicht grün, sondern rostbraun – dann aber baumabwärts nichts als dürre, abgestorbene Aeste, von weißen Flechten behangen, zum Himmel gestreckten Armen gleich, von denen das Gewand wallend herabhängt. Wie es so eigen durch diese unzähligen Bäume tropft!
Der Regen träufelt ohne Hinderniß von der Krone hindurch auf den Boden, der besäet ist mit abgestorbenen Nadeln; kein Ast mehr im grünen, erquickenden Behang, sondern gelbweißlich oder schmutziggrau, und so der Stamm bis herab zur Wurzel! Bei näherem Zusehen ergiebt sich, daß Hunderte und Tausende von Faltern Stamm und Aeste belagern. Der Landregen zwingt augenblicklich das Insektenvolk zur unfreiwilligen Ruhe, aber trockene warme Luft macht es schwirren, und in weißen Wolkenschwärmen zieht es wäldermordend weiter. Es erfüllt bei regnerischer Witterung auch der auf einem Hügel aufgestellte „Exhaustor“, der statt „Ausschöpfer“ eigentlich „Einhaucher“ genannt werden sollte, seinen Zweck als Nonnenfänger nicht. Ein seltsamer Anblick, dieser rothbehalste Exhaustor, dem zur Seite zwei Lokomobilen, eine zur [607] Erzeugung des elektrischen Lichts und eine zur Hervorbringung des starken Luftstroms, stehen. Das viereckige Gerüst, das den Reflektor des elektrischen Lichtes und den Trichter des Exhaustors trägt, steht einer Guillotine ähnlich, und im Grunde genommen ist der „Einhaucher“ auch ein Werkzeug, um die Verbrecher in Massen umzubringen. Wenn der Lichtstrahl der elektrischen Bogenlampe - die früher in einer Höhe von 25 Metern angebracht war, jetzt nach mehrmaligen Versuchen auf 8 Meter Höhe heruntergesetzt ist - das Waldesdunkel bei gutem Wetter erhellt, schwirren die Milliarden von Schmetterlingen in unheimlichen Schwärmen hervor und theils unmittelbar auf die Lichtgarbe, theils auf das von der Lokomobile erzeugte Rauchgebilde zu. Aber nicht immer gelingt das Masseneinfangen, nur jene Schwärmer, die vom Luftzug des „Einhauchers“ erwischt werden, verschwinden in dem weiten Halse des Apparates und werden unten in Säcke gestampft und vernichtet. Man glaubt, mit solchen Versuchen an 100- bis 200000 Falter während einer Nacht von 1/2 9 abends bis 2 Uhr früh vernichten zu können.
In der That soll der „Exhaustor“ noch die beste Vertilgungswirkung besitzen, während zahlreiche andere Vorschläge ohne praktische Bedeutung sind. So will der eine im Walde große mit Honig und Aepfelmus bestrichene Tücher als Fangmittel ausgebreitet wissen, ein anderer will die Schmetterlinge durch Steinkohlentheerrauch vernichten, ein dritter empfahl, mehrere Regimenter mit Vogeldunstgewehren auszurüsten und den Nonnen militärisch entgegenzurücken. Unter Leitung des Chefs der bayerischen Forstverwaltung, Ministerialrat v. Ganghofer, haben in einzelnen Revieren Versuche mit Waldleuchtfeuern und „Nonnenlichtern“ (Zinkfackeln) stattgefunden, von denen letztere sich als praktischer erwiesen, da das intensive Licht die Schmetterlinge aus den höchsten Beständen anlockt, ohne daß die Luft wie bei den Leuchtfeuern besonders erwärmt wird. Um aber die zu Tausenden herbeifliegenden Thiere zu fangen, muß eine große, mit Klebestoff bestrichene, durchscheinende Leinwandfläche aufgespannt werden. Alle diese Maßnahmen sind eben Versuche, die endgültig nicht abgeschlossen sind. Glücklicherweise scheint die Natur selbst als beste Helferin bei der Vernichtung der Nonnen auftreten zu wollen. Man hat beobachtet, daß der Durchfall (eine bekannte Raupenkrankheit) viele Raupen vernichtete, und tatsächlich konnte man vielfach den üblen Geruch verfaulenden Gewürmes wahrnehmen. Ein anderer Beobachter hat eine Menge getödteter Puppen gefunden, welchen Schlupfwespen entschlüpften - Verlassen wir den Exhaustorhügel, so gelangen wir nach kurzer Wanderung durch eine junge, völlig abgefressene Kultur zum Forsthaus „Diana“; abseits von demselben stehen drei Blockhütten, in welchen zu je 60 Mann die Holzarbeiter kampiren. Für gebirglerische Bedürfnisse bieten die Hütten genügende Bequemlichkeit, und die jeweils schichtfreien oberländler Holzer kochen inzwischen den kräftigen „Retzel“ (Schmarrn, Mehlspeise), der lange vorhält und eben warme Kost ist, indeß die Arbeiter aus anderen Gegenden sich an Speck und Fleischspeisen halten, die nicht immer zu haben sind. Während im Forstenrieder Park über 400 Holzhacker arbeiten, ist im bedeutend größeren Revier zu Ebersberg eine ganze Armee von Holzknechten in vollster Thätigkeit, den Wald dem Erdboden gleich zu machen.
"Der Tod tost im Walde!" klagt Lenau. Ein ächzend Sterben ist es auch, wenn ein Baumriese nach dem andern prasselnd stürzt und dumpf am Boden aufschlägt. Wie eine Staubwolke wirbelt es dann empor zum trüben Himmel, die Nonnen verlassen den gefällten Baum, nachdem sie ihn gemordet. Ein düsteres, ernst stimmendes Bild! Auch die munteren Sänger verlassen den Forst, nur Meisen piepsen noch zuweilen in einem Geräumte, wo die Holzfäller noch nicht zu schlagen begonnen haben. Auf den neuerrichteten Telephonlinien haben sich ganze Schwärme von
Schwalben niedergelassen, vielleicht hat Mutter Natur sie dorthin kommandirt.
Von seiten der Regierung ist ebenso wie vom Generalkomitee des Landwirtschaftlichen Vereins alles aufgeboten worden, eine Verminderung des Insektes herbeizuführen; bis Anfang August waren hierfür 31 000 Mark zu Versuchen ausgegeben. Im Vorjahre haben die Maßnahmen zur Verminderung der Nonne allein im Ebersberger Park 4000 Mark gekostet, und trotzdem ist gerade dieser mächtige Forst verloren. Ueber die Frage, ob kahlgefressene Föhren- oder Fichtenbäume lebensfähig bleiben und die Nadeln wieder wachsen, wenn nicht im nächsten Jahre abermaliger Raupenfraß eintritt, wird viel verhandelt und eine endgültige Beantwortung ist wohl nicht gefunden. Daß der Ebersberger Park niedergelegt wird, könnte füglich als eine Verneinung obiger Frage betrachtet werden.
Inzwischen kommen die Hiobsposten auch von den Gegenden am Ammersee, dem Main und aus dem Hochland selbst, und noch ist kein Ende dieser Landplage abzusehen. Möge es gelingen, ihrer Herr zu werden, den „Tod, der im Walde tost“ zu vertreiben und neues Leben und Grünen zu schaffen!
Eduard Bauernfeld.
Nachdem er fast neunzig Jahre gelebt und fast siebzig Jahre litterarisch geschaffen, ist Eduard Bauernfeld am 9. August d. J. dahingegangen. Er hatte bis über die Schwelle des Patriarchenalters hinaus sich die geistige und körperliche Rüstigkeit in so hohem Maße bewahrt, daß man kaum daran dachte, auch er werde der Natur den unvermeidlichen Zoll entrichten müssen. Das Selbstverständliche hat sich nun vollzogen, und es mutet uns merkwürdigerweise wie etwas Verwunderliches an - uns Wiener nämlich , die wir uns gewöhnt hatten, den aufrechten Greis wie ein ewiges Wahrzeichen deutsch-österreichischen Schriftthums leiblich unter uns wandeln zu sehen.
Bauernfeld, geboren in der österreichischen Hauptstadt am 13. Januar 1802, hat dem Theater mehr als hundert dramatische Werke geschenkt:
[608] jede erdenkliche Gattung, von der Tragödie in Versen auf dem Umwege über die aristophanische Satire bis zu dem leichtest beschwingten Lustspiele moderner Gattung. Daneben lieferte er Erinnerungen, Epigramme, dramaturgische Abhandlungen, Romane, und als Uebersetzer drang er in Shakespeare ein und schulte an Boz-Dickens seinen Humor. Nicht alles, was er hervorbrachte, ist gleichwerthig; wer so viel schafft, thut oft einen Fehlgriff. So kommt es, daß auf seiner Rechnung Erfolge und Niederlagen einander an Zahl schier die Wage halten. Aber ein großer Theil seiner Schriften weist bleibenden Werth auf, nicht nur als dichterische Bethätigung an und für sich, sondern auch als Beitrag zur geistigen Entwicklungsgeschichte seines Vaterlandes. Ganz und gar kann er nur verstanden werden aus der Kultur und Politik Oesterreichs heraus. Er fühlte sich stets als Deutscher und betonte dieses Bewußtsein, wo sich ihm Gelegenheit bot, oder richtiger, wo er sie herbeiziehen konnte. Dabei hing er an der Scholle, auf welcher er geboren und emporgewachsen war, und so eindringlich er das Metternichsche „System“ bekämpfte, das in seiner Jugend schwer auf ihm lastete, und so beredt er die Fehler, Verletzungen und Sünden der Heimath geißelte – sie war ihm allezeit theuer, er konnte sich nicht von ihr losreißen, er brachte es nicht über sich, das Beispiel mancher österreichischen Schriftsteller des Vormärz zu befolgen: den österreichischen Staub von seinen Schuhen zu schütteln und auszuwandern. Es waren keine persönlich selbstsüchtigen Gründe, welche ihn zum Ausharren veranlaßten, denn sein Staatsbeamtenthum – er war damals bei der Lotteriedirektion angestellt – nahm er nie sehr ernst, und Weib und Kind, welche andere festhielten, hat er, der als alter Junggeselle gestorben ist, nicht besessen.
Im Jahre 1844 wurde sein historisches Schauspiel „Ein deutscher Krieger“ zum ersten Male gegeben. Die österreichische Censur bewies daran die ganze Planlosigkeit ihres Thuns. Sie gestattete 1849 die Aufführung in einer Festvorstellung zu Ehren Radetzkys, dem der deutsche Einheitsgedanke wahrlich sehr ferne lag; einundzwanzig Jahre später, 1870, verbot sie es an mehreren Provinztheatern. Was Bauernfeld in seinen Lebenserinnerungen über die Erfahrungen berichtet, welche er mit der Censur gemacht hat, bildet überhaupt ein merkwürdiges Kapitel. Sein „Großjährig“, eine Art Prolog zur Revolution wurde 1846 zur Vorstellung am Burgtheater zugelassen. Mächtige Gönnerschaft war die Ursache. So durfte im Hause des Kaisers schärfste Kritik an der Bevormundung des Volkes, an Erzherzog Ludwig, dem damals allmächtigen Prinzen, und an dem Minister Grafen Kolowrat unter einem leichten, durchsichtigen Mäntelchen geübt werden. Auch der „Neue Mensch“, ein lustspielhafter Epilog zur Revolution, wurde am Burgtheater dargestellt. Solche Zulassung geschah keineswegs aus vorurtheilsloser Auffassung, sondern aus jenem Mangel an leitenden Grundsätzen, der sich leicht geltend macht, wo Gewalt und Willkür aus einer Uebertreibung in die entgegengesetzte verfallen. Damals mußte das Publikum verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen und zu hören, der Dichter mußte, um eine nach „oben“ mißliebige Wahrheit zu verkünden, die Kunst der „Anspielungen“ handhaben, das Bedenkliche in den Schleier der Harmlosigkeit hüllen. Die Wiener jubelten im Jahre 1846, als der Komiker Beckmann als „Schmerl“ (lies: „Schmerling“) unter der Weste ein schwarz-roth-goldenes Band hervorzog und flüsternd fragte: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Und sie verriethen deutlich ihr Verständniß, als in diesem Stücke dem jungen Hermann – er bedeutete das österreichische Volk – gesagt wurde: „Sie sind im Mannesalter und lassen sich am Gängelbande leiten; Sie besitzen reiche und blühende Ländereien, die unter fremden Händen verwildern; Sie haben Unterthanen, die man verwahrlost und unterdrückt; Sie sind ein Diener, ein Knecht, wo Sie Herr und Gebieter sein könnten“ … Und deutsch wie der Jüngling und der Mann war auch Bauernfeld der Greis. Im Jahre 1870 veröffentlichte er eine satirische Dichtung, welche vom Drama nichts als die äußere Form angenommen hatte: „Die Vögel, oder: die Freiheit in der Luft, oder: der Ausgleich“. Darin spricht er die Aufgabe des Vaterlandes begeistert aus: „Ost-Reich werde, was dein letztes, schönstes Ziel! Deutsch-Oesterreich!“
Selbst in der flüchtigsten Skizze von Bauerfelds Wesen – wie sie in der ersten Stunde nach seinem Tode sich einem formen mag – muß betont werden, daß Bauernfeld eine doppeltes Antlitz besaß. Auf der einen Seite beschäftigte er sich – unter Anwendung des landesüblichen Lustspielarsenals – harmlos und guthmüthig mit dem kleinen Getriebe des Salons, des Kurortes des alltäglichen Lebens – auf der anderen Seite trat er als ausgesprochen politische Persönlichkeit auf. In sein Privatdasein wie in seine schrifstellerische Wirksamkeit griff die Politik allezeit bestimmend ein. In das Frankfurter Parlament gewählt, konnte er das ihm gewordene Mandat nicht ausüben, weil er plötzlich schwer erkrankte. Ein anderes Mal handelte er als Volksvertreter ohne jeden Auftrag, auf eigene Faust. Der Absolutismus, der es verstand, zuweilen recht patriarchalisch aufzutreten, ließ manches Geschehniß zu, das heutzutage undenkbar wäre. So konnte sich Bauernfeld, seines Zeichens Lottodirektionsadjunkt mit 400 Gulden Jahresgehalt, in den Tagen der Bewegung – er kennzeichnet die damaligen Zustände selbst als „gemüthliche Anarchie“ – in Begleitung des Dichters Anastasius Grün (Graf Auton Auersperg) in die Hofburg begeben, dort, ohne zur Audienz gemeldet zu sein, eine Unterredung mit Erzherzog Franz Karl, dem Vater Kaiser Franz Josefs, begehren und – erhalten. Der kleine Beamte durfte dem Erzherzog die Bitte vorlegen, Kaiser Ferdinand möge eine Verfassung verleihen, und mit dem Versprechen einer solchen verließ er das Haus des Kaisers …
Der naiven Seite seines Wesens gab er in Stücken Ausdruck wie „Bürgerlich und Romantisch“, „Das Liebesprotokoll“, „Das Tagebuch“, „Helene“, „Das letzte Abenteuer“ etc. Für politische Glaubensbekenntnisse wählte er, wie schon hervorgehoben, zu wiederholten Malen das Drama als Gefäß. Nirgends aber hat er sich so kräftig Luft gemacht in seinem Ingrimm gegen das Metternichsche Oesterreich wie in der zweibändigen Schrift „Die Freigelassenen. Eine Bildungsgeschichte aus Oesterreich“. Das Motto lautet vielsagend: „Wir alle leben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zu Grunde.“ Nicht undeutlich läßt dieses Buch die Meinung des Verfassers errathen, daß ein Volk, geradeso wie der einzelne, an den Sünden der Väter schwer zu tragen habe.
Sollen wir kurzweg sagen, in welchem seiner Stücke die ganze Eigenart des Dramatikers Bauernfeld sich uns am schärfsten auszuprägen scheint, so müssen wir sein „Aus der Gesellschaft“ nennen. Da führt Bauernfeld die Vorzüge des Bürgerthums gegen die überkommenen Fehler des Geburtsadels ins Feld, ohne doch dabei zu vergessen, daß er für das Burgtheater schreibt, dessen Logen durchweg von der Aristokratie besetzt sind; und so wendet er sich nur gegen jene Adeligen, welche hinter der Zeit zurückbleiben und nicht einsehen, daß heute ihre Aufgabe eine andere sei als ehedem, und er führt den anderen, den richtig geschulten und entwickelten Abel in einem Prachtexemplar vor, in dem Fürsten Lübbenau der – über alle Schranken sich kühn hinwegsetzend – die bürgerliche Magda Werner heirathet und auf die ihm geäußerten Bedenken erwidert: „Ich denke, ich habe Adel genug für uns beide“ … Und selbst der alte Graf Feldern hat bei aller Kleinlichkeit, Beschränktheit und Schwatzhaftigkeit einen Zug von Ritterlichkeit, welcher den streitbaren Charakter des Stückes mildert.
In den letzten Jahren übte Bauernfeld Witz und Ironie in scharfen Stachelversen. Was er noch für die Bühne versuchte, hatte nichts mit Kampf, nichts mit Angriff zu thun. Auf dem Sterbebette beschäftigte er sich mit einem Lustspiele „Die Hitzköpfe“. Ob es gut ist oder nicht – jedenfalls darf man begierig sein, zu erfahren, was der Spätwinter dem Dichter gezeitigt hat. An Ueberraschungen hat Bauernfeld es nie fehlen lassen. Glaubte er selbst sich schon verloren, so schnellte er stets von neuem wieder empor. Im Januar 1888 veröffentlichte er ein Gelegenheitsgedicht, in welchem er unter anderem wehmüthig äußert:
„… seit gestern zähl’ ich volle Sechsundachtzig,
Und da hat man keine Schreibelust mehr.“
Acht Monate später trat er mit dem Trauerspiele „Alkibiades“ hervor. Im Alter von 26 Jahren hatte er zum ersten Male Alkibiades, den „unsteten Helden und Frauenliebling“, zur Hauptperson eines Dramas gemacht; dieses blieb Bruchstück, und fünfzig Jahre später führte er es aus; aber die Arbeit genügte ihm nicht, und so vollbrachte er zweiundsechzig Jahre nach der ersten Fassung die – wie er sich ausdrückt – hoffentlich letzte Bearbeitung nach einem neuen Plan … Jetzt allerdings ist’s vorbei. Das Schlußkapitel eines Lebens voll Bewegung und voll fruchtbarer Emsigkeit ist beendet. Bauernfelds Hand wird keine Feder mehr führen, aber das Erbe, welches er hinterläßt, wird noch kommenden Geschlechtern erzählen, wie reich dieser Mann gewesen ist. Ferd. Groß.
Helgoland – Deutsches Land.
Es ist ein seltener Fall in unserer Zeit, daß ein Stück europäisches Land nicht infolge eines blutigen Waffenganges, sondern lediglich durch freie diplomatische Vereinbarung aus dem Besitze des einen Staates übergeht in den eines andern. Der hochbedeutsame Vorgang, die Uebergabe der Insel Helgoland seitens Englands an Deutschland, hat sich in den Tagen des 9. und 10. August dieses Jahres abgespielt mit dem ganzen Ernst und der Würde, wie sie einem solchen Akte heute zukommen. Helgoland ist jetzt von Rechtswegen das, was es auch unter englischer Herrschaft tatsächlich gewesen – deutsches Land.
Schon bei dem ersten Bekanntwerden des deutsch-englischen Abkommens, in welchem die Abtretung Helgolands an Deutschland vorbehältlich der Genehmigung des britischen Parlaments ausgesprochen war, hat die „Gartenlaube“ – wie sie zuversichtlich glaubt, im Sinne aller ihrer Leser – der hohen Freude und Genugthuung des deutschen Volkes über diese friedliche Wiedergewinnung eines verloren gegangenen Stückes deutscher Erde Ausdruck gegeben. Es bleibt ihr heute nur noch die Aufgabe, die Feierlichkeiten kurz zu schildern, unter denen das „Grüne Eiland“ in den Verband des Deutschen Reiches aufgenommen wurde, und von denen unsere Abbildungen die hervorragendsten Züge festzuhalten bestimmt sind.
Noch am Abend des 8. August wußte man auf der Insel nicht genau, um welche Stunde die Uebergabe erfolgen würde. Nur, daß der folgende Tag, der Sonnabend, für die Förmlichkeit ausersehen sei, das wußte man, und daß der erste Sonntag des deutschen Helgolands ihm den Besuch seines Kaisers bringen werde. Auf der ganzen Insel herrschte geschäftiges Treiben; im Konversationshause des Seebades rüstete man sich für die Festmahlzeiten, und der Fremdenzustrom war ein ungeheurer, fast zu groß für die bescheidenen Räume, die zur Verfügung standen.
Schon herrschte völlige Dunkelheit, da wurden an den üblichen Stellen Plakate angeheftet, in welchen der englische Gouverneur Barkly den Bewohnern der Insel Mittheilung machte, daß am 9. August nachmittags 11/2 Uhr der Vertreter des deutschen Kaisers, der Staatssekretär v. Boetticher, eintreffen würde, um von Helgoland Besitz zu ergreifen. Er forderte die Beamten und Einwohner auf, sich zu der angegebenen Zeit an der Landungsbrücke einzufinden und dort den Minister zu empfangen.
Und so geschah’s. Zur vorgeschriebenen Stunde erschienen in Sicht der Insel die deutsche Korvette „Victoria“ und der Aviso „Pfeil“; beide Schiffe umfuhren die Insel und bald nach 3 Uhr brachte ein Boot des „Pfeil“ die deutschen Beamten an die Landungsbrücke. Da kam außer [609] dem Minister der Korvettenkapitän Geißler, der künftig die militärische und die maritime, und der Geheimrath Wermuth, der die bürgerliche Verwaltung der Insel führen soll, und mit ihnen verschiedene andere höhere Beamte. Nach kurzer Begrüßung ging es sofort hinauf nach dem Oberlande, nach dem Garten des Gouverneurs, wo englische Matrosen die Ehrenwache hielten. Der englische Gouverneur verliest den Artikel des Vertrags, in welchem die Abtretung Helglands an Deutschland ausgesprochen ist. Staatssekretär von Boetticher übernimmt mit einer kurzen Ansprache die Insel in die deutsche Verwaltung – da, kaum hat er geendigt, wird neben der britischen Flagge die deutsche gehißt. Hochrufe und der Gesang „Deutschland, Deutschland über alles“ begrüßen sie, und beide Wimpel flattern einträchtig nebeneinander bis Sonnenuntergang; dann werden sie beide eingezogen, die englische, um nicht wieder emporzusteigen. Die Vertreter beider Staaten aber haben sich inzwischen im Konversationshause zum festlichen Mahle zusammengefunden, feierliche Tischreden geben der Bedeutung dieses friedlichen Besitzwechsels geziemenden Ausdruck und feiern die vertragschließenden Souveräne – dann aber verläßt der englische Gouverneur die Insel unter dem Donner der Geschütze von den beiderseitigen Kriegsschiffen, sein Amt auf Helgoland ist zu Ende.
Das war der amtliche Theil der Uebergabe. Am andern Morgen hat sich das Bild verändert. Noch in der Nacht ist ein stattliches deutsches Geschwader auf der Höhe von Helgoland eingetroffen. Als die Sonne emporsteigt, da umlagern acht Panzerschiffe und verschiedene andere große deutsche Kriegsfahrzeuge nebst der Torpedoflotte die Südseite der Insel. Ober- und Unterland haben über Nacht ein Festgewand von Kränzen und Fahnen angelegt, am Ausgang der Landungsbrücke ist an schlanken Flaggenmasten die riesige Willkomminschrift aufgehängt: „Helgoland grüßt Dich, Kaiser!“ Schon von Tagesanbruch an haben die Kriegsschiffe Mannschaften ausgeschifft, Abtheilung auf Abtheilung, die strammen, in ihrer kleidsamen Tracht so prächtig anzuschauenden Offiziere der Marinetruppen führen sie hinauf nach dem auf dem Oberlande befindlichen Paradeplatze; schließlich sind’s im ganzen an 3000 Mann, mehr als die Insel Einwohner hat. Immer lebhafter, bunter, fesselnder wird das Bild. Das Seebataillon mit seinem Musikcorps nimmt an der Landungsbrücke Aufstellung und bildet Spalier.
Eine neue Bewegung. Die Helgoländer Jungfrauen, die den Kaiser begrüßen wollen, nähern sich der Brücke. Es sind fünfzehn bildhübsche junge Mädchen in ihrer ebenso eigenartigen als kleidsamen Tracht. Den Kopf bedeckt eine bunte, perlengestickte, kleine Mütze nach Art der Altdeutschen Schaube, von dem Rande derselben fällt eine breite weiße Spitze über Stirne und Kopf, das Antlitz reizvoll umrahmend. Ein faltiger seidener Rock läßt hinten das grellrothe, mit gelber Borde eingefaßte Unterkleid frei. Ein helles buntfarbiges Tuch bedeckt die Schultern, an den aufgebauschten Aermeln spielen große silberne Anhängsel. Der Hals trägt einen silbernen Schmuck, einer breiten Brosche gleich, in der Herzen und kleine Fische durch eine Fülle filigranartig gehaltener Figuren zusammengefaßt sind, meist ehrwürdige Familienerbstücke von hundertjährigem Alter.
Es ist zehn Uhr geworden, ein schöner Sonntagmorgen lagert über der Insel und den Tausenden der Harrenden. Da plötzlich, wie mit [610] einem Zauberschlage, geht über die Toppen der deutschen Kriegsschiffe der Flaggenschmuck, die Kanonen des ganzen Geschwaders öffnen ihre Schlünde, ein Donnern und Dröhnen, als ob die Welt untergehen sollte! Es ist der Gruß der Flotte an ihren Kaiser, der auf der „Hohenzollern“ herandampft, gefolgt von der „Irene“, die den kaiserlichen Bruder, Prinz Heinrich, trägt, und von zwei Torpedobooten. Er nimmt die Flottenparade ab, dann umfährt auch die „Hohenzollern“ wie Tags zuvor die „Victoria“ die Insel, und endlich, eine Stunde nach jenem Geschützgruß, löst sich von der kaiserlichen Jacht ein von 12 Matrosen gerudertes Boot, es nähert sich der Landungsbrücke, alles nimmt seine Plätze ein und setzt sich in Positur, die Truppen präsentiren, Musiklänge, Hurrahrufe – der Kaiser hat die Brücke betreten und schreitet dem Lande zu.
Da wird ihm eine sinnige Huldigung. Aus der ihn umgebenden Menge der Empfangenden, der Beamten, die ihre Meldungen erstatten, der Helgoländer Bürger, die ihren neuen Landesherrn begrüßen, tritt auf einmal die anmuthige Gestalt eines Mädchens: es ist die Sprecherin der Helgoländer Jungfrauen, Fräulein Buse, und unter schlichten herzlichen Gedichtworten überreicht sie dem Kaiser ein kleines Wunderwerk aus Blumen – eine kunstvolle Nachbildung der Insel, ihrer Häuser, Thürme, Felder, des umgebenden Meeres etc. – alles aus Blumen. Sie bittet ihn, er möge auch dem kleinsten und jüngsten Theilchen seines Reichs Schutz und Gunst angedeihen lassen. Dankend reicht er ihr die Hand, und jetzt neue Hurrahrufe, neue Musikfanfaren und noch einmal dröhnender Geschützdonner – Kaiser Wilhelm II. hat den Fuß auf den neugewonnenen Boden Helgolands gesetzt!
Sofort geht’s hinauf nach dem Oberlande. Ein beinahe lebensgefährliches Gedränge entsteht, denn die Straßen von Helgoland sind eng und eine einzige Treppe führt vom Unterlande hinauf nach der Felsenplatte. Bei dem Leuchtthurme hat das Militär ein Viereck gebildet, umgeben von einer tausendköpfigen Menge, und alsbald beginnt der Gottesdienst unter freiem Himmel. Er ist die Einleitung und Vorbereitung zu dem feierlichsten Akte der Einverleibung, der Verlesung der kaiserlichen Proklamation an die Helgoländer. Der Kaiser begrüßt darin seine neuen Unterthanen, die „auf friedlichem Wege in das Verhältniß zum deutschen Vaterlande zurückgekehrt sind, auf welches die Geschichte, die Lage und die Verkehrsbedingungen der Insel hinweisen,“ und die „durch Gemeinschaft des Stammes, der Sprache, der Sitten und Interessen den deutschen Brüdern von jeher nahe gestanden haben.“ Er sichert ihnen und ihren Rechten seinen Schutz und seine Fürsorge zu, eine wohlwollende und umsichtige Verwaltung und möglichste Erleichterung des Uebergangs, indem das lebende Geschlecht von der Erfüllung der allgemeinen Wehrpflicht im Heer und in der Flotte befreit bleiben soll. „Mit Genugthuung,“ so schließt die Proklamation, „nehme ich Helgoland in den Kranz der deutschen Inseln wieder auf, welcher die vaterländische Küste umsäumt. Möge die Rückkehr zu Deutschland, die Theilnahme an seinem Ruhme, seiner Unabhängigkeit und Freiheit Euch und Euren Nachkommen zu stetem Segen gereichen! Das walte Gott!“
Als der Minister von Boetticher die Proklamation zu Ende gelesen hatte, da glaubte man, der ganze Akt sei nun vorüber. Aber nein! Noch einmal trat der Kaiser vor und hielt selbst noch die folgende Ansprache:
„Kameraden der Marine! Vier Tage sind es her, daß wir den denkwürdigen Tag der Schlacht von Wörth feierten, an dem unter meinem hochseligen Großvater von meinem Herrn Vater der feste Hammerschlag zur Errichtung des neuen Deutschen Reiches geführt wurde. Heute nach 20 Jahren verleibe ich diese Insel als das letzte Stück deutscher Erde dem deutschen Vaterlande wieder ein, ohne Kampf und ohne Blut. Das Eiland ist dazu berufen, wie ein Bollwerk zur See zu werden, den deutschen Fischern ein Schutz, ein Stützpunkt für meine Kriegsschiffe, ein Hort und Schutz für das deutsche Meer gegen jeden Feind, dem es einfallen sollte, auf demselben sich zu zeigen. Ich ergreife hiermit Besitz von diesem Lande, dessen Bewohner ich begrüßt habe, und befehle zum Zeichen dessen, daß meine Standarte und daneben die meiner Marine gehißt werde.“
Unter dem Salut der Inselbatterien und sämmtlicher Schiffe wird der Befehl des Kaisers vollzogen (siehe nebenstehende Abbildung).
Jetzt übergiebt eine Abordnung der Helgoländer dem Kaiser, gleichsam als Antwort auf dessen Proklamation, eine Huldigungs-Adresse; die Helgoländer „blicken in Freudigkeit der Zeit entgegen, welche mit der vom Kaiser ausgesprochenen feierlichen Besitzergreifung der Insel für sie anbricht“. „Die von Ew. Majestät kundgegebenen Verheißungen erfüllen uns mit den Gefühlen ehrfurchtsvollen Dankes und der unwandelbaren Zuversicht, daß es unter Ew. Majestät erhabener Regierung uns gelingen werde, durch Erfüllung des von uns hiermit abgelegten Gelöbnisses der Treue uns als Ew. Majestät gehorsame Unterthanen zu erweisen.“
Ein Vorbeimarsch der Truppen schließt endlich den festlichen Vorgang. Dann zerstreut sich das Volk, soweit das bei der räumlichen Ausdehnung der Insel möglich ist. Kaiser Wilhelm aber versammelt im Gouverneurshause eine auserlesene Gesellschaft, darunter auch die Vertreter der Helgoländer, die feierlichen Trinksprüche folgen sich rasch, denn des Kaisers Zeit ist gemessen. Ein Viertel vor fünf Uhr, ziemlich genau vier Stunden nach der Landung, dampfte die „Hohenzollern“ wieder ab, der große Tag des deutschen Helgolands ist vorüber. H. F.
Blätter und Blüthen.
Ein Jubiläum. Kein Morgenständchen und keine Tafelmusik, keine Abordnungen und keine Adressen, keine Festreden und Festartikel bezeichnen das Jubiläum, das wir im Sinne haben. Derjenige oder vielmehr diejenige, welche im Mittelpunkte aller dieser Huldigungen stehen müßte, hat längst die Augen geschlossen, und menschliche Ehren erreichen sie nicht mehr. Aber in der Stille soll der Gedenktag doch gefeiert werden mit ein paar Zeilen der „Gartenlaube“, und er soll nicht unvergessen bleiben in der großen Schar ihrer Leser; denn diese Leser sind in erster Linie berufen und befugt, mitzufeiern.
Es sind jetzt genau 25 Jahre her, seit E. Marlitt ihre erste Novelle in der „Gartenlaube“ veröffentlicht hat; es war die Nummer 36 des Jahrgangs 1865, in welcher „Die zwölf Apostel“ erschienen, denen dann sofort 1866 der große Roman folgte, welcher den Ruhm der Marlitt mit einem Schlage unerschütterlich begründete, die „Goldelse“.
Die Marlitt war nicht eigentlich von jener schnellschreibenden Fruchtbarkeit, die jetzt so häufig auch gute Talente nur allzu rasch erschöpft; neun größere Romane und vier kleinere Erzählungen sind in dem Zeitraum von 22 Jahren aus ihrer Feder geflossen. Sie bilden in der illustrirten Gesammtausgabe, die gegenwärtig erscheint und beinahe abgeschlossen vorliegt, 40 hübsche Bände; der neunte Band, „Das Eulenhaus“ enthaltend, ist in diesen Tagen ausgegeben worden; so trifft der unvollendet hinterlassene, von verständnisvoller Hand ergänzte Torso durch ein Spiel des Zufalls zusammen mit dem Gedenktag des Erstlingswerkes. =
[611] Vom X. internationalen medizinischen Kongreß in Berlin. (Mit Abbildung S. 584 und 585.) Berlin stand während der ersten Augusttage im Zeichen der Schlange, jener Schlange, welche sich um den Stab Aeskulaps windet und mit so klugen Augen ihre beiden Zünglein spielen läßt, deren eines Pathologie und deren anderes Therapie redet.
Eine hochansehnliche Versammlung weilte in seinen Mauern, wie man selten ihresgleichen sah. Nicht der Zahl nach allein, obwohl man 5600 Aerzte einschrieb in die Listen der Theilnehmer; etwa die Hälfte waren Deutsche, unter den übrigen aber waren die Vereinigten Staaten von Nordamerika allein mit 623, Rußland mit 421, England mit 353, Oesterreich mit 139 vertreten, und auch Australien, China, Japan, die Gehänge der Kordilleren, Mexiko, das Kapland und nicht zu vergessen Frankreich, welches dem menschenfreundlichen Zwecke die alte politische Empfindlichkeit unterordnete, stellten zahlreiche Abgesandte. Aus der ganzen Schlachtreihe dieses zum X. medizinischen Kongreß freudig zusammengeströmten Volkes herrschte ein so hingebendes, begeistertes und aufrichtiges Ringen nach Wahrheit, ein so unentwegtes Streben nach Vervollkommnung des Wissens und Könnens, daß jeder einzelne gleichsam geadelt wurde von der großen menschlichen Idee, in deren Dienste er stand.
So fühlte sich die Stadt hochgeehrt durch die Gäste, deren friedliche und menschenfreundliche Arbeiten zur Ausbreitung des Wissens und zum Heile der Menschheit in den einzelnen 18 Sektionen fast ununterbrochen in den Morgenstunden die fleißigen Meister, welche bei ihren Kollegen wieder zu Schülern wurden, zusammenführten. Etwa siebenhundert angemeldete Vorträge hielten Aeskulaps Jünger, die übrigens theilweise recht alte Herren waren, in Athem, und die medizinische Ausstellung mit ihren wunderbaren Präzisionsinstrumenten und Präparaten und technischen Erfindungen und Vervollkommnungen auf dem Gebiete der Krankenpflege nahm die Zeit in Anspruch, welche die Sektionen ihnen etwa freigelassen hatten. Dabei stand noch manches andere auf dem Programm der edlen Gäste: so die Besichtigung von Krankenhäusern, Blindenanstalten und Irrenhäusern, Arbeitshäusern, Schlachtviehmärkten und Kanalisationsbauten, auf welchen Gebieten Berlin unbestritten mit die erste Stufe unter allen Weltstädten einnimmt; erfreut es sich doch infolge seiner Musteranstalten einer verhältnißmäßig sehr geringen Sterblichkeitsziffer.
Damit aber auch die anmuthige Weiblichkeit – außer den acht anwesenden Aerztinnen wohnten etwa vierzehnhundert Damen in der Rolle von Gattinnen, Töchtern oder Schwestern dem Kongreß bei – ihre Rechnung fände, sahen wir Bälle, Ausflüge in die noch immer nicht hinreichend gewürdigte schöne Umgebung Berlins, Sammellokale in der täglich erscheinenden Festzeitung angezeigt, an deren Besitz wie an dem kleinen goldnen Aeskulapstabe im Knopfloch man die Aerzte auf der Straße erkannte. Wir fanden die „Schlangenmenschen“, wie sie der Berliner Volkswitz getauft hat, in allen Typen, gewöhnlich Truppweise in der Nähe von Sitzungszimmern, das Berliner Straßenleben beobachtend oder in offenen Droschken dahinfahrend. Ein wahres Babel von Sprachen war die Reichshauptstadt geworden. und die lateinischen Namen ärztlicher Begriffe bildeten oft das einzige Volapük der verschiedensprachigen Gelehrten. Der Landarzt, der junge Streber, der Geheime Sanitätsrath mit grauem Haar, der schnurrbärtige Militärarzt, der medizinische Forscher, das sind alles Typen, welche man mit einigem Scharfsinn an den umherwandelnden Aerzten zu unterscheiden vermag.
Alle Theilnehmer aber, die Damen und Ehrengäste eingeschlossen, vereinigten sich bei den allgemeinen Versammlungen, deren erste, diejenige, welche am 4. August den Kongreß eröffnete, der Künstler in unserem Bilde festgehalten hat. Der Schauplatz war der große Cirkus Renz, und dies kann niemand wunderlich erscheinen, der bedenkt, daß Hippokrates, der Vater der Medizin, zu deutsch „Rossebändiger“ heißt. Aber abgesehen davon hätte man in Berlin keinen herrlicheren, einheitlicheren, weihevolleren Raum finden können als diesen, nachdem die Hand namhafter Künstler ihn für diesen Zweck hergerichtet hatte. Neben der vor einem nischenartigen Bau aufgestellten Rednerbühne erhob sich vor der vortrefflich gemalten Ansicht des Hauptsaales aus den Thermen des Caracalla eine von Westphal modellirte Riesenstatue des Aeskulap, auf einem vergoldeten Throne sitzend, und gewissermaßen als Priester zu den Füßen des alten Gottes der Heilkunst sprachen die größten, um die Medizin hochverdienten Männer, Virchow, der Engländer Joseph Lister, der weltberühmte Vertreter der antiseptischen Wundbehandlung, und, das ganze Gebiet der Bacteriologie geistvoll zusammenfassend, der Direktor des hygieinischen Instituts Robert Koch, unter dem begeisterten Zuruf der die herrlichen Räume bis zu den letzten Galerieplätzen füllenden gelehrten Gemeinde.
Wohl an siebentausend Köpfe zählte die Versammlung, die da im Lichte von ungeheueren Bogenlichtlampen und großen Gaskronen – den Zutritt des Sonnenlichts hatte man in der großartigen, durch Tempelbauten mit plastischem Schmuck, Flaggenreihen und Blumenkronen geschmückten pantheonartigen Rotunde abgesperrt – beisammen war: vielfach strahlten Goldtressen, Epauletten, Orden und Ehrenzeichen, und die hellfarbigen Roben der Damen unterbrachen das schlichte Dunkel der Herrenkleider. Die inhaltreichen goldenen Worte, welche Virchow an die Festversammlung richtete, die Reden des Generalseketärs des Kongresses, Dr. Lassar, des Staatsministers von Boetticher, welcher im Namen des Kaisers und der Reichsregierung sprach, des Kultusministers Dr. v. Goßler, des Oberbürgermeisters von Forckenbeck, welche den Kongreß mit erhebenden Worten willkommen hießen, die Ansprachen der Vertreter des Auslandes in englischer, französischer, italienischer, ungarischer, russischer und portugiesischer Sprache – Aretäos, der Vertreter Griechenlands, sprach sogar lateinisch, – fesselten und begeisterten fünf Stunden lang die hochgespannte Zuhörerschaft, welche nur eine einzige Pause fand, um sich an den fünfzehn angebrachten Büffetten zu erfrischen. Nach dieser übertrug Prof. Virchow das Präsidium dem herzoglichen Augenarzt Karl Theodor in Bayern, dessen schöne junge Gattin und Mitarbeiterin als eine höchst anmuthige Erscheinung auffiel und der hocherfreut mit den Ausdrücken höchster Bescheidenheit das ihm übertragene Ehrenamt annahm.
Die Tage ernster Arbeit, fröhlichen Schauens und Genießens sind nun vorüber für die ärztlichen Gäste: diese haben sich wieder zerstreut, dahin und dorthin, jeder bereit, in seiner Heimath den Keim des Fortschritts, welchen er in sich aufgenommen, zum Wachsen und zum Gedeihen zu bringen. Möge es an reichem Erfolge nicht fehlen, und der X. internationale medizinische Kongreß gesegnet werden als ein guter Schritt vorwärts auf dem Wege der menschlichen Wohlfahrt! Oscar Justinus.
Ein Kampf in den Wolken. (Zu dem Bilde S. 597) Die alten Chroniken wissen gar mancherlei zu erzählen von Gefechten und Schlachten, die sich in früheren Jahrhunderten die Thiere geliefert haben sollen. So fand angeblich im Jahre 1438 bei Lüttich ein großer Kampf zwischen einer ungeheuren Menge von Geiern und Raben statt, in welchem die ersteren obsiegten. Im Jahre 1461 trugen in einem ähnlichen Gefechte, das bei Benevento in Süditalien sich entsponnen hatte, die Raben den Sieg davon. Eine ungemein blutige und verlustreiche Schlacht fand 1587 an der kroatischen Grenze, unweit der Feste Wichatsch, zwischen mehr als einer Million Gänse und Enten statt. Die Einwohner von Wichatsch sollen sich an den Todten und Verwundeten dieser Schlacht krank gegessen haben. Adler sollen 1656 bei Danzig und 1662 bei Magdeburg gegeneinander gekämpft haben. Seltener sind Schlachten zwischen den vierfüßigen Thieren. Nach einer französischen Chronik sollen 1580 auf einer Ebene Frankreichs eine ungeheure Menge Schweine einander bekämpft und getödtet haben.
So die wundergläubigen Chroniken. Besser bezeugt ist der Kampf zwischen Thieren, welchen unser Künstler schildert. W. Gräbheim zeigt uns die Rabenkrähe in einem Unterfangen, wie es öfters beobachtet wird. Ein Mäusebussard hat zur Abwechslung einmal einen jungen Hasen oder ein Kaninchen „geschlagen“, d. h. gefaßt, und will sich mit seinem Raube in ein sicheres Versteck flüchten. Aber er hat die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Die schwarze Feldpolizei, die hat scharfe Augen, und wenn sie etwas mit Beschlag belegen kann, ist sie immer bei der Hand. Mit wüthendem Geschrei stürzen sich die Rabenkrähen auf den beutebeladenen Bussard – die Federn fliegen, er kann sich gegen den vereinten Angriff mit der schweren Bürde nicht wehren – seine Fänge öffnen sich – und unbehelligt kann er weiter streifen – während die schwarze Gesellschaft mit höhnenden Rufen dem Raube nach zur Erde schießt.
Nach der Kirchweih. (Zu dem Bilde S. 600 und 601.) Beim Schloßwirth in Oberhausen ist gestern gerauft worden. Tüchtig gerauft; denn die Oberhausener und die Bensberger waren hintereinander: da konnt’ es unmöglich gut ausgehen, am wenigsten beim Kirchweihfeste. Seit Menschengedenken ist es hergebracht, daß die Oberhausener und die Bensberger am Kirchweihsonntag miteinander ins Gefecht kommen. Es sind zwei blühende Ortschaften, dies Oberhausen und dies Bensberg, in einem sonnigen, gesegneten Landstriche Westdeutschlands gelegen, am Fuße eines langgestreckten waldigen Höhenzugs. Sie könnten sich recht gut vertragen, die Bensberger und die Oberhausener: aber es liegt nicht in ihrem Temperament, sich zu vertragen. Abseits jener beiden Dörfer liegt noch ein drittes, Ickstätten genannt, welches in den Kämpfen zwischen Oberhausen und Bensberg meistens eine neutrale Stellung einnimmt, weil es zu klein ist, um eine genügende Anzahl streitbarer Jugend zu stellen. Dafür stellt das kleine Ickstätten in der Tochter seines Wirthes, der blonden Rosel, das schönste Mädchen im Umkreis von mindestens zehn Gemeinden. Auf diesen neutralen Boden haben sich heute die verwundeten Oberhausener Helden begeben. Dem einen ist gestern unversehens ein schwerer Steinkrug ans rechte Auge geflogen; dem andern wurde durch einen Hieb mit einem Zaunpfahl die linke Hand übel zugerichtet. Und nun sitzen sie da, der Georg und der Michel, bei der blonden Rosel und erzählen ihr, wie sie die Bensberger hinausgeprügelt haben aus dem Wirthshaus und aus dem Dorfe bis an die Brücke, die über den Bach führt, welcher die Oberhausener und die Bensberger Gemeindeflur scheidet. Die Rosel aber und das schwarzäugige Schenkmädchen, das hinter ihr steht, die horchen beide mit solcher Aufmerksamkeit, daß man wenig Vertrauen in ihre Neutralität setzt. In dem Augenblicke wenigstens nehmen beide entschieden Partei für die Helden von Oberhausen, was man ihnen auch nicht verargen kann. Denn bildhübsche Bursche sind sie, die beiden Verwundeten, und wen die blonde Rosel einen von ihnen zum Manne nimmt, hat sie gewiß nicht unrecht. Der andere aber, der sie nicht bekommt, wird ohne Zweifel seinen Groll darüber nicht an seinem Freunde und Kriegskameraden auslassen, sondern – bei nächster Gelegenheit wieder an den Köpfen der Bensberger! H.
Kleiner Briefkasten.
J. R., Warschau. Da ist guten Rath wirklich theuer! Wir möchten Ihnen den unmaßgeblichen Vorschlag machen: lassen Sie Ihr Töchterchen ruhig noch eine Weile Kind sein, d. h. die „Deutsche Jugend“ weiter lesen, solange, bis Sie ihm die „Gartenlaube“ glauben in die Hand geben zu können.
Abonnentin in Malang auf Java. Wir bedauern, daß Sie sich aus so weiter Ferne umsonst an uns gewandt haben. Wir kennen leider weder das Werk noch die Verfasserin, nach deren Wohnort und wirklichem Namen Sie uns fragen.
F. Sch. Philadelphia. Aeltere Jahrgänge der „Gartenlaube“ kosten, soweit noch vorhanden, broschirt 7 ℳ, gebunden 9 ℳ.
Fräulein B. in Gl. Wenn Sie als allein reisende Dame in Dresden nicht gern einen Gasthof aufsuchen wollen, so können Sie in dem dortigen „Mädchenheim“ des Vereins „Volkswohl“ ein gutes Unterkommen, auf Wunsch auch Verpflegung finden. Das Heim befindet sich Gärtnergasse 3, wenige Minuten vom Böhmischen Bahnhof, weitere Auskunft können Sie durch die Hausmutter, Frau Müller, erhalten.
F. U. in Stettin. Im volksthümlichen Sprachgebrauch werden „Sternschnuppen“ und „Meteore“ oft verwechselt. Eigentlich aber dient der Ausdruck „Meteor“ zur Bezeichnung der „Feuerkugeln“, die, an und für sich den Sternschnuppen verwandt, sich von diesen hauptsächlich durch größere Helligkeit und scheinbaren Durchmesser – nicht selten kommt derselbe der Mondscheibe gleich – unterscheiden. Die Feuerkugeln explodiren meist, mit oder ohne Geräusch, und die nach der Explosion auf die Erde herabfallenden Stücke führen die Bezeichnung „Meteoriten“ oder „Meteorsteine“. Die Zusammensetzung der letzteren ist eine äußerst mannigfaltige und in der Hauptsache ist nur daran festzuhalten, daß man in ihnen noch keine Stoffe gefunden hat, die nicht auch auf der Erde vorkämen.
[612]Allerlei Kurzweil.
Kapselräthsel. Ein kurzes Wort will ich dir geben – Ernst Kornrumpf. |
Auflösung des Homonyms auf S. 580:
Gericht. Auflösung des Räthsels auf S. 580: Aal – Wal. Auflösung des Trennungsräthsels auf S. 580: Eingang – Ein Gang. Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 580: Astronom – Gastronom. | |
Buchstabenräthsel. Als Stolz der Hausfrau kennt man mich, Emil Noot. |
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Homonym. Mit „der“ ein König in weitem Bezirke, |
Zifferräthsel. Wenn zwischen Holz und Rinde |
Logogriph. Fahrzeug mit k, Ein Fisch mit b; Ein Sänger war’s Vormals mit d. |
Auflösung des Anagramms mit Akrostichon aus S. 580: Anker, Udine, Seidl, Eidechse, Ismael, Gallien, Eider, Neckar, Eiselen, Resina, Kaiser, Ramler, Apulien, Falster, Tarantel. Aus eigener Kraft. |
Doppelräthsel. | Auflösung der Skataufgabe Nr. 5 auf S. 580: | |
Die Buchstaben dieser Figur sind so zu ordnen, daß sowohl die vier Buchstaben jedes Quadrats als auch die der vier Doppeldiagonalen bekannte Wörter ergeben. Die Quadrate bezeichnen: links, einen weiblichen Vornamen, unten, eine Stadt in Ungarn, rechts, eine italienische Insel, oben, einen römischen Kaiser. – Die Doppeldiagonalen bedeuten: 1–4, ein Buch der Bibel, 2–7, eine als Heilmittel verwendete Pflanze, 3–6, einen Gott der Babylonier, 5–8, eine Stadt in der Schweiz.A. St. |
Der Gegner in Vorhand kann aus der Vergleichung seiner Karten mit der aufgedeckten Karte des Spielers entnehmen, daß der letztere auf e9 niemals gefangen werden kann, weil es der Vorhand unmöglich ist, ihre Eichelblätter (eW, eK) abzuwerfen. Dagegen ist der Spieler selbst dann auf s8 zu fangen, wenn Hinterhand die übrigen sechs Schellenblätter in der Hand hat. Gleichwohl wäre es fehlerhaft, wenn Vorhand sofort g und r vorspielen wollte, denn, wenn e8 c7 im Skat liegen, könnte Hinterhand leicht verleitet werden, anstatt der langen Schellen ihr Eicheln abzuwerfen, und der Spieler muß dann gewinnen. Um diese Möglichkeit auszuschließen, muß daher Vorhand zuerst den cK vorspielen, denn danach kann der Freund in Hinterhand nicht mehr darüber in Zweifel sein, daß der Spieler nur noch auf g zu fangen ist, und wird daher s auf r und g abwerfen. Wenn alle c8 c7 im Skat liegt und Hinterhand folgende Karte hat: cD, eO, eZ, gK, sU, sD, sK, sO, sZ, s9 nimmt das Spiel folgenden Verlauf:1. eK,e9,eU, 5. Rd, rZ, sO, 2. gD, gU, gK, 6. rK, r9, sH, 3. gO, gZ, sD, 7. rO, r8, sZ, 4. g9, g8, sK, 8. rU, r7, g9, 9. s7, s8; + Auflösung des Bilderräthsels auf S. 580: Obsternste. |
In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Die Band-Ausgabe von E. Marlitt’s illustrierten Romanen und Novellen erscheint vollständig in 10 Bänden zum Preise von je
Inhalt: Bd. 1. „Das Geheimnis der alten Mamsell“. – Bd. 2. „Das Heideprinzeßchen“. – Bd. 3. „Reichsgräfin Gisela“. – Bd. 4. „Im Schillingshof“. – Bd. 5. „Im Hause des Kommerzienrates“. – Bd. 6. „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“. – Bd. 7. „Die zweite Frau“. – Bd. 8. „Goldelse“. – Bd. 9. „Das Eulenhaus“. – Bd. 10. „Thüringer Erzählungen“. (Inhalt: „Amtmanns Magd“, „Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, „Schulmeisters Marie“).
Bestellungen werden jederzeit in beinahe allen Buchhandlungen angenommen. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die
Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger Leipzig.
- ↑ Aus dem im Verlage der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart soeben in Lieferungen erscheinenden Buche „Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge von Dr. A. E. Brehm. Mit Illustrationen von R. Friese, G. Mützel, Fr. Specht u. a.“
- ↑ Unsere Abbildung führt die „Nonne“ vom Anfange ihres Daseins an in den verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung vor. An dem Kiefernstamme sitzen die eben aus dem gemeinsamen Eineste geschlüpften Räupchen (a). Sie erscheinen zu Anfang des Mai, winzig kleine, schwarze Dingerchen, die nun nesterweise zwei bis drei Tage lang auf ein und demselben Flecke sitzen bleiben und im Frühjahrssonnenschein sehr rasch wachsen. Diese Raupenhäufchen nennt man „Spiegel“, ihre Vernichtung heißt in der Jägersprache das „Spiegeln“.
Nach dieser ersten Ruhepause gleich beim Eintritt in die Welt kriechen die schon bedeutend größer gewordenen Raupen den Baum hinan und beginnen an dessen Nadeln ihre verderbliche Thätigkeit. Nach rasch aufeinander folgender mehrmaliger Häutung ist die nun ausgewachsene Raupe (b) bräunlichgrün, mit blauen und rothen Warzen, und trägt auf dem zweiten Ring einen schwarzen, hinten blau, seitlich weiß gesäumten Fleck. Anfang Juli steigt die Raupe wieder den Baum hernieder, sucht sich einen passenden Riß in der Rinde und verpuppt sich dort, sich mit losen Fäden befestigend (c). – Kurze drei Wochen, und der schöne Falter sprengt die Hülle und fliegt im Tageslicht. Der Nonnenschmetterling hat sehr hübsch gezeichnete, schwarzweiße Flügel und rosafarbigen, schwarzgeringelten Hinterleib. Das Weibchen (d1 und d2) ist bedeutend, um gut 11/2 cm größer als der männliche Falter (d3), welch letzterer sich durch seine schönen buschigen, doppelt gekämmten Fühler sofort kenntlich macht.