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Das Eulenhaus

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Autor: E. Marlitt,
vollendet von Wilhelmine Heimburg
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Titel: Das Eulenhaus
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1–25
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman in den Heften 1 bis 25
Kleiner Briefkasten (Die Gartenlaube 1888)#Heft 46
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Das Eulenhaus.

Hinterlassener Roman von E. Marlitt.
Vollendet von W. Heimburg.

Die Goldregen- und Syringenbüsche in den Hofwinkeln des Gerold’schen Gutes strotzten heuer von Dolden und Trauben; das Brunnenwasser stürzte, durchfunkelt vom jungen Maisonnenlicht, mit kräftigem Getöse in den Steintrog, und auf den Stall- und Scheunendächern lärmten die Spatzen. Und es schien, als blühe, dufte und lärme es heute stärker als je auf dem Geroldshofe, so recht wie im Gefühl der Heimathsfreude, denn die Büsche, der Brunnen und das alte Sperlingsgeschlecht in seinen liederlichen, verrotteten Nestern: sie blieben ja da, sie wurden nicht vertrieben, wie die aufgeschreckten Spinnen und Motten hinter fortgerückten uralten Schränken und Truhen im Gutshause. Ja, schlimm genug sah es aus da drinnen, fast wie im Kriege: so kahl waren die Wände und ein so wildes Durcheinander lag und stand auf den Dielen des Speisesaales! … Da war nichts von [2] dem, was brave Hausfrauen in den Wäschespinden und Bettkammern und ihre Eheherren an Haus-, Silber- und Jagdgeräth aufgesammelt hatten, das nicht in diesen Saal mußte, um sich vor fremden, kaltprüfenden Augen zu präsentiren und nachher auf weit aus einander laufenden Wegen zerstreut und aus aller Gemeinschaft gerissen in die Welt zu wandern.

Wie sie beleidigend durch die offenen Saalfenster herausklang, die wie mit dickem Möbel- und Bücherstaub belegte Gerichtsschreiberstimme bei ihrem eintönigen „Zum Ersten, zum Zweiten etc.“! Es war fast zum Verwundern, daß nicht einer der alten Gestrengen seinen jahrhundertelangen Schlaf abschüttelte, um bei dieser Stimme mit dem Nachdruck des „von Rechtswegen“ protestirend aus dem unterirdischen Steingewölbe der nahen Hauskapelle herauszufahren. Da drunten zerstäubte ja so manche Männerfaust, die einst kräftig dreingeschlagen, um das, was sie an Hab und Gut erworben, oder vielleicht auch nur usurpirt, mit Mord und Todtschlag zu behaupten. Aber der letzte Besitzer von Geroldshof, dem jetzt Alles, was nicht niet- und nagelfest war, so vor den Augen weggeschleppt wurde, hatte gesänftigtes Blut in den Adern. Er war ein edel schöner Mann mit verschleiert blickenden Augen, mit einer Stirn, die das Sinnen und Grübeln faltete und zugleich verklärte.

Er saß in seiner stillen, just in dem Winkel gelegenen Hinterstube, wo sich das Syringengebüsch hoch bis über das Fenster hinaufreckte. Die weißen und blauen Blüthentrauben klopften bei jedem Windhauch schaukelnd an die Scheiben, die, festgeschlossen, den Auktionsspektakel vom Speisesaal her ziemlich erfolgreich abwehrten und nur ganz vereinzelte, schwache Laute herüberklingen ließen.

Herr von Gerold schrieb an einem Tisch von Fichtenholz, den man ihm großmüthig aus der Konkursmasse überlassen. Für ihn war es offenbar nicht von Belang, daß sein Manuskript jetzt auf der weißgescheuerten Platte eines Gesindetisches lag; sein Geist, der Außenwelt abgewandt, vertiefte sich in Probleme, während die Hand kleine, weichverschwimmende Schriftzüge auf das Papier warf; und nur dann wurde sein Aufblick bewußter und so Etwas wie liebevolle Freude an einem plötzlich auftauchenden Kindergesicht glitt über seine Züge, wenn die Syringenblüthen draußen ihm zunickten.

Es war aber außer ihm noch Jemand im Zimmer, ein kleines, dickes blondhaariges Mädchen, das sich in eine der Fensterecken gedrückt hatte. Dem kleinen Ding lag Etwas genau so am Herzen, wie dem schreibenden Mann dort sein Manuskript – die Spielkameraden. Es hatte in dem Winkel Alles zusammengeschleppt, was ihm allein gehörte, ja, ganz allein! Das schönbemalte Porcellantafelgeschirr für eine Kindergesellschaft hatte die gute Hoheit geschickt, und alle Puppen, die Schleppkleiderdamen wie die Schreikinder, waren zu Geburtstag und Weihnachten in langen Kisten angekommen, und auf die Bretterdeckel hatte Tante Claudine allemal selbst geschrieben: „An die kleine Elisabeth von Gerold“ – der Papa hatte es ja stets dem Kinde vorgelesen.

Nun saß diese kleine Elisabeth inmitten ihrer Reichthümer, wie in einem Nest, das jüngste Wickelkind im Arm, und die großen Blauaugen scheu und ängstlich auf die Thür geheftet, wo vorhin die bösen Männer mit den letzten Bildern und der schönen „Ticktackuhr“ hinausgegangen waren.

Sie patschte leise beschwichtigend auf das Wickelkissen; sonst aber verhielt sie sich mäuschenstill; denn der Papa machte ja immer ein so erschrecktes Gesicht, wenn sie ihn im Schreiben störte. Und es kam auch jetzt kein Laut aus ihrem Munde, als plötzlich die gefürchtete Thür lautlos aufging; aber die Wickelpuppe glitt vom Schoße auf die Erde nieder, – die kleine dicke Person erhob sich von ihrem Korbstühlchen, wackelte, so schnell es die Beinchen vermochten, durch das Zimmer und hob mit glückstrahlendem Gesicht die Arme zu der Dame empor, die eingetreten war.

Ach, sie war gekommen, die Tante Claudine, die schöne Tante, die dem Kinde vieltausendmal lieber war als Fräulein Duval, die Gouvernante, die immer zu den anderen Leuten im Hause gesagt hatte: „Fi donc, was für ein pauvres Haus! Nichts für Claire Duval! – Ich gehe!“ Und sie war gegangen und war gar nicht mehr gut und höflich zu dem Papa gewesen, und das Kind hatte sich nachher die Wange rein gerieben von Fräulein Duval’s kaltem, häßlichem Kuß … Ja, das war nun freilich anders, als jetzt zwei weiche Hände es sanft emporhoben und ein süßer Mund es zärtlich küßte … Und dann glitt die junge Dame eben so geräuschlos, wie sie gekommen, über die Dielen – nur das dunkle Seidenkleid knisterte ein wenig – und legte die Hand auf die Schulter des schreibenden Mannes.

„Joachim!“ rief sie ihn mit sanfter Stimme an und bog sich vor, um in sein Gesicht zu sehen.

Er fuhr empor und stand sofort auf seinen Füßen.

„Ah, Claudine!“ rief er in sichtlichem Schrecken. „Schwesterchen, liebes Kind, hierher durftest Du nicht kommen! … Sieh, ich trag’s leicht, ich bin bereits darüber hinweg; aber Du wirst bittere Schmerzen leiden unter der Zerstörung, die Alles, was Du lieb hattest, nach allen Winden hin zerstreut! Armes, armes Kind! Wie mir die verweinten Augen da wehe thun!“

„Nur ein paar Thränchen, Joachim,“ sagte sie mit lächelnden Lippen, aber aus ihrer Stimme klang noch innerer Schmerz. „Daran ist nur der Rappe schuld, unser alter Briefträger, der uns jeden Morgen die Posttasche holte. Denke Dir, es erkannte mich sofort, das treue Thier, als es an mir vorübergeführt wurde –“

„Ja, Peter ist fort, Tante,“ sagte die kleine Elisabeth. „Er kommt nicht wieder, der gute Peter; und der Wagen ist auch fort, und der Papa muß nach Eulenhaus laufen.“

„Er muß nicht laufen, Herzchen; ich habe einen Wagen mitgebracht,“ tröstete Tante Claudine. „Ich will nicht erst ablegen, Joachim –“

„Darum darf ich Dich auch nicht bitten in diesem fremden Hause. Ich kann Dir auch nicht einmal eine Erfrischung anbieten. Die Köchin hat uns heute Mittag die letzte Kartoffelsuppe gekocht und ist dann gegangen, weil sie ihren neuen Dienst antreten mußte … Sieh, das sind lauter Bitternisse, die Du erfährst, und welche Du Dir ersparen konntest. Du wirst lange mit Dir kämpfen müssen, um nach Deiner Rückkehr an den Hof das häßliche Gespenst dieser Erinnerungen loszuwerden.“

Sie schüttelte leise den schönen Kopf.

„Ich gehe nicht an den Hof zurück. Ich bleibe bei Dir,“ erklärte sie bestimmt.

Er prallte zurück.

„Wie – bei mir? Willst Du mein – mein Bettelbrot theilen? Nie, Claudine, nie!“ – Er streckte die Hand abwehrend gegen sie aus. „Unser schöner Schwan, die Augenweide, die Freude so Vieler, sollte in dem Eulennest verkümmern? Hältst Du mich für einen Seelenmörder, daß Du ein solches Ansinnen an mich stellst? … Ich ziehe mich gern, ja, erleichterten Herzens zurück in das alte Haus, in Dein Haus und Erbe, das Du mir großmüthig zur Verfügung gestellt hast – es wird mich traut und heimisch umfangen, denn ich habe mein stilles Schaffen, das mir Alles verklärt, mir das karge Brot versüßt und die alten Wände vergoldet; aber Du, Du?“

„Ich habe diesen Protest vorausgesehen und deßhalb allein gehandelt,“ sagte sie fest und sah ihm mit ihren langbewimperten sanften Augen beweglich in das Gesicht. „Ich weiß wohl, daß Du mich nicht brauchst, Du genügsamer, stiller Einsiedler; was aber soll aus Deiner kleinen Elisabeth werden?“

Er blickte wie erschrocken nach dem Kinde hin, das sich eben abmühte, einen kleinen, runden Kattunmantel, wie ihn die Thüringer Bauernfrauen tragen, zum Abmarsch überzuwerfen. „Fräulein Lindenmeyer ist ja da,“ sagte er zögernd.

„Fräulein Lindenmeyer war Großmamas gute, brave Kammerfrau und ist zeitlebens treu wie Gold gewesen; aber nun ist sie alt und grau; wir können ihr unmöglich zumuthen, das Kind zu behüten. Und wie denkst Du Dir wohl den Unterricht von Seiten der alten guten, schwärmerischen Seele?“ fuhr sie lebhaft fort, während ein trübes Lächeln durch seine Züge schlich. „Nein, lasse mich gut machen, was ich verschuldet habe! Ich durfte nicht zu meiner alten Hoheit gehen; ich mußte die Hofdamenstellung zurückweisen und bei Dir bleiben, um das abwärts rollende Rad nach Kräften mit aufzuhalten. Um den Geroldshof stand es schon damals schlimm –“

„Und Dein Bruder hatte sich thörichter Weise ein verwöhntes Weib aus Spanien mit heimgebracht, das jahrelang an dem deutschen Klima krankte, bis es der Engel der Erlösung von dem [3] Schmerzenspfühl hinwegnahm, nicht wahr, Claudine?“ ergänzte er mit aufquellender Bitterkeit. „Dazu war er ein ganz erbärmlicher Oekonom, ein Unnützer, der die Wiesenblumen und Gräser unter dem Mikroskop studirte, ihre Schönheit besang und dabei vergaß, daß sie in erster Linie gutes Milchfutter sein müssen. Jawohl, wahr ist’s! In schlimmere Hände konnte das schon damals ziemlich abgewirthschaftete Gut nicht kommen, als in die meinen; aber bin ich allein dafür verantwortlich zu machen? Was kann ich dafür, daß kein Tropfen des Bauernblutes in mir lebt, welches sich immer ganz gut mit dem blauen Geblüt in den Adern unserer Vorfahren vertragen hat? Ackerpflug und Viehzucht haben ja zumeist das nun in alle vier Winde verflogene Gerold’sche Vermögen erworben, und ich muß mich vor dem geringsten Taglöhner im Dorfe schämen, der mit Fleiß und Schweiß seinen ererbten Kartoffelacker zu behaupten sucht. Ich nehme Nichts mit, als meine Feder und eine Hand voll Kleingeld, das mir und meinem Kinde Brot geben muß, bis mein Manuskript vollendet und eingeliefert ist. Deßhalb schreibe ich mit jagenden Pulsen –“

Er unterbrach sich. Bitter lächelnd trat er der jungen Dame näher und legte beide Hände auf ihre Schultern. „Ja, siehst Du, Kind, Herzensschwester: wir Zwei, die zwei Letzten, sind Schwimmvögel, die das ehrbare Haushuhn, das alte Geroldsgeschlecht, am Schluß seiner langen Erdenlaufbahn ausgebrütet hat! Wir sind schon als Kinder instinktmäßig in ein besonderes Fahrwasser gelaufen, ich, der ‚Träumer‘, der Grübler und Sterngucker, und Du, die Nachtigall mit der süßen Goldkehle, die Huldgestalt mit dem sinnigen Thun und Wesen … Und nun kommst Du zu dem zerstreuten Menschen und Bücherwurm, der ich bin, und möchtest Dich mit ihm im Eulenhaus verkriechen –“ er schüttelte energisch den Kopf – „nicht bis zur Schwelle des alten Hauses gehst Du mit, Claudine! Fahre Du nur mit dem Wagen wieder heim! Meine Beine sind steif geworden vom stillen Hocken in diesem Winkel, wohin ich mich vor dem Menschentrubel geflüchtet habe; der Marsch nach dem Eulenhaus wird ihnen gut thun, und mein Kind wird der Friedrich, unser alter, treuer Friedrich tragen, wenn die Beinchen müde werden sollten. Und nun ein kurzes Lebewohl, Claudine!“

Er breitete die Arme aus, um die Schwester abschiednehmend zu umfangen, aber sie wich zurück.

„Wer sagt Dir denn, daß ich wieder zurück kann?“ fragte sie ernst. „Ich habe um meine Entlassung gebeten, und sie ist mir gewährt worden. Meine theure, alte Hoheit hat mich verstanden und ohne daß auch nur eine Frage von ihrer Seite gefallen wäre, weiß sie genau, wie die Sachen liegen. Und so sei auch Du diskret, Joachim –“ ein tiefes, dunkles Roth überfluthete jäh ihr Gesicht – „und lasse neben meinem Wunsche, bei Dir zu sein, auch noch ein anderes Motiv für meine Heimkehr stillschweigend gelten. Nimm mich hin, wie ich zu Dir komme, mit verschlossenem Mund, aber das Herz voll treuer Schwesterliebe – willst Du?“

Er zog sie schweigend an sich und küßte sie auf die Stirn.

Sie athmete tief auf.

„Schmale Kost werden wir freilich haben,“ sprach sie weiter; „aber Bettelbrot ist’s drum doch nicht!“ sagte sie mit einem sanften heiteren Lächeln. „Die Hoheit läßt es sich nicht nehmen, mir mein Gehalt nach wie vor auszuzahlen, und das Legat von der Großmama wirft jährlich auch eine hübsche kleine Summe ab. Verhungern werden wir mithin nicht, und mit ‚jagenden Pulsen‘ darfst Du in Zukunft auch nicht schreiben – das leide ich nicht! In ungestörter Ruhe, zu Deinem eigenen Genusse sollst Du Dein schönes Werk vollenden … Und nun wollen wir uns fertig machen!“

Ihre Augen glitten durch das kahle Zimmer und blieben an einem kleinen Koffer hängen.

„Ja, das ist Alles, was ich von Rechtswegen mitnehmen darf,“ sagte Herr von Gerold, ihren Blick verfolgend. „Just nicht viel mehr, als der letzte Stammhalter der Gerolds bei seinem Eintritt ins Leben unwissentlich beansprucht hat – die allernöthigste Bekleidung seines Leibes. Doch nein – was für ein schwarzer Undank!“ Er schlug sich vor die Stirn, und seine Augen leuchteten glücklich auf. „Höre, Claudine, wie ist das doch seltsam! Besinne Dich! Kennst Du vielleicht einen Freund unseres Hauses, so einen der unbedenklich zweitausend Thaler mit der Rechten aus der Tasche nimmt und hingiebt, ohne daß die Linke es merkt? Ich kenne keinen, wie ich auch sinne und mein Gedächtniß zermartere, keinen auf der Gotteswelt! … Und da werden mir nun gestern einige Kisten hier nebenan in das Zimmer gestellt, so wie mit Fug und Recht; denn ich sollte sie ja in der Auktion durch einen Bevollmächtigten zurückerstanden haben – ich, der arme Hiob! Ich glaube, ich habe den Trägern ins Gesicht gelacht. Aber sie sind gegangen und haben sie mir absolut nicht wieder abgenommen, meine Bücher, meine kleine, kostbare Bibliothek, um die mir die Augen doch feucht geworden sind, als profane Hände sie, Band um Band, in Waschkörbe warfen, um sie zur Versteigerung hinüberzuschaffen … meine lieben Bücher und treuen Einsamkeitsgenossen! Wer sie mir aus dem Schiffbruch gerettet hat, er mußte es wissen, daß er mir geistigen Lebensodem und einen festen Stab zur Wanderung in die Wüste mit ihnen zurückgegeben hat, und dafür sei er dreifach gesegnet, der edle Unbekannte mit dem goldenen Herzen! … Ja, nicht wahr, auch Du sinnst vergebens, Claudine? Gieb’ es auf, das Räthsel lösen wir Beide nicht!“

Er schob sein Manuskript in die bereitliegende Mappe, und Claudine packte die Habseligkeiten der kleinen Elisabeth in eine Korbwanne, wobei die dicken Händchen des Kindes nach Kräften behilflich waren.

Zehn Minuten später stand auch dieser letzte Zufluchtsort des Heimathlosen verlassen und er durchschritt, das Händchen seines Kindes in der seinen, und die Schwester am Arme führend, den nächsten Korridor.

Ein schöneres Geschwisterpaar ließ sich kaum denken, als diese zwei Menschen, die umflorten Blickes zum letzten Male das Vaterhaus durcheilten, das heimische Nest, an dem die Gerold’s Jahrhunderte hindurch gebaut und verschönert hatten, und in welches nun fremde Vögel einflogen, Vögel mit goldenen Federn; denn das Gut war um sehr hohen Preis von unbekannter Seite erstanden worden.




Im Treppenhause stießen sie auf eine Dame, die aus dem Seitenflügel kam, in welchem die Versteigerung stattfand. Sie nahm eben, besorgt und sichtlich unwillig vor sich hinmurmelnd, den Saum ihres braunen Kleides auf; denn auf den Stufen lag dicker Staub, den in all den Tagen des lebhaften Menschenverkehrs kein Besen weggefegt haben mochte. Die Röthe eines jähen Erschreckens färbte ihr Gesicht, als sie aufblickend die Beiden vor sich sah.

„Ah, Pardon!“ sagte sie mit einer tiefen, unbiegsamen Stimme, indem sie zurücktrat. „Ich versperre Ihnen den Weg!“

Herr von Gerold sah einen Moment aus, als schwebe es ihm auf den Lippen, zu sagen: „Muß ich auch noch diesen Kelch leeren?“ Aber er bezwang sich und entgegnete mit einer höflichen Verbeugung:

„Der Weg aus diesem Hause steht uns allzu weit offen; ein Augenblick der Verzögerung kann uns nur lieb sein.“

„Es ist ja ein ganz schauderhafter Schmutz auf dieser Treppe – nein, wirklich empörend!“ polterte die Dame, als habe sie seine Antwort gar nicht gehört, und schüttelte abermals an ihren Röcken. „Ich gehe deßhalb nie zu einer Auktion, principiell nicht – was muß man da für alten Staub schlucken! Aber Lothar ließ mir ja keine Ruhe; er schrieb mir zweimal dringend, und da mußte ich wohl oder übel herüberfahren, um das Silbergeschirr zu erstehen … Er wird sich wundern – bis zu einer horriblen Summe bin ich gesteigert worden.“ Das Alles wurde unter abwechselndem Roth- und Blaßwerden hervorgestoßen, ohne daß sich auch nur einmal die Augen von dem verunglimpften Rocksaum hoben.

„Um meiner Großmama willen bin ich Deinem Bruder dankbar für den Ankauf, Beate – ihr ganzes Herz hing an den alten Erbstücken,“ sagte Claudine.

„Nun ja, wie konnte er anders? Wir haben ja die andere Hälfte dieser Erbstücke und dürfen doch nicht leiden, daß unser Wappen auf den ersten besten Protzentisch kommt,“ entgegnete die Dame achselzuckend. „Aber wäre es nicht zuerst an Dir gewesen, Claudine, das Silberzeug eben um Deiner Großmama willen zu retten? Wenn ich nicht irre, hat sie Dir ja speciell einige tausend Thaler vermacht.“

[6] „Ja, einen Nothpfennig, wie es im Testament steht. Meine praktische Großmama wäre die Erste, die mir zürnte, wenn ich das Vermächtniß geopfert und Silber, aber kein Brot im Schranke hätte!“

„‚Kein Brot‘? Du, Claudine, Du – die stolze, verwöhnte Hofdame?“

„War ich je stolz?“ Sie schüttelte hold lächelnd den Kopf. „Und verwöhnt? Nun ja, das will ich glauben! Am Hofe lernt man nicht arbeiten.“

„Das hast Du schon vorher nicht gekonnt, Claudine,“ fuhr die Dame heraus. „Das heißt“ – suchte sie sich hastig zu verbessern, aber es kam kein Nachsatz.

„Sprich nur weiter, Du hast ja Recht,“ sagte Claudine gelassen. „Die Art Arbeit, die Du meinst, lernt man auch im Institut nicht. Aber ich will es nunmehr versuchen, ich will Hausfrau werden in meinem alten Eulenhaus –“

„Du willst doch nicht sagen –“

„Daß ich bei Joachim bleiben werde? Allerdings. Braucht er nicht jetzt doppelt Liebe und schwesterliche Hingebung?“ Sie schmiegte sich fester an den Bruder und sah zärtlich zu ihm auf.

In das bläßliche Gesicht der Dame schoß abermals eine dunkle Blutwelle. Sie bückte sich rasch zu der kleinen Elisabeth hinab und wollte ihr die Wange streicheln, aber das Kind sah sie finster und mißtrauisch von der Seite an. „Geh’ fort, Du“ – wehrte es unfreundlich die Liebkosung ab.

Herr von Gerold fuhr unwillig empor.

„Ach, lassen Sie doch das kleine Ding! Ich bin es gewöhnt, daß die Kinder mich nicht mögen,“ sagte die Dame mit einem harten, verlegenen Auflachen und streckte die Hand schützend über das blonde Köpfchen hin. „Aber was ich sagen wollte“ – wandte sie sich wieder zu Claudine. „Du wirst anfangs schweres Lehrgeld geben müssen; man braucht nur Deine Hände anzusehen, und dazu dieser Hofdamenchic! Das wird elegante Toiletten genug kosten, ehe Du es lernst, in der hausleinenen Schürze an den Herd zu treten und ein richtiges Essen herzustellen, das heißt“ – suchte sie sich abermals zu verbessern, während ihr Blick scheu die niedergeschlagenen Augen der schönen Hofdame streifte – „Pardon, Kind! Ich mein’ es ja nicht böse; ich wollte Dir nur für die erste Zeit eines meiner Mädchen anbieten. Meine Leute sind gut geschult –“

„Das ist männiglich bekannt. Ihr Ruhm als Hausfrau ist längst über das Weichbild der Geroldshöfe hinausgedrungen,“ fiel Herr von Gerold nicht ohne Sarkasmus ein. „Aber wir müssen danken. Sie werden sich selbst sagen, daß wir keine Domestiken mehr halten können. Wie auch meine Schwester die schwierige Aufgabe anfassen wird, ich bin zufrieden und unaussprechlich dankbar. Sie ist und bleibt mein guter Engel, auch wenn ihr anfangs das ‚richtige Essen‘ mißglücken sollte.“

Er lüftete mit einer vornehmen Verbeugung den Hut und stieg mit den Seinen die Treppe hinab; die Dame folgte stillschweigend, denn auch ihr Wagen stand ja drunten vor dem Thor des Gutshauses.

Mittlerweile hatte Friedrich, der alte ehemalige Kutscher, den Koffer hinuntergetragen, und jetzt kam er, die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Armen, an den Hinabsteigenden vorüber. Das kleine Mädchen horchte besorgt auf das Porcellangeklirr und sonstige Geräusch im Korbe und reckte sich auf, um einen Einblick in ihre Besitzthümer zu gewinnen, und da war in der That ein vorwitziger Puppenliebling eben im Begriff über den Korbrand zu spazieren. Fräulein Beate griff über den Kopf der Kleinen hinweg schleunigst nach der Ausreißerin.

„Thu’ meinem Lenchen nichts mit Deinen großen Händen!“ schrie das Kind in demselben Augenblicke auf und zerrte die Dame am Rocke.

„Ach, das arme Würmchen – hast Du es auch schon in der höfischen Zucht?“ lachte Fräulein Beate kurz auf, als Claudine die Hand erschrocken auf den Mund des Kindes legte. „Warum soll es denn die Wahrheit nicht sagen? Meine Hände sind ja groß und Komplimente werden sie nicht kleiner machen. Und ihr Ungeschick in allen subtilen Dingen mag man ihnen auch auf den ersten Blick ansehen. Das kleine Ding protestirt dagegen, wie alle unsere Pensionsschwestern – Du mußt’s ja noch wissen, Claudine! Ich bin nun einmal keine Vertrauensperson für die Menschheit.“

Mit einer linkischen Verbeugung schritt sie die letzten Treppenstufen hinab nach dem Portal und winkte ihren Wagen herbei.

Die Gestalt, wie sie so unter dem Thorbogen stand, war schön und kraftvoll gebaut, aber sie hatte häßliche, eckige Bewegungen, und das luftgebräunte Gesicht unter den glatt und streng aus der Stirn gestrichenen Haaren milderte den unliebenswürdigen Eindruck der Erscheinung durchaus nicht.

Herr von Gerold fuhr scheu zurück, als er aus dem Thor trat. Er wäre wohl am liebsten in den dunkelsten Winkel des Hausflurs hineingeflüchtet; Menschentrubel war ihm verhaßt, und hier auf dem freien Platze vor dem Hause war ein Durcheinander, wie auf dem Jahrmarkt. Da wurden die Plüschmöbel seines ehemaligen Salons auf einen Leiterwagen verladen; dort schleppten Frauen ganze Lasten Federbetten herbei; Küchengeräth polterte und klirrte beim Verpacken, und dabei gingen noch einmal die gezahlten Preise von Mund zu Mund, unter Lachen und Fluchen, je nachdem man gekauft hatte.

Zum Glück hielt der Miethwagen, in welchem Claudine gekommen, in der Nähe des Hausthores. Man stieg rasch ein; Friedrich stellte die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Vordersitz; er drückte mit einem betrübten Abschiedsblick den Schlag zu, und fort brauste der Wagen, vorüber an all dem trauten Hab und Gut des Hauses, auf welches jetzt der freie blaue Frühlingshimmel niederschien, vorbei an den leergewordenen Remisen und Ställen, an aufblühenden Teppichbeeten und springenden Fontainen und den weiten Rasenflächen des Obstgartens, auf welchen noch der weiße Reif abgeschüttelter Blüthenpracht lag. Dann streckte sich die helle Chausseelinie vor ihnen hin, rechts und links noch besäumt von den Gutsfeldern und Wiesen, bis der Wald seinen Schatten über sie warf; vorher aber zweigte sich nach links ein breiter Fahrweg ab, und dort fuhr die in der Sonne blitzende und das Auge blendende, elegante Equipage hin, in welcher Fräulein Beate von Gerold heimwärts fuhr.

„Mußte auch die noch Deinen Leidensweg kreuzen!“ sagte Herr von Gerold zu seiner Schwester mit einem unmuthigen Blick nach dem dahinbrausenden Wagen.

„Sie hat mir nicht wehe gethan, Joachim. Ich kenne sie besser und habe nicht das Vorurtheil gegen sie, wie die meisten anderen Menschen,“ entgegnete Claudine. Sie hatte die kleine Elisabeth auf den Schoß genommen und ihr Gesicht in das dicke, wallende Blondhaar des Kindes gedrückt; so war ihr der letzte, schmerzensreiche Anblick des Zurückbleibenden erspart geblieben. „Beate ist verletzend derb und scheinbar schonungslos Anderen gegenüber nur aus – Verlegenheit –“

„Mohrenwäsche, Kind! Die hilft Dir nichts! Sie ist nicht gut, diese Beate, sie hat weder Herz, noch den Geist, den ich in der Frau anbete, den idealen Aufschwung im Denken, den Seelenliebreiz, der unbewußt von meiner armen Dolores ausströmte und mit welchem Du mich Schuldigen, mich, den verarmten Hiob, auch heute wieder umstrickst; nicht ein Atom davon lebt in diesem – barbarischen Frauenzimmer.“

Der helle Sonnenschirm des „barbarischen Frauenzimmers“ tauchte eben noch einmal auf zwischen den Vogelbeerbäumen des Weges; dann verschwand er hinter den Buchen, den Vortruppen des schmalen Gehölzstreifens, mit welchem das Areal des Geroldshofes abschloß.

Jenseit dieses Laubwaldes, weit drüben am Berge, lag auch ein Herrenhaus, ein schmuckloser Bau neueren Stiles, mit hellgetünchten Mauern und weißen Rollläden. Da sprangen keine Fontainen, und von Blumenluxus war auch nicht viel zu sehen; dafür aber hatte das Besitzthum einen Baumschmuck, der seines Gleichen suchte. Wahre Riesenexemplare alter Linden spannen um Mauern und Höfe ein heimlich grünes Dämmern; nur die Vorderfronte des Wohnhauses blieb unbeschattet, und um das schöne Taubenhaus inmitten des breit hingelagerten Rasengrundes vor dem Hause spielten ungehindert Maienlüfte und die Goldlichter der Sonne.

Diese Besitzung war auch ein Geroldshof, das Rittergut der Herren von Gerold-Neuhaus.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 2, S. 21–24

[21] Vor alten Zeiten waren die liegenden Gründe des weiten Paulinenthales und die von da bergaufkletternden mächtigen Waldungen in einer Hand vereint gewesen. Die Gerold von Altenstein hatten unumschränkt geherrscht über Leben und Tod jeglicher Kreatur, die in meilenweiter Runde sich rührte und regte, über das Bäuerlein hinter dem Pfluge, das Wild im Walde, das schuppige Leben in Fluß und Teich. Später, vor mehr als zweihundert Jahren, hatte ein aus langer, blutiger Fehde glücklich heimgekehrter Herr Benno von Gerold um eines nachgeborenen Spätlings seines Stammes willen das Gut Altenstein zwischen diesem und seinem Erstgeborenen getheilt – so war die Linie Gerold-Neuhaus entstanden. – Lange Zeit hindurch war sie die weniger begüterte und in geringerem Ansehen stehende verblieben; dann aber hatten verschiedene Male reiche Erbinnen in das Haus geheirathet, und einzelne Träger des Namens hatten sich im Kriege hervorgethan. Ihre Nachkommen fußten auf den Verdiensten der tapferen Haudegen; sie rückten, Stufe um Stufe, allmählich in die höchsten Hofämter ein, und schließlich gipfelte dieses Emporklimmen in der Vermählung des Jüngsten und Schönsten mit einer Prinzessin des regierenden Hauses.

Fräulein Beate von Gerold hatte mithin Recht, so sicher und zuversichtlich in ihrer schönen Equipage heimzufahren; denn sie war die einzige Schwester jenes „Jüngsten und Schönsten“ und verwaltete, so jung sie auch noch war, in seiner Abwesenheit als bevollmächtigte Herrin das alte Stammgut. Und das Verwalten, das Wirthschaften verstand sie aus dem Grunde, wie alle ihre Vorgängerinnen es verstanden hatten. Selbst Hand und Fuß rühren, den Morgenschlaf bekämpfen und mit hellem, scharfem Blick bis in den dunkelsten Winkel des Hauses hinein scheinbar allgegenwärtig zu sein: das war zu allen Zeiten der Wahlspruch in der Hausfrauenstube zu Neuhaus gewesen. Die Leute im Dorfe sagten, es sei noch gar nicht so lange her, daß das alte Erbspinnrad mit seinem hohl ausgetretenen Trittbrett und dem „flinkernden Wockenband“ Tag für Tag im Winter am Stubenfenster geschnurrt und draußen vor dem Hause das selbstgesponnene Leinen zur Sommerzeit auf dem [22] Bleichrasen gelegen habe. Dieser Bienenfleiß und das scharfe Regiment in Milchkeller und Vorrathskammern sollten denn auch hauptsächlich den Reichthum „zusammengescharrt“ haben; das ließen sich die Leute im Dorfe nicht nehmen. Nun, so ganz unfehlbar war dieses Spinnstubenurtheil wohl nicht.

Die Altensteiner, von denen, just in diesem Moment, die Letzten im Miethwagen das Erbe ihrer Väter auf Nimmerwiederkehr verließen, konnten auch auf eine lange, ununterbrochene Reihe braver, fleißiger Hausmütter zurückblicken – es war auch in Altenstein zu allen Zeiten rüstig geschafft und gesorgt worden. Aber das Gut lag tiefer als Neuhaus, und in den letzten Jahrzehnten hatte ein unglücklicher Zufall es wiederholt gefügt, daß gerade über dem Paulinenthal wolkenbruchartige Gewitter niedergegangen waren. Binnen wenigen Minuten hatten die stürzenden Wassermassen und der überschäumende Fluß die niedriger gelegenen Gründe überfluthet; die Ernteaussichten waren vernichtet und der Grund und Boden auf Jahre hinaus verwüstet und verdorben gewesen – damit hatte bei allem Fleiß das verhängnißvolle „Rückwärts“ begonnen.

Und diese Schicksalsschläge waren just in das Leben eines Mannes gefallen, der alle Tugenden seines alten Geschlechts, die Tüchtigkeit des Landwirthes, den Soldatenmuth, die Treue und Hingebung für das angestammte Herrscherhaus, und wie sie sonst heißen mögen, diese Tugenden, in sich vereinigt; der Oberst von Gerold war ein echter Sohn seines Stammes gewesen. Nur auf einem Wege, einem unheimlichen, den alle seine Vorfahren streng gemieden, war er abseits gegangen – die Leidenschaft des Spieles hatte eine furchtbare Gewalt über ihn gehabt. Er hatte ganze Nächte hindurch gespielt und Unsummen geopfert, und wie die Gewitterniederstürze am Grund und Boden gewühlt und seinen Besitz schwer geschädigt hatten, so war jenes Laster verheerend in den alten Familienschrein eingedrungen, der seit Jahrhunderten die klingenden Schätze, die Werthpapiere und Dokumente in sich geschlossen. – Dieses unheilvolle Leben hatte einen jähen Abschluß gefunden durch die Pistolenkugel eines Kameraden, den der Oberst in Folge eines Wortwechsels am Spieltisch gefordert; wie eine ausgeblasene Flamme war es urplötzlich verlöscht und der Welt entrückt worden – „just noch zur rechten Zeit“, hatten die Leute gemeint; aber sie hatten geirrt; es war schon nicht viel mehr zu verlieren gewesen. –

Die umflorten Augen der schönen Hofdame streiften das von Studium und Stubenluft blaß angehauchte Gesicht des neben ihr sitzenden Bruders, über welches sich allmählich, gleichsam mit jedem Umrollen der Räder mehr, ein Glanz von stiller Freudigkeit verbreitete. Ja dieser, „der Träumer und Sterngucker“, wie er sich selbst anklagend nannte, der von seinem Aufenthalt in Spanien nach jener furchtbaren Katastrophe schleunigst Heimberufene, hatte retten sollen, was noch zu retten möglich. Er hatte es nicht gekonnt, um so weniger, als das junge Weib an seiner Seite, die zarte Andalusierin, ihre schönen Augen konsequent mit stillem Entsetzen von dem Beruf einer deutschen Hausfrau abgewendet. Er hatte schließlich nur noch ihr, der Dahinsiechenden, gelebt und die letzten Geldmittel erschöpft, um ihr gegenüber die Täuschung des Ueberflusses im Hause aufrecht zu erhalten, bis „der Engel der Erlösung sie von ihrem Schmerzenspfühl hinweggenommen“; dann hatte er resignirt das Trümmerwerk des ehemaligen Wohlstandes über sich zusammenbrechen lassen.

Claudine sah, wie in diesem Augenblick ein tiefes, erleichterndes Aufathmen seine Brust hob. Sie folgte der Richtung seines Blickes – ach ja, dort hob sich das grauschwarze Zinnenviereck des Thurmes über die Waldwipfel! Dort lag das Eulenhaus, das schützende Dach, das sie beherbergen sollte! – Wie hatte man bei Hofe gelächelt, wenn Claudine alle ihre Ersparnisse hingegeben, um das alte Gemäuer, das Vermächtniß ihrer Großmutter, in Bau und Besserung zu erhalten! Nun kam der Segen.

Sie konnte heimgehen von dem heißen Boden des Hofes in die Kühle und Stille unter grünen Bäumen – und da war sie zu Hause! „Zu Hause!“ wie das doch erlösend und beruhigend klang nach all dem Zwiespalt, den Aufregungen der letzten Monate! – Und der neben ihr saß, er brauchte nicht in eine Miethwohnung zu ziehen; er blieb auf Gerold’schem Grund und Boden, wenn auch nur in einem Waldwinkel, dem äußersten Zipfelchen des ehemaligen großen Besitzthums. Da hatte einst das Kloster Walpurgiszella gestanden, hart an der Scheide, welche die beiden Geroldshöfe trennte. Das Kloster wurde von einer frommen, schwergeprüften Ahnenmutter des alten Geschlechts erbaut, aber im Bauernkrieg zum Theil wieder zerstört; dann hatten die Gerolds den von ihnen an die Stifterin geschenkten Baugrund wieder zurück erworben, und der kleinere Theil, das Grundstück mit den Ueberresten der Baulichkeiten, war Denen von Neuhaus zugefallen. Sie hatten den Trümmern nie Beachtung geschenkt; was stürzen wollte, das ließen sie stürzen, und Zeitenlauf und Wetter hatten nagen und abbröckeln dürfen, so viel sie gewollt. Nur ein Seitenbau, das ehemalige sogenannte Sprachhaus der Nonnen, welches vom Feuer ziemlich verschont geblieben, war nothdürftig im Stand erhalten worden – man hatte einen Waldhüter hineingesetzt. Im Ganzen aber war der entlegene wüste Besitz den Eigenthümern mehr eine Last gewesen, und sie hatten sich deßhalb nicht lange besonnen, dasselbe später einem Altensteiner, dem Großvater des letzten Gerold-Altenstein, gegen ein ihnen bequemer gelegnes Stück Ackerland zu überlassen. „Eine lächerlich romantische Grille!“ hatten sie im Stillen gemeint, als ihnen der Altensteiner mitgetheilt, daß seine Frau sich das malerische Fleckchen Erde wünsche. Und er hatte es dem geliebten Weibe als alleiniges Eigenthum verbrieft und besiegelt geschenkt – so war das Eulenhaus an Claudinens Großmama gekommen.

Nun kam auch schon das hoch in die Lüfte ragende, freistehende südliche Portal der einstigen Klosterkirche in Sicht. Das mächtige Fensterrund droben in dem schwarz angerauchten Gemäuer füllte eine durchbrochene Steinrosette. Wie ein Spinnennetz, so zart verschlungen hoben sich die steinernen Fäden von dem dahinter leuchtenden jungen Maigrün der Wipfel. Ja, die Großmama hatte einst ihre ganze Sparbüchse geleert, um ihr geliebtes „malerisches Fleckchen Erde“ vor weiterem Verfall zu schützen. Von der Kirchenruine löste sich seit Jahren kein Stein mehr, und das ehemalige Sprachhaus war mit der Zeit ein ganz wohnliches Asyl, der Wittwensitz der alten Frau geworden. Da hatte sie gelebt, seitdem ihr Mann die Augen für immer geschlossen, und die schönsten Blumen gezogen auf dem ehemals wüsten, vermoosten Grunde neben der Kirche, dem Gräberfeld der Nonnen, dem Walpurgiskirchhof, wie ihn das Volk nannte.

Der alte Heinemann, der langjährige Gärtner des Geroldshofes, war ihr Faktotum gewesen. Er hatte unter unsäglichen Mühen das verwahrloste Grundstück wieder ertragsfähig gemacht; ein wohlgerathenes Kind hätte ihn nicht mehr beglücken können, als dieser dankbare Erdenfleck. Der alte Mann war deßhalb auch mit seiner Herrin gegangen, als sie sich in das Eulenhaus zurückgezogen, und bewohnte heute noch sein Stübchen im Erdgeschoß, als eine Art Kastellan, wie es die alte Dame testamentarisch angeordnet. Und er wachte über jeden Mauerstein, der loszubröckeln drohte, über jeden Unkrautkeim, den der Wind von Wald und Wiesen herüberwehte – „wie ein Cerberus – er zählt die Grasspitzen!“ sagte Fräulein Lindenmeyer, die ehemalige Kammerfrau der verstorbenen Herrin. Auch ihr war ein Asyl im Eulenhaus für Lebenszeit zugesichert worden. Sie bewohnte das vornehmste Zimmer im Erdgeschoß, die freundliche Eckstube, wo sie mit ihrem Strickzeug und einem Leihbibliothekenroman Tag für Tag am Fenster sitzen und die drüben vorbeilaufende Chaussee überblicken konnte.

Diese zwei alten Menschen hausten einträchtig neben einander. Sie kochten auf einem Herd und zankten sich nie, wenn auch Fräulein Lindenmeyer oft genug heimlich indignirt ihre Chokoladen- und Weinsuppentöpfchen von dem aufdringlich duftenden Sauerkraut- oder Lauchgericht des Gärtners weit wegrückte.

Claudine hatte den beiden Alten ihre und ihres Bruders Ankunft mitgetheilt und sah nun mit Genugthuung dort über den Baumwipfeln ein dünnes Rauchsäulchen aufsteigen und langsam zerfließen. Fräulein Lindenmeyer kochte jedenfalls einen guten Nachmittagskaffee und machte den „armen Hiob“ die letzte Kartoffelsuppe auf dem unheimisch gewordenen Geroldshofe vergessen … Fernherüber krähte der Haushahn, der mit seinen sechs Hennen in einem Mauerwinkel des zerstörten Kreuzganges residirte, und hoch über dem Rauchschleier des Schornsteins kreisten Heinemann’s weiße Tauben, winzig und glänzend wie Silberflitter am blauen Frühlingshimmel.

[23] Nunmehr machte die Chausseelinie eine weite Schwenkung nach rechts, und da trat allmählich das ruinengeschmückte, kleine Wiesen- und Garteneiland aus dem Waldschatten hervor. – Dort lag das aus Bruchsteinen erbaute enge Haus, das einst der Brandfackel der rebellischen Bauern tapfer widerstanden, das Gemäuer rauh und rauchgeschwärzt und von einem Netz frischer Mörteladern förmlich übersponnen. Ein Adelssitz war das freilich nicht, und die grauen Röcke der in die Kirchenruinen zurückgedrängten Eulenbrut hatten jedenfalls immer besser hineingepaßt als lange Hofdamenschleppen. Immerhin! Es war trotz alledem ein gemüthliches Nest für genügsame Menschenkinder; es lag mitten im schwellenden Grün, und seine neuen Fenster mit ihren sauberen Rollgardinen saßen in der uralten Physiognomie wie junge, blanke Augen.

„Just in der allerschönsten Zeit, gnädiges Fräulein!“ sagte Heinemann, den Wagenschlag öffnend. „Die Beete noch dick voll Narcissen und Tulipanen und die Bauernrosen mit Köpfen zum Aufplatzen; und dazu laufen die Kinder schon mit Maiblumensträußchen im Walde ’rum!“

Er war bei Herankommen des Wagens bis auf die Chaussee herausgelaufen. Barhäuptig, den vollen, heißen Nachmittagssonnenschein auf seinem starren, graugelben Haarwust, half er den Ankommenden beim Aussteigen.

„Ja gelt, da riecht’s gut, kleines Fräulein?“ lachte er, indem er die kleine Elisabeth aus dem Wagen hob und für einen Moment auf dem Arm behielt. Das Kind sog mit sichtlichem Wohlbehagen die herüberwehende Luft ein. „Alles eitel Duft, Alles ein Blühen, wohin der Mensch guckt, Kindchen! Ja, der liebe Herrgott meint es gar gut mit dem alten Heinemann!“

Er hatte Recht. Ein wahres Gewoge von Narcissendüften und dem berauschenden Odem aus tausendfältigen Kelchen des persischen Flieders erfüllte die Luft.

„Wollen wir nun zu Fräulein Lindenmeyer gehen?“ fragte er die Kleine mit lustigem Augenzwinkern und einem breiten Schmunzeln um den dicken, strohernen Schnurrbart. „Dort steht sie mit ihrem allerschönsten Bandwerk auf dem Kopfe! Hat den ganzen Morgen Kuchen eingemengt und kein einziges Ei im Hause heil und ganz gelassen.“

Claudine ging lächelnd an ihm vorüber nach der Thür im Stacketenzaun, wo zwischen zwei den Eingang flankirenden Eibenbäumchen der altmodische Kopfputz von granatrothen Bändern auf Fräulein Lindenmeyer’s grauen Scheitelpuffen sichtbar wurde.

Dieses gute, alte Mädchen hatte bei dergleichen Gelegenheiten stets ein feierliches Citat aus Schiller oder Goethe in Bereitschaft. Heute aber zitterten ihre eingefallenen Lippen im Ringen mit der inneren Bewegung – kam doch der schöne, edle Mann da, ihr Stolz, der ehemalige Herr auf dem schönsten Gute weit und breit, und suchte Zuflucht – im Eulenhaus!

Aber er nahm heiter gelassen ihre bebende kleine Rechte, die eben das Batisttüchelchen an die geängstigten nassen Augen drücken wollte, mit warmem Druck zwischen seine Hände.

„Ich möchte wissen, ob Fräulein Lindenmeyer mich immer noch so gut versteht und vertritt wie einst, wenn es galt, dem blöden Jungen etwas Gutes bei der Großmama zu erwirken?“ sagte er in sanft scherzendem Ton, wobei er sich tief bückte, um in ihr Gesicht zu sehen.

Da strahlten ihre Augen auf. „Ei, nun ja, ich denke doch!“ antwortete sie wie verschämt und doch mit triumphirender Bestimmtheit. „Die Glockenstube ist hergerichtet! – Ach ja, himmlisch schön ist’s da oben! Ein richtiges Poetenwinkelchen! Welche fühlende Seele sollte das nicht verstehen?“

Er lächelte und drückte nochmals ihre Hand, während sein aufleuchtender Blick über den Garten hinflog. Dem südlichen Portal der Kirchenruine entgegengesetzt und in gleicher Frontstellung mit dem ehemaligen Sprachhaus, wenn auch ziemlich weit abgerückt, erhob sich der Glockenthurm der Klosterkirche. Brand, Sturm und Wetter hatten den einst hoch und spitz in den Himmel hineinragenden, stolzen Bau allmählich zum stumpfen Thurm degradirt. Bis zur Glockenstube herab war er zerfallen gewesen, bis die aufbessernde Hand des Maurers der Verwüstung Einhalt geboten. Die verstorbene Besitzerin hatte Thurm und Wohnhaus durch einen kleinen Zwischenbau verbunden, der im Erdgeschoß zu einem Winteraufenthalt der Pflanzen eingerichtet war, im oberen Stock aber eine auf beiden freien Seiten von einem Geländer eingefaßte Plattform bildete, zu welcher sowohl von den Zimmern des Wohnhauses wie der gegenüberliegenden unteren Thurmstube Glasthüren führten. Ueber Alles hinweg aber blinkten hoch oben die Fenster der Glockenstube, die ihren Namen behalten hatte.

Und nun hinein in den letzten Zufluchtsort der Verarmten!

Während Heinemann Koffer und Korb vom Wagen hob, schritten die Anderen dem Hause zu. Einen Moment blieb Claudine allein vor der Hausthür stehen; sie bog sich zur Seite, anscheinend um den Duft einer ihre Schulter streifenden Syringenblüthe einzuathmen, aber ihre Gedanken irrten weit ab … Ueber diese Schwelle war sie vor drei Jahren hinausgegangen in eine Welt voll Glanz und rauschender Freuden. Sie war auf Großmamas Wunsch und Fürbitte hin Hofdame bei der Herzogin-Wittwe geworden. Leicht war es ihr nicht geworden, diese Stellung, die vielbeneidete, wieder aufzugeben – nein, wahrlich nicht! – Ihr abwesender Blick umschleierte sich und die Lippen zuckten. Sie war der ausgesprochene Liebling ihrer hohen Herrin gewesen und die edle Frau hatte sie insgeheim vor ihren Neidern und stillen Feinden zu schützen gewußt; so hatte sie fast nur die strahlende Seite des Hoflebens kennen gelernt. Nun lag das hinter ihr auf Nimmerwiederkehr, und ein tiefes Sehnsuchtsweh nach der milden, sanften Greisin, der sie gedient, brannte ihr jetzt schon im Herzen … Und leicht war es wohl auch nicht, das neue Leben, das sie sich vorgeschrieben. Dem Kinde ihres Bruders eine treue Mutter zu sein, für ihn die Lebenssorgen auf die Schultern zu nehmen und mit jedem Pfennig ängstlich zu rechnen, auf daß nicht doch die Noth durch das Eulenhaus schleiche – das wollte sie wagen, sie, die Unwissende, die Unerfahrene in alle dem, was des Lebens Nahrung und Nothdurft erheischte? – Aber mußte es nicht sein, wie ja auch ihr rasches Scheiden vom Hof hatte sein müssen?

Sie legte die Hand auf das ängstlich klopfende Herz und schritt langsam über die Schwelle und die enge, aber blüthenweiß gescheuerte Holztreppe hinauf. Als sie aber in das zunächst liegende ehemalige Wohnzimmer der Großmama trat, da athmete sie tief und erleichtert auf und sagte sich, daß es sündhafte Charakterschwäche sei, hier den Muth sinken zu lassen, hier, wo die stille genügsame Lebensführung einer milden und doch energischen Frauenseele aus jedem Stück der Einrichtung sprach, wo die lieben, alten Bilder guter Menschen traulich von den Wänden grüßten … Am Hofe hatten freilich deckenhohe Spiegel und Seidentapeten die Wände ihres Salons geschmückt; ihr Fuß war tief in den sammetweichen Teppich eingesunken, und ein reichgeschnitzter Baldachin mit niederrauschenden Seidenvorhängen hatte ihre Lagerstätte im anstoßenden Zimmer beschirmt. Aber dieselben venetianischen Glasflächen hatten schon die Gestalt ihrer Vorgängerin zurückgeworfen, derselbe Baldachin ihren Schlaf behütet und in den nächsten Tagen zog schon eine Nachfolgerin in dieselben schönen Räume – sie waren ja nur geliehen. Das aber, wo sie jetzt stand und Hut und Reisemantel ablegte, um dazubleiben, das war ihr Eigenthum, ihr Heim mit den einfachen, bequemen Möbeln, dem altväterischen Bücherschrein und dem unmodernen Geschirrschrank, der das Zinn und Porcellan der Großmama enthielt. Die kleine Elisabeth kam ihr mit einem Stück Kuchen in der Hand freudestrahlend entgegen; auf dem Sofatisch dampfte Großmamas messingene Kaffeemaschine; die Thür nach der Plattform des Zwischenbaues stand weit offen und ließ die Blumendüfte des Gartens hereinströmen, und jenseit dieser nur wenige Schritte langen Plattform sah man durch die schmale Glasthür in das untere Thurmzimmer, ihr ehemaliges Logirstübchen während der Institutsferien, die sie stets bei der Großmama verlebt hatte. Mehr aber noch als dieses traute Wiedersehen beruhigte und ermuthigte sie ein Blick auf ihren Bruder. Er hatte sich so elastisch aufgerichtet, als habe er eine Centnerlast von sich geworfen, und als sie später mit ihm hinaufging in die Glockenstube und er sein Manuskript auf die Wachstuchdecke eines einfachen Tisches am Fenster legte, da sagte er: „Es ist ein abgebrauchtes Bild, aber sein zutreffender Sinn bewegt mich tief in diesem Augenblick – mir ist zu Muthe wie Einem, der nach stürmischer Meerfahrt den Heimathboden betritt und niedersinken möchte, um ihn dankbar zu küssen!“



[24] Zwei Wochen waren seitdem verstrichen, Tage voll Mühe und Arbeit, aber auch voll befriedigenden Lohnes. – Ja, es ging, wenn auch da und dort ein Brandfleck die neuangeschafften Kochschürzen verunzierte, einige Geschirrscherben den Spruch vom Lehrgeld bewahrheiteten und die weichen Hände der neugebackenen Köchin immer noch recht empfindlich waren gegen rauhe Berührung. Fräulein Lindenmeyer’s gutmüthig angebotene Hilfe hatte Claudine schon am ersten Tage entschieden abgelehnt. Das schmächtige, kränkliche Geschöpfchen stand auf sehr schwachen Füßen und bedurfte oft selbst der Pflege. Dafür aber war Heinemann eine tüchtige Stütze, er ließ es sich durchaus nicht nehmen, alle gröberen Arbeiten zu besorgen.

So war allmählich die neue Haushaltung ins Geleise gekommen, und heute zum ersten Mal fand Claudine einen freien Augenblick, um auf die Zinne des Thurmes hinaufzusteigen. Die Morgensonne lag auf dem Scheitel des alten Burschen, dessen eherne Zungen, die mächtig über den Wald hintönenden Glocken, einst von gewaltthätigen Bauernfäusten zerberstend in die Tiefe hinabgeschleudert worden waren. Heute hatte er sich mit gelben Mauerblümchen besteckt, die aus allen Ritzen und Fugen dem Tageslicht zustrebten und so altersmürrisch er auch sonst aussah, er beherbergte doch noch gern und willig junges, aufwachsendes Leben – das Vogelvolk brütete unter seinen Simsen und Mauervorsprüngen und fand des Piepsens und Zwitscherns kein Ende. Und vom Garten herauf und von den harztriefenden Fichten her, die ihre schaukelnden dunklen Bärte wie Trauerfahnen in die Ruinen des Kirchenschiffes hineinhängen ließen, kam ein traumhaftes Summen – schier unersättlich umtaumelten Heinemann’s Bienen und das wilde Hummelgesindel des Waldes den süßen Saft, den Prinz Mai aus Blüthenbechern schänkt.

Ueber ihr stand der blaue Aether, den nur dann und wann noch ein kühner Vogelflügel durchschnitt, wie zu Krystall erstarrt, hoch wie der Gottesgedanke über menschlichem Dichten und Trachten, unnahbar hoch über der Erde mit ihrem blühenden Werden und modernden Welken – dort drüben aber, am fernen Horizonte, troff sein Blau doch wieder auf den welligen Bergrücken und schmolz mit ihm zusammen … Dort weitete sich das Paulinenthal zur ebenen Fläche, die erst in weiter Ferne wieder jener blaubehauchte Höhenzug abschloß. Auf dem flachen Lande lag es wie feine, durchgoldete Nebelschleier. Sie deckten das Herzogsschloß; Nichts war zu sehen von seinem stolzen hochgelegenen Bau, seinen purpurbeflaggten Thürmen und marmornen Freitreppen, zu deren Füßen die Schwäne segelten und silberglitzernde Furchen durch den Teichspiegel zogen, Nichts von dem Magnolien- und Orangendickicht der überglasten Zaubergärten, die mit ihrem düfteschweren Odem das Blut in den Schläfen pochen machten und das Herz angstvoll beklemmten, Nichts von den thürhohen, spiegelnden Fenstern, hinter denen eine junge Frau, ein Königskind, schlank und schneebleich, hüstelnd auf- und abschwankte und nach einem Blick aus den dunkelschönen Augen strebte, die mit heißem Flehen – eine Andere suchten. …

Claudine trat hastig von der Brustwehr zurück, sie war erblaßt bis in die Lippen. War sie deßhalb heraufgestiegen in den kühlen blauen Himmel, um sich von dem schwülen, ängstlich geflohenen Odem dort drüben her anwehen zu lassen? Ja, wie dort am Horizonte machten sich auch Himmel und Erde in der Menschenbrust! – –

Sie wandte den Blick weg von jener sonnenbeschienenen Weite und ließ ihn nordwärts in die Runde schweifen. – Wald, nichts als grüner Wald, wohin sie sah! Nur dort, wo der breite Fahrweg die Wipfel aus einander drängte, lag in äußerster Perspektive wie ein kleines Bild das Neuhäuser Gutshaus; seine fensterreiche Façade trat hell aus dem dämmernden Lindenkreise. Dort wehte eine rauhe, strenge, aber reine Luft unter Beatens Regiment. … Seit lange herrschte Spannung zwischen den beiden Geroldshöfen. Der Neuhäuser hatte öffentlich scharf über die „gottheillose“ Spielwuth des Obersten geurtheilt, und damit war das Tischtuch zwischen den beiden Familien, die verschiedenemal wieder in einander hineingeheiratet hatten, zerschnitten gewesen. Nicht die geringste Beziehung hatte mehr zwischen ihnen bestanden; Lothar und Joachim, die beiden gleichaltrigen Söhne der entzweiten Familien, waren sich geflissentlich aus dem Wege gegangen, und nur Claudine und Beate, die Zöglinge ein und desselben Institutes, waren sich näher getreten.

Da war es nun allerdings nicht aufgefallen, als sich plötzlich bei Hofe zwei Gerold’s gegenüber standen, die sich gegenseitig fremd und kühl gemustert hatten, Lothar, der elegante, schneidige Officier, und Claudine, die neue Hofdame … Uebermüthig, im stolzen Bewußtsein seines errungenen hohen Zieles, eine glänzende Erscheinung, umschmeichelt und verwöhnt von der gesammten Hofgesellschaft, hatte er ihr sehr imponirt und sie eingeschüchtert. Es war kurz vor seiner Vermählung mit der Prinzessin Katharina, der Kousine des regierenden Herzogs, gewesen. Sie hatte es ihm nicht verargt, daß er auf seiner schwindelnden Höhe über die Tochter der verarmten Hauptlinie seines Geschlechts achtlos hinweggesehen. Diese Linie hatte ja den Glanz des Namens nahezu erlöschen gemacht, während er jetzt den ihm vom Herzog verliehenen Barontitel hinzufügen durfte. Ihr Erscheinen hatte somit gleichsam einen Schatten auf den Weg dieses glänzenden Hofgestirnes geworfen, und dieser Gedanke hatte für sie genügt, mit mimosenhafter Scheu jegliche Berührung mit dem Hochgestiegenen zu vermeiden …

Wie unglaublich schlicht und einfach erschien ihr in diesem Augenblick sein Geburtshaus da drüben neben dem Glanz des Ereignisses, welches der Höhepunkt seines beispiellosen Siegeslaufes gewesen war, neben seiner Vermählungsfeier. Sie sah ihn noch vor sich, wie er zur Seite der Prinzessin, umleuchtet von dem ganzen Glanz des Hofgepränges, an den Altarstufen gestanden. Das schmale Figürchen der Braut, in Spitzen und Atlasbauschen völlig versinkend, hatte sich an seine hohe Gestalt so fest angeschmiegt, als könne er ihr, dessen Besitz sie sich energisch erkämpft, auch hier noch entrissen werden, und mit ihren funkelnden, schwarzen Beerenaugen hatte sie unverwandt, in leidenschaftlicher Zärtlichkeit zu ihm aufgesehen. Und Er? Er war todtenblaß gewesen, und sein bindendes „Ja“ hatte rauh, fast heftig geklungen … Hatte ihn ein Schwindel auf dem Gipfel seines Glücks ergriffen, oder war ihm plötzlich ein Ahnen gekommen, daß er dieses Glück nicht lange besitzen werde, daß sich die liebestrahlenden, schwarzen Augen schon nach einem Jahre für immer schließen würden unter den Pinien und Palmen der Riviera, wohin der Reisewagen die Neuvermählten sofort nach der Trauung entführen sollte? … Ja, dort in ihrer prächtigen Villa war die Prinzessin gestorben, nachdem sie einem Töchterchen das Leben gegeben, und dort lebte der verlassene Mann noch, um das sehr schwächliche Kind in dem milden Klima zu belassen, bis es erstarkt sein würde, wie man sagte; wohl aber auch, weil es ihm schwer werden mochte, den Schauplatz seines kurzen Glückes zu verlassen. In der Heimath war er nicht wieder gewesen, und das stille, einsame Haus dort drüben mochte er schwerlich wieder bewohnen, wenn er auch wieder zurückkam – und das war nur gut und wünschenswerth für die Einsiedler im Eulenhaus und für den süßwohlthuenden Frieden der kleinen Waldoase! –


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 3, S. 37–42

[37] Claudine bog sich lächelnd über die Brustwehr des Thurmes und sah hinab in den Garten, der sich wie ein buntes Schachbrett mit seinen Blumen- und Gemüsebeeten drunten hinbreitete. „Eiapopai!“ sang die kleine Elisabeth. Sie trug ihre Wickelpuppe im rosa Kattunmäntelchen und trabte durch den Mittelweg des Gartens. Heinemann hatte ihr einen Maiblumenstrauß auf das Strohhütchen gesteckt, und Fräulein Lindenmeyer bewachte das kleine, seelenvergnügte Ding von der Laube aus, wo sie für Heinemann Spargelpfeifen pfundweise zusammenband. Der alte Gärtner verkaufte viel Gemüse und Blumen nach der nächsten kleinen Stadt, und der Ertrag gehörte ihm, kraft der testamentarischen Verfügung seiner verstorbenen Herrin.

Er kam eben mit einem Arm voll kleingespaltenen Holzes von den Ruinen her, und drunten durch die offene Glasthür der Wohnstube klang die tiefe Brummstimme der großen Wanduhr herauf und schlug elfmal an – es war Zeit, an den Herd zu treten.

„Arbeit schändet nicht!“ sagte Heinemann bald darauf in der Küche mit einem Seitenblick nach der rußigen Pfanne, welche Claudine auf den Herd stellte. „Nein, ganz und gar nicht, und ein paar Rußfleckchen verschimpfiren feine Finger auch nicht, so wenig wie es an meinen weißen Narcissen kleben bleibt, daß sie aus der schwarzen Erde gekrochen sind. Aber so vom Herzogshofe weg direktement ans Küchenfeuer – just so, als sollten meine schönen Gloxinien auf einmal im Holzstall oder auf dem Hühnerhofe kampiren, ach, die armen Dinger! – Dazu gehört ’was, es würgt mir an der Kehle, wenn ich die Plagerei so mit ansehe … Ja, wenn es noch sein müßte! Aber es muß nicht sein, absolut nicht – das weiß ich besser! … Und Sparen ist auch eine schöne Sache, ei ja! Ich jage ja meine paar Pfennige auch nicht durch die Gurgel, Gott bewahre! Aber alles was recht ist, gnädiges Fräulein!“ Er warf einen schelmischen Blick auf das dünne Butterscheibchen, das Claudine in die Pfanne gelegt hatte, um ein paar Tauben zu braten. „Das ist ja, wie für ’nen Karthäuser!“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, so knapp braucht’s bei uns doch nicht herzugehen, so knapp nicht! … Wir haben mehr, als Sie denken, gnädiges Fräulein!“

Er sagte das Letztere auffallend langsam, mit nachdrücklicher Betonung. Die junge Dame sah mit großen Augen nach ihm hin. „Sie haben wohl einen Schatz gefunden, Heinemann?“ fragte sie lächelnd.

„Je nun, wie man’s nimmt,“ meinte er den Kopf wiegend, und um seine Augenwinkel erschienen zahllose Fältchen, aus denen etwas wie verheimlichtes Glück lachte. „Gold und Silber freilich nicht – du lieber Gott, [38] blind könnte sich der Mensch in dem Trümmerwerk gucken und fände doch nicht das kleinste Flinkerchen! Nein, damit ist’s nichts! Das ist alles der Mordbrennergesellschaft von dazumal an den Fingern hängen geblieben – haben sie doch gar dem Jesukindchen das bischen Goldsachen von seinem Seidenrock gerissen! – Aber muß es denn gerade ein Spartopf oder so ’was wie Silberkannen oder Abendmahlskelche sein? … Sehen Sie, zum Kloster hat einmal viel Land gehört. Von außen her sind Klosterjungfern eingetreten, die Hab und Gut, meist liegende Gründe, mit eingebracht haben, und das ist alles zu Klosterhöfen gemacht worden. Da hat’s Zehnten an Korn, Federvieh, Honig und Gott weiß was noch, die schwere Menge gegeben, und die Klosterhöfe sind gut bewirthschaftet worden. Dazumal ist hier in dem Trümmerwerk Milch und Honig geflossen, wie im Lande Kanaan, und sollen es die Nonnen gar gut verstanden haben, aus den schönen Sachen genug bare Batzen zu schlagen. Gar manchmal haben da die Frachtwagen vor dem Kloster gestanden und Fässer und Kisten in die Welt ’nausgefahren … Ja, dumm sind die Frauenzimmerchen von dazumal nicht gewesen, dumm gar nicht! – Heide, Himbeeren und Heidelbeeren, das beste Bienenfutter, hat’s hier und auf den Klosterhöfen genug und übergenug gegeben, und da haben sie eine Bienenzucht gehabt, wie in unserer Zeit kaum die großen Güter in Ungarn. Na ja – und da bin ich gestern Abend unten im Keller; ich hatte schon lange ein paar wackelige Steine an der Mauer gesehen; aber im Frühjahr giebt’s immer viel zu thun, und dazu kam die Räumerei und das Reinmachen im oberen Stockwerk, und da verschob ich die Flickerei von einem Tag zu dem anderen. Gestern aber dachte ich doch, ich müßte mich schämen, und Sie hielten mich für einen liederlichen Hausverwalter, wenn Sie das sähen, und da hole ich mir gleich Kelle und Mörtelgelte. Wie ich aber den ersten wackeligen Stein anfasse, Herr meines Lebens, da wird es doch ordentlich lebendig unter meinen Fingern! Es rückt und wankt – kein Wunder, ist’s doch auch nur in der Angst und Flucht gemacht gewesen – und ehe ich mich recht versehe, ist das liederliche Mauerwerk zusammengeprasselt, und ich gucke in ein mannshohes Höhlenloch – ja, in ein Gewölbe, von dem kein Erdenmensch mehr ’was gewußt hat! Und was war drin? – Wachs!“

Er hielt einen Augenblick inne, als schwelge er noch in der Erinnerung an den Fund. „Ja, Wachs, schönes, reines, gelbes Wachs,“ wiederholte er, jedes Wort schwer betonend, „Scheibe an Scheibe, ein ganzer, sommertrockener Keller voll, der gerade unter dem Thurm liegt!“ Er schüttelte den Kopf. „Die reine Wundergeschichte! – Ich alter Kerl lese noch für mein Leben gern so Zaubermärchen, wie ‚Tausend und eine Nacht‘, und da ist mir doch seit gestern zu Muthe, als hätte ich selber in so einen Berg Sesam geguckt; denn was da unten liegt, das ist auch so gut wie ein Kasten voll Baargeld. – Die Nonnen müssen lange Jahre d’ran gesammelt und gespart haben, lange Jahre! Es sind viele, viele Centner – und sie haben wohl am besten gewußt, was die ganze Pastete werth ist; sonst hätten sie nicht zugemauert, ehe sie auf und davon sind! Und weiß ich’s denn nicht auch? Bin ja selbst Bienenvater und verkaufe, was das fleißige Völkchen in meine Stöcke schleppt.“

Claudine hatte das Küchengeräth in ihrer Hand unwillkürlich beiseite gestellt und folgte sichtlich gespannt der lebendigen Schilderung. Ueber das gute, breite, brave Gesicht des alten Mannes huschten Freude, Stolz auf die Entdeckung und Schelmerei wie in wechselnden Lichtern. „Ja, ja, so ein paar tausend Thälerchen sind’s ganz gewiß!“ sagte er nach einem tiefen Athemholen mit lustigem Augenblinzeln. „Hm, so ein bischen Heirathsgut, das die Nonnenseelchen, die ja noch umgehen sollen, ganz extra für unser gnädiges Fräulein behütet und aufgehoben haben.“

Die schöne Hofdame mußte lachen. „Ich glaube nicht, daß wir uns den Fund so ohne Weiteres aneignen dürfen, Heinemann“, sagte sie dann ernst und kopfschüttelnd. „Die vorherigen Besitzer haben ohne Zweifel dieselben Rechte.“

Der alte Gärtner sah plötzlich ganz betreten und erschrocken drein. „I, die werden doch nicht –?“ meinte er mit stockendem Athem. „Na, weiß Gott, das wär’ doch Sünd’ und Schande! Der Neuhäuser da drüben, dem fürstliches Hab und Gut nur so in die Tasche gefallen ist, der müßte sich ja doch eher alle zehn Finger abbeißen, als daß er sich an dem bischen Armuth vergriffe! … Freilich“ – er zuckte die Achseln mit niedergeschlagener Miene – „wer kann’s wissen! So manche von den Herren können nie genug kriegen; das erlebt man alle Tage, und da kann’s immer sein, daß der Herr Baron die Hand hinhält und nicht ‚Nein‘ sagt, wenn’s zum Treffen kommt. O je“ – er kratzte sich voll Aerger hinter dem Ohr – „da hätt’ ich auch eher an des Himmels Einsturz gedacht, als daß uns die von Neuhaus noch ein Querholz zwischen die Füße werfen könnten! – Da heißt’s nun abwarten und zusehen, wie Einem vielleicht die Butter vom Brote genommen wird.“ Er seufzte und ging nach der Thür. „Aber ansehen müssen Sie sich die Geschichte doch einmal, gnädiges Fräulein! Ich gehe jetzt hinunter und räume die letzten paar Steine weg, die noch im Wege liegen – muß auch erst einmal probiren, ob auch über dem Kopfe Alles in Ordnung ist, damit kein Unglück passirt – und nachher kann’s losgehen!“

Bald darauf stieg Claudine in seiner und ihres Bruders Begleitung in den Keller hinab.

Es war ein schönes, kühles, trockenes Gewölbe, auf welches der Schein der Laterne in Heinemann’s Hand fiel. – Ja, das waren noch Mauern aus jener Zeit, wo das Bauen kein großes Loch in den adeligen Säckel riß, wo der Bauer im Frohndienst das Baumaterial aus den Steinbrüchen und Kalkgruben herbeischleppen mußte – glatte, festgefügte, klafterdicke Mauern, die keine Spur von Erdenfeuchtigkeit durchdringen ließen. Da war es freilich kein Wunder, daß die Wachsschätze der Nonnen noch so da lagen, wie sie die längstzerstäubten Hände aufgeschichtet. … Ja, da reihte sich Scheibe an Scheibe, die Rinde wohl altersbräunlich gefärbt, aber an der Bruchfläche noch so schön gelb und frisch, wie eben aus dem Schmelz- und Reinigungsproceß hervorgegangen.

„So gut wie gemünztes Gold!“ sagte Heinemann, mit ausgestrecktem Arm über die rings an den Wänden aufgestapelten Wachsscheiben hinzeigend. „Und das Alles haben die kleinen Dinger in gelben Höschen zusammengeschleppt.“

„Und die Kelche, aus denen sie den Blüthenstaub geholt, haben vor Jahrhunderten geblüht,“ ergänzte Herr von Gerold bewegt. „Hätte ich über den Fund zu verfügen, so dürfte mir kein Finger daran rühren.“

„Ei bei Leibe!“ protestirte der alte Gärtner ganz erschrocken.

„Wenn auch kein Griffel irgend welche Gedankenzeichen auf den Scheiben verewigt hat, wie wir sie auf den Wachstäfelchen der Alten finden, so spricht doch hier ein ganzes Stück eingefangenen Klosterlebens zu uns,“ setzte Herr von Gerold hinzu, achtlos über den Einwurf hinweggehend. „Was mag wohl durch die Seelen der Klosterfrauen gegangen sein, während ihre fleißigen Hände das, was die summenden Honigträgerinnen von draußen aus der blühenden, sündhaft schönen Welt über die Mauern getragen, in die Form gebracht haben, wie sie hier vor uns liegt! An was mögen sie gedacht haben –“

„Mit Erlaubniß, gnädiger Herr, das kann ich Ihnen ganz genau sagen – an die vielen Batzen haben sie gedacht, die drin stecken, an sonst nichts!“ entgegnete Heinemann in ehrerbietigem, treuherzigem Ton, aber so verschmitzt blinzelnd, daß Herr von Gerold lachen mußte. „In den Klöstern sind sie zu allen Zeiten auf das Zusammenscharren versessen gewesen; man muß das nur in den alten Schriften lesen, da steht’s haarklein, was für lange Fingerchen die frommen Jungfern nach allem gemacht haben, was sich irgend hat erwischen lassen. Den letzten Sparpfennig und das letzte Aeckerchen haben sie sich für ihr Beten von den armen Seelen verschreiben lassen, die mit Angst und Zähneklappern aus der Welt gegangen sind. Es ist dazumal nicht anders gewesen, als heute noch – der Mensch nimmt’s, wo er’s kriegen kann – na, dafür ist er eben auch nur eine Erdenkreatur, und der soll noch geboren werden, der die Engelsflügel schon in unser Zeitliches mitbringt. Nur sollten sich die guten Leute nicht so mausig machen und dabei thun, als wollten sie dem lieben Gott die Füße abbeißen und hätten nichts als die pure Heiligkeit und Gottseligkeit auch inwendig.“

Er ließ das Licht seiner Laterne über alle Wände hinspielen. „Was das für ein schöner Keller ist! Da ist auch nicht eine Spur von der Feuersbrunst zu sehen, die doch sonst überall so fürchterlich gehaust hat. Den Keller können wir brauchen, gnädiges Fräulein. Alles andere Unterirdische ist ja total verschüttet, bis auf das klägliche Winkelchen da“ – er zeigte nach dem anstoßenden kleinen Kellerraum unter dem Wohnhause – „wo kaum Platz für [39] unsere paar Kartoffeln ist. Und deshalb muß die Pastete ’raus, gnädiges Fräulein, muß so bald wie möglich an die Luft!“

„Das geht nicht, lieber Heinemann,“ entschied Claudine. „Der Fund muß unberührt an Ort und Stelle bleiben, bis die von Neuhaus einen Einblick gehabt haben. – Willst Du an Lothar schreiben?“ wandte sie sich an ihren Bruder.

„Ich?!“ rief er mit einer Art komischen Entsetzens aus. „Liebes Herz, alles was Du willst – nur das nicht! Du weißt –“

„Ja, ich weiß,“ sagte sie lächelnd. „Und ich mag mit dem Herrn Baron auf Neuhaus auch nichts zu schaffen haben … Ich werde die Angelegenheit in Beatens Hände legen. Mag sie selbst kommen oder einen Bevollmächtigten schicken.“

Herr von Gerold nickte. „Schaden kann es nicht, wenn die in Neuhaus benachrichtigt werden,“ sagte er. „Die Welt ist schlimm; man wird von dem Funde hören, ihn vielleicht verzehnfachen und schließlich von Verheimlichung und dergleichen munkeln. Auf mein Schwesterchen darf aber kein solcher Schatten fallen. Lothar wird übrigens denken wie ich. Der Wachsschatz der Nonnen ist längst herrenloses Gut geworden und gehört dem, auf dessen Grund und Boden er gefunden wird – notabene, nach römischem und gemeinem Recht nur zur Hälfte; denn der andere Theil steht demjenigen zu, der den Schatz zufällig findet, und das ist unser Heinemann.“

Der alte Gärtner prallte zurück und streckte so erschrocken abwehrend die Hände aus, als solle er geschlagen werden. „Mir altem Kerl? Mir fiele die Hälfte zu von dem, was auf Geroldschem Grund und Boden liegt? I, das wäre ja eine schöne Mode! Was kann ich denn dafür, wenn die wackligen Steine aus der Mauer fallen? Ist da etwa ein Verdienst dabei? Und brauche ich vielleicht den Mammon?“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe genug und übergenug zu leben bis an mein seliges Ende – Sorgen kenne ich nicht, und das verdanke ich meiner seligen gnädigen Frau … Nein, damit dürfen Sie mir nicht kommen, gnädiger Herr, damit nicht! … Nicht ein Bröckchen, nicht so viel, daß man einen Zwirnsfaden damit wichsen kann, nehme ich von dem Zeug da! – Aber ich sage nun auch, gut ist’s, gleich vor die rechte Schmiede zu gehen. Mag doch Einer herüberkommen und die Nase hineinstecken, da giebt’s nachher kein dummes Gerede!“




Am Nachmittag des anderen Tages schritt Claudine durch den Wald nach dem Neuhäuser Geroldshofe. Sie wollte selbst mit Beate sprechen. Sie hatte den schmalen Fußweg gewählt, der nach verschiedenen Krümmungen auf die breite, in der Nähe des Altensteiner Geroldshofes von der Chaussee abzweigende Fahrstraße mündete.

Es war ein beträchtliches Stück Weges, das sie zurücklegen mußte; aber sie ging auf weichem Moos und Gräsern wie auf Sammet, und über ihr dunkelte das festverwachsene, von kräftigem Grün strotzende Geäst der Baumriesen. Sie selbst, der schöne Schwan der Gerold’s, wie ihr Bruder sie zärtlich und enthusiastisch nannte, wandelte in ihrem hellen Sommerkleid, mit dem weißen Strohhut über der Stirn, wie ein Lichtschein durch das köstlich kühle, grüne Dämmern, das sie umfing, bis sie die Fahrstraße betrat. Von da ging es ganz allmählich bergauf in lichter werdendem Gehölz, dann an Kleeäckern und Kornbreiten vorüber, durch das ganze, weithingebreitete, segentriefende Mustergelände.

Unwillkürlich bückte sie sich, um eine Handvoll Butterblumen zu pflücken, die wie Goldaugen aus dem fetten Wiesengrase leuchteten. – Nicht lange, da blinkten auch die Fensterreihen des Gutshauses auf. Es lag auf einer sanften Bodenerhebung; kurzgehalten, sammetartig legte sich der Rasen über die Abhänge; hier war er lediglich Schmuck und nicht der Oekonomie dienstbar.

Claudine stieg einen der schmalen Wege hinauf, die den Rasen durchschnitten. Sie ging mit gesenkter Stirn und sah erst auf, als sie den Kies unter den Linden an der Westseite des Hauses betrat; und da schrak sie zusammen und hielt einen Moment unangenehm betroffen und unschlüssig den Schritt an – Neuhaus hatte Gäste.

Eine Dame, die offenbar promenirend im Lindenschatten auf- und abgegangen war, trat ihr entgegen, eine stattliche Erscheinung mit sehr weißem Gesicht und südlich flammenden, dunklen Augen. Ihre elegante, grauseidene Schleppe fegte den Kies, und in dem Kamme der ihre vollen Haarsträhne hoch auf dem Scheitel zusammenhielt, blitzten bei jeder Wendung farbige Steine auf. Sie trug ein Kind auf dem Arme, ein hageres, gelbes Geschöpfchen in weißem Tragkleid, dessen Spitzenkanten nahezu den Boden streiften.

Claudinens Blick hing wie festgebannt an dem Kindergesichtchen. Sie kannte diese großen, funkelnden Beerenaugen, das gebogene Näschen über den starkgeschwellten Lippen, die niedere Stirn, auf welcher sich die dicken, schwarzen, feuchtglänzenden Haare so eigenwillig aufsträubten – das war der Gesichtstypus der Seitenlinie des herzoglichen Hauses.

„Will haben!“ stammelte die Kleine und reichte verlangend nach den Butterblumen in Claudinens Hand.

Die junge Dame wollte ihr freundlich lächelnd den Strauß in das ausgestreckte Händchen drücken; aber die Trägerin des Kindes wich so rasch zurück, als sei die beabsichtigte Berührung ansteckend. „O bitte – nicht! Ich kann das nicht erlauben!“ protestirte sie, und ihr Blick streifte hochmüthig den einfachen Anzug der jungen Dame. Diese Frau hatte etwas entschieden Feindseliges in ihren brennenden Augen.

Bei dieser Weigerung erhob das Kind ein ohrzerreißendes Geschrei.

Im gleichen Augenblick bog ein Herr um die Hausecke. „Weshalb schreit denn die Kleine so häßlich?“ rief er, rasch näherkommend, mit hörbarem Unwillen.

Claudine nahm unwillkürlich die kühl ablehnende Haltung an, die ihr am Hofe Schild und Panzer gewesen war. – Baron Lothar war nach Deutschland zurückgekehrt, und das kleine, eigensinnige Mädchen da war sein Kind.

„Will haben!“ wiederholte die Kleine in ihr Geschrei hinein und zeigte nach den Blumen.

Baron Lothar drohte ihr ernst mit dem Finger, worauf sie scheu verstummte. Eine jähe Gluth war in sein bärtiges Gesicht geschossen, und aus seinen Augen fuhr ein Blitz über die ernstruhige Erscheinung der ehemaligen Hofdame. Nichtsdestoweniger verbeugte er sich tief und ritterlich vor ihr.

„Kind,“ sagte er spöttisch lächelnd zu der Kleinen, während er ihr mit seinem Taschentuch die Thränen von dem hageren Gesichtchen wischte, „wer wird Blumen begehren, die Andere pflücken! Und weißt Du nicht, daß Frauenhand da am liebsten verweigert, wo gewünscht wird?“

Claudine sah ihm, diesem verzogenen, vergötterten Liebling aller Damen, mit ungläubigem Erstaunen in das Gesicht; aber sie blieb seiner scharfen Bemerkung gegenüber vollkommen unbefangen. „Durch mich soll das Kindchen da diese erste schlimme Erfahrung gewiß nicht machen,“ entgegnete sie sanft gelassen. „Auch habe ich kaum ein Recht an diesen Blumen – sie sind auf Ihrer Wiese gewachsen … Erlauben Sie jetzt –?“ wandte sie sich an die Trägerin des kleinen Mädchens.

Baron Lothar drehte sich rasch um und fixirte die stattliche Dame mit einem zornig erstaunten Blicke. „Jetzt?“ wiederholte er. „Wie so?“ –

„Ich fürchtete, Leonie möchte die Blumen in den Mund stecken,“ antwortete die Dame stockend. Verlegenheit und Aerger stritten in ihrer Stimme.

Er verzog die Lippen in verletzender Geringschätzung. „Und die Wiesenblumen, die unbarmherzig zerzupft dort massenhaft neben dem Kinderwagen und auf seinen Decken liegen, wer hat ihr die gegeben, Frau von Berg?“

Die Dame schwieg und wandte den Kopf.

Claudine beeilte sich, dem Kind den Strauß hinzureichen; denn die Scene wurde peinlich. In demselben Augenblick waren aber auch die zwei kleinen Fäuste dabei, die armen, gelben Dinger in Atome zu zerzupfen. Claudine musste unwillkürlich an die Mutter des Kindes, die Prinzessin Katharina, denken, von der man sich erzählte, daß sie in der ersten Zeit ihrer verschwiegenen Liebe alle vielblätterigen Blumen mit leidenschaftlicher Angst bei dem gemurmelten „Er liebt mich u.s.w.“ zerzupft habe – die schönste Rose am Stock, selbst die Blüthen im Treibhause sollten vor ihr nicht sicher gewesen sein.

Baron Lothar dachte vielleicht Aehnliches. Er sah mit gerunzelten Brauen auf die kleinen Vandalenhände und zuckte die [40] Achseln. „Ich möchte Sie übrigens bitten, die Kleine wieder in gestreckte Lage zu bringen,“ sagte er zu Frau von Berg. „Sie sitzt jedenfalls schon zu lange und ist ermüdet – man sieht es an der Krümmung des Rückens.“

Die Dame rauschte mit zurückgeworfenem Kopfe nach dem Kinderwagen, während sich Claudine verabschiedend vor dem Herrn des Hauses neigte; allein er blieb an ihrer Seite.

Beim Umbiegen um die Hausecke kam ihnen ein leichter Zugwind entgegen; er erregte ein leises Blätterrauschen in den Lindenkronen über ihnen.

„Wie es geheimnißvoll raunt da oben!“ sagte Baron Lothar. „Wissen Sie auch, von was die alten Bäume flüstern? Von den Montecchi und Capuletti des Paulinenthales.“

Die junge Dame lächelte kalt. „Im Mädcheninstitut besinnt man sich selten auf den Familienzwist daheim,“ entgegnete sie gelassen. „Man hat sich gern und fragt nicht, ob man auch darf; und wenn ich heute den von den Meinen gemiedenen Boden betrete, so gilt es eben auch nur der Pensionsschwester. Ich war schon einmal während meiner letzten Institutsferien in Neuhaus – die alten, schönen Bäume kennen mich.“

Er verbeugte sich schweigend und ging weiter und sie betrat den Hausflur. Sie brauchte nicht nach Beate zu fragen; hinter der nächsten Thüre, die zu einem nach der Hofseite liegenden Gelaß führen mochte, klang in energischer Weise die gebieterische Stimme der „Pensionsschwester“.

„Geh, sperre dich nicht, kindisches Ding!“ schalt sie drin. „Ich habe keine Zeit zu vertrödeln – die Hand her!“ Eine momentane Pause. „Sieh, sieh, wie schön die Schnittwunde heilt! Nun können wir auch den Nähfaden wieder herausziehen!“ Der leise Aufschrei einer jugendlichen Stimme erfolgte, dann war es still.

Claudine öffnete geräuschlos die Thüre. Dicker Plättdunst quoll ihr entgegen. An einer langen Tafel standen drei weibliche Personen und bügelten im Schweiß ihres Angesichts, während Beate am Fenster einer jungen Magd die Binde wieder um die verletzte Hand wickelte.

Sie sah die Eingetretene nicht, wohl aber fuhr ihr scharfer Blick sofort von der geknüpften Verbandschleife über den Plätttisch hin. „Luise, Naseweis, was machst Du denn da?“ rief sie mit mißtrauischem Augenblinzeln. „Herrgott, meine allerbeste Kragengarnitur unter den unglücklichen Fäusten! Hör ’mal, das ist mehr als dreist von solch einem Kiekindiewelt wie Du bist!“ Sie nahm dem Mädchen die Stickerei weg, besprengte sie mit Wasser und rollte sie zusammen. „Ich werde das Unheil später selbst gut machen,“ sagte sie zu den Anderen, auf das kleine Bündel deutend; dabei ging sie nach der Thür und stand überrascht vor Claudine; und das war wirkliche, herzliche Freude, die sich plötzlich verklärend über ihre strengen Züge verbreitete. „Heißes Wasser in die Kaffeemaschine!“ befahl sie kurz und bündig in die Plättstube zurück, legte ihren Arm um die Schultern der jungen Dame und führte sie in die Wohnstube, in das schöne, weite Eckzimmer mit seinen tiefgebräunten, altmodischen Mahagonimöbeln, seinen weißen, tannenen Dielen und den zierlich gefältelten Vorhangbogen. So hatte die Stube schon ausgesehen, ehe noch Lothar und Beate geboren, schon zur Zeit, da noch das Erbspinnrad mit dem „flinkernden Wockenband“ am Fenster geschnurrt.

Vor den drei Fenstern an der Südseite waren die Rollvorhänge niedergelassen; die zwei nach Osten sehenden dagegen brauchten keinen Schutz gegen das grelle Nachmittagslicht. Da dunkelten die Linden, und unter ihrem herrlichen, undurchdringlichen Schirmdach hinweg sah man ungeblendet hinaus in das blühende, sonnenglänzende Land.

„Nun mache Dir’s bequem, alter, lieber Pensionskamerad!“ sagte Beate und führte die Angekommene zum Niedersitzen an eines dieser Fenster. Sie nahm ihr den Hut ab und strich leicht mit der Hand über die köstliche Haarfülle, die, zwanglos zu einem Knoten verschlungen, den Halt unter dem Hut ziemlich eingebüßt hatte. „Da ist’s ja noch, was wir Alle so gern hatten, das wellige Gelock über der Stirn und im Nacken! Falsche Wülste trägst Du auch nicht, und dem ‚Goldschnitt‘ hat der Hoffriseur mit seinem Brenneisen auch nichts anhaben können – na, Du kommst ja ziemlich heil aus – dem Babel!“

Claudine lächelte leise und setzte sich an Beate’s Nähtisch. Da lag neben feiner Flickwäsche, sauber eingebunden, Scheffel’s „Ekkehard“.

„Ja, siehst Du, Schatz,“ sagte Beate, die Verschiedenes zusammentrug, um den Kaffeetisch herzurichten, mit einem Blick auf das Buch gleichsam entschuldigend, „ein Menschenwesen wie ich, das täglich wie ein Gendarm hinter Trägheit und Indolenz her und dabei selbst meist ein richtiger Arbeitsbär sein muß, hält dann auch um so zäher auf seine seltene, schöne Erholungsstunde, und für den Zweck trage ich mir nach und nach das Beste, was die neuere Litteratur hat, in meinem Lesewinkel zusammen.“

Dabei räumte sie das Buch und die Flickwäsche in den Nähkorb und legte eine Serviette auf den Tisch; dann brachte sie die Zuckerdose, ein altmodisches, lackirtes Blechkästchen mit festem Verschluß. Sie schloß es auf und machte ein ärgerliches Gesicht. „Nun ja, da hat man’s! Ein Wunder ist’s freilich nicht bei dem D’runter und D’rüber! – Wirthschaftszucker in der guten Dose! Das ist mir auch noch nicht passirt! Aber Lothar hat mir auch einen Streich gespielt, einen Streich –! Da schreibt mir der Mann als Antwort auf meinen Brief, worin ich ihm den Ankauf Eures Silbers anzeige, er käme nun auch selber zurück. Ich denke mir, frühestens im Juli, und lasse mir Zeit, und da schneit er mir vorgestern mit Sack und Pack direkt in unsere große Wäsche hinein! Es war schrecklich! Ich hatte meine ganze Fassung nöthig; denn die Mamsell verlor vollständig den Kopf und machte eine Dummheit über die andere.“

Sie brannte den Spiritus unter der hereingebrachten Kaffeemaschine an und zerschnitt ein Stück Kuchen in kleine Streifen; Claudine mußte dabei denken, wie vortheilhaft sich doch diese hohe, kräftige Gestalt in der weiten, weißen Schürze und dem sauberen Leinenstreifen um Hals und Handgelenk in ihrer Rolle als Hausfrau präsentirte. Ihre Sicherheit war geradezu imponirend und himmelweit verschieden von dem linkischen, verletzenden Thun und Wesen, das sich neulich auf dem Altensteiner Geroldshofe so unliebsam geltend gemacht hatte an „dem barbarischen Frauenzimmer“.

„Lothar allein hätte uns nicht in Verlegenheit gebracht,“ fuhr sie fort, nachdem sie auch ein Körbchen voll Früherdbeeren aus dem Wandschrank genommen hatte, „wenn er auch sehr verwöhnt ist; aber dieser Menschentroß, den er mit sich schleppen muß –! Da ist die Frau von Berg, ihre Jungfer, eine Kinderfrau und verschiedenes männliches Dienstpersonal – sie Alle wollten untergebracht sein. Und das Kind, das Kind! Solch ein armseliges Würmchen hat auch noch nie die Neuhäuser Wände angeschrieen – nein, noch nie! – Himmel, das sollte der selige Ulrich Gerold, mein strammer Großpapa, sehen! Der würde Augen machen! ‚Piepsige Brut‘ war ihm solch’ kleines Volk ohne Blut und Knochen. Das Kind tritt ja absolut nicht auf seine dünnen Beinchen und ist doch nahezu zwei Jahre alt. Bäder von wildem Thymian und unverfälschte Milch würden dem armen Wurm gut thun; aber an das komplicirte Ernährungsprogramm der Frau von Berg darf ja Unsereins nicht rühren – sie ist unfehlbar wie der Papst. Lothar’s Schwiegermutter, die alte Prinzessin Thekla, hat sie als Pflegerin für das Enkelchen engagirt und thut förmlich verliebt in die dicke, verdrehte Person, die mir so unsympathisch wie möglich ist.“

Sie zuckte die Achseln, goß den fertigen Kaffee in die Tassen und setzte sich an den Tisch. Und nun konnte Claudine ihren Vortrag beginnen.

Beate verrührte den Zucker in ihrer Tasse und hörte schweigend zu; bei der Pointe aber, dem Fund, sah sie empor und lachte überrascht auf. „Was – Wachs? Und ich sah schon im Geiste, wie Dein alter Heinemann eine ganze Truhe voll Monstranzen und Gott weiß was für andere Kostbarkeiten ausräumte! – Wachs! Sieh, sieh, Ben Akiba hat doch nicht Recht – das ist neu! – Und diese Klosterfrauen! Nach den Lyrikern sind sie meistens weiße Rosen, die blaß und verhärmt durch das Fenstergitter in das verpönte schöne Weltleben hinausschmachten.“ Sie lachte. „Dazu haben die Walpurgisnonnen sicher keine Zeit gefunden – das müssen ja die reinen Wirthschafts- und Sparteufelchen gewesen sein! … Nach unserem alten Hausbuch sind ja auch zwei Gerold’s unter den verjagten Nonnen gewesen. Wer weiß, ob nicht gerade sie mit Schurzfell und Mauerkelle in den Keller hinuntergestiegen sind, um den Rebellen die Beute [42] vor der Nase wegzuschließen! Wer weiß, ich hätt’s auch so gemacht.“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Eine wunderliche Geschichte! Und fast ebenso verwunderlich ist’s, daß jetzt die grundehrliche Haut da vor mir sitzt und in ernsthaftester Weise den Fund, Scheibe um Scheibe, wohlgezählt, mit uns theilen will!“ Ein hübscher Zug von Humor ging durch ihr geradliniges ernstes Gesicht. „Ei nun ja, Wachs kann man immer brauchen, und sei es auch nur, um ein Bettinlet zu wichsen oder einen Nähfaden glatt und haltbarer zu machen. Aber darin bin ich nicht die höchste Instanz, lieber Schatz! Das mußt Du mit Lothar besprechen.“

Damit stand sie auf und ging hinaus.

Claudine machte keine Bewegung, sie zurückzuhalten. War ihr auch eine weitere Begegnung mit „dem Herrn Baron auf Neuhaus“ nicht erwünscht, so mußte sie sich doch sagen, daß damit die Sache sofort erledigt würde, und deshalb erhob sie sich ruhig, als sie nach längerem Warten seine Schritte in dem Hausflur hörte.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 4, S. 53–58

[53] Lothar trat mit seiner Schwester ein. Claudine hatte ihn am Hofe nur in seiner Rittmeisteruniform gesehen – glänzend und sieghaft „wie ein Kriegsgott!“ hatten sich die anderen Hofdamen immer zugeflüstert. Heute war er im schlichten, grauen Civilanzug, und sie mußte sich, wie schon vorhin unter den Linden, gestehen, daß es nicht „zumeist“ der bestechende Glanz der Soldatenerscheinung gewesen war, der ihn, selbst neben dem ritterlich schönen, imposanten Herzog, zu der auffallendsten Männergestalt am Hofe gemacht hatte.

Sie verließ das Fenster und wollte sprechen; aber er hob lächelnd die Hand. „Es bedarf keines Wortes weiter,“ beeilte er sich zu sagen. „Beate theilte mir bereits mit, daß Ihr romantisches Eulenhaus seine Schätze herausgegeben habe – die uralte Habe eines Klosters! Wie interessant! – Jedenfalls sind es die Geisterhände der Nonnen selbst gewesen, die das Mauerwerk gelockert haben, wohl weil endlich ‚die Rechte‘ gekommen ist.“

Claudine sah unwillkürlich nach den dunkelbärtigen Lippen, die so liebenswürdig zu sprechen wußten. – Das war nicht mehr der Mann, der an der Seite der Prinzessin nie ein freundliches Wort verwandtschaftlicher Annäherung für sie gehabt, dessen verfinsterter Blick die neue Hofdame immer nur verstohlen, in schlecht verhehltem Verdruß gestreift hatte.

Beate schob sie ohne Weiteres an den Kaffeetisch zurück. „Geh’, thue nicht gar so feierlich, Claudine! Wir sind nicht bei Hofe!“ sagte sie. „Setze Dich! Deine ‚Aschenbrödelfüßchen‘, ‚das Pensionswunder‘ – weißt Du noch? – werden sich wohl gewundert haben, daß ihnen ein solcher Marsch zugemuthet worden ist.“

Die junge Dame suchte erröthend schleunigst ihren Platz wieder auf, und Beate setzte sich zu ihr, während Baron Lothar, die Hände auf die nächste Stuhllehne gestützt, ihnen gegenüber stehen blieb.

„Allerdings ein langer Weg durch den tiefen Wald,“ pflichtete er seiner Schwester bei, – „ein Weg, den eine Dame allein doch nicht wagen sollte! Fürchten Sie nicht, daß Ihnen die – Rohheit begegnen könnte?“

„Ich habe keine Furcht. Im Walde bin ich früher stets zu Hause gewesen wie in unserer Kinderstube. Ich habe weit eher die Zuversicht, daß er mich beschützt wie ein alter Freund.“

„Ja, solch ein Waldläufer durch Dick und Dünn und Nacht und Nebel bin ich auch!“ lachte Beate. „Wir [54] sind eben Thüringer Waldkinder. Aber für Deine feinen Söhlchen, Claudine, ist der Weg jetzt doch entschieden zu strapaziös –“

„Und ein völlig zweckloses Opfer, das Sie Ihrem überstrengen Rechtsgefühl gebracht haben,“ fiel ihr Bruder ein. „Denn es bedarf wohl keiner subtilen salomonischen Weisheit unsererseits, um sofort zu entscheiden, daß wir auch nicht einen Schein von Recht an dem Fund haben. Das Eulenhaus ist seit langen Jahren im Besitz der Altensteiner Linie – wie kämen wir dazu, so weit in die Vergangenheit zurückzugreifen mit Ansprüchen, die uns um so weniger zustehen, als wir eigentlich ein Unrecht gut machen müßten? Ich habe nämlich nie begriffen, wie mein Großvater auf den Tausch hat eingehen mögen, nach welchem ihm für den werthlosen Trümmerhaufen ein ausgezeichnetes Ackergrundstück zugefallen ist.“

„Der Meinung bin ich auch,“ stimmte Beate mit einem energischen Kopfnicken zu. „Nun mag Dein alter Heinemann beweisen, daß seine Abschätzung des Fundes richtig ist … Ein jährlicher Zuschuß zu Deinem Wirthschaftsgeld wird Dir nicht unwillkommen sein –“

„Praktisch wie immer, liebe Beate!“ sagte Baron Lothar. „Aber ich möchte fast gegen dieses Los der Nonnenerbschaft protestiren. Wäre es nicht poetischer, wenn sich der Blüthenstaub, den die Bienen vor uralten Zeiten zusammengetragen haben, in edle Steine verwandelte? – Vielleicht in eine Brillantengarnitur, welche die Erbin bei ihrem ersten Wiedererscheinen am Hofe tragen würde?“ warf er leicht hin, indem er halb abgewendet die ehemalige Hofdame über die Schulter fixirte.

Sie hob die Wimpern, ihr verdunkelter Blick begegnete dem seinen. „Steine für Brot?“ fragte sie. „Mir ist das Glücksgefühl, die Sorge aus meinem Heim verscheuchen zu können, mehr werth, und deßhalb denke ich ‚praktisch‘ wie Beate … Und was soll ich bei Hofe? Sie scheinen nicht zu wissen, daß ich meine Entlassung genommen habe –“

„Wohl, das pfeifen die Spatzen von den Dächern der Residenz … Aber geben Ihnen nicht Ihr Name und Ihre vielbeneidete Eigenschaft als Liebling der Herzogin-Mutter jederzeit das Recht, zu Hofe zu gehen? –“

„Vom armen Eulenhaus aus?“ unterbrach sie ihn mit zuckenden Lippen, und ihre Augen flimmerten.

„Allerdings, die Entfernung ist zu groß –“ gab er zu; aber seine Stimme klang dabei so hart und unerbittlich, als habe er ein ihm verfallenes Opfer unter den Händen, das er um jeden Preis festhalten wolle. „Acht gutgemessene Fahrstunden! – Nun, vielleicht findet der Hof selbst ein Auskunftsmittel – er braucht Ihnen ja nur näher zu rücken …“

„Wie wäre das möglich?“ rief sie jäh emporschreckend, mit halbverhaltenem Ton. „Außer dem alten Birschhaus ‚Waldlust‘ hat das herzogliche Haus kein bewohnbares Besitzthum in unserer Nähe.“

„Und in dieser famosen ‚Waldlust‘ mit ihren drei engen Stuben läuft das Wasser von den Wänden,“ lachte Beate. „Der Sturm wird das verwahrloste Gerümpel nächstens über den Haufen blasen.“

Baron Lothar schwieg. Er begann, im Zimmer auf- und abzuschreiten. „Ich hielt mich vorgestern auf meiner Reise nach hier einige Stunden in der Residenz auf, um der Prinzessin Thekla die kleine Enkelin zu bringen,“ hob er nach einem augenblicklichen Schweigen wieder an, indem er stehen blieb. „Und da hörte ich flüchtig von einem derartigen Projekt des Herzogs.“ – Er richtete plötzlich bei Nennung dieses Namens seinen Blick fest, durchdringend, ja fast feindselig auf das schöne Gesicht der ehemaligen Hofdame, über welches eine flammende Röthe hinschlug. „Man zischelte und kombinirte da so viel durcheinander“ – fuhr er fort, wobei er mit einem bitterhöhnischen Lächeln den Blick von dem errötheten Gesicht wegwandte. „Sie kennen ja das Hofgeflüster. Es kommt gehuscht wie die Motte aus dem Winkel und läßt sich schwer einfangen und festhalten; aber seine Spur bleibt an irgend einem angenagten Heiligenschein oder dergleichen.“

Bei diesen Worten hob Claudine das gesenkte Antlitz. „Ich kenne das ‚Hofgeflüster‘“, bestätigte sie; „aber ich habe mich nie so weit herabgelassen, ihm einen Einfluß auf mein Urtheil zu gestatten.“

„Bravo, alter Pensionskamerad!“ rief Beate. „Du bist ja wirklich mit heiler Haut davongekommen!“ Ihre klaren Augen hatten scharfprüfend die erregten Gesichter der beiden Sprechenden gestreift. „Aber nun lasset diese Hofreminiscenzen ruhen!“ setzte sie mit gerunzelter Stirne hinzu. „Der Klatsch ist mir in tiefster Seele verhaßt, einerlei, ob der am Brunnen und Waschtrog oder am Hofe; er hat immer und überall seine gemeine Seite. … Sage mir lieber, wie Du Dich in Deine neue Aufgabe findest, Claudine!“

„Nun, der Anfang war schwer,“ antwortete die junge Dame mit ihrem schönen, sanften Lächeln, dem sich so leicht ein Hauch von Schwermuth beigesellte. „Hände und Schürzen tragen die Spuren der Ungeschicklichkeit beim Kochfeuer. Aber dieses erste Stadium ist glücklich überwunden, und ich finde nun auch Zeit, mich an unserem Stillleben und Joachim’s heiterem, zufriedenem Gesicht zu erquicken.“

„In der That? Er sieht Sie mit heiterem Gesicht – Magddienste verrichten?“ Seine Augen sahen sie spottblitzend an.

„Glauben Sie, ich wüßte nicht zu verhüten, daß er mich beim häuslichen Schaffen sieht?“ gab sie heiter lächelnd zurück – sie ignorirte seinen Hohn geflissentlich. „Und dazu bedarf es wahrlich keiner besonderen Schlauheit. Joachim schreibt von früh bis spät an seinem Reisewerke über Spanien, in welches er seine schönsten Gedichte einwebt. Und bei diesem beglückenden Schaffen steht er außerhalb des wirklichen Lebens mit seinen kleinlichen Sorgen und Bedrängnissen. Er ist ein Mensch, der auf harten Dielen so gut schläft wie im weichen Bette, der ausschließlich bei Milch und Schwarzbrot zufrieden leben kann. Aber Liebe braucht sein zärtliches Gemüth, liebevolles Verstehen – und das findet er stets, wenn er aus seiner stillen Glockenstube zu den Seinen herabkommt. O ja, ich darf mir sagen, daß ich meine neue Lebensaufgabe begriffen habe – Joachim ist eine echte Dichternatur, die mir keine Geringere als Frau Poesie in Pflege und Obhut gegeben hat!“ Sie erhob sich und griff nach Hut und Handschuhen. – „Und nun will ich heimgehen und für den Abendtisch noch Eierkuchen backen – lache nicht, Beate –,“ sie stimmte aber selbst für einen Moment herzlich in das Lachen der Pensionsschwester ein – „meine gute Lindenmeyer ist ganz stolz auf die flinke Art und Weise, wie ihre Schülerin den Kuchen auf die andere Seite zu schwenken versteht.“

„Das müßte Deine alte Hoheit sehen!“

„Es würde ihr gefallen, das weiß ich. Sie ist eine deutsche Frau; das hausmütterliche Element steckt ihr im Blute, wenn sie auch fürstlich geboren ist.“

„Ob es ihr aber gefiele, wenn das bittere Muß sie plötzlich aus ihrem Audienzzimmer an den Küchenherd versetzen würde? – Der Wechsel zwischen Licht und Schatten, wie Du ihn auf Dich genommen hast, ist zu grell – heute thut mir das Herz weh.“

„Beruhige Dich, Beate!“ unterbrach sie ihr Bruder mit hörbarer Ironie. „Diese Prüfung währt nicht lange. Sie ist ja nur ein Uebergangsstadium, so eine Art Märchenepisode à la König Drosselbart. Ehe Du Dich dessen versiehst, wird ein Sonnenglanz die vermeintliche Schattenblume bescheinen, ein Sonnenglanz, um welchen sie alle Rosen von Schiras beneiden müssen.“

Die beiden Geschwister hatten bereits unbemerkt einen Blick des Einverständnisses gewechselt, und jetzt bei seinen letzten Worten verbeugte sich Baron Lothar und verließ rasch das Zimmer.

„Er phantasirt, wie es scheint!“ meinte Beate achselzuckend und sichtlich verständnißlos, indem sie nach der Thür schritt, die in das Nebenzimmer führte. „Einen Augenblick Geduld, Claudine; ich will nur ein wenig Promenadentoilette machen, denn ich möchte Dich begleiten!“




Claudine trat einstweilen wieder an das Fenster zurück. Ihre Wangen brannten und die feinen Brauen zogen sich in finsterem Brüten zusammen. … Was Alles mochten Bosheit und Frivolität im Herzogsschloß ersinnen, um ihr, die muthig einen ihr besseres Selbst rettenden Schritt gethan, Steine nachzuwerfen! Und womit hatte sie den Mann, der eben hinausgegangen, je so beleidigt und gereizt, daß er ihr mit anscheinend scherzhaft hingeworfenen, aber in Wahrheit verletzenden Bemerkungen das kaum beschwichtigte Herz aufregen und verbittern durfte?

[55] Da draußen, dem Fenster ziemlich nahe, stand der Wagen mit seinem Kinde. War er verbittert und ließ es Andere entgelten, weil sie von ihm gegangen war, die fürstliche Frau, die seinem Dasein einen unerhörten Glanz gegeben hatte? Er mochte freilich schwer tragen an seinem Geschick. Sie war ihm für immer entrissen, und was ihm von ihr geblieben, da lag es, gebrechlich und hilflos, und der glänzende Reichthum, den die Prinzessin hinterlassen, vermochte nicht, ihrem Kinde so viel Kraft zu geben, daß es auf seine Füßchen treten konnte! … Wie viel war schon um dieses winzige Geschöpfchen gekämpft und gestritten worden! – Die Großmutter, die Prinzessin Thekla, die sich über den Tod ihrer Lieblingstochter nicht beruhigen konnte, war selbst in Italien gewesen, um sich das Kind zu erbitten; aber Baron Lothar hatte sie scharf und entschieden zurückgewiesen. Nun flüsterte man bei Hofe, die alte Dame verfolge den Plan, dem verwittweten Schwiegersohn auch die ihr gebliebene Tochter, die Prinzessin Helene, als zweite Frau zu geben, damit das geliebte Enkelkind nicht in die Hände einer fremden Stiefmutter falle, und einige Kluge, die das Gras wachsen hörten, wollten wissen, daß die junge Prinzessin nicht „Nein“ sagen würde, da sie ja schon zur Zeit der Brautschaft ihrer Schwester eine stille Neigung für den schönen Schwager gehegt habe… Die Prinzessin Helene war hübscher als die Verstorbene, aber sie hatte auch die großen, unheimlichen Funkelaugen, mit denen das Kind da draußen unverwandt hinauf in das Lindengeäst starrte. Es lag gestreckt in den weißen Kissen und die dünnen Fingerchen pflückten im nervösen Spiel an dem blauen Atlas der Bettdecke, während eine alte Kinderfrau strickend neben dem Wagen saß und dabei unter lebhaften Gesten dem Kinde vorerzählte.

Ein starkes Räderrollen erschütterte den Boden unter den Füßen der jungen Dame, und gleich darauf trat Beate, zum Ausgehen umgekleidet, wieder in das Zimmer. Sie nahm das Weidenkörbchen mit den Erdbeeren vom Tische und hing es an den Arm. „Für Deine kleine Elisabeth,“ sagte sie zu Claudine, und ein rother Schimmer lief über ihr Gesicht.

Zuckerdose und Kuchenreste wurden noch eiligst im Wandschrank verschlossen, dann ging es fürbaß.

Draußen vor der offenen Hausthüre hielt ein Wagen mit zurückgeschlagenem Verdeck. Baron Lothar saß auf dem Bock und hielt die Zügel.

„Vorwärts, Schatz!“ trieb Beate, als Claudine wie erschreckt auf den Thürstufen zögerte und sichtlich widerstrebte, eine solche Aufmerksamkeit in Neuhaus anzunehmen. – „Die schmucken Kerlchen da vorn“ – sie zeigte nach den Pferden, herrlichen, jungen Thieren, die sich ungestüm gebärdeten – „schnauben wie die Sonnenrosse; sie möchten uns am liebsten durchbrennen.“

Gleich darauf brauste der Wagen unter den Linden hin und die Fahrstraße hinab. Baron Lothar regierte das feurige Gespann leicht, mit spielender Sicherheit. Und dabei musterte er von Zeit zu Zeit die Roggen- und Rübenfelder, die mit grünen Früchtebüscheln besetzten Zweige der Obstbäume zu beiden Seiten des Fahrweges. Aber nicht einmal wandte er sich nach den Insassen des Wagens zurück. Er hatte vorhin Claudinens Zögern gesehen und den Widerspruch in ihren Zügen gelesen; sie wußte es, denn ihr Blick war dem seinen begegnet, einem Spottblick, der ihr das Blut in die Wangen getrieben hatte; aber wohl oder übel mußten sie nun doch zusammen fahren, „Montecchi und Capuletti“ in einem Wagen, der mit seiner hellen Atlaspolsterung, seiner ganzen blitzenden und schimmernden, vornehmen Ausrüstung wie ein verkörpertes Stück Hofglanz durch das Paulinenthal flog.

In würzigen Feld- und Walddüften und in dem tiefen Goldglanz der Spätnachmittagsonne förmlich schwimmend, breitete sich das schöne, weite Thal hin, ein jugendstrotzendes Gelände, das der kleine, weit droben aus der Bergbrust quellende Fluß in fröhlichem Lauf durchschnitt. Wellenglitzernd, bald verdunkelt unter Weidengebüsch hinkriechend, bald im freien Sonnenlicht übermüthig an den Uferblumen reißend, kam er daher, der Schuldige, der im Verein mit Gewitter-Regengüssen wiederholt zum wilden Raubthier geworden war. Wer sah es ihm an, daß er einen Theil des Gerold’schen Wohlstandes verschlungen hatte?

Ringsum, wohin der Blick fiel, wurde noch rüstig vor Feierabend gearbeitet. Die Sense des Mähers fuhr mit blendendem Blitz durch das niederrauschende Wiesengras; in den Furchen der Kartoffeläcker hantirten ganze Kolonnen gebückter Frauen mit der Hacke, und auf dem Anger am Flußufer und zwischen den wilden Schlehenbüschen der grasigen Raine trieben barfüßige, im Gehen strickende Mädchen ihre Gänse und Ziegen vor sich her. Hoch vom Walde herunter aber scholl das taktmäßige Aufschlagen der Holzaxt. Treuherzig grüßende Zurufe der fleißigen Menschen flogen den Vorüberfahrenden von allen Seiten zu und wurden freundlich erwiedert, und Claudine kam zum ersten Mal der Gedanke, daß sich die Insassen des stolzen Wagens nicht vor dem schweißtriefenden Arbeiterfleiß zu schämen brauchten; sie waren nicht wie die nutzlosen Lilien im Felde, nicht wie die Drohnen im Bienenkorbe; sie arbeiteten und schafften auch, die Eine im angeborenen Thätigkeitstrieb, und die Andere um der Genugthuung willen, sich die Selbstachtung zu retten, sich nützlich zu machen und damit das Wohl geliebter Menschen zu fördern …

Für einen kurzen Moment wurde weit drüben hinter den Baumwipfeln der Gärten das mächtige Schieferdach des Altensteiner Gutshauses sichtbar. Die Fahnenstange ragte noch kahl in die Lüfte – das schmerzlich beweinte, verlorene Vaterhaus beherbergte den neuen Besitzer mithin noch nicht. Aber auf der Chaussee kam langsam ein schwerbeladener Möbelwagen daher, dem ein niederes Gefährt mit der Holzkiste eines Koncertflügels folgte.

„Der neue Nachbar zieht ein, wie es scheint,“ sagte Beate mehr wie für sich und musterte mit scharfem Blick die vorüberfahrenden Wagen.

In diesem Augenblick wandte sich Baron Lothar rasch nach Claudine zurück.

„Sie wissen, wer das Gut gekauft hat?“ unterbrach er sein bisheriges Schweigen so urplötzlich, wie ein Richter, der seinen Delinquenten in einem unbedachten Moment zu überrumpeln sucht.

„Wie kann ich das wissen?“ gab sie, durch seinen Ton befremdet, etwas scharf zurück. „Wir suchen zu vergessen, daß wir jenseit des Waldes zu Hause waren, und forschen grundsätzlich nicht, wer dort nach uns kommt.“

„Das weiß hier im Thal noch Niemand, Lothar,“ bestätigte Beate. „Unsere besten Klatschweiber im Dorfe zerbeißen sich die Zähne an der harten Nuß. Mich beschleicht manchmal die geheime Furcht, daß ein reicher Industrieller der Käufer ist; das was ich eben durch die Vorhanglücken des Möbelwagens gesehen habe, bestärkt mich in dem Glauben – diese Leute können es ja nie stilvoll und brillant genug haben! Schrecklich! Qualmende Fabrikschlöte in unserem schönen, luftreinen Thal!“

Baron Lothar hatte sich längst wieder umgewendet; er antwortete nicht und ließ die Peitsche auf dem Rücken der Pferde spielen. Und weiter brauste der Wagen, nun im Walde, und Beate meinte mit einem Blick auf das Unterholz, das sich laubenartig über den mit Blüthensternen besäten und von Farrenwedeln umfächelten Moosboden ausbreitete, sie glaube wohl, daß die in der Residenz mit ihren verstaubten Lungen sich gern einmal auf solch ein grünes Polster hinstrecken möchten. Sie hatte das Körbchen mit den Erdbeeren auf dem Schoße und ein kleines Batisttuch als Schutz gegen die Sonne über die köstlich duftenden Früchte gebreitet. – Diesmal ging die Fahrt freilich rascher von statten als neulich mit den Miethgäulen.

„Sieh, sieh, wie hübsch sich doch Dein Eulenhaus herausgemausert hat!“ rief Beate überrascht, als die kleine Besitzung in Sicht kam. „Seit meinem letzten Besuch bei Dir und Deiner Großmama bin ich nicht wieder hierhergekommen. Es hat sich ja förmlich mit einem grünen Mantel behangen!“

Sie hatte Recht. Erst in ihren letzten Lebensjahren hatte die verstorbene Besitzerin Anpflanzungen von wildem Wein am Thurm gemacht. Noch vor vierzehn Tagen hatten die mit schwachentwickelten Blättchen besetzten Ranken nur wie ein dünnes, wenig sichtbares Fadennetz die Mauern umstrickt; heute aber ließ das üppige Blattgewebe nur noch ein paar Fensterbogen frei. Bis über die untere Thurmstube kroch es hinauf; es umrahmte die auf die Plattform führende Glasthür und hing seitwärts wieder über dem Geländer herab, wie ein hingeworfener Teppich.

Heinemann hatte der kleinen Elisabeth eben ein Vogelnest hoch im Gebüsch gezeigt; er trug das Kind noch auf dem Arme [58] und ging so dem herankommenden Wagen entgegen. In ängstlicher Spannung zog er die dicken, gelben Brauen in die Höhe – kamen die dort vielleicht gleich mit, um ihren Antheil zu reklamiren?

Der Wagen hielt. Der alte Gärtner öffnete mit einem höflichen Gruß den Schlag; aber nur seine junge Herrin stieg aus. Beate blieb sitzen und reichte dem Kinde, das er auf dem Arme behalten hatte, die Erdbeeren hin. Mit Ueberraschung sah Claudine dabei ein schönes, zärtliches Lächeln über das ernste Gesicht der Pensionsschwester hinfliegen, und auch das Kinderherz mochte instinktmäßig herausfühlen, daß dieser Sonnenstrahl ein seltener sei; denn die Kleine reckte sich plötzlich hinüber und schlang die Arme um Beatens Hals; dann nahm sie, glückselig in sich hineinlachend, unbedenklich das Körbchen aus den „großen Händen“, die sie neulich ganz empört von ihrem Puppenliebling abgewehrt, und strebte, schleunigst von Heinemann’s Arm zu kommen, um nach dem Hause zu laufen.

Beate stellte „der Herrin vom Eulenhaus“ ihren Besuch für die allernächste Zeit in Aussicht, „auch solch eine Ankunft auf eigenen Füßen, einen Marsch, der den Haushaltungsärger wieder einmal aus dem Blute jage“. Gleich darauf wandte sich der Wagen und fuhr heimwärts.

Baron Lothar hatte kein Wort mehr gesprochen; aber er hatte sich mit einer tiefen Verbeugung von Claudine verabschiedet und dem alten Gärtner ein freundliches Wort zugerufen.

„Sapperlot, alles was wahr ist! Ich bin kein Freund von den Neuhaus’schen – ganz und gar nicht, im Gegentheil! Sie haben mehr Glück als Verdienst, und die Altensteiner müssen vor ihnen die Segel streichen – leider Gottes!“ sagte Heinemann, während er die Hand beschattend über die Augen hielt und der fortbrausenden Equipage mit langem Halse und höchstem Interesse nachsah. „Aber das muß ihm der Neid lassen, ein bildschöner Soldat ist und bleibt er, auch in dem müllergrauen Rock, dem simplen. Bin ja auch Soldat gewesen – ein forscher, gnädiges Fräulein – und weiß die Herren Officiere zu taxiren. Ich glaube, wenn der vor seiner Schwadron reitet, da halten sich die Kerls noch einmal so stramm und stolz auf ihren Pferden … Wie’s freilich inwendig aussieht, das weiß man ja – viel Uebermuth und ein krasser Dünkel auf die vornehme Heirath; und wie es mit dem da steht –“ er machte mit Daumen und Zeigefinger die Geste des Geldzählens und streifte mit einem ängstlich fragenden Seitenblick das Gesicht seiner jungen Herrin – „hm, da nimmt man wohl auch, wo es zu haben ist?“

Claudine lächelte. „Sie können ruhig sein, Heinemann, der Fund bleibt in Ihren Händen; Sie können damit thun, was Ihnen beliebt –“

„Was? Wirklich? Sie nehmen nichts, die da drüben?“ Er war nahe daran, einen Freudensprung zu machen. „Ein Stein ist mir vom Herzen – ein Centnerstein! Mir war zuletzt himmelangst, bis Sie kamen! Na, das wäre überstanden, Gott sei Dank! – Nun sollen Sie aber einmal sehen, was der alte Heinemann kann, gnädiges Fräulein! Dem Kerl da in der Stadt, dem reichen Bolz, dem die Bienenväter hier zu Lande nie Wachs genug schaffen können, dem will ich seine Sparpfennige aus dem Leibe pressen, daß er Ach und Wehe schreien soll! … Wir können’s brauchen, gnädiges Fräulein, können’s gerade jetzt gut brauchen, wo wir gewiß manchmal vornehmen Besuch kriegen. Und da darf es doch nicht zu armselig im Hause sein – beileibe nicht, das sind wir schon unserer guten gnädigen Frau in der Erde schuldig! Ich nehme morgen das gute Zinn gleich mit in die Stadt zum Zinngießer, es muß wieder einmal ein bischen aufgefrischt werden; einen neuen Sahnegießer zum Kaffeegeschirr brauchen wir auch; und wie wär’s denn, wenn wir in die gute Stube neue Vorhänge kauften? Fräulein Lindenmeyer hat nach der letzten Wäsche um all ihr Leben gestopft und geflickt, und wenn sie das auch pikfein macht, da und dort sieht man’s doch –“

„Aber, mein Gott, wozu denn das Alles?“ fragte Claudine erstaunt. „Fräulein Beate –“

„Ach, wer spricht denn von der? – Die flickt und stichelt ja selbst alle alten Lappen und Läppchen zusammen und hängt sie wieder an die Fenster; die ist gar häuslich und sparsam und spottet nicht über einen zugestopften Riß!“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach Fräulein Lindenmeyer’s Eckstube. „Da drin sitzt sie, die Dorfklatsche, die Försterin aus Oberlauter, die alle neuen Nachrichten brühwarm aus der Residenz kriegt und sie nachher im Stricksack von Haus zu Haus trägt, bis es altbackene Semmeln sind. Wenn wir näher ans Haus kommen, da werden Sie’s riechen, gnädiges Fräulein – eitel Zimmet und Vanille! Fräulein Lindenmeyer hat nämlich vor Freude über den raren Besuch Chokolade gekocht, eine steife Chokolade – der Löffel bleibt drin stecken – Brr! Und morgen wird unser altes Mamsellchen wieder einmal auf der Nase liegen und ihre allerschönsten Magenschmerzen davon haben – na meinetwegen! Die Nachricht, die uns der brave Postillon im Weiberrock zugetragen hat, ist am Ende so ein bischen Schmerzen werth; unser Herzog hat nämlich unsern lieben, schönen Altensteiner Geroldshof gekauft.“

Claudine stand noch neben dem Eibenbaum am Eingang des Gartens. Mit einer jähen Bewegung griff sie in die Zweige des Bäumchens, als taste sie nach einem Halt. Das Blut stürmte ihr nach dem Kopfe und gleich darauf überzog eine tiefe Blässe ihr Gesicht.

„Du lieber Gott, wie Sie das angreift!“ rief Heinemann erschrocken und griff zu, um sie zu halten. „Ich alter Tapps, daß ich auch so mit der Thür ins Haus fallen muß! – Aber an der Sache ist ja doch nichts mehr zu ändern“ – er schüttelte trübe den Kopf – „kein Titelchen! Und ist’s denn nicht doch tausendmal besser, der Geroldshof kommt in solche Hände, als daß vielleicht ein reicher Fabrikant in den Stuben und Sälen spulen und spinnen läßt? … Und Ihre schöne Jugend, gnädiges Fräulein! Fragen Sie doch die da unten“ – er zeigte auf den Boden unter seinen Füßen, den ehemaligen Kirchhof der Nonnen – „ob nicht eine Jede mit tausend Freuden wieder aus dem einsamen Walde entwischt wäre, wenn sich nur ein Schlupfloch in den himmelhohen Mauern gefunden hätte! … Sehen Sie, das ist ja das Schöne bei der Sache – Sie kommen wieder in Ihre Gesellschaft, in Ihr richtiges Element! Eine jede Blume will ja auch ihren besonderen Boden. Der ganze Hof zieht für den Sommer auf das Altensteiner Gut. Der Herzog will eine Milchmeierei extra für seine junge Frau einrichten; sie soll ja an der Schwindsucht laboriren, das arme Frauchen, und da soll nun die Luft im Kuhstall helfen.“ Er kratzte sich hinter dem Ohr. „Du lieber Gott, das ist auch so ein Nothbehelf, wie der Moschus, wenn’s Matthäi am letzten ist!“

Die junge Dame ging langsam und schweigend tiefer in den Garten hinein. Ihre erblaßten Lippen waren wie im Krampfe geschlossen. Heinemann sah sie scheu von der Seite an. In diesem sanften, schönen Gesicht, das er kannte, seit es zum ersten Mal die blauen, wundertiefen Augen aufgeschlagen, spiegelte sich ein Kampf ab, für welchen ihm das Verständniß fehlte. Das war nicht der Schmerz um das verlorene Vaterhaus, wie er anfänglich gemeint hatte; es sah vielmehr aus, als ringe sie innerlich mit einer unheimlichen Gewalt, die auf sie einstürme, als wechselten Rede und Gegenrede in der Seele, während die Lippen stumm blieben. Er sah es an dem Zurückwerfen des Kopfes, an den abwehrend ausgestreckten Händen. Seine Anwesenheit schien sie völlig vergessen zu haben.

Er sagte deshalb auch kein Wort mehr und machte sich am nächsten Gemüsebeet zu schaffen; und erst, als sie im Begriff stand, in das Haus zu gehen, kam er ihr nach und bat um Urlaub für den nächsten Tag, „von wegen des Wachshandels“. – Sie nickte ihm mit einem matten Lächeln gewährend zu und ging die Treppe hinauf.

Droben, in ihrem stillen Zimmer, sank sie auf einen Stuhl und schlug die Hände muthlos vor das Gesicht. … War alles umsonst gewesen? Durfte ihr wirklich die Versuchung nachschleichen, wohin sie auch flüchten mochte? … Nein, nein, ihre Lage war nicht mehr so schutz- und hilflos, wie noch vor wenigen Wochen! Stand nicht ihr Bruder neben ihr? Und durfte sie jetzt nicht auch sagen: „Mein Haus ist meine Burg – ich kann und will es vor Jedem verschließen, der meine Schwelle nicht betreten soll?“ …


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 5, S. 69–75

[69] Am andern Morgen wanderte Heinemann frühzeitig nach der Stadt. Neben ihm her trabte ein Dorfjunge mit einem Handwagen, den der alte Gärtner mit jungem Gemüse für seine Kunden beladen hatte; der Handelsgang nach der Stadt sollte möglichst ausgenutzt werden. Das Zinngeschirr freilich hatte zu Hause bleiben müssen und zum Ankauf neuer Vorhänge war die Erlaubniß auch entschieden verweigert worden. Nicht ohne Besorgniß sah Heinemann dann und wann nach dem Hause zurück, [70] bis das Baumgedränge keinen Durchblick mehr gestattete. Was er ärgerlich vorausgesagt hatte, war eingetroffen – Fräulein Lindenmeyer hatte Migräne; sie lag zu Bett und brauchte Hilfe und Pflege. Gern wäre er zu Hause geblieben; allein er hatte schon beim Morgengrauen das Gemüse abgeschnitten, und das mußte fortgeschafft werden.

Nun war seine junge Herrin allein; denn der oben in der Glockenstube zählte nicht. Mit der Feder in der Hand war er ja nie in der wirklichen Welt; da konnte alles um ihn her niederbrennen, wenn nur die Glockenstube stehen blieb und die Tinte nicht eintrocknete … Dieses Urtheil entsprang jedoch keineswegs irgend welcher Geringschätzung, im Gegentheil, Heinemann war voll Bewunderung; aber in seinen Augen war der gelehrte gnädige Herr Einer, für den man in gewöhnlichen Dingen denken und sorgen mußte, wie für das liebe, unschuldige Ding, die kleine Elisabeth auch.

Nun, er hatte sein Möglichstes gethan, um seiner jungen Herrin die Tageslast zu erleichtern. Er hatte die Ziegen gemolken, frische Eier aus den Hühnernestern genommen und Zuckererbsen zum Mittagessen gepflückt; kleingespaltenes Holz lag neben dem Herde, das Treppenhaus war sauber gefegt, und in Fräulein Lindenmeyer’s Eckstube stand die homöopathische Hausapotheke mit schriftlichen Anweisungen von seiner Hand – er verstehe sich aufs Kuriren wie kein Anderer, versicherte Fräulein Lindenmeyer immer. Wie er dann aber tagsüber nie die Thür im Gartenstaket einklinkte, geschweige denn verschloß, so hatte er es auch heute achtloser Weise unterlassen. Der am Staket placirte Kettenhund schlug ja pünktlich an, sobald sich die Thür von außen her in den Angeln rührte; und was hätte denn aus dem Garten entwischen sollen? Das Hühnervolk hauste hinter einem absperrenden Holzgitter und die Hauskatze bewerkstelligte ohnehin ihre Waldbesuche durch die Fensteröffnungen der Kirchenruine. An das Kind, die kleine Elisabeth, hatte der alte Mann nicht gedacht. Sie war zwar meist seine unzertrennliche Begleiterin im Garten; sie ging auf Tritt und Schritt mit ihm und plauderte unermüdlich, und während seine großen, schwieligen Hände rüstig arbeiteten, antwortete und erzählte er unverdrossen und rieb sich nur dann und wann an der Schürze die Erde von den Fingern, um dem Kinde den verschobenen Hut in die Stirn zu rücken oder der Puppe den bejammerten, aufgelösten Haarzopf mühselig wieder „zusammenzuwürgen“. Aber vor seinen Augen war das kleine Mädchen noch nie bis an die Thür gelaufen, und auch Claudine wußte, daß es sich vor dem Kettenhund fürchtete. Deshalb war sie unbesorgt ihren Hausgeschäften nachgegangen, während das Kind im Garten spielte. Sie hörte durch die offenen Fenster den Puppenwagen über den Kies rollen und mußte öfter lächeln über die Modulation der lieben Kinderstimme, je nachdem sie die Puppen ausschalt oder ihnen zärtliche Kosenamen gab.

So war es gegen Mittag geworden. Die Tageshitze stieg. Nur selten zog eine vereinzelt segelnde Wolke träge über die Sonnenscheibe hin und warf auf den Garten einen momentanen Schatten, wohlthuend und verdunkelnd, als ob ein riesiger Vogel seine Schwingen mitleidig über alle die hängenden und schmachtenden Blumenköpfchen breite.

Claudine trat an ein Fenster und rief nach dem Kinde; aber sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, so lautlos still war es draußen. Nur der Hund kroch mit rasselnder Kette aus seiner schwülen Hütte und sah mit gespitzten Ohren nach dem Fenster hinauf, wo gerufen wurde. Das Kind antwortete nicht, und auch sein helles Kleidchen war weder zwischen dem Gebüsch, noch in der Laube zu entdecken.

Noch kam kein beängstigender Gedanke in Claudinens Seele. Die Kleine stieg ja oft direkt vom Garten aus hinauf in die Glockenstube, um dem Papa ein paar Blumen oder das Schürzchen voll „wunderschöner Steinchen“ zu bringen. Claudine eilte hinauf; aber in dem kühlen und durch die zugezogenen grünen Gardinen verdunkelten Thurmgelaß saß ihr Bruder allein am nördlichen Fenster, so vertieft in seine Arbeit, daß er auf ihre Frage hin nur mit einem zerstreuten, aber liebevollen Blick aufsah, lächelnd den Kopf schüttelte und emsig weiter schrieb. Auch bei Fräulein Lindenmeyer war das Kind nicht, und nun flog die junge Dame angsterfüllt hinaus in den Garten.

In der Laube stand der Puppenwagen mit dem geliebten Wickelkind, das Wachsgesicht der Puppe mit der abgenommenen Kinderschürze fürsorglich zugedeckt; aber die kleine Pflegemutter war nicht da. Sie war auch nicht im Kreuzgangwinkel bei den Ziegen und Hühnern, nicht in der Kirchenruine, wo sie sich so gern auf dem grünen Rasenboden tummelte und Grasblumen suchte für die „armen Damen“, wie sie die gemeißelten Aebtissinnengestalten auf den vermoosten, jetzt an den Wänden lehnenden Grabsteinen nannte. Alles angstvolle Rufen und Suchen war vergeblich.

Da sah sie über die Staketenthür hinweg drüben auf der Chaussee eine rothglühende Päonie liegen, und jetzt wußte sie, daß das Kind, einen Strauß in der Hand, aus dem Garten gelaufen war. Ohne sich zu besinnen, eilte sie hinaus, die Chaussee entlang.

Oede, todtenstill streckte sich die weiße Weglinie vor ihr hin. Seit die Eisenschienen in ziemlicher Nähe vorüberliefen, war diese Verkehrsader fast ganz unterbunden; nur selten unterbrach Rädergeroll die Waldstille – ein Ueberfahren des Kindes war mithin nicht zu befürchten … Die Kleine mochte übrigens Heinemann’s Beete arg geplündert haben; jedenfalls konnte das Händchen die Blumen auf die Dauer nicht fassen, denn da und dort bezeichnete eine verstreute Nachtviole oder ein Jasminzweig den Weg, den sie genommen hatte.

Sie mußte schon seit geraumer Zeit ausmarschirt sein; wenigstens erschien Claudine die Strecke schier endlos, die sie bereits zurückgelegt hatte – Angstthränen füllten ihre Augen und das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Zuletzt fand sie den Hut des geliebten Puppenlenchen, und zwar nahe dem Dickicht, das die Fahrstraße begrenzte; ihr Puls stockte bei dem Gedanken, daß das Kind in den Wald eingedrungen sei und angstvoll umherirre, und schon wollte sie die Stimme zu lautem Rufen erheben, als Kindergeschwätz, in welches sich eine männliche Stimme mischte, zu ihr drang – es war da, wo die Chaussee eine so scharfe Biegung machte, daß sich der dichte Wald plötzlich wie eine Koulisse vorschob und jeden Ausblick wehrte. Unwillkürlich preßte sie die Hände gegen die fliegende Brust und horchte. Ja, das war Baron Lothar, der eben sprach, und das Kind war bei ihm und schon nach wenigen eilenden Schritten weiter thaten sich die grünen Wände wieder vor ihr auf und sie sah die Sprechenden herankommen.

Baron Lothar führte mit der Linken sein Pferd am Zügel, und auf dem rechten Arme trug er die kleine Entlaufene. Der runde Hut hing ihr im Nacken, und das dicke Blondhaar fiel wirr und tief in die Stirn und an den erhitzten Bäckchen herab. Sie mochte ihre Heldenthat bereits schwer, unter heißen Thränen, gebüßt haben; denn sie sah sehr verweint aus; aber ihr Lenchen hatte sie auch in ihrer Herzensangst und Rathlosigkeit nicht preisgegeben, sie hielt die Puppe krampfhaft fest an ihrer Brust.

Sie schrie auf, als sie die schöne Tante so plötzlich auf sich zukommen sah. „Ich wollte der Erdbeerdame Blümchen bringen und das dauerte so lange, ach, so lange! Und Lenchen hat ihren neuen Hut verloren, Tante!“ rief sie ihr entgegen und löste das linke Aermchen von ihres Trägers Nacken, als wolle sie schleunigst wieder unter den Schutz der Pflegerin flüchten; aber er hielt sie fest.

„Du bleibst jetzt bei mir, Kind!“ gebot er. Sie duckte sich wie ein erschrockenes Vögelchen und sah scheu in das bärtige Antlitz dicht neben dem ihren – der gebieterische Ton war ihr neu. „Das hast Du zu verantworten, kleine Ausreißerin!“ fuhr er zu dem Kinde fort, während sein Blick das tieferregte Gesicht, die thränenverschleierten Augen der schönen Hofdame ausdrucksvoll streifte. Sie stand nun vor ihnen und rang vergebens nach Athem und einem Wort des Dankes. – „Und nun möchtest Du mir auch noch schleunigst den Laufpaß geben und fragst nicht, ob die Arme da Dich auch tragen können? Denn laufen kannst Du ja absolut nicht mit Deinen todtmüden Beinchen! … Nein, nein, lassen Sie!“ wehrte er ab, als Claudine in der That die Arme hob, ihm die Bürde abzunehmen. „Ist’s doch kaum, als sei mir eine Grasmücke auf den Arm geflogen! Komm, Kindchen, gieb nur Deinen Arm wieder her und sieh mich nicht so scheu an – hast Dich ja vorhin auch nicht vor meinem Bart gefürchtet! – Sieh, wie brav mein Fuchs mit mir geht und sich führen läßt! … Und da ist ja wohl auch der unglückliche Hut, um den Du so bittere Thränen vergossen hast?“

[71] Die Kleine lachte glückselig auf, als Claudine das Hütchen auf den Puppenkopf drückte und es wieder festband.

Baron Lothar sah unverwandt auf die zwei schlanken Hände, die am Hofe vielbewunderten Hände, die in nächster Nähe vor seinen Augen hantierten. Ein breiter schwärzlicher Streifen zog sich um Daumen und Zeigefinger der Rechten.

„‚Rußflecken beschimpfen nicht‘, sagt mein alter Heinemann,“ stammelte sie, unter seinem Blick erröthend, und ließ schleunigst die Hände von der gebundenen Schleife sinken.

„Nein, sie beschimpfen nicht. Aber daß sie in der That vorhanden sind –! Wäre wirklich kein dienstbarer Geist im Eulenhaus zu finden, der Ihnen diese grobe Berührung ersparte?“ – Ein spöttisch ungläubiges Lächeln zuckte um seine Lippen. – „Muß nicht eine Zeit kommen, wo Sie die Erinnerung an diese Flecken dennoch wie einen Makel empfinden werden?“ Seine feurigen Augen wichen nicht von ihrem Gesicht.

Sie sah ihn mit stolzer Entrüstung an. „Hat Ihnen das Hofgeflüster auch zugeraunt, daß ich unwahr sei und zur Komödie neige?“ fragte sie bitterlächelnd zurück. „Soll ich Ihnen wirklich ausdrücklich die schmerzliche Thatsache bestätigen, daß mein Bruder, wenn auch als ehrlicher Mann – denn, Gott sei Dank, die Gläubiger sind befriedigt! – so doch bettelarm von Haus und Hof gegangen ist? – Wir können uns nicht mehr bedienen lassen, und daß dazu kein besonderer Aufwand von Entsagung gehört, das weiß ich jetzt … Diese Flecken“ – sie sah auf die geschwärzten Finger nieder – „lasse ich auch nur insofern als Makel gelten, als sie Zeugen meiner Ungeschicklichkeit sind. Aber auch das wird ja von Tag zu Tag besser.“ – Jetzt lächelte sie wieder mit ihrer sanften Heiterkeit: sah sie doch eine dunkle Gluth in sein Gesicht steigen; sie durfte ihn nicht noch strenger zurechtweisen, der ihren müden Liebling auf dem Arme trug –. „Ich werde mich bald nicht mehr zu schämen brauchen, und gestern Abend bei den verlachten Eierkuchen hätte ich getrost die strenge Beate zu Gaste laden dürfen“ –

„Ich bin überzeugt und leiste hiermit Abbitte!“ unterbrach er sie und neigte in sarkastischer Unterwürfigkeit tief sein Haupt. „Sie scheinen nicht bloß das Aschenbrödel, Sie sind es in Wirklichkeit … Ein Mann kann sich freilich schwer in eine solche Situation hineindenken; aber einen pikanten Reiz mag es schon haben, augenblicklich in der grauen Puppenhülle zu verschwinden, um später mit strahlenden Flügeln in Sonnenhöhe aufzusteigen.“

Sie preßte die Lippen auf einander und schwieg, weil sie wußte, daß sie sich vor ihrer eigenen Stimme entsetzen würde, wenn sie auch nur mit einem einzigen Worte ein Thema berührte, das sie tief verschwiegen in der Brust trug, und welches er immer wieder hartnäckig, mit einer Art von Verbissenheit aufnahm. Das ausdrucksvolle Mienenspiel seines kühnen, energischen Gesichts erregte sie wider Willen.

Sie trat seitwärts, um ihm den Weg freizugeben, und er schritt weiter. Sie gingen an der Schattenseite, unter überhängenden Buchenzweigen hin. Man hörte eine Zeit lang nur die Schritte des kräftig ausschreitenden Mannes und das Hufeklappern des geduldig nebenher gehenden Pferdes, bis die kleine Elisabeth das drückende Schweigen mit einem Schmeichelnamen für den „guten, braven Fuchs“ unterbrach.

„Es hat auch nicht die geringste Aehnlichkeit mit seiner brünetten, spanischen Mutter, dies kleine deutsche Blondchen,“ sagte Baron Lothar, während er in das reizende Kindergesicht sah, das sich an ihm vorüber nach dem Pferdekopf hinbog. „Sie hat die Altensteiner Augen. Wir haben in Neuhaus das Bild unserer Urgroßmutter, die bekanntlich eine Altensteiner gewesen ist. Ein so wilder Junge ich auch war und so wenig Interesse die steifen Portraits an den Wänden für mich hatten: vor jenem schönen großen Oelbild bin ich doch stets stehen geblieben, wenn unsere Staatszimmer oben einmal ausnahmsweise zugänglich waren. ‚Die Lilie des Thales‘ hat sie der damalige Herzog Ulrich genannt. Aber sie ist eine scheue Frau gewesen; sie ist nie wieder zu Hofe gegangen, seit ihr Seine Hoheit einmal allzu feurig die Hand geküßt hat.“

Wieder war es still und in das Knirschen des Steingerölles unter den Tritten der Dahinschreitenden mischte sich jetzt auch das Piepen und Zwitschern in einem Vogelnest über ihren Häuptern.

„Kleine Vögelchen sind auf dem Baume, ich weiß es; Heinemann hebt mich immer hoch und läßt mich in das Nest sehen,“ sagte die Kleine mit einem begehrlichen Blick nach oben.

Er lachte. „Das ist zu hoch, kleiner Schelm, da hinauf können wir nicht! Aber sieh, wie die blauen Augen auch funkeln können! – Ich glaube nicht, daß sich das sanfte Sternenlicht in den Augen meiner schönen Urgroßmutter je so verwandelt hat … Bei den Neuhäuser Gerolds ist der Frauenkopf mit dem aschblonden Lockenhaar nicht wieder aufgetaucht; keine der weiblichen Nachkommen hat das Gesicht geerbt, so viele Töchter auch in Neuhaus gefreit worden sind … Ich meinte deshalb immer, die Frau sei einzig in ihrer Art gewesen. Erst später, viel später überzeugte ich mich, daß jenes Gesicht Erbeigenthümlichkeit der Altensteiner sei – das war an unserem Hofe … Ich war mit dem Herzog auf der Jagd gewesen und wir kamen spät, gerade in dem Augenblick in den Salon der Herzogin-Mutter, als eine neue Hofdame an den Flügel trat, um ‚das Veilchen‘ von Mozart zu singen.“ – Er bog sich vor, um ihr in das Gesicht zu sehen. – „Sie erinnern sich selbstverständlich des Abends nicht –?“

Sie schüttelte mit einem lebhaften Erröthen den Kopf. „Nein. Ich habe ‚das Veilchen‘ so oft singen müssen, daß sich keine besondere Erinnerung für mich daran knüpft.“

Er hatte für einen Moment den Schritt angehalten; aber nun ging es in beschleunigtem Tempo wieder vorwärts. Für ein Künstlerauge wäre diese wandernde Gruppe auf der Waldfahrstraße ein anziehender Vorwurf zu dem Bild einer flüchtenden Familie gewesen. Der sein Pferd am Zügel führende schöne, tannenschlanke Mann, der das ermüdete Kind so sicher und mühelos auf dem Arme trug, und die weibliche Gestalt, die schwebenden Fußes neben ihm herschritt, das schlicht niederfallende Kleid um des rascheren Laufens willen halb geschürzt durch den Gürtel gezogen, und das üppige, aufschwellende Wellenhaar unbedeckt, so daß jeder durch das Buchengezweig schlüpfende Sonnenstrahl Goldlichter aus dem dunklen Blond lockte, – diese Zwei sahen aus, als gehörten sie zusammen und theilten Freud und Leid, wie Diejenigen, „die Gott zusammengefügt“.

Nicht lange mehr, da schimmerte das bunte Blumenfeld des Gartens durch das lichter werdende Unterholz, und das Gebell des Hundes klang herüber … Herrn von Gerold mochte doch nachträglich das plötzliche Erscheinen seiner Schwester in der Glockenstube und ihre hastige Frage nach dem Kinde nachdrücklicher zum Bewußtsein gekommen sein; er hatte wohl auch ihr ängstliches Rufen gehört und sich schließlich selbst aufgemacht, zu suchen. Denn er kam jetzt eilenden Schrittes daher, und zwischen den Eibenbäumen des Garteneinganges bog sich scheu ein mit Kompressen umwickelter Frauenkopf in der Nachtmütze – Fräulein Lindenmeyer hatte sich in ihrer Herzensangst selbstvergessen bis an die äußerste Grenze des Grundstückes gewagt; jetzt freilich rannte sie beim Erblicken der hohen, fremden Männergestalt wie besessen, mit fliegenden Röcken und das Shawltuch schleunigst über den Kopf geworfen, nach dem Hause zurück.

Noch vor wenigen Tagen würde Herr von Gerold an dem Neuhäuser fremd und unberührt von irgend einem verwandtschaftlichen Gefühl vorübergegangen sein, wie es ja auch auf der Universität stets geschehen; gestern aber hatte Baron Lothar seiner Schwester einen ritterlichen Dienst geleistet und heute trug er ihm sein vermißtes Kind entgegen. Er eilte deshalb mit dem Ausdruck warmen Dankes auf ihn zu, und nach einigen vorstellenden und erklärenden Worten von Seiten Claudinens schüttelten sich die beiden Männer herzlich die Hände … Und Baron Lothar machte durchaus keine Anstalten, das Pferd wieder zu besteigen und seines Weges zu reiten, nachdem Herr von Gerold ihm die Kleine abgenommen. Er schritt im Gespräch zwischen den Geschwistern weiter und weiter bis zur Gartenthür, und da nahm er Herrn von Gerold’s Einladung, näher zu treten und sich den interessanten Wachsfund anzusehen, ohne Zögern, als ganz selbstverständlich an. War er doch, wie er selbst sagte, heute geflissentlich dieses Weges geritten, um des Eulenhauses willen, das gestern einen eigenthümlichen Reiz für ihn gehabt habe.

Claudine eilte den Anderen voraus nach dem Hause. Auf der Thürschwelle wandte sie sich noch einmal zurück; sie mußte lächeln. Baron Lothar hatte von König Drosselbart und Aschenbrödel gesprochen, und war sie nicht in der That, wie im Märchen, [74] die heutige Wandlung? – Dort schritt er in schlichtem Rock und führte sein Pferd an Heinemann’s für den Handel gezogenen Blumen hin, ängstlich darauf achtend, daß die Hufe keines der nutzenbringenden Blüthenblättchen berührten, er, dessen ritterliche Gestalt sie bei Hofe zuletzt von einem Glanz umflossen gesehen, wie er nur selten einem Sterblichen zu Theil wird – und sie, das damalige sogenannte Hätschelkind der Herzogin-Mutter, das gleichsam wie auf Sammet gegangen war und von keinem rauhen Lüftchen angeweht werden durfte, sie eilte jetzt die dunklen ausgetretenen Steinstufen hinab, um eine der wenigen Flaschen Wein, die noch von der Großmama her im Kellerwinkel lagen, für ihn heraufzuholen …

Er führte sein Pferd in eine kühle, schattige Ecke der Kirchenruine und band es an einen starken Hollunderbaum, der sich da eingenistet hatte und sein dunkles Grün liebevoll über die entheiligten Mauern breitete; dann betrat er das Haus.

In den Wachskeller warf er nur einen flüchtigen Blick; man sah, die prosaische Hinterlassenschaft der Nonnen war es nicht, was ihm das Eulenhaus plötzlich in einem interessanten Lichte zeigte; er gestand auch ganz offen, daß er einen Blick von der weinumsponnenen Zinne des Zwischenbaues aus dem Einblick in das ehemalige hausbackene, auf den materiellen Gewinn gerichtete Thun und Treiben der gottgeweihten Jungfrauen weit vorziehe.

Claudine stellte deshalb ein Tischchen mit Flasche und Gläsern und einem frischen Blumenstrauß draußen neben die Glasthür, welche aus dem Wohnzimmer ins Freie führte. Da stand, hart an der Mauer des Zwischenbaues, der letzte Ausläufer einer ehemaligen Allee, eine uralte Steinlinde mit nahezu abgestorbener Krone. Der einzige Ast, in welchem noch der Saft fluthete, reckte sich über das Geländer herein; er aber strotzte von jungem, kräftigem Laub und bildete im Verein mit einem ausgespannten schmalen Zeltdach eine schattige Ecke. Man sah von da aus zwei schlanke, einsam in die Lüfte ragende Pfeiler, die letzten der herrlichen, die einst das Mittelschiff der Kirche getragen, und hinter ihnen wölbte sich ein scheibenloses Spitzbogenfenster in der östlichen Seitenmauer. Durch die anderen Fenster zwängte der im Lauf der Jahre dicht an das Gemäuer herangerückte Wald sein Geäst, und von seinem Boden herauf kroch luftiges Geranke, um diesseits über die Simse hinweg neugierig mit festhaftenden Füßchen in das verwüstete Gotteshaus hinabzuklettern. Die Pfeiler und der Fensterbogen dagegen umfaßten ein schmales, umdunkeltes Stück Waldwiese draußen, ein stilles, grünes Eiland, über welches das Wild sorglos hinwandelte.

Mit verschränkten Armen trat Baron Lothar an das Geländer und sah in die reizvolle Perspektive hinein.

„Auch deutscher Wald ist schön,“ sagte Herr von Gerold, der Vielgereiste, mit seiner milden, weichen Stimme neben ihm.

„Was?“ fuhr der Angeredete herum. „Auch? Ich sage, nur deutscher Wald ist schön! Was frage ich nach Palmen und Pinien, was nach der weichen Südluft, die mein Gesicht widerwärtig umschmeichelt, wie die Liebkosung einer ungewünschten Hand! – Ich habe mich krank gesehnt nach dem Thüringer Wald und seiner herben Luft, nach seinem tiefen Schatten und feuchten Gestrüpp, das sich trotzig gegen den Jäger wehrt – krank gesehnt nach dem Wintersturm, der feindlich durch die Aeste fährt, der mich hart anfaßt und meine Kraft herausfordert … Nein – und ich gestehe, selbst auf die Gefahr hin, daß ich mich damit zum Barbaren, zum deutschen Bären stempele, auch die Kunstschätze konnten mir mein Herzweh nicht überwinden helfen; denn ich verstehe sie nicht, verstehe sie so wenig, wie die Meisten der alljährlichen großen Völkerwanderung nach dem Süden, wenn sie auch verzückt thun und sich vor lauter Begeisterung nicht zu lassen wissen.“

Herr von Gerold lachte amüsirt auf; er kannte diese Laienheuchelei sattsam; Claudine aber, die eben den Wein in die Gläser goß, sagte mit einem Blick auf den am Geländer Stehenden: „Von der Musik verstehen Sie desto mehr.“

„Wer sagt Ihnen das?“ fragte er stirnrunzelnd. Er trat an den Tisch. „Meines Wissens habe ich mein Licht nie bei Hofe leuchten lassen. Haben Sie mich je in Gegenwart der Hofgesellschaft eine Klaviertaste berühren sehen? Aber sehen Sie,“ wandte er sich zu Herrn von Gerold, „weil ein dumpfes Gerücht umgeht, daß ich im stillen Kämmerlein meinen Göttern Bach und Beethoven opfere, so sucht man mich an dieser schwachen Stelle zu binden; nicht um meinetwillen – Gott behüte! Wäre mein Töchterchen nicht, so könnte ich getrost unter den Botokuden oder irgendwo leben, sie würden mich nicht holen; aber das Kind wollen sie in der Residenz haben, und deshalb möchte mich die Gnade Seiner Hoheit zum – Hoftheaterintendanten machen.“ Er lachte gezwungen auf. „Eine kostbare Idee! – Ich soll die Drähte der Scheinwelt von Brettern und Pappe in die Hand nehmen, soll Koulissen- und Theaterkanzleistaub schlucken, mich mit widerspenstigen Sängerinnen und Ballerinen herumschlagen und schließlich selbst Intriguant werden, um mich in der Intriguenfluth über Wasser zu halten – Gott soll mich bewahren! Lieber ziehe ich mich ganz nach Neuhaus oder auf mein Gut in Sachsen zurück, jage, säe und ernte, und gehe, wenn es sein muß, selbst hinter dem Pfluge her, dann kann ich mir wenigstens sagen, daß ich an Leib und Seele gesund bleibe.“

Er nahm eines der vollgeschenkten Gläser von der Platte, die Claudine ihm bot. „Nun, und Sie? Ich sehe nur zwei Gläser,“ sagte er zu ihr. „Bei Hofe haben Sie es stets außerordentlich geschickt zu vermeiden gewußt, Ihr Glas an das meine klingen zu lassen – ich begriff das, standen sich doch Montecchi und Capuletti gegenüber; aber heute ist das anders. Ich stehe als Ihr Gast hier, und wenn Sie mir auch nicht erlauben werden, auf Ihr spezielles Wohl zu trinken, so möchte ich Sie doch bitten, mit mir anzustoßen in Erinnerung an eine Frau, welche wir Beide lieben, auf das Wohl unserer verehrungswürdigen Herzogin-Mutter!“

Claudine beeilte sich, ein Glas zu holen, und gleich darauf scholl der Silberton der drei aneinanderklingenden Gläser hell über den Garten hin.

„Die alten Bäume mögen sich wundern,“ meinte Herr von Gerold frohgestimmt mit einem Blick nach den höchsten Eichenwipfeln, die schon mit angesehen, wie der rothe Flammenmantel das stolze Kloster der heiligen Walpurgis in königlichen Purpur gehüllt und den stattlichen, von Seide umrauschten Holzleib der Schutzpatronin als bleiche Asche zurückgelassen hatte. „Seit dem Bacchanal, das die Bilderstürmer bei den Weinfässern des brennenden Klosters gefeiert haben, ist wohl kein Gläserklang hier laut geworden. Aber er tönte so hell und rein, so glückverheißend, daß ich nochmals anstoßen möchte, und zwar auf Einen, den ich sehr verehre, wenn ich ihm auch persönlich stets fern gestanden. Er ist ein edler Mensch, ein eifriger Beschützer der Künste und Wissenschaften; er liebt die Poesie – unser Herzog, er lebe!“ In diesem Augenblick sprühte der goldene Rheinwein wie ein flimmernder Sonnenstrahl in weitem Bogen durch die Luft, und Baron Lothar’s Glas zerschellte drunten auf den Steinen.

„Ah Pardon, ich war sehr ungeschickt! Was für ein täppischer Patron bin ich doch!“ entschuldigte er sich mit einem sardonischen Lächeln. „Der alte Bursche da“ – er zeigte auf den Lindenast, an welchen sein Arm gestoßen, „ist noch gewaltig stramm, der weicht nicht aus. … Nun, Seine Hoheit wird auch ohne meinen Bescheid leben!“ – Er zog den Handschuh der Rechten straffer und griff nach seiner Reitgerte. „Ich habe die Gastfreundschaft schlecht gelohnt, meine sofortige Selbstverbannung soll die Sühne sein. … Ich wäre gern noch in diesem köstlichen Stillleben geblieben, und auch in die Glockenstube hätte ich einen Blick werfen mögen, aber das für ein ander Mal, wenn es gestattet ist. … Und nun komm her, kleine Landstreicherin.“ Er hob die kleine Elisabeth, die still auf einem Korbstühlchen am Geländer saß und mit großen Augen dem ungewohnten lauten Treiben auf der Plattform zusah, hoch zu sich empor und küßte sie. „Und da hinaus wird nicht wieder marschirt,“ – er zeigte mit strenger Miene hinunter nach dem Garteneingang. „Wenn Du die Erdbeerdame besuchen willst, dann lasse es mir sagen; ich hole Dich mit dem Wagen, so oft Du magst – hast Du mich verstanden?“

Sie nickte schweigend und scheuen Blickes und strebte, wieder auf den Boden zu kommen.

„War er böse, der Onkel?“ fragte sie ihren Papa, als er vom Garteneingang zurückkehrte, bis zu welchem er dem Fortreitenden das Geleit gegeben hatte.

„Nein, mein Kind, böse nicht, nur ein wenig wunderlich!“ antwortete er. „Das arme Glas und der edle Rheinwein!“ [75] Er sah bedauerlich lächelnd auf die Scherben hinab. „Und der arme, verlästerte Lindenast, der es wirklich nicht gethan hat!“ setzte er schalkhaft hinzu. „Aber sage doch, Claudine – war dieser Lothar nicht der ausgesprochene Liebling des Herzogs?“ fragte er seine Schwester, die still und ein wenig vorgebeugt am Geländer stand, als horche sie noch auf die längst verhallten Huftritte des „Fuchses“.

„Er ist es wohl noch,“ erwiederte sie mit weggewandtem Gesicht. „Du hörtest ja, daß man ihn an die Residenz zu fesseln sucht.“ Ihr Ton klang unsicher und um die nervös zuckenden Lippen irrte ein erzwungenes Lächeln, als sie an dem Bruder vorüber nach der Küche ging, um das Mittagsbrot fertig zu machen. Da, inmitten des Wohnzimmers, stand der bereits gedeckte Tisch mit seinen drei Kouverts. Nun ja, das waren altmodische verbogene Zinnteller, von welchen man aß. Die Großmama hatte bei der Uebersiedlung nach ihrem Wittwensitz alles Silbergeräth zurückgelassen – der große herrliche Silberschatz sollte nicht zersplittert werden – und nur ihr ererbtes altes englisches Zinn mitgenommen, „gerade recht und passend für eine einsam lebende Wittwe und ihre letzten paar Erdentage“, hatte sie gemeint. Und bei ihrem ziemlich schmalen Einkommen, auf welches sie sich angesichts der schwierigen pekuniären Verhältnisse ihres Enkels später selbst beschränkt, war es erst recht praktisch gewesen, unzerbrechliches Geschirr im Gebrauch zu haben. – Die Bestecke neben den Zinntellern hatten schwarze, abgenutzte Holzstiele, und zur Schonung des Tischtuches lag eine Wachstuchdecke inmitten des Tisches – alles schlicht bürgerlich und ängstlich sparsam, wenn auch von blinkender Sauberkeit.

Das hatte er im Vorübergehen gesehen, und es war gut so. Da konnte von keiner Komödie die Rede sein; der ganze Zuschnitt des Hauswesens bewies ein zielbewußtes „Sicheinleben“ in die gegebenen Verhältnisse – er mußte nun wissen, daß sie es ernst gemeint mit – ihrer Flucht.

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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 6, S. 85–88

[85] Das herzogliche Haus besaß verschiedene Schlösser innerhalb des Landes, schöne, alterthümliche Schlösser mit herrlichen Gärten und großartigen Parkanlagen; aber sie lagen meist in der Nähe von Städten oder auf dem flachen Lande, wo die äußersten Parkwege auf weite Ackerflächen mündeten und der Wald so fern begann, daß er nur wie ein dunkler Pinselstrich den Horizont säumte. Die Vorfahren hatten die sonnige Ebene geliebt und den dunkelschattigen Bergwald gemieden bei ihren Bauschöpfungen, und wenn die meisten auch passionirte Jäger gewesen und um der Birsch willen oft wochenlang in den Forsten verblieben waren, so hatten doch einige da und dort verstreute, sehr primitive kleine Jagdhäuser für Nachtquartier und ein einfach zubereitetes warmes Essen vollkommen genügt.

Da war nun freilich der Altensteiner Geroldshof mit seiner Waldnähe und kräftigen Bergluft eine kostbare Acquisition des Herzogs, der man im Lande allgemein zustimmte. Für die drei jungen, zarten Prinzen, die Söhnchen des Regierenden, und die äußerst schwache Gesundheit seiner Gemahlin war ein solch stärkender Aufenthalt im heißen Sommer nur zu wünschen, und deshalb begriff man auch vollkommen den Feuereifer, mit welchem der Geroldshof zur Aufnahme seiner fürstlichen Bewohner hergerichtet wurde. Die junge Herzogin selbst trieb mit leidenschaftlicher Heftigkeit zur Eile; kein Bad, kein Klimawechsel hatten ihre sinkende Kraft neu zu beleben vermocht; nun erhoffte sie alles von dem Aufenthalt im Walde. Deshalb wurden auch auf Befehl des Herzogs sämmtliche Baulichkeiten nur äußerlich aufgefrischt; kein Mauerstein durfte verrückt, keine Gartenanlage verändert werden, und als man Seiner Hoheit einen Entwurf zu einem stilvollen Brunnenbecken an Stelle des zwar schön gearbeiteten, aber doch zu „dorfmäßigen“ Steintroges im Hofe vorgelegt, da hatte er ihn stirnrunzelnd verworfen und streng befohlen, daß der Brunnen bleibe wie er sei. Geradezu erzürnt aber war er gewesen, als er erfahren hatte, daß man das Goldregen- und Syringengesträuch in den Hofwinkeln mit Stumpf und Stiel ausgerissen habe, um für die verdüsterten Zimmer der Hofdamen mehr Licht zu schaffen, und scheele Gesichter gab es unter den Hofbediensteten auch genug, als der Herzog den alten Friedrich Kern, der zuletzt Kutscher, Gärtner und Lakai in einer Person [86] bei dem letzten Altensteiner Herrn gewesen war, zum Kastellan auf dem Geroldshofe ernannte. Seine Hoheit meinte mit Recht, daß solch ein treuer Diener der beste Hüter seines neuen Besitzes sei.

So war dem Geroldshofe seine Physiognomie nahezu verblieben; denn auch im Innern war so manches werthvolle Einrichtungsstück, welches der Herzog durch dritte Hand hatte ankaufen lassen, wieder an seinen alten Platz gekommen, so die alte prachtvolle Meißner Porcellangarnitur mit ihren Girandolen, ihrem vielbewunderten Kronleuchter in einem der schönen Salons, so die Rokokomöbel, welche die Initialen und das Wappen der Altensteiner, in Perlmutter und Silber reich ausgeführt, auf ihren Platten und Flächen trugen. Freilich, alles Andere war neu angeschafft worden, und die stillen Schläfer unter der Hauskapelle hätten sich bei einer etwaigen Geisterrunde in ihrer ehemaligen Behausung schwerlich wieder zurechtgefunden: einen solch raffinirten Luxus entfalteten fürstlicher Reichthum und künstlerisch geläuterter Geschmack in allen Räumen.

Tag und Nacht war fieberhaft auf dem Geroldshofe gearbeitet worden, und die Bahnzüge hatten pünktlich gebracht, was Paris und Wien an Möbeln und Ausschmückungsgegenständen einlieferten. So war es möglich geworden, daß der Hof zu Ende Juli in das Paulinenthal übersiedeln konnte.

Im Eulennest ging inzwischen auch so manche Wandlung vor sich. Heinemann hatte ausgezeichnete Geschäfte gemacht, wie er, vergnüglich die Hände reibend, sagte. Eines Tages hielt ein Wagen vor der Gartenthür, und das, was Bienen- und Nonnenfleiß zusammengetragen, stieg aus der Jahrhunderte währenden Nacht der Erdentiefe an Gottes freies Sonnenlicht und ging hinaus in die Welt, um nunmehr der Menschheit dienstbar zu werden; und als darnach Heinemann eine hübsche Anzahl großer Banknoten auf den Tisch vor seiner jungen Herrin niederlegte, da meinte er mit seinem schelmischen Augenblinzeln, das dem breiten treuherzigen Gesicht so gut stand, nun dürfe man auch die Butter auf die Bemmchen zum Thee ein bißchen dicker streichen und ein größeres Stück Fleisch in den Kochtopf thun, von den neuen Vorhängen gar nicht zu reden, die doch nun angeschafft werden müßten, weil ja jetzt so viele Augen von der Chaussee her nach der guten Eckstube guckten.

Ja, da drüben war es allerdings ein wenig lebendiger geworden, und Fräulein Lindenmeyer hatte die hinaufgeschobene Brille jetzt mehr auf der Stirn als über dem scharfen Nasenrücken. Sie lasse jetzt öfter die Maschen fallen und könne gar nicht mehr in einem Zuge lesen, so viel passire auf der Chaussee, klagte sie; aber dabei lachte sie über das ganze Gesicht; denn die Waldeinsamkeit war ja schön, himmlisch schön, die Dichter würden sie doch nicht ohne Grund so einzig besingen; aber freilich manchmal, wenn den lieben langen Tag nicht einmal eine Holzfuhre, geschweige denn ein lebendiger fröhlicher Handwerksbursch oder auch nur eine Butterfrau aus dem Dorfe vorüberkam, da war es doch auch „ein ganz klein bißchen langweilig“.

Die drei kleinen Prinzen waren mit Gefolge und Dienerschaft zuerst nach dem Geroldshofe übergesiedelt, und der Weg an dem Eulenhaus hin mußte ihnen wohl ganz besonders gefallen; denn täglich kamen sie vorüber. Das war nun freilich eine unbezahlbare Augenweide für das strickende alte Mamsellchen am Eckfenster, dies junge fürstliche Blut, auf schmucken Ponies dahertrabend; und fast eben so schön war es, wenn die prachtvolle Equipage aus Neuhaus in Sicht kam; die konnte man sich doch in aller Ruhe und Bequemlichkeit ansehen, denn sie fuhr langsam, ganz langsam. Im Fond saß die schöne Frau von Berg und hatte das arme, kleine Gespenstchen, das hinterlassene Töchterchen der Prinzessin Katharina, auf dem Schoße, und Baron Lothar fuhr sein krankes Kind selber.

Heinemann dagegen war stets eifrig mit seinen Rosenbäumen beschäftigt, wenn der Wagen sichtbar wurde; dann hörte und sah er nicht und wendete der Chaussee beharrlich den Rücken; denn das korpulente Frauenzimmer, das sich da auf die Seidenkissen „hinprätzelte“, als sei sie die Prinzessin selber, war ihm ein Gräuel. Hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, daß sie, als seine junge Herrin im weißen „Sonntagskleide“, schön wie ein Engel, am Geländer droben gestanden, den Kopf so schnell weggedreht hatte, als sei ihr eine giftige Kröte in das dicke Milchgesicht gesprungen. Und hatte sie nicht gleich beim ersten Vorüberkommen das liebe, alte Haus da im Garten mit dem Augenglas höhnisch beguckt und ihn, den alten Heinemann, von oben bis unten hochmüthig gemessen, als solle und müsse er gleich auf der Stelle seinen allerunterthänigsten Kratzfuß vor ihr machen? Ja, da konnte sie warten!

Etwas ganz Anderes war’s freilich, wenn der Neuhäuser auf seinem schönen Fuchs dahergeritten kam. Da wurde die schönste Rose am Stock erbarmungslos abgeschnitten und dem Reiter, der sie stets in sein Knopfloch steckte, über den Zaun hingereicht. Und Heinemann bekannte ehrlich, er begriffe seinen eigenen, alten Dickkopf nicht mehr; aber mit dem besten Willen könne er gar nicht mehr so erbost auf den Neuhäuser sein; er gucke ihm eigentlich für sein Leben gern in die feurigen, herrischen Soldatenaugen, wenn er so vom Pferd herunter über den Zaun weg mit ihm spreche.

Beate war auch schon einige Mal im Eulenhaus gewesen. Sie kam stets zu Fuße und blieb auf ein Kaffeestündchen; und so verschlossen sie auch sonst war in Bezug auf das, was ihre Seele bewegte, das gestand sie doch wiederholt ein, daß sie sich die ganze Woche auf diese Besuche freue. Dann saßen die beiden Pensionsschwestern bei einer Tasse Kaffee auf der „Zinne“ und die kleine Elisabeth spielte und sprang um sie her. Und wenn auch Herr von Gerold sich nie entschließen konnte, hinabzugehen und den Besuch zu begrüßen – er schüttelte sich stets, wenn er an die Begegnung im Treppenhause des Geroldshofes dachte – so sah er doch von dem Fenster seiner Glockenstube aus, wie behaglich sich sein Kind auf Tante Beatens Schoß schmiegte, wie es zärtlich die großen, braunen Hände streichelte und sich von ihnen ein Butterbrot streichen ließ. – Baron Lothar fuhr dann pünktlich gegen Abend vor, um die Schwester abzuholen. Heinemann mußte bei den Pferden bleiben, während der Neuhäuser die Damen auf der „Zinne“ begrüßte und auch wohl in die Glockenstube hinaufstieg, um dem Einsiedler einen guten Abend zu bieten. –

Nun waren die höchsten Herrschaften im Geroldshofe eingezogen, und die farbenleuchtende Flagge wehte hoch über dem First des Hauses. Die Dorfleute hatten am Wege gestanden und sich schier zu Tode gewundert über die Pracht und Herrlichkeit der vorbeisausenden herzoglichen Equipagen und „das Menschenvolk“, das in minder schönen Wagen nachkam. Da blieb doch gewiß kein Kämmerchen leer im Geroldshofe! Aber das Altensteiner Gutshaus war ein gewaltiger Bau; hatten doch alle Generationen an dem alten Stammsitz je nach Bedürfniß weiter gebaut und verschönert. Seinen Dimensionen und architektonischen Schönheiten nach konnte man ihm ohne Bedenken die Bezeichnung „Schloß“ geben.

Die Nachmittagssonne lief schräg über seine imposante, von zwei achteckigen Thürmen flankirte Stirnseite und ließ das geschmückte Simswerk in all seinen kraftvollen und doch so fein gezogenen Linien scharf hervortreten; und durch die hohen, weitoffenen Fenster schlug die Luft, Nadelholzdüfte und kräftige Waldfeuchte im Athem, in das Haus herein – eine köstliche Luft! „Mein Gesundbrunnen!“ sagte die junge Herzogin Elise inbrünstig mit ihrer leisen, belegten Stimme.

Es war am zweiten Tag nach ihrer Ankunft. Gestern hatte sie nach der anstrengenden Fahrt, auf Wunsch des Arztes, das Ruhebett nicht verlassen. Heute aber durchschritt sie, „bereits wunderbar gestärkt“, am Arm ihres Gemahls die Zimmerreihe der oberen Etage. Und da mußte man nun wirklich mit Schaudern an die heißflimmernde Ebene draußen zurückdenken, hier, wo die Sonnengluth nicht wehe that, wo ihr Strahl so smaragdfarben und gesänftigt durch grüne Laubmassen sank.

„Hier werde ich wieder Dein flinkes Reh, Deine muntere Liesel, gelt, Adalbert?“ sagte abermals die junge fürstliche Frau und suchte mit zärtlichem Aufblick die Augen des schönen Mannes. Gewaltsam reckte und streckte sie die überschlanke Gestalt und mühte sich, strammen Schrittes neben ihm herzugehen … Ja, so schattenhaft schmächtig und fahl sie auch da im weißen Hauskleide an dem deckenhohen Wandspiegel hinglitt, sie wurde hier schnell gesund; das Kraftgefühl kehrte zurück, das spitze kleine Gesicht rundete sich und die Gestalt nahm jene zartschwellende Fülle und elastische Grazie wieder an, die man einst nymphenhaft genannt hatte! Nur zwei Monate hier in diesem kraftstrotzenden Waldodem, und alles war wieder gut!

Sie bewohnte die Zimmer des östlichen Flügels, an welche der nach dem Hofe gelegene Speisesaal stieß, und nur ein gemeinschaftlicher Empfangssalon trennte diese Gemächer von den westlich [87] liegenden ihres Gemahls. Das letzte Zimmer der langen Flucht war sein Wohnzimmer, dessen eine Ecke in den Thurmerker auslief. Es hatte köstliche Wandgemälde, spanische Landschaften, die gleichsam Goldschein und Gluth der südlichen Sonne ausstrahlten. Ein violetter, zu beiden Seiten in schweren Falten geraffter Plüschvorhang schloß den Thurmerker ab.

Inmitten des Zimmers stand eine Treppenleiter. Der alte Friedrich, oder vielmehr der Kastellan Kern, wie er jetzt genannt wurde, hatte eine eben angekommene Ampel an die Decke gehangen und kletterte nun beim Eintreten der Herrschaften eiligst die Stufen herab.

Die Herzogin blieb unwillkürlich unter der Thür stehen.

„Ach, hier hat die arme schöne Spanierin gewohnt,“ rief sie mit leise vibrirender Stimme. „Und da ist sie wohl auch gestorben?“ Sie heftete ihre großen, fieberisch glänzenden Augen ängstlich fragend auf das Gesicht des alten Mannes, der sich tief verbeugte.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Hoheit, hier nicht. Der gnädige Herr hatte ihr freilich das Zimmer malen lassen und es hat ein schweres Stück Geld gekostet; aber keine zwei Stunden hat sie es hier ausgehalten. Der Oekonomiehof ist zu nahe. Sie konnte keine Kuh brummen hören, und wenn ein Leiterwagen über das Pflaster rasselte und die Drescher in den Scheunen hantirten, da hielt sie sich die Ohren zu und lief durch alle Zimmer und Gänge, bis sie ein stilles Eckchen fand, wo sie sich hineindrücken konnte wie ein junges, verscheuchtes Kätzchen. Ja, zur Gutsfrau paßte sie freilich nicht! Sie war immer still und traurig und wollte nicht essen; nur manchmal brach sie sich ein Bröckchen von einer Chokoladentafel – davon lebte sie. Sie hat zuletzt im Gartenhause gewohnt, und wenn schön Wetter war, da wurde sie in seidenen Decken hinausgetragen und auf den Moosboden gelegt, da, wo die Waldbäume an den Garten stoßen. Ja, da war sie noch am liebsten in dem blassen Lande, wie sie unser gutes Thüringen nannte, und da ist sie auch an einem schönen Herbsttage eingeschlafen, ausgelöscht! – Das Heimweh soll schuld gewesen sein.“

Die Herzogin trat tiefer in das Zimmer, und ihre Augen glitten über die Wandgemälde.

„Das Heimweh!“ wiederholte sie mit leisem Kopfschütteln. „Sie hätte nicht mit dem deutschen Manne gehen sollen, denn sie hat ihn nicht geliebt. Ich würde in der fernsten Eiswüste nicht an Heimweh sterben, wenn ich bei Dir wäre!“ flüsterte sie innig und sah dem hohen Manne an ihrer Seite abermals unter das gesenkte Gesicht, während sie mit ihm in den Thurmerker trat.

Er lächelte freundlich auf sie nieder; sie sank auf einen der kleinen, lehnenlosen, mit violettem Sammet bezogenen Sessel und sah entzückt über das sich draußen hinbreitende Landschaftsbild.

„Ein köstlicher Blick!“ sagte sie und faltete die kleinen, wachsbleichen Hände im Schoße. „Die Gerolds haben sich besser auf die Wahl ihres Stammsitzes verstanden, als unser Haus, Adalbert,“ sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen. „In all unseren Schlössern und Landhäusern haben wir nicht einen einzigen Ausblick, wie diesen hier. Wer hat diesen Flügel bewohnt?“ fragte sie den Kastellan, der eben geräuschlos die Treppenleiter zusammenschob, um sie hinaus zu tragen.

„So lange ich hier im Geroldshofe gewesen bin, immer nur die Damen, Hoheit,“ rapportirte, indem er die Leiter wieder behutsam hinstellte, der alte Mann. „Zuerst die selige Frau Landkammerräthin, bis sie ins Eulennest gezogen ist, und nachher die Frau Oberstin. Und zwei Zimmer weiter,“ er zeigte nach der Thür, die in den Seitenflügel führte, „da hat auch unser gnädiges Fräulein ihr Stübchen gehabt.“

„Ach, die schöne Claudine?“ rief die Herzogin in halb fragendem Ton.

„Zu dienen, Hoheit, Fräulein Claudine von Gerold. In der Stube ist sie auch geboren. Ich weiß noch, wie es uns im weißen Wickelkissen gezeigt wurde, das Engelchen.“

„Mamas Liebling; hörst Du, Adalbert?“ sagte die Herzogin lächelnd nach ihrem Gemahl hin, der an eines der Fenster getreten war und wie in Gedanken verloren in die Ferne blickte.

„Der Schwan, wie ihr poetischer Bruder sie in seinen Gedichten nennt, das merkwürdige Mädchen, das vom Hofe weg in die Armuth gegangen ist, um ihrem Bruder eine Stütze zu sein. – Eulennest heißt ja wohl der Waldwinkel, in welchem Fräulein von Gerold jetzt lebt?“ fragte sie den Kastellan.

Der verbeugte sich: „Eigentlich Walpurgiszella, Hoheit. Aber ‚mein Eulenhaus‘ hat die Frau Landkammerräthin gesagt, als sie zum ersten Male beim Mondenschein durch die Ruinen gegangen ist, und es hat von allen Seiten geschnurrt und geschnauft und geschrieen, als ob alle Winkel voll kleiner Kinder stäken. Und beim Eulenhaus ist’s dann auch geblieben, wenn sich auch das Raubzeug nicht mehr so breit machen darf; im Thurm, der von unten bis oben vollgesteckt hat, ist’s jetzt ganz gemüthlich. Ach ja, der Thurm“ – er strich sich unwillkürlich über sein tadellos rasirtes Kinn – „von dem alten Gemäuer spricht seit ein paar Tagen die ganze Umgegend. Es ist ein Gemurmel und Geraune von einem großen Fund, den sie im Keller drunten gemacht haben sollen –“

„Ein Geldfund?“ fragte der Herzog kurz und gespannt, indem er mit fester Hand den violetten Plüschvorhang zurückschob, um dem Kastellan in das Gesicht zu sehen.

Der alte Mann zuckte die Achseln. „Ob baare Münze? Ich glaub’s kaum. Sie sprechen nur von einem unmenschlich großen Schatze, von Gold und Silber und Edelgestein die Hülle und Fülle. Aber“ – ein verstohlenes Lächeln huschte über sein Gesicht – „ich kenne meine Pappenheimer; ich kenne auch meinen guten Freund, den alten Heinemann, den Erzschalk: der packt Denen, die ihn fragen, so viel auf, daß sie es nicht erschleppen können, und so ist vielleicht der ganze, große Fund ein einziger Abendmahlskelch gewesen.“

Die großen glänzenden Augen der Herzogin blickten staunend zu dem Alten hinüber, wie die eines Kindes, dem man Märchen erzählt.

„Einen Schatz?“ fragte sie. Dann brach sie ab, und ihr Lächeln wich einem stolzen kühlen Ausdruck; unter dem Sammetvorhang der gegenüberliegenden Thür war ein Herr erschienen, der näher tretend sich ehrfurchtsvoll verbeugte. Die junge Frau neigte kaum merklich das Haupt und wandte sich zum Fenster; um ihren feinen Mund zuckte es nervös. Des Herzogs Stimme aber klang wohlwollend durch den Raum.

„Nun, Palmer? Was haben Sie wieder Unvortheilhaftes zu melden? Ist etwa der Schwamm in dem alten Gebälk, oder spukt es in Ihren Zimmern?“

„Hoheit belieben zu scherzen,“ erwiederte der Angeredete; „die Warnungen, die ich dem Kaufabschluß über Altenstein vorangehen ließ, gebot mir meine Pflicht als treuer Diener, und ich weiß, Hoheit haben mich nicht mißverstanden. Eben habe ich jedoch nur Angenehmes melden wollen: Baron Lothar Gerold bittet um die Ehre, seinen hohen Gutsnachbar begrüßen zu dürfen.“

Die Herzogin wandte sich lebhaft um. „O, herzlich willkommen!“ rief sie, und als nach ein paar Augenblicken Lothar in das Zimmer trat, streckte sie ihm die schmale Hand entgegen: „Mein lieber Baron, welch große Freude!“

Der Baron hatte diese Hand ergriffen und sie ehrfurchtsvoll an seine Lippen gedrückt. Dann, sich vor dem Herzog verbeugend, sprach er mit seiner tiefen wohlklingenden Stimme: „Hoheit gestatten, mich von meinen Reisen zurückzumelden; ich denke mich jetzt wieder hier zu acclimatisiren.“

„Es war die höchste Zeit, Vetter, Sie haben uns lange warten lassen,“ erwiederte der Herzog und reichte dem stattlichen Manne die Rechte.

Der Baron lächelte fein; der Herzog schien außerordentlich guter Stimmung.

„Aber daß Sie allein kommen mußten, lieber Gerold!“ rief die Herzogin, und abermals streckte sie ihm die Hand herüber und in ihren schönen heißen Augen funkelten plötzlich Thränen. „Arme Katharine!“

„Ich habe mein Kind mit heimbringen dürfen, königliche Hoheit,“ entgegnete er ernst.

„Ich weiß, Gerold, ich weiß! Aber ein Kind – es ist ein Kind und ersetzt nur zum Theil die Lebensgefährtin!“

Sie hatte es fast leidenschaftlich gesprochen, und ihre Augen suchten den Herzog, der an einem kostbar eingelegten Schränkchen lehnte und, als habe er nichts gehört, durch die Fenster hinausschaute auf die Lindenzweige, die sich im vollsten Nachmittagssonnenschein wiegten.

Eine Pause entstand; langsam senkte das junge Weib die Wimpern, und über ihre Wangen rollten ein paar Thränen, die sie hastig abtrocknete. „Es muß so schwer sein, im vollsten Glück zu sterben,“ sagte sie noch einmal.

[88] Wiederum eine Pause. Die Drei waren allein im Zimmer; der alte Kastellan hatte sich längst mit seiner Leiter hinausgeschlichen, und Palmer, des Herzogs Privatsekretär, ein großer vielbeneideter Günstling des regierenden Herrn, stand im Nebenzimmer hinter einem Thürvorhang, unbeweglich wie eine Statue.

„Apropos, Baron Gerold,“ nahm die Herzogin jetzt lebhaft wieder das Wort, „haben Sie auch die Wundermär gehört von den Kostbarkeiten, die im Eulenhaus gefunden sein sollen?“

„In der That, Hoheit, das alte Gemäuer hat seinen Schatz herausgegeben,“ erwiederte sichtlich aufathmend Baron Lothar.

„Wahrhaftig?“ fragte der Herzog ungläubig lächelnd. „Was ist es? Altargefäße – gemünztes Gold?“

„Nichts von klingendem Werth, Hoheit. Es ist Wachs, einfaches gelbes Wachs, welches die Nonnen dort vermauerten, als der Feind im Anzuge war.“

„Wachs?“ rief die Herzogin enttäuscht.

„Hoheit, es ist so gut wie baare Münze, echtes unverfälschtes Wachs. Heutzutage –“

„Sahen Sie es?“ unterbrach ihn der Herzog.

„Sicherlich, Hoheit! Ich beschaute mir den Fund an Ort und Stelle.“

„So ist das Tischtuch, das so lange zwischen den Altensteinern und Neuhäusern zerschnitten war, wieder zusammengeflickt?“ klang es gelassen aus dem Munde des hohen Herrn.

„Hoheit, meine Schwester Beate und Claudine von Gerold sind Freundinnen seit ihrer Kindheit,“ erwiederte der Neuhäuser ebenso gelassen.

„Ah so!“ Der Herzog hatte es noch eine Nüance gleichgültiger gesprochen und schaute wieder zum Fenster hinaus.

„Aber wissen Sie, lieber Gerold, ich möchte diesen Wachsfund sehen!“ rief die Herzogin.

„Dann müssen Hoheit sich beeilen; denn die Händler sind dahinter her, wie die Wespen hinter reifen Früchten.“

„Hörst Du, Adalbert, wollen wir nicht hinüber fahren?“

„Morgen, übermorgen, Elise, wann Du willst – nachdem wir uns vergewissert haben, daß wir dort nicht stören.“

„Stören? Claudine stören? Ich denke, sie wird sich freuen, in ihrer Einsamkeit Menschen zu sehen. Bitte, Adalbert, gieb Befehl, laß uns gleich fahren.“

Der Herzog wandte sich um. „Gleich?“ fragte er, und eine leichte Blässe trat in sein schönes Antlitz.

„Gleich, Adalbert, bitte!“

Sie hatte sich lebhaft erhoben und war zu ihrem Gemahl getreten; ihre Hand legte sich bittend auf die seine; ihre Augen, diese unnatürlich glänzenden Augen, schauten ihn an, flehend wie die eines Kindes.

Er blickte hinaus, als prüfe er das Wetter. „Aber die Fahrt zurück durch die Abendkühle?“ murmelte er.

„O, in der köstlichen Waldluft?“ bat sie; „ich bin ja ganz gesund, Adalbert, wirklich ganz gesund.“

Er verbeugte sich, wie zustimmend, und zu Palmer gewendet, der eben eintrat, gab er den Befehl für die Fahrt. Dann, nachdem er noch Lothar aufgefordert hatte, mitzukommen, bot er der Herzogin den Arm, die sich, um für die Ausfahrt Toilette zu machen, in ihre Zimmer begab.

Der Neuhäuser schaute dem Paare nach mit düsteren Blicken; was war während seiner Abwesenheit aus der Herzogin geworden, aus dieser, wenn auch zarten, doch so elastischen eleganten Frau mit dem innigen enthusiastischen Wesen, begeistert für alles Schöne? Der Frau, welche die Pflichten ihres Standes als Landesmutter mit wahrhaft fanatischem Eifer ergriffen hatte? Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, und das Feuer, das aus ihren Augen flackerte, war Fiebergluth; statt der früher so reizenden Lebhaftigkeit eine nervöse Unruhe, die das Kranke in ihr so recht zum Ausdruck brachte. Und Er? Eben schlug der Vorhang hinter seiner hohen, auffallend schönen Gestalt zusammen, diesem Urbild von Kraft; ein alter Germane in seinem blonden Haupthaar, mit der kühlen Ruhe und den blauen Augen eines solchen; hartnäckig bis zum Aeußersten in dem, was er einmal gewollt. Baron Lothar wußte selbst nicht, wie es kam, er mußte einer Jagd gedenken. Der Herzog hatte einen prächtigen Zwölfender gesehen, der ihm immer wieder entging; Tage, Nächte lang war er auf der Fährte des Wildes, nur von einem Jäger begleitet; und mit einer Ausdauer sonder Gleichen ertrug er die Strapazen der Birsch. Seine Begleitung erblickte ihn erst am vierten Morgen wieder in schmutziger durchnäßter Kleidung – während der Nacht war ein starkes Gewitter niedergegangen – und mit kothbespritzten Stiefeln, aber den Zwölfer hatte er in der Morgenfrühe geschossen. Ja, hartnäckig, zum Aeußersten hartnäckig, und darum –

Des Barons Blicke hafteten noch immer auf der violetten Portière; er sah erst auf, als Herr von Palmer erschien und sich ihm mit eleganter Leichtigkeit näherte.

„Gestatten Sie auch mir, Herr Baron,“ begann der kleine zierliche Mann, an dessen Schläfen sich bereits graue Haare krausten, „gestatten Sie auch mir, Sie zu begrüßen auf heimischem Boden. Sie sind in den Salons unseres Hofes zu schmerzlich vermißt worden, als daß wir nicht völlig in der freudigsten Aufregung sein sollten, Sie endlich wieder zu haben.“

Baron Lothar sah von seiner stattlichen Höhe, ohne eine Miene zu verziehen, auf das gelbliche Antlitz des Sprechenden herab. „Ein eigenthümliches Gesicht, eine Gaunerphysiognomie,“ sagte er zu sich selbst, indem er den südlich gelblichen Teint, die dunklen dreisten Augen, von starken Brauen überschattet, und die Stirn betrachtete, die sich bereits bis über den halben Kopf erweitert hatte. „Sehr verbunden,“ sagte er kühl, und seine Blicke gingen von dem Kleinen zu einem der farbenglühenden Wandgemälde.

„Wie finden Sie das Aussehen Ihrer Hoheit, Herr Baron?“ fragte Palmer, indem seine Miene einen traurigen Ausdruck annahm. Und als der hochgewachsene Mann dort, in so angelegentliche Betrachtung versunken, die Frage überhört zu haben schien, setzte er hinzu: „Wir werden einen stillen Winter haben, denn sie ist eine Sterbende. Und dann –“

Lothar wandte sich jäh und sah den Sprecher an. „Und dann?“ fragte er, und sein Gesicht mit den regelmäßigen Zügen überflog ein so drohender Ausdruck, daß Palmer die Antwort schuldig blieb. „Und dann?“

In diesem Augenblick ward gemeldet, daß die Wagen bereit seien, und Baron Lothar schritt an Palmer vorüber, ohne auf einer Antwort zu bestehen.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 7, S. 101–106

[101] Lothar saß dem herzoglichen Paar gegenüber mit blassem Gesicht. Der Wagen brauste auf der wundervoll gehaltenen Landstraße dahin, hinein in den köstlichen duftigen Tannenwald. Von dem dunkelrothen mattglänzenden Seidenstoff hob sich das Antlitz der fürstlichen Frau so gelblich krank ab, und dennoch trug es den Ausdruck der Daseinsfreude, der Sehnsucht, zu leben, zu genießen. Die bleichen Lippen hatten sich geöffnet über den kleinen weißen Zähnen; unter dem einfachen, nur mit einem rothen Bande geschmückten Matrosenhütchen hervor suchten die glänzenden Augen in das geheimnißvolle Tannendunkel einzudringen und [102] ihre Brust hob und senkte sich, als müsse jeder Athemzug ihr heilsam sein.

„Jawohl, eine Sterbende!“ sagte sich Lothar. „Und dann – dann?“

Der Herzog, der neben seiner Gemahlin in den Kissen lehnte, schien für weiter nichts Sinn zu haben, als für das Wildgatter, das sich längs des Waldes hinzog.

Und dann? Baron Gerold kannte es nur zu gut, dieses Geheimniß, das alle Welt bereits wußte; es hatte Flügel gehabt und war ihm bis zu der stillen Villa am Mittelmeer gefolgt. Er hatte sich nicht gewundert, als er erfuhr von der Leidenschaft des Herzogs; er hatte es kommen sehen und die Faust geballt, als er zum ersten Male den Namen des regierenden Herrn mit dem ihren zusammen gehört.

Ihre Hoheit begann zu plaudern; sie sprach unaufhörlich von Claudine, und er mußte antworten, obwohl er ihr die Hand auf den Mund hätte pressen mögen.

Hinter ihnen rollte der Wagen, der die älteste Hofdame der Herzogin trug, die Freiin von Katzenstein. Neben dieser freundlichen alten Dame saß Palmer und lächelte süßsäuerlich; daß der Herzog heute bereits den Weg zu dem Eulenhause fand, dünkte ihm allzu eilig.

Plötzlich hielt das Gefährt. Er beugte sich seitwärts über den Schlag und das säuerliche Lächeln verschärfte sich noch. Dort, in einiger Entfernung vor ihnen, stand die fürstliche Equipage, zur Seite der Chaussee eine andere; es war der Neuhäuser Wagen; Palmer erkannte ihn an den feurigen Rappen und der schwarzgelben Kokarde des Kutschers. Und jetzt stieg Baron Gerold aus und reichte der Herzogin ein weißes, mit blauen Bändern verziertes Etwas hinüber – sein Kind.

„Ah, Frau von Berg mit der Kleinen der Prinzeß Katharina,“ sagte die Freiin und nahm die Lorgnette; „es soll ein jammervolles Würmchen sein. Die arme Berg thut mir leid!“

Herr von Palmer setzte sich wieder in den Fond; er antwortete nicht auf die letzte Bemerkung, er lächelte noch immer. „Wie ländlich, gemüthlich das Alles war!“ – Endlich zogen die Pferde wieder an und die Neuhäuser Equipage rollte an ihnen vorüber. Mit einer Verbindlichkeit ohnegleichen grüßte der kleine brünette Mann die schöne Frau unter dem buntfarbigen Sonnenschirm. Sie hielt das Kind auf dem Schoß und ihre blaugrauen Augen flimmerten seltsam zu ihm herüber.

„Sie ist noch immer schön,“ murmelte die Freiin, etwas reservirt ihren Gruß erwiedernd, „und, mein Gott, sie kann die Jüngste auch nicht mehr sein! Warten Sie doch, Palmer; ich meine, vor dreizehn Jahren wäre sie uns zum ersten Male in Baden-Baden begegnet, als ich mit der Herzogin-Mutter und dem Herzog dort – es war bei der Gräfin Schomberg. Und dann kam sie mit ihrem alternden Mann nach der Residenz; die Luftveränderung sollte ihr gut thun, erzählte sie.“ Ueber das gutmüthige Gesicht der alten Dame flog ein leiser Schalk. „Ich will ihr nichts Böses nachsagen, es war ja eine so kurze Glanzzeit, Palmer; ein Jahr darnach verheirathete sich der Herzog bereits und von dem Tage an war er ein Juwel von einem Ehemann.“

„O meine Gnädigste, Seine Hoheit bewegten sich stets auf dem Pfade der Tugend, wie auch heute, wie in diesem Augenblick noch; wer würde daran zweifeln!“

Die alte Dame fixirte das lächelnde Gesicht ihres Nachbarn und die Röthe des Aergers lief ihr über die Wangen. „Lassen Sie mich aus mit Ihren Sarkasmen, Palmer!“ rief sie; „was Sie meinen, weiß ich, aber nun und nimmermehr ist ein Fünkchen Wahrheit daran. Claudine Gerold –“

„Ah! Wer sagt etwas gegen Claudine von Gerold, die reinste unserer reinen Frauen?“ entgegnete er und hob den Hut über den kahlen Scheitel.

Frau von Katzenstein wurde noch röther, biß sich auf die Lippen und schwieg. Dieser Palmer war ein Aal, nie zu greifen; ein Mephisto, ein Tartuffe –. O, sie fand in ihrem Zorn nicht genug Ehrentitel, die sie dem allgemein verhaßten Günstling in ihrem Herzen gab.

„Da sind wir,“ sagte er und wies mit der fein behandschuhten Rechten nach dem Giebelfelde der Klosterruinen, deren Sandsteinarabesken wie Spitzen auf dunklem Sammet erschienen. Ueber dem Thurm des Wohngebäudes, der aus mächtigen Wipfeln emporstieg, flatterten Heinemann’s Tauben zum Himmel empor wie Silberfunken, und unter den niederhängenden Buchenzweigen leuchteten die Blumen des Hausgärtchens auf.

„Fürwahr, meine Gnädige,“ sprach Herr von Palmer, „es ist ein Idyll, dieses Eulenhaus; ein Winkelchen wie geschaffen, um ungestört von künftigem Glück zu träumen.“




Auf der Plattform des Zwischenbaues erscholl ein Lachen; es war just nicht melodisch, wie es von schönen Frauenlippen klingt; es war ein wenig zu laut, aber so herzhaft, so hell, daß selbst der eifrig schreibende Mann in der Glockenstube aufhorchte und ein leises Lächeln über sein anfänglich unwilliges Gesicht glitt.

Wie das klang! So keck, so ehrlich, so kerngesund! Es muthete ihn seltsam an; er mußte an eine kühle Waldquelle denken, die über Gestein und Felsen sprudelt. Merkwürdig, dieses Lachen – und es war Beate, das „barbarische“ Frauenzimmer, das so lachte. Er schüttelte den Kopf und griff zur Feder, aber das Lachen klang immer wieder hinein in seine Gedanken. Dort unten aber, in dem Schatten der Steineiche, trocknete Beate sich eben die Thränen, welche die Heiterkeit ihr in die hellen Augen getrieben.

Sie saß neben Claudine auf der Bank, die der alte Heinemann zierlich aus Birkenstämmen zusammengefügt hatte, und ertheilte Unterricht im Gebrauch der Nähmaschine. Das kleine blitzende Räderwerk stand vor ihnen auf dem grün gestrichenen Gartentische und die schönen schlanken Hände der einstigen Hofdame bemühten sich, mit dem komplicirten Mechanismus zu Stande zu kommen.

„Es sieht so drollig aus bei Dir, Claudine,“ lachte Beate. „Aber, Herzenskind, Du hast ja längst keinen Faden mehr in der Nadel und nähst mit wahrem Fanatismus! Siehst Du, da ist er – so, das war recht.“

Das schöne Mädchen im leichten einfachen Kleide hatte dunkelrothe Wangen vor Eifer.

„Nur Geduld, Beate, ich lerne es bald,“ sprach sie und beschaute die Naht. „Ich werde Dir nächstens noch bei Deiner Näherei helfen können.“

„Na, das fehlte!“ wehrte Beate ab. „Das Haus voller Frauensleute, die sich im Wege stehen, und Du mir helfen, bei Deiner vielen Arbeit? Die wenigen Stunden, die Du erübrigst, solltest Du Deinem Klavier schenken und Deiner Staffelei. Aber auf jemand Anderen habe ich ein Attentat vor, und zwar auf die Berg. Glaubst Du wohl, daß diese Person auch nur ein Strümpfchen strickt für das Kind? Und als ich ihr neulich von unserer feinsten selbstgesponnenen Wolle etwas ins Zimmer trug und sagte: ‚Hier, meine Beste, für das Kindchen kann schon immerhin zum Winter vorgesorgt werden, es ist kalt hier in den Bergen,‘ bekommt sie eine kreideweiße Nase und sagt: ‚Ihre Durchlaucht, die Prinzessin Thekla, würde es sich nicht nehmen lassen, die Garderobe ihres Enkelkindes bis aufs Ipünktchen zu besorgen, und wollene Strümpfe seien überhaupt ungesund.‘ – ‚So?‘ fragte ich, ‚sehe ich ungesund aus? Oder der Vater des Kindes? Und wir, meine Beste, haben in der Kindheit nichts weiter auf dem Leibe gehabt, als selbstgesponnene Wolle von unserer Schäferei und selbstgewebtes Leinen, und damit sind wir groß geworden.‘ Sie wagte nicht zu antworten, aber – das Gesicht! Sie suchte ihren Aerger zu verbergen und bemerkte dann sehr kühl, sie habe strenge Vorschriften von der Prinzeß. Heiliger Gott! Na, warum ist Lothar so dumm gewesen! Er ist doch der Vater! Aber als ich ihm nachher die ganze Sache erzählte, zuckte er die Schultern und schwieg. Ich sollte nur das verfütterte Würmchen vier Wochen haben, Du würdest Wunder erleben, Claudine; es würde eben so frisch wie die kleine Dicke da.“ Und sie zeigte auf das Kind, das an seinem kleinen Tische eifrig mit Täßchen und Tellerchen spielte, welche Tante Claudine heute früh aus ihrem eigenen Puppenschrank hervorgesucht hatte. „Uebrigens,“ fuhr Beate fort, „auch Dir bekommt die frische naturgemäße Lebensweise; Du solltest Dich nur einmal sehen jetzt. Deine Augen so glänzend – und dazu der leise rosige Schimmer auf den Wangen, den Du am Hofe ganz verloren hattest. Ein Glück, Schatz, daß hier Keiner ist, dem Du den Kopf verdrehen kannst, Du –.“

[103] Claudine hatte sich lächelnd über die Maschine gebeugt und drehte das Rädchen. Sie bemerkte das Verstummen Beatens nicht, nicht den verwunderten, fast erschreckten Blick, den diese auf die Landstraße hinaus richtete. Barmherziger Gott, das waren ja die rothen, goldbordirten Livreen des Hofes, die dort unter den Bäumen auftauchten!

„Du, Claudine, ich bitte Dich!“ rief sie, „die Herrschaften! Wahrhaftig, sie fahren hier heran!“

Claudine stützte sich plötzlich wie ohnmächtig auf die Lehne der Bank; mit erschreckten Augen sah sie hinüber auf die Wagen, die eben hielten; durch den Mittelweg stürzte Heinemann in Hemdsärmeln, bemüht die Arbeitsschürze abzustreifen; vermuthlich, um in die alte Livree zu fahren. Fräulein Lindenmeyer’s Fenster klirrten so hastig zu, wie noch nie, und Beate wendete sich zur Flucht, da fiel ihr Blick auf Claudine.

„Was hast Du?“ flüsterte sie und faßte das Mädchen an der Hand. „Komm, wir müssen ihnen entgegen gehen, oder ist Dir unwohl geworden?“

Aber schon hatte sich das schöne Mädchen aufgerichtet; sie eilte hinunter und schritt so sicher der Gartenpforte zu, als gehe sie bei einem glänzenden Hofball über das spiegelnde Parkett, als trüge sie statt des einfachen Kleides aus roher Seide und dem schwarzen Taffettschürzchen die stolze Kourschleppe aus mattblauem Sammet, in der sie noch vor Kurzem alle Anwesenden bezaubert hatte. Beate folgte ihr mit bewundernden Augen. Wie unendlich graziös sank eben die herrliche Gestalt in tiefer Verbeugung zusammen, wie demüthig neigte sie die schöne Stirn unter dem Kuß der Herzogin!

Beate bog sich vor, um die Herren zu sehen. Mein Gott, da stand ja Lothar neben dem Herzog, und eben schickten sie sich an, dem Hause zuzugehen, die fürstliche Frau am Arme Claudinens. Rasch schlüpfte sie durch die Glasthür in die Wohnstube und von dort in Fräulein Lindenmeyer’s Zimmer. Die alte Dame hatte ja wohl vor lauter Aufregung die Besinnung verloren; sie stand vor dem Spiegel und stülpte die rothbebänderte Haube auf, die einen eben so desperaten Eindruck machte, wie ihre Besitzerin, deren Hände keine Nadel in die Haube zu stecken vermochten vor Zittern. Das alte Fräulein bot einen drolligen Anblick; sie hatte zwar schon die schwarze Kleidertaille angelegt, aber der Rock hing noch vergessen im Spinde mit den weit aufgesperrten Thüren; sie bebte wie Espenlaub.

„Lindenmeyerchen, echauffiren Sie sich doch nicht!“ rief Beate belustigt; „sagen Sie mir lieber, wo die Krystallteller aufbewahrt werden, die noch von der Großmama stammen, und wo Claudine die silbernen Löffel hat? Und dann setzen Sie sich in Ihren Lehnstuhl ans Fenster: für den Zweck genügt Ihre Toilette just; und betrachten Sie später in aller Ruhe die Herrschaften, wenn sie im Garten spazieren.“

Aber die alte Dame hatte so völlig den Kopf verloren, daß sie betheuerte, sie wisse sich in diesem Augenblicke auf nichts, rein gar nichts zu besinnen, und wenn sie sich das Leben damit retten könnte. Und lachend machte Beate die Thür zu und stieg die Treppe hinauf zu dem Träumer. Der hatte natürlich noch keinen Schimmer von der Ehre, die seinem Hause widerfuhr, und sah und hörte nichts als seine eigenen Gedanken. Sie schüttelte den Kopf und stand doch zaghaft vor der altersbraunen Thür, die in die Glockenstube führte. Ein helles Roth lag über ihrem Gesichte, als sie auf sein „Herein!“ den Drücker bog, und plötzlich sah ihr Antlitz, dieses strenge Antlitz mit den starken Linien, mädchenhaft lieblich aus.

„Joachim, Sie haben Besuch,“ sprach sie; „nehmen Sie Ihr köstlichstes Gewand und kommen Sie; das herzogliche Paar ist unten.“

Und als er den Kopf hob und sie ärgerlich und verwundert ansah, lachte sie, und das war wieder das nämliche Lachen wie vorhin.

„Aber eilen Sie doch! Die Hoheiten werden den Hausherrn vermissen. Ich komme nach mit einer Erfrischung.“

Unwillkürlich fuhr er sich in das üppige braune Haar. Das fehlte noch im Eulenhause … Allerhöchster Besuch! Was wollten sie bei dem – Verarmten? Ah – Claudine, sie wollen Claudine wieder holen!

Mit finsterer Miene eilte er hinaus. Sie stand noch ein Weilchen in dem Gemach und sah sich um, scheu wie ein Kind, das zum ersten Male die Kirche betritt. Dann schlich das große robuste Mädchen auf den Zehen an den Schreibtisch und spähte herzklopfend mit purpurrothen Wangen nach dem offenen Hefte, auf dem die Feder lag. Die Buchstaben dieser feinen leichten Schrift waren noch nicht getrocknet; dort stand der Titel: „Einige Gedanken über das Lachen“. Sie schüttelte wie verwundert den Kopf und sah von dem Manuskripte zu dem geöffneten Bücherschrank, und da zuckte wieder ein Lächeln um ihren Mund, aber diesmal nicht schalkhaft; es war das innerer herzlicher Befriedigung, und so lächelnd ging sie hinunter in die Speisekammer, stellte frische, duftende Walderdbeeren und Streuzucker auf einen Präsentirteller und kam, von Heinemann gefolgt, der in der längst nicht mehr getragenen Gerold’schen Livree etwas wunderlich aussah, dessen altes ehrliches Gesicht aber vor Ehrfurcht in die feierlichsten Falten gelegt war, zu dem Tisch auf der Plattform, als just die Herzogin sich erhoben hatte, um den Wachskeller zu besuchen, der freilich nur noch den kleinsten Rest des Fundes barg.

Beate von Gerold war den Herrschaften bereits vorgestellt worden; als ihr Bruder sich mit einer Prinzeß des herzoglichen Hauses vermählte, hatte sie ihre drei qualvollsten Lebenstage in der Residenz verbracht, hatte Besuche machen müssen und wieder empfangen, hatte dinirt bei der Prinzeß Thekla und einen Rout im Schlosse „überstanden“, wie sie sagte. Sie hatte einmal himmelblaue Seide, einmal gelblichen Atlas getragen und war sich sterbensunglücklich darin vorgekommen, weil die Taille wie „angeknallt“ gesessen; anders hatte die Schneiderin es nicht gethan. Und als sie zurück nach ihrem Altenstein gekommen, war sie mit köstlichem Behagen wieder in die dehnbare Trikottaille gefahren und hatte geschworen, lieber Steine zu klopfen, als bei Hofe zu leben. In Erinnerung hieran fiel ihre Verbeugung sehr wenig devot aus, und ihr Gesicht zeigte ganz den Ausdruck, den Joachim als barbarisch zu bezeichnen pflegte.

„Also in den Wachskeller, meine Herrschaften,“ mahnte der Herzog und legte seiner Gemahlin fürsorglich das rothe, golddurchwirkte Mäntelchen um die Schultern. Claudine nahm einen großen Schlüssel aus dem Körbchen, das neben der Nähmaschine auf dem Tische stand, und hieß Heinemann vorangehen; Joachim führte die Herrschaften. Sie selbst eilte in das Haus, um die noch immer fehlenden Löffelchen und Teller und ein Tafeltuch auszugeben.

Sie that es mit zitternden Händen und um ihren Mund lag ein gramvoller Zug. „Warum?“ fragte sie halblaut, „warum auch hierher?“ Und sie lehnte den Kopf an die Pfosten des alten Eichenschrankes, der das Linnen der Großmutter barg, als suche sie eine körperliche Stütze in dem Sturme, der durch ihre Seele ging. „Nur ruhig –“ flüsterte sie und preßte die Hand gegen die Brust, als wollte sie das stürmisch klopfende Herz gewaltsam zum Gehorsam zwingen. Und sie konnte, was sie wollte. Als sie ein paar Minuten später sich anschickte, den Herrschaften in den Keller nachzufolgen, da war ihr ernstes schönes Antlitz unbewegt wie immer.

„Halt!“ sagte eine tiefe Stimme am Kellergewölbe, „bis hierher und nicht weiter! Sie haben keine Umhüllung, und dort unten ist es kühl.“ Baron Lothar stand in dem dämmerigen Gewölbe und streckte die Hand gegen sie aus. „Wenn Sie Ihre Ungeduld noch ein wenig bemeistern könnten, Kousine,“ fuhr er fort, und es klang fast wie Hohn, „ich höre die Herrschaften die Treppe heraufsteigen. Das war doch die Stimme Seiner Hoheit soeben? Oder irre ich mich?“

Sie hielt seinem Blick Stand und zuckte nur leicht die Schultern. Er sah sie so eigenthümlich an, fast drohend.

„Es ist besser, wir erwarten die Hoheiten dort oben,“ sprach er weiter, „hier –“ Er brach ab, denn sie hatte sich umgewandt und schritt die Stufen empor, die in den Flur des Hauses führten, und von dort, ohne sich umzusehen, auf den anmuthigen Platz. Er folgte ihr und lehnte sich gegen den Pfosten der Glasthür, indem er den einfach servirten Tisch musterte. Da erinnerte nichts an ein altes begütertes Geschlecht; es fanden sich nur simple Glastellerchen und dünne verbrauchte Löffel. Das Silberzeug des Hauses stand ja in seinen Schränken; allein der Damast des Tischtuches zeigte das Wappen der Gerold’s in den Ecken, ein Meisterstück der Webekunst. Die alte Dame hatte es ehedem mit hierher genommen auf ihren Wittwensitz als eine Erinnerung an jenen Tag, da es zum ersten Male aufgelegen, an dem Tauftage ihres Sohnes.

[106] „Unser Wappen,“ sagte er und zeigte auf den springenden Hirsch, der einen Stern zwischen dem Geweihe trug und sich atlasgleich aus dem Gewebe hervorhob. „Es ist rein geblieben, dieses Schild, im Laufe der Jahrhunderte; nicht ein einziges Mal ward der Glanz des Sternes verdunkelt! Wohl kamen Unglücksfälle über das Geschlecht, wohl unterlag es der Macht des Schicksals, aber die Ehre hielten sie makellos, die Männer und – die Frauen, soviel ihrer waren bis heute –“

Das schöne Mädchen zuckte empor, als habe eine Schlange sie gebissen, und ein herzzerreißender Blick aus den blauen Augen flog zu ihm hinüber; aber die Worte erstarben auf ihren Lippen, denn eben kamen die Herrschaften zurück und Lothar eilte ihnen entgegen. Der Herzog, neben Joachim gehend, folgte seiner Gemahlin, die den Arm der alten Freiin genommen hatte. Hinter ihnen schritt ein sonderbares Paar, Beate mit Palmer, den sie um Kopflänge überragte. Sie hörte mit dem Ausdruck lächelnder Verachtung auf sein eifriges Sprechen und suchte, am Tische angekommen, einen Stuhl, soweit von ihm entfernt als möglich.

„Und der ganze große Keller war voll?“ fragte die Herzogin, Platz nehmend, und ohne die Antwort zu erwarten, sprach sie lebhaft weiter: „O, Waldbeeren, wie liebe ich sie! Wie tausendmal aromatischer duften sie, als die, welche man in den Gärten oder Gewächshäusern zieht! Weißt Du, mein Freund,“ wendete sie sich an den Herzog, der noch immer im Gespräch mit Joachim stand, „wir werden mit den Kindern in den Wald gehen und selbst Beeren suchen; dabei ließe sich ein entzückendes Picknick arrangiren. Herr von Palmer, sorgen Sie dafür, daß man einen Platz ausfindig macht, wo Erdbeeren stehen, aber bald, bald! Wir wollen die schöne Zeit hier genießen.“

Man saß jetzt um den Tisch und Claudine reichte ihren Gästen die Fruchtschale. Eben stand sie vor dem Herzog; er dankte mit kurzer Handbewegung, ohne sie anzusehen, und horchte auf Joachim’s Rede. Nun trat sie zu dem Neuhäuser. Auch er dankte. Sie schritt still nach ihrem Stuhl zurück und sah auf das Kind hernieder, das sich herzugeschlichen hatte und an ihren Schoß lehnte, und fuhr erst aus ihrem Sinnen empor, als die Herzogin sie anredete.

„Mein liebes Fräulein von Gerold, Sie müssen oft nach Altenstein kommen; wir, mein Gemahl und ich, haben uns fest vorgenommen, alle Etiquettenrücksichten hier fallen zu lassen; wir wollen leben mit einander wie gute getreue Nachbarn, Partien machen und uns besuchen. Die Neuhäuser werden wir auch überfallen, ja ja, Fräulein von Gerold!“ wandte sie sich an Beate; „ich muß mir Ihre vielgerühmte Musterwirthschaft einmal in der Nähe beschauen und hoffe, Sie ebenfalls auf Altenstein zu sehen.“

„Es wird unserem Hause eine unendlich große Ehre sein, wenn Ew. Hoheit es mit Ihrer Gegenwart beglücken, aber mich wollen Hoheit gnädigst entschuldigen,“ klang Beatens tiefe Stimme entsetzlich wenig verbindlich und trocken. „Meine Wirthschaft leidet nicht, daß ich mich oft und lange vom Hause entferne; es ist nur anvertrautes Gut, und ich stehe dort an Stelle der Hausfrau meines Bruders. In Vertretung einer Andern ist man doppelt gewissenhaft, Hoheit.“

Die junge fürstliche Frau sah einen Moment befremdet zu der Sprecherin hinüber; dann flog der liebenswürdige Ausdruck von vorhin wieder über ihre Züge.

„Die Gerold’s waren alle pflichtgetreu,“ sagte sie freundlich; „das ist gut und lobenswerth und ich muß den Korb wohl hinnehmen. Aber Sie, Fräulein Claudine von Gerold, Sie! Ganz gewiß, auf Sie rechnen wir bestimmt; ist es nicht so, Adalbert?“

„Verzeihung! Wie befiehlst Du? Ich habe nicht verstanden, Elise.“

„Du sollst mir bestätigen,“ sprach sie freundlich, „daß wir sehr auf Mama’s Liebling rechnen bei unserer Anwesenheit in Altenstein, daß wir wünschen, Fräulein Claudine von Gerold oft bei uns zu haben. Nicht, Adalbert?“

Einen Moment blieb es still unter der Eiche; die Abendsonne vergoldete jedes Blättchen mit purpurnem Schein; durch die Lücken des Geästes zuckten schimmernde Lichter und die zitternden Funken machten es wohl auch, daß Claudinens Antlitz in jähem Wechsel bleich und purpurn erschien.

„In der That, Fräulein von Gerold,“ tönte es jetzt in ihr Ohr mit einer Stimme, die den Sturm in ihrem Herzen plötzlich beschwichtigte, so ruhig und gleichgültig klang sie. „In der That, die Herzogin sprach davon, mit Ihnen im Altensteiner Saale zu musiciren.“ Und sich wieder zu Joachim wendend, fragte er: „Ja, wie wurde es? Ist der Mann gestorben an der Wunde – oder –?“

„Er lebt, Hoheit, und wildert nach wie vor.“

Wenn der Herzog von Jagd und verwandten Dingen sprach, war er einfach für Anderes verloren, das wußten sie Alle. Nur Palmer lächelte ungläubig und schaute Claudine an, deren Brust sich wie befreit hob.

„Wenn Hoheit befehlen,“ sprach sie leise; „aber ich habe seit langer Zeit keinen Ton mehr gesungen; mir fehlt die Muße jetzt.“

Ein leises Hüsteln der fürstlichen Frau ließ sie einhalten; durch die Bäume kam der erste kühle Luftzug des Abends; die sonst so bleichen Wangen der Leidenden glühten purpurroth.

Der Herzog sprang empor. „Es wird Zeit,“ sprach er, „die Wagen!“

Der herzogliche Diener, der unbeweglich an der Gartenpforte gestanden und den draußen langsam auf- und abfahrenden Wagen zugeschaut hatte, erhielt von Palmer einen Wink, und in kürzester Zeit waren die fürstlichen Gäste eingestiegen, und die Wagen brausten auf der Straße hin.

„Wir müssen wohl auch an den Abschied denken, Lothar?“ sagte Beate zu ihrem Bruder. Er nickte bejahend und schüttelte Joachim die Hand. Als er sich zu Claudine wenden wollte, war sie verschwunden.

Beate, die Sonnenschirm und Hut holen wollte, traf sie anscheinend ruhig in der Küche, beschäftigt, ein Tellerchen mit Erdbeeren zu füllen für Fräulein Lindenmeyer, wie sie sagte.

„Na, wo steckst Du denn? Wir wollen fort, Claudine,“ begann Beate und zog die gewebten seidenen Handschuhe an. „Das war übrigens ein recht bewegter Tag heute; ich gratulire Dir zu dem gutsnachbarlichen Verkehr; es kann ja sehr gemüthlich werden. Halte Dir nur immer etwas im Hause, ein paar kleine Kuchen oder dergleichen; die gnädige Frau von Altenstein wird öfter kommen; sie gefällt sich in der Rolle, wie weiland Königin Luise auf Paretz. – Ach Gott, Claudine; bei dieser Armen ist es, glaube ich, die Angst, die Todesangst, die sie alles Mögliche beginnen läßt; hast Du gesehen, sie kann kaum noch athmen? Aber ich muß fort, die dicke Berg wird schon Hunger haben, und in die Speisekammer können sie nicht; ich habe zugeschlossen. Leb’ wohl, Claudine, komm bald einmal und bringe das Kind mit.“ Sie drückte ihr die Hand und eilte hinaus.

Claudine trug Fräulein Lindenmeyer die Erdbeeren hin und fand diese noch immer im Unterrock und der roth bebänderten Haube; sie hielt die Kleine auf den Knieen und erzählte ihr eine Geschichte von einem wunderschönen Mädchen, das einen Prinzen heirathet.

„Einen Herzog,“ verbesserte die Kleine, und Claudine erblickend fragte sie: „Darf ich noch hier bleiben, Tante?“

Aber die Tante hörte nicht; sie horchte auf das Rollen eines Wagens, das im Walde verklang.

„O Jesus, Fräulein Claudine!“ rief Fräulein Lindenmeyer, froh, endlich über das große Ereigniß sprechen zu können, und sie ließ die Kleine vom Schoße gleiten, indem sie aufstand, „was ist unser allergnädigster Herr für ein schöner Mann! Jeder Zoll – ein Herzog! Und wie er da durch den Garten schritt neben unserem Herrn, da fiel mir ein, was Schiller sagt: ‚Es soll der Sänger mit dem König gehen, sie Beide wohnen auf der Menschheit Höhen.‘ Gnädiges Fräulein, ach, hätte es doch die Großmama erlebt, daß Sie da wie eine Familie auf der Plattform gesessen und Erdbeeren gegessen haben. Ach, Fräulein Claudinchen!“

„Tante Claudine, mir gefällt Onkel Lothar besser,“ plauderte das Kind, „Onkel Lothar hat gutere Augen.“

Die junge Dame wandte sich plötzlich ab und schritt ohne ein Wort der Thür zu; dann stieg sie die schmale Treppe hinauf und klopfte an Joachim’s Thür. Sie fand ihn, im Zimmer auf- und abgehend mit einem fast hilflosen Gesichtsausdruck.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 8, S. 117–122

[117] Ich bin völlig aus dem Sattel geworfen mit meinem Gedankengang,“ klagte Joachim; „o, meine schöne Einsamkeit! – Claudine, verstehe mich nicht falsch! Du weißt, wie sehr ich unsere fürstliche Familie liebe und verehre, wie stolz ich bin, daß meine schöne Schwester sie herzieht in unseren Waldwinkel. Aber, Claudine – Du bist böse, weil ich das sage?“ fragte er, den Schatten auf ihrem Antlitz erst jetzt gewahrend.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Joachim, weshalb wohl? Aber Du thust mir leid, und wir wollen es ehrlich den Herrschaften sagen, daß Du bei Deiner Arbeit durch nichts – hörst Du? – durch nichts gestört werden darfst.“

Er blieb stehen und strich ihr über die Wange. „Nein, Kleine,“ erwiederte er, „als ehemalige Hofdame mußt Du am allerbesten wissen, daß das nicht möglich ist. Es war eine hinreißende Liebenswürdigkeit von der Herrschaft, uns hier zu besuchen. Eine Abfertigung, wie Beate sie in ihrer derben Manier gab, darf sie von uns nicht hören. Diese Beate,“ fuhr er fort, „benahm mir den Athem, als sie die Antwort herauspolterte. Ich verstehe Lothar nicht, der das so ruhig und gelassen mit anhören kann; mir ginge es durch und durch!“

„Aber Deine Arbeit, Joachim? Sei versichert, die Herzogin würde untröstlich sein, erführe sie später, daß sie Dich hinderte.“

„Sie ist ein liebes Gemüth, Claudine, begeistert für alles Schöne, und sie ist krank, sehr krank. Hörtest Du den Husten? Er schnitt mir ins Herz. So hustete sie auch, Claudine – o, diese gräßliche Krankheit! Nein, nein, Claudine, schon dieses verlöschenden Lebens wegen mag das Eulenhaus ihr offen stehen zu jeder Zeit.“

Die Schwester antwortete nicht mehr. Sie war zu dem Bogenfenster getreten, durch welches rothglühendes Abendlicht strahlte, und schaute mit bangen Augen über die Wipfel der Bäume hinweg. Nein, sie konnte, sie durfte ihm keine neue Sorge aufbürden, durfte ihn nicht beunruhigen; vielleicht war sie auch erstorben, die blinde alles vergessende Leidenschaft? Keiner jener heißen Blicke war [118] ihr heute gefolgt, sein Auge hatte sie kaum gestreift. Sie nickte mechanisch mit dem Kopfe, als wolle sie einer inneren Stimme widersprechen. „Doch, vielleicht seine Ritterlichkeit, seine Großmuth haben gesiegt, und der Anblick des verlöschenden Lebens –.“

Sie durfte ruhig sein, durfte hoffen.

Der Bruder war zu ihr getreten und hatte ihre Hand ergriffen. „Macht Dich die Einsamkeit traurig, Claudine?“ fragte er weich. „Heute, wo ein glänzendes Streiflicht Deines vergangenen Lebens in unser Haus fiel, da erschien es mir so unsagbar armselig; da kam mir der Gedanke, es sei eine Sünde, Dich hier zu fesseln, Du stolzer Schwan!“

„Joachim,“ rief sie lachend, aber ihre Augen schimmerten feucht, „wenn Du wüßtest, wie gern ich hier bin, wie heimisch, wie traut mir diese ‚Armseligkeit‘ ist, Du würdest nie wieder solche Dinge reden! Nein, ich bin nicht traurig, ich bin eigentlich so herzensfroh, wie lange nicht. Und nun will ich hinunter und unser Souper herrichten; es besteht zwar nur aus Blattsalat und weichen Eiern, aber Du glaubst nicht, Joachim, wie zart Heinemann’s Salat ist.“

Sie hielt ihm die Wange zum Kusse hin und ging, ihm noch einmal zunickend, aus der Thür. Und dem einsamen Manne, der jetzt auf ihrer Stelle am Fenster stand, klang das eilige Klappern der kleinen Holzabsätze ihrer Schuhe auf der Treppe und der frische metallische Klang ihrer Stimme in die Ohren. Ja, wenn nur die traurigen Augen dem Allen nicht so widersprochen hätten!

Ein paar Stunden später lag das Eulenhaus schweigend und ruhig, als hätte es der Wald mit seinem Rauschen in den Schlaf gesungen; nur aus Claudinens Zimmer schimmerte noch Licht. Seine Bewohnerin saß vor dem altmodigen Schreibtischchen, das auf lächerlich dünnen Beinchen sein Gleichgewicht behauptete und einstmals zum Ameublement von Großmama’s Mädchenstube gehört hatte in dem großen Herrenhause, weit unten in Preußen an der Ostsee. Sie hatte mehrere Fächer aufgeschlossen und kramte in Briefen und trocknen Blumen und allerlei Kästen umher. Ja, diese stolze schöne Hofdame mit dem tadellos kühlen Wesen, sie war doch nur ein Mädchen, wie die Andern auch, ein echtes Mädchen mit zaghaftem Herzen und heimlichem Bangen und Hoffen; wie hätte sie sonst wohl ein kleines Streifchen Papier, darauf einige Noten geschrieben, mit so thränenschimmernden Augen an die Lippen drücken können, wie sie es eben that? – Es waren nur wenige Reihen flüchtig geschriebener Noten, und darunter standen die Worte: „Willst Du Dein Herz mir schenken, so fang’ es heimlich an.“ Sie hatte es einst auf Wunsch ihrer alten Hoheit singen sollen, und die Noten hatten gefehlt; da war Einer aus dem gewählten kleinen Kreise aufgestanden, um am Nebentischchen aus dem Gedächtniß die innige Melodie niederzuschreiben, und sie hatte dann das Lied gesungen. Sie fühlte, sie hatte schön gesungen an jenem Abend. Und als sie geendet, sah sie ein Paar Männeraugen, die mit unverhohlener Bewunderung an ihr hingen; nur dies eine Mal, nie wieder! Es hatte auch kaum eine Sekunde gedauert, dieses Auge-in-Auge; dann senkten sich seine Blicke zur Prinzeß Katharine, neben deren Sessel er stand; ein ritterlicher Kavalier, stets den Launen seiner Dame mit lächelnder Nachlässigkeit gehorsam. Und die schwarzen dreisten Augen dieser kleinen Prinzessin hatten ihn so strahlend angeschaut, als wollten sie die Worte wiederholen, aber als Frage: „Willst Du Dein Herz mir schenken?“

Das war wohl längst aus seinem Gedächtniß geschwunden; sonst würde er nicht, als sie neulich von seiner Liebe zur Musik sprach, so geradezu feindselig geworden sein; und sie hatte doch diesen Abend nimmer vergessen können. Da war es ja auch, wo ein Paar andere Augen zum ersten Male mit jenen heißen glühenden Blicken die ihren suchten, sie erschreckend bis zum Tode.

„Willst Du Dein Herz mir schenken?“

Sie sprang empor und ging vom Schreibtisch zum Fenster und wieder zurück in der alten qualvollen Unruhe. Ihre Augen irrten wie hilfesuchend durch das Zimmer, und dann blieb sie doch wieder vor dem Schreibtisch stehen und sah auf das kleine Pastellbild des lieben Frauengesichtes, das dort im reichgeschnitzten Rahmen hing, dessen obere Verzierung den Wappenhirsch zeigte; der Stern zwischen dem Geweih, der aus Metall hergestellt, blitzte seltsam im flackernden Lichtschein. Ein bitterer, weher Ausdruck flog um ihren Mund.

„Meine Mutter,“ sagte sie leise, „wenn Du noch lebtest und ich könnte Dir alles erzählen!“

Und sie faltete die Hände und schaute unverwandt auf das Bild, als spräche sie ein Gebet.




Am andern Mittag zog ein starkes Gewitter hinter den Bergen empor und entlud sich über dem Paulinenthal. Der alte Heinemann sah seufzend, wie seine Nelken vom Sturme zerzaust wurden und wie das Wasser auf den Beeten floß, die zarten Wurzeln der frisch gepflanzten Gemüse lockerte und wohl gar dieselben wegschwemmte.

„O Jesus!“ seufzte er in der Küche, wo er die Abwäsche besorgte wie ein richtiges Küchenmädchen, „sehen Sie nur, gnädiges Fräulein, das regnet sich fest.“ Und er zeigte durch das Fenster nach den tannenbewaldeten Bergen hinüber, wo an einigen Stellen eine weiße Dunstsäule aus den Wipfeln emporstieg. „Der Hirsch raucht sein Pfeifchen; vor drei Tagen hört es nicht auf zu regnen, darauf können Sie sich verlassen. Wenn’s dann nur vorbei ist! Aber mitunter regnet es sich so in aller Gemüthlichkeit ein, und dann ist’s hier trübe.“

Und richtig, so kam es; ein echter Gebirgsregen begann. Auf der abschüssigen Landstraße rieselte das Wasser langsam hinunter; der kleine Waldbach drüben zwischen den Tannen glich einer schmutzigen Lehmbrühe und alle Blumen hingen die Köpfchen.

Die Kleine stand mit ihrer Puppe am Fenster von Fräulein Lindenmeyer’s Zimmer, drückte sich das Näschen platt an die Scheiben und fragte, wann es wieder aufhöre, naß zu sein da draußen. Im Garten sei es schöner. – Und die alte Dame saß eifrig strickend daneben und wandte gewohnheitsgemäß den Kopf, um durch die Scheiben nach Vorübergehenden zu spähen, aber vergeblich. Nur die lahme Botenfrau zog naß wie eine Made vorüber neben ihrem mageren Pferde; sie hatte den Kleiderrock über den Kopf geschlagen und dem Thiere eine Wachstuchdecke auf den Rücken geschnallt, und die Plane des Wägelchens triefte von Wasser.

Claudine machte in der Wohnstube Studien auf der Nähmaschine und bekam vor Freude rothe Wangen, als sie die erste tadellose Naht fertig hatte. Ja, die Arbeit, auch die verachtete mechanische weibliche Handarbeit, ist doch ein Segen, sie führt über manche Stunde des Kummers hinweg. – Joachim aber saß ganz vertieft über seinen Büchern. Es sei ein rechtes Wetter zum Schaffen, sagte er bei Tische; und sobald er gespeist, ging er wieder an sein Manuskript und hörte und sah nichts mehr.

Am folgenden Tage regnete es noch immer, und am dritten noch mehr. Im Altensteiner Herrenhause sah es eben so mißmuthig aus wie in der Natur; die Herzogin fühlte sich matt und angegriffen und hustete; das trübe Wetter brachte ihr trübe Zukunftsgedanken. Sie hatte versucht, dieser Stimmung Herr zu werden, indem sie Briefe schrieb an ihre Schwester, aber da waren plötzlich Thränen auf das Papier gefallen, und sie wollte doch nicht, daß die schwer geprüfte junge Wittwe in dem Gedanken noch bekümmerter würde, es könne ihr, der Leidenden, schlechter gehen. Sie war dann hinunter gestiegen, wo in dem großen Mittelsaal ihre beiden ältesten Söhne Fechtstunde erhielten; einen Moment hatte das kecke Draufgehen der schönen blondhaarigen Knaben sie mit Entzücken erfüllt; dann kam wieder die alte Schwäche über sie und Frau von Katzenstein mußte sie nach ihrem Ruhebette zurückführen. Sie ließ sich nach einem Weilchen den jüngsten Prinzen bringen, ein prachtvolles, gesundheitstrotzendes Kerlchen, der den letzten Rest ihrer Kraft genommen durch sein Erscheinen auf dieser Welt, und sie sah ihm mit seliger Lust in die lachenden blauen Augen. Wie glich er dem Vater, diesem über alles geliebten Manne! Und plötzlich erhob sie sich und schritt, das Kind auf dem Arme, durch das Zimmer der Thür zu.

Frau von Katzenstein und die Kammerfrau stürzten herbei und wollten ihr den kleinen Prinzen abnehmen; sie wehrte lächelnd: „Ich möchte den Herzog überraschen; bleiben Sie, bitte.“ Und auf den Zehen schlich sie sich über das spiegelnde Parkett des Salons, der ihre Zimmer von den seinen trennte, und stand hochathmend vor der Thür seines Gemaches.

Es war doch schön, ihn hier in Altenstein so nahe zu haben, zu ihm eilen zu können, wie jede andere glückliche Frau, die dem Vater das Kind zuträgt. Sie nahm das Händchen des Kleinen und ließ es pochen an das Getäfel der Thür. „Papa!“ [119] rief sie, „lieber Papa, mach’ auf, wir sind hier, die Liesel und der Adi!“

Dort innen wurde ein Kasten zugeschoben und gleich darauf die Thür geöffnet; der Herzog, im schwarzen Sammethausrock, erschien auf der Schwelle, offenbar verwundert über diesen Besuch. Am Schreibtisch stand Palmer, er hatte Papiere in der Hand; und auf der Platte des Tisches lagen verschiedene Blätter ausgebreitet.

„O, ich störe, Adalbert?“ sagte die junge Frau unter Hüsteln. Das Zimmer durchwogte ein starker bläulicher Rauch türkischer Cigaretten.

„Wünschest Du etwas, Elise?“ fragte er. „Entschuldige diesen Rauch, er reizt Dich zum Husten; Du weißt, ich habe diese leidige Angewohnheit beim Arbeiten. Aber komm, ich will Dich hinüber geleiten; es ist hier kein Aufenthalt für Dich.“

Sie schüttelte langsam das dunkle Köpfchen: „Ich wollte nichts“ – und mit einem Blick auf Palmer verschluckte sie die Worte: „ich wollte Dich nur sehen, Dir das Kind bringen.“

„Nichts?“ wiederholte er, und eine leise spöttische Ungeduld sprach sich aus in der Bewegung, mit der er ihr den Kleinen abnahm. „Aber, vor allen Dingen komm hier fort!“

Nach ein paar Minuten saß sie wieder auf ihrer Chaiselongue allein. Er hatte zu arbeiten; er ließ sich jetzt einen Vortrag halten über den Bau einer neu zu gründenden herzoglichen Forstakademie in Neurode, es war so wichtig. Auf ihre Frage: „Trinkst Du nicht den Fünfuhrthee bei mir, Adalbert?“ war nur ein zerstreutes: „Vielleicht, meine Theure, wenn ich Zeit finde. Warte nicht auf mich,“ die Antwort gewesen.

Nun schlug es fünf Uhr, und sie wartete doch; aber da rollte eben unter den Fenstern ein Wagen über den Kies der Gartenwege. Das war der Herzog; er fuhr aus, und bei dem Wetter! O ja, sie hatte es nur vergessen; er sprach schon gestern davon, nach Waldlust zu fahren, dem alten herzoglichen Jagdschloß, das renovirt werden sollte. Traurig legte sie den Kopf zurück an die Polster. Wie öde war es doch in den fremden Gemächern mit dem rieselnden Regen vor den Fenstern, und so allein! Das Kind spielte längst in seinem Zimmer mit der Gouvernante; der Herzog wollte nicht, daß sie es länger behielt, weil dessen Lebhaftigkeit sie zu sehr angreifen würde. Freilich, der Arzt verbot ihr täglich, sich anzustrengen; es ist doch hart, ein solches Verbot, wenn man Mutter ist! – Frau von Katzenstein saß zwar im Nebenzimmer, schlafend oder lesend, aber ebenso gut hätte Niemand dort zu sein brauchen; die herzensgute alte Dame verstand sie nicht, sie sorgte nur immer für das körperliche Wohl ihrer „süßen Hoheit“, um die Wette mit der Kammerfrau – aber sonst – – ach, dies Alleinsein! Sie griff wieder zu dem Buche, das ihr entglitten war; aber die Augen schmerzten; sie mochte nicht weiter lesen; es war eine so schaurige Erzählung; man wußte schon im Voraus, die Heldin ging an Selbstmord zu Grunde, das ist Mode jetzt. Aber wenn man selbst so traurig ist, und wenn draußen der Regen so einförmig niederrauscht, so als ob es nimmer wieder licht werden sollte, da darf man nichts lesen, was noch trüber stimmt. Ja, wenn man eine Seele hätte, mit der man sprechen könnte, so, wie sie einst mit ihrer Schwester sprach, als sie noch daheim, so recht vom Herzen weg! Ja, dann ist’s heimlich, wenn draußen das Wetter tobt, die Dämmerung das Zimmer umspinnt und im Kamin ein leichtes Feuer brennt.

Und auf einmal stand eine Gestalt vor ihren Augen – Claudine von Gerold in ihrem einfachen Kleide, das Schlüsselkörbchen am Arm, anmuthig waltend in der kleinen dürftigen Häuslichkeit des Bruders; wie ruhig sie erschien, wie glücklich und beglückend! Claudine hatte schon immer so vortheilhaft abgestochen gegen die andern Hofdamen; um die Welt hätte sie nicht die kleine Gräfin H. mit dem Soubrettengesichtchen und dem übermüthigen Wesen um sich haben mögen hier im stillen Altenstein, ebenso wenig wie Fräulein von X., die fast nie die Augen aufschlug, niemals lächelte; nie hätte man das Verlangen empfinden können, einer von ihnen näher zu treten. Aber Claudine, Claudine Gerold! – Und plötzlich ergriff sie eine förmliche Sehnsucht nach diesem stillen Mädchen mit den ernsten blauen Augen. Sie drückte auf den Knopf der silbernen Glocke, die ihr zur Seite stand, und dann ging sie zum Schreibtisch und warf in fliegender Eile einige Zeilen auf das Papier.

„Diesen Brief an Fräulein von Gerold. Ein Wagen soll hinüber, sie zu holen; aber eilen Sie!“

Und nun ergriff sie eine fieberhafte Unruhe. Eine Stunde konnte es dauern, in einer Stunde würde sie hier sein können. – Sie befahl, Feuer im Kamin zu machen, und ließ den Theetisch herrichten in der Nähe der spielenden zuckenden Flammen.

Dann wanderte sie im Zimmer umher, trat zuweilen ans Fenster und sah in die regennasse Landschaft hinaus. Eine Stunde verrann, noch immer kam sie nicht. Da – horch – ein Wagen! Sie trat vom Fenster zurück, sie hatte Herzklopfen wie eine junge Braut, die den Geliebten kommen hört, und mußte lächeln über sich selbst. „Christine würde mich wieder ‚fanatisch‘ schelten,“ flüsterte sie, ihrer Schwester gedenkend, als zu ihrem Erstaunen Baron Gerold gemeldet wurde, „den Hoheit befohlen“. Sie hatte das ganz vergessen. – Heute? Ja, es mußte wohl so sein! Richtig, sie hatte ihn gebeten, ihr einige Nachrichten über die angeblich große Armuth von Wahlerode zu bringen, dem nahe gelegenen Dorfe.

Sie freute sich, ihn zu sehen, und fragte eingehend nach allem, aber zwischendurch horchte sie immer wieder in die Ferne.

„Sie werden mich zerstreut finden, Baron; ich erwarte nämlich Besuch,“ sagte sie lachend, als sie sich inmitten einer Auseinandersetzung, den Bau eines Gemeindearmenhauses betreffend, rasch zum Fenster wandte. „Rathen Sie, wen? Aber nein, rathen Sie lieber nicht, dann wird es eine Ueberraschung für Sie. – Also, mein lieber Gerold, wenn Sie sich des Baues annehmen wollen, so können Sie auf meine Hilfe völlig rechnen.“

„Hoheit sind, wie immer, die Güte selbst,“ sprach Lothar und erhob sich.

„Seine Hoheit,“ scholl plötzlich die Stimme der Frau von Katzenstein, und gleich darauf trat der Herzog ein.

„O, wie gemüthlich, Liesel,“ sagte er heiter, die zarte Frauenhand küssend, die sich ihm entgegenstreckte. „Und Sie, lieber Baron, wissen Sie, daß ich eben meinen Jäger zu Ihnen schickte? Ich dachte an eine Partie L’hombre heute. Zum L’hombrespielen just das rechte Wetter – Wie?“

„Hoheit wollen über mich befehlen.“

Der Herzog verbarg ein leises Gähnen und nahm Platz am Kamin; die alte Hofdame war am Nebentische beschäftigt, den Thee zu bereiten; ein Lakai ging mit behutsamen Schritten ab und zu und stand jetzt wie ein Schatten an der Thür, des Augenblicks gewärtig, wo er die Tassen präsentiren könne. Die Dämmerung war rasch herunter gesunken; man unterschied nur undeutlich noch die Gesichter der Anwesenden; hie und da zuckte ein Flämmchen im Kamin empor und warf ein flüchtiges Streiflicht auf den Herzog. Er sah abgespannt aus und seine große weiße Hand strich in regelmäßiger Wiederholung durch den blonden Vollbart.

„Es ist doch sehr einsam hier an solchen Tagen,“ begann er endlich; „wir sind faktisch auf dem ganzen Wege, ausgenommen Ihr Fräulein Schwester, lieber Gerold, keiner Seele begegnet. Die resolute Dame ging mit Regenschirm und Waterproof so vergnügt auf der einsamen nassen Chaussee dahin, als sei es der wonnigste Maimorgen. Vermuthlich steuerte sie nach dem Eulenhause, denn sie schlug den Weg nach rechts ein.“

„Sicher, Hoheit; sie läßt sich so leicht durch kein Wetter abhalten, ihrer Kousine einen Besuch zu machen.“

Der Herzog nahm eben eine der wappengeschmückten Tassen. „Beneidenswerth!“ sagte er halblaut und that ein riesiges Stück Zucker in den duftenden Trank.

„Die Gesundheit, meinen Hoheit? In der That, die Gerolds wissen sämmtlich nicht, was Nerven sind; sie haben, was Ew. Hoheit Lieblingsautor seinen Onkel Bräsig sagen läßt, Nerven wie Stahl und Knochen wie Elfenbein.“

„Allerdings, das meinte ich,“ klang es aus dem Munde des Herzogs. Und hastig die Tasse leerend, fragte er: „Ist es jetzt Mode bei Dir, im Dunkeln zu sitzen, Liesel? Früher mußtest Du Licht haben um jeden Preis.“

„Fräulein Claudine von Gerold!“ sagte plötzlich die alte Hofdame; zugleich tönte das Rauschen eines seidenen Gewandes; durch die tiefe Dämmerung schritt eine Gestalt und eine leicht vibrirende klangvolle Frauenstimme sprach: „Hoheit haben befohlen!“

„Ach, meine liebe Claudine!“ rief die Herzogin erfreut und winkte nach einem Sessel, „meine ungeduldige Bitte hat Sie doch nicht derangirt?“

In diesem Augenblicke flammten die Lampen unter dem Plafond auf, und ein durch mattes Glas gedämpftes Licht erhellte das in [120] tiefem Purpurroth gehaltene Gemach und tauchte die kleine Gruppe der am Kamin versammelten Menschen in einen milden weißen Schein.

Der Herzog hatte sich, wie auch Baron Gerold, erhoben, und Beide sahen zu dem schönen Mädchen hinüber; Beide mit dem nämlichen Ausdruck der Ueberraschung. In den Augen Seiner Hoheit blitzte es einen Augenblick auf; dann wurde der Ausdruck wieder genau so apathisch wie vorher. Auf des Barons Stirn aber lag eine düstere Falte; doch auch sie verschwand blitzgeschwind. Und dort neben dem Sofa der Herzogin stand sie; die schwarze einfache Seidenrobe hob ihre schlanke ebenmäßige Gestalt prächtig hervor. Sie hatte kaum einen Hauch von Farbe auf ihren Wangen und sah nach einer tiefen Verbeugung vor Seiner Hoheit mit stillem Gesichtsausdruck zu der fürstlichen Frau hinunter.

Die Herzogin wies auf einen Sessel, den man hingeschoben hatte, und sprach von einem gemüthlichen Plauderabend, und ob Claudine auch wohl sei, sie sehe so blaß aus. Und mit eigener Hand reichte sie der jungen Dame einen Krystallflacon: „Nur ein paar Tropfen, liebste Claudine; etwas Arrak macht warm nach der kalten Fahrt.“

Der Herzog hatte nicht wieder Platz genommen; er lehnte am Kamin und sah augenscheinlich mit größtem Interesse auf die Bewegungen der alten Freiin, die eben mit einem Körbchen voll bunter Wollsträhne sich ihrer Gebieterin näherte und auf die abweisende Handbewegung der eifrig Sprechenden sich wieder entfernte. Mit keinem Worte betheiligte er sich an der Unterhaltung, in welche die fürstliche Frau auch Lothar hineinzog. Dieser stand hinter dem Sessel Claudinens, dem Herzog gegenüber, und antwortete mit eigenthümlichem Tonfall, als ob eine Gemüthsbewegung ihn am fließenden Sprechen verhinderte.

„Ich meine, der L’hombretisch wird uns erwarten,“ sagte der Herzog plötzlich, indem er leicht die Stirn seiner Gemahlin küßte und mit einer flüchtigen Verbeugung gegen Claudine hinausschritt, gefolgt von Lothar.

„Liebste Katzenstein,“ bat die Herzogin, „ich weiß, Sie wollen Briefe schreiben, lassen Sie sich nicht stören! Sie sehen, ich bin in der allerliebenswürdigsten Gesellschaft. Lassen Sie die Vorhänge zuziehen, die Spuren des Theetisches beseitigen und meine Chaiselongue hierher schieben; ich finde es so behaglich am Kamin, trotzdem heute der sechste Juni im Kalender steht. Und, liebste Katzenstein, die Lampen an den Flügel. – Sie singen doch ein wenig?“ wandte sie sich an Claudine.

„Wenn Hoheit befehlen –“

„O, ich bitte darum. Aber zunächst plaudern wir!“

Die lebhafte junge Frau, auf dem Ruhebette liegend, versuchte durch die bezauberndste Liebenswürdigkeit ihre stille Gefährtin zu diesem „Plaudern“ zu bewegen, und es lag doch wie ein Bann auf dem Mädchen. Es war ihr, als müsse sie ersticken in diesem künstlich erwärmten Raume, in den Erinnerungen an vergangene Zeiten, die sich aus jedem Winkel lösten, aus jeder Stuckarabeske auf sie hernieder schwebten. Hier in diesem schönen großen Gemach war ihnen als Kindern immer zu Weihnacht beschert worden, Joachim und ihr; hier hatte die kleine Ballfestlichkeit stattgefunden, ihrem jungen achtzehnjährigen Dasein zu Ehren; hier hatte sie weinend in tiefer Trauer den heimkehrenden Bruder und sein junges schönes Weib empfangen, während dort unten im Erdgeschoß die Leiche des Vaters aufgebahrt lag. Damals war jener Erker in einen Garten verwandelt gewesen; unter blühenden Granatbäumen hatten Sessel gestanden, damit Joachim’s Weib die nordische Heimath nicht gar so traurig erscheine; die purpurrothen Blüthen sollten ein Gruß sein aus dem fernen Vaterlande, hatte Claudine gemeint, und sie hatte doch nur erreicht, daß die schönen Augen der jungen Schwägerin sich mit Thränen füllten. „O wie klein sind diese Blüthen – wie sehen sie krank aus!“ hatte sie geklagt. – Ach, wie schwer war doch diese Zeit gewesen!

Claudinens Blicke kehrten wie aus tiefen Träumen in die Gegenwart zurück; die Stimme der Herzogin hatte sie geweckt, und so bang und thränenschwer waren diese Blicke, daß die fürstliche Frau verstummte; aber eine zaghafte Hand griff nach der des Mädchens und hielt sie fest.

„Ach, ich vergaß, daß es Sie traurig machen muß, fremde Menschen in Ihrem Vaterhause zu sehen.“

Es klang so innig, so weich, und die kleine heiße Hand drückte so treu; Claudine wandte den Kopf, um die Thränen zurückzudrängen, die ihre Augen verschleierten.

„Weinen Sie doch, es erleichtert,“ sagte die Herzogin einfach.

Claudine schüttelte den Kopf und bemühte sich gewaltsam, ihre Fassung wieder zu gewinnen, doch wollte es ihr nicht recht gelingen. Was tobte und stürmte nicht alles in ihrer Seele, und nun auch noch die Güte dieser Frau!

„Verzeihung, Hoheit, Verzeihung!“ stieß sie endlich hervor. „Gestatten Hoheit, daß ich mich bald zurückziehen darf; ich fühle, ich kann heute nicht die Gesellschaft sein, die Hoheit wünschen –“

„O nimmermehr, meine liebe Claudine! Ich lasse Sie nicht! Denken Sie, ich vermöchte Sie nicht zu verstehen? Mein liebes Kind, auch ich habe heute schon geweint.“ Und der erregten leidenschaftlichen Frau lief eine stille Thräne um die andere über das fieberheiße Gesicht. „Ich habe einen traurigen Tag heute,“ sprach sie weiter, „ich fühle mich so krank, ich muß immerfort ans Sterben denken; mir kommt das schreckliche Erbbegräbniß unter der Schloßkirche unserer Residenz nicht aus dem Sinn, und dann denke ich an meine Kinder und an den Herzog. Warum muß man solche Gedanken haben, wenn man noch so jung ist und so glücklich wie ich? O, sehen Sie mich nur an, liebste Claudine, ich bin glücklich – bis auf meine Krankheit. Ich habe einen Gatten, dem ich über alles theuer bin, und so liebe, liebe Kinder, und doch diese schwarzen, diese schrecklichen Beängstigungen! Mir wird heute das Athmen so schwer.“

„Hoheit,“ sagte das junge Mädchen bewegt, „es ist die schwüle Luft.“

„O, natürlich! Ich bin nervös, und es geht vorüber, ich weiß es; seit Sie hier sind, ist mir auch schon besser. Kommen Sie nur oft, recht oft! – Ich will Ihnen gestehen, meine liebe Claudine – Mama kennt mein Geheimniß – ich hege, seit ich Sie gesehen, ein so großes Verlangen, Sie in meiner Umgebung zu haben. Mama war aber selbst so entzückt von Ihnen, daß sie nichts von einer Trennung wissen wollte; ich kann es ihr ja auch nicht verdenken. Der Herzog selbst bat für mich, aber sie schlug es rund ab.“

Claudine rührte sich nicht; nur ihre Augen senkten sich, und ihr Antlitz überflog einen Augenblick eine Purpurgluth.

„Es ist wunderbar – die gute Mama versagt mir sonst nichts! Ja, und nun, liebe Claudine, komme ich zu meiner Bitte: Bleiben Sie bei mir, wenigstens für die Zeit unseres hiesigen Aufenthaltes!“

„Hoheit, es ist unmöglich!“ stieß Claudine fast schroff hervor. Und wie flehend setzte sie hinzu: „Mein Bruder, Hoheit, sein Kind!“

„O, ich lasse das gelten; aber Sie müssen mindestens einige Stunden täglich für mich erübrigen, Claudine, ein paar Stunden nur! Geben Sie mir die Hand darauf. Nur ein paar Lieder dann und wann! Sie wissen gar nicht, wie wohl mir wird bei Ihrem Gesang.“

Das schmale fiebernde Gesichtchen der fürstlichen Frau beugte sich vor, und die unnatürlich glänzenden Augen schauten bittend in die des Mädchens. Es sprach eine so rührende Mahnung an das verlöschende Leben aus diesem Antlitz –. Warum mußte diese Frau so bitten? Und was erbat sie sich in ihr? Wenn sie ahnen könnte – aber nein, sie durfte es nicht ahnen!

„Hoheit!“ stammelte Claudine.

„Nein, nein! So leicht bin ich nicht abzuweisen, ich wünsche mir eine Freundin und – eine edlere, bessere, treuere als Sie, Claudine, finde ich nicht. Warum lassen Sie mich so bitten?“

„Hoheit!“ wiederholte das Mädchen überwältigt und beugte sich auf die Hand, die noch immer die ihre hielt. Aber die Herzogin hob ihr Gesicht empor und küßte sie auf die Stirn.

„Meine liebe Freundin!“ sagte sie.

„Hoheit! Um Gotteswillen, Hoheit!“ zitterte es durch das Gemach. Aber die Herzogin hörte es nicht; sie hatte den Kopf zu der alten Kammerfrau gewendet, die mit gedämpfter Stimme meldete, daß der Herzog mit den Herren im Salon neben dem Spielzimmer soupiren werde, und fragte, wo Ihre Hoheit zu speisen befehle.

„Im kleinen Salon hier oben,“ befahl die Herzogin, und enttäuscht blickte sie Claudine an. „Ich hatte mich doch so gefreut auf den heutigen Abendtisch! Wir hätten eine so nette Partie Carrée gehabt, der Herzog, Ihr Vetter und wir!“ Und scherzend fügte sie hinzu: „Ja, ja, meine liebe Claudine, wir armen Frauen müssen das Herz unserer Männer immer noch mit einigen Passionen theilen; die Jagd und das L’hombre, sie haben mir schon manche Thräne ausgepreßt; aber – wohl der Frau, die nicht um ein Mehr zu weinen braucht!“

[122] Es wurde neun Uhr, bevor Claudine die Erlaubniß erhielt, heimzufahren. Als sie, von der Kammerfrau der Herzogin geleitet, die breite, wohlbekannte Treppe hinunter schritt, begegnete ihr ein Lakai mit zwei silbernen wappengeschmückten Champagnerkühlern. Sie wußte, daß Seine Hoheit kleine Spielpartien liebte mit sehr viel Heidsieck Monopol und sehr viel Cigaretten; man saß dort oft, bis der Morgen graute. – Gott sei Dank, daß es auch heute so war!

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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 9, S. 133–138

[133] Auf leisen Sohlen huschte Claudine vollends die mit einem Purpurteppich belegten Stufen hinunter; am Portal stand der alte Diener ihres Vaters, Friedrich Kern, jetzt in herzoglicher Livree, und sein ehrliches Gesicht zog sich vor Freude in tausend Falten. Sie nickte ihm freundlich zu und eilte hinaus. Mit einem erleichternden Aufathmen sank sie in die seidenen Kissen des Wagens; sie hatte sich gefürchtet wie ein Kind, es könne ihr noch jemand auf dem Korridor, auf der Treppe entgegen treten, jemand! Nein, Gott sei Dank! sie saß allein in dem fürstlichen Wagen, und der Wagen trug sie ihrer Heimath zu, ihrer eigensten Heimath! O, niemals hatte sie eine solche Sehnsucht nach dem einfachen kleinen Stübchen empfunden wie heute. Eine Weile überließ sie sich dem Gefühl, ohne zu denken; dann öffnete sie plötzlich das Fenster und fuhr sich über die Stirn; dieser Duft der parfümirten Wagenkissen machte alte peinvolle Erinnerungen aus der Residenz lebendig. Es war das Lieblingsparfüm des Herzogs; der schwere süßliche Geruch pflegte aus all seinen Kleidern zu strömen, ihn stets zu umgeben wie eine Wolke; es hatte ihr oft Schwindel verursacht, wenn Se. Hoheit mit ihr im Tanze über das Parkett geflogen war. Sie ballte plötzlich die Hand und alles Blut strömte ihr zum Kopfe. Nichts in der Welt macht Vergangenes so lebendig wie der Geruch.

Sie öffnete auch noch das andere Fenster und saß im Zugwind, den die rasche Fahrt schuf, die Lippen auf einander gepreßt und thränenfunkelnden Auges. Sie war doch wieder über diese Schwelle gegangen, gezwungen worden, darüber hinweg zu treten! Was hatte ihr die Flucht genützt? Nichts! Garnichts! Wollte er sein Wort wahr machen, er werde sie überall zu finden wissen?

Die Gedanken verwirrten sich hinter ihrer Stirn; sie kam sich schlecht, kam sich gesunken vor; hätte sie nicht die Hand der fürstlichen Frau zurückweisen müssen, so schroff wie Beate es gethan? – Ach, Beate! Wie schritt die so eben und klar ihren Weg! Und da schimmerten eben die Fenster des Neuhäuser Wohnhauses aus dem Geäste der Linden; eine plötzliche Sehnsucht nach der aufrichtigen schlichten Weise ihrer Kousine erfaßte sie – nur ein Wort von ihr hören, nur aus ihren Augen lesen, ob sie denn wirklich etwas [134] so Unrechtes gethan? Sie zog die seidene Schnur, die um den Arm des Dieners befestigt war, und befahl, nach dem Neuhäuser Schlosse zu fahren.

In dem weiten Hausflur kam just Beate daher, das klirrende Schlüsselbund in der Hand und hinter sich ein Mädchen, das einen Stoß frisch aus dem Spinde genommenen Leinenzeuges trug.

„Wie, Du bist das?“ rief Beate mit ihrer lauten Stimme, daß es sich schallend an den Wänden brach. „Herr des Himmels, wo kommst Du denn heute Abend noch her?“

Claudine stand unter der schwankenden, schmiedeeisernen Hängelampe; aus dem schwarzen Spitzentuch, das sie um den Kopf trug, sah ihr Gesicht fast marmorbleich hervor. „Ich wollte Dir guten Abend sagen im Vorüberfahren,“ sprach sie.

„Ei, da tritt ein! Woher kommst Du? Sicher aus Altenstein, Deiner feierlichen Toilette nach? Ich hatte eigentlich die Absicht, Euch heute aufzusuchen; aber da begegnete mir in der Nähe Eures Hauses die Berg mit der Kleinen, und rathe, wer noch im Wagen saß? Herr von Palmer! Na, das machte mich neugierig, ich pfiff dem Kutscher und bat um die Erlaubniß, bei dem schlechten Wetter gleichfalls unsere Equipage benutzen zu dürfen. Die beiden Herrschaften waren natürlich sehr entzückt, wie mir schien. Höre, Claudine, auf Liebesgeschichten verstehe ich mich schlecht, mir fehlt jegliche Erfahrung, aber – hier, ich lasse mich darauf köpfen, die werden ein Paar.“

Sie hatte während dieser Erzählung die Kousine in die Wohnstube geleitet und in einen der steifen mit braunem Rips bezogenen Lehnstühle gedrückt. „Aber, sag’ doch,“ rief sie von der andern Ecke des Zimmers her, wo sie am Nähtischchen Schere, Zwirn und Nadel suchte, „kommst Du von Altenstein? Und ist der herzogliche Wagen etwa draußen? Ja? – Aber, mein liebes Kind, dann schicken wir ihn doch fort? Unser Lorenz macht sich ein Vergnügen daraus, Dich nachher hinüber zu fahren.“ Sie warf einen Blick auf den Regulator über dem Sofa, der zwischen den Porträts ihrer Eltern hing. „In fünf Minuten halb Zehn; bis zehn Uhr kannst Du doch bleiben?“ Und schon war sie am Glockenzug neben der Thür und rief ihre Befehle dem herbeieilenden Hausmädchen zu.

„Hast Du Lothar nicht gesehen?“ fragte sie dann; „der Jäger des Herzogs war hier, um ihn nach Altenstein zu citiren. Dich haben sie wohl auch holen lassen?“

Claudine nickte.

„Du machst ja ein recht erbauliches Gesicht dazu, Schatz!“ sagte Beate lachend und setzte sich zum Nähen zurecht.

„Ich bin nicht ganz wohl; ich wäre lieber daheim geblieben.“

„Warum sagtest Du das nicht ehrlich?“

Claudine wurde roth. „Ich glaubte es nicht sagen zu dürfen – die Herzogin schrieb so liebenswürdig.“

„Na ja, Claudinchen, eigentlich kannst Du es auch nicht,“ erwiederte Beate und wichste den Faden, mit dem sie eben einen abgerissenen Henkel an ein grobes Leutehandtuch nähte. „Sie sind doch immer sehr gütig gegen Dich gewesen,“ fuhr sie fort, „und diese kleine Herzogin ist trotz ihrer Exaltation doch eine Seele von einer Frau – und so krank! Nein, weißt Du, es wäre geradezu eine Unart, wolltest Du ihr nicht ein so geringes Opfer bringen. Wenn Du Dir etwa Sorgen machst, daß Eure Wirthschaft unter Deiner Abwesenheit leide, so beruhige Dich nur, Kindchen, das übernehme ich.“

Sie stand bei diesen Worten auf und machte sich wieder am Nähtisch zu schaffen, als wollte sie Claudine nicht ansehen.

„Du bist so freundlich,“ murmelte das Mädchen. Auch die Ausrede, daß sie ihre Pflicht daheim nicht lassen könne, ward ihr genommen. Es war, als ob sich alles gegen sie verschwöre.

„Aber Du hast mir noch nicht gesagt, war Lothar in Altenstein?“ fragte Beate zurückkommend.

„Er spielt mit Sr. Hoheit L’hombre.“

„O Jemine, das soll immer sehr lange dauern! Wer sind denn die Anderen von der Partie?“

„Vermuthlich der Adjutant oder der Kammerherr und – irgend Einer, vielleicht Palmer.“

„Ah – der! Richtig! Er sagte, er habe es eilig, als er sich von mir im Wagen verabschiedete. Ich bot ihm an, nach Altenstein zu fahren, aber er dankte, er sei gerade auf einem Spaziergang begriffen gewesen – bei diesem Regen, Claudine – als er Frau von Berg getroffen habe. Er ziehe es vor zu gehen. Auch gut, sagte ich und ließ ihn laufen. Mich amüsirte nur das Gesicht der guten Berg, als ich in den Wagen schneite; würde sie zufällig einen Schierlingsbecher statt der Milchflasche des Kindes bei der Hand gehabt haben, ich hätte dran glauben müssen. Kutscher und Kinderfrau erzählten mir nachher, Herr von Palmer sei schon öfter ‚zufällig‘ mit Frau von Berg zusammengetroffen, und die Letztere fügte hinzu: ‚Dann sprechen sie jawohl Welsch‘ – womit sie ‚französisch‘ meint – ‚denn ich verstehe kein Wort.‘ Aber mein Gott, da kommt ja Lothar schon; sieh doch den Hund!“

Der prachtvolle Hühnerhund hatte sich erhoben und stand nun wedelnd vor der Stubenthür; ein rascher elastischer Schritt näherte sich und gleich darauf trat der Baron ein. Er sah einen Moment ganz bestürzt auf Claudine, die sich erhoben hatte und ihr Spitzentuch wieder über den Kopf band.

„Ah! Meine gnädige Kousine,“ sagte er, sich verbeugend, „und ich glaubte Sie noch in den Altensteiner Salons. Se. Hoheit brachen die Partie so plötzlich ab, daß ich annahm, Sie wollten noch ein gemüthliches Abendstündchen bei der Frau Herzogin verleben. Hoheit hatten übrigens entschiedenes Unglück im Spiel,“ fuhr er fort; „indessen, das nahm er sichtlich für ein gutes Zeichen, er ist abergläubisch, wie alle großen Geister. Wenigstens nannte er mich mit Vorliebe heute Abend ‚Vetter‘, und das geschieht immer nur, wenn das Barometer sehr hoch steht.“

Er hatte bei diesen Worten den Hut aus der Hand gelegt und streifte die Handschuhe ab.

„Gieb mir einen Trunk ehrlichen kühlen Bieres, Schwester,“ bat er dann mit veränderter Stimme; „dieser süße französische Sekt und diese süßen Cigaretten sind mir entsetzlich zuwider. Aber wollen Sie schon fort, Kousine?“

„Bleib’ doch noch!“ sagte Beate, und zu Lothar gewendet, fügte sie hinzu: „Sie ist freilich nicht ganz wohl, aber da die Herzogin ihr den Wagen gleichsam in die Stube schickte, blieb ihr nichts weiter übrig, als hinzufahren.“

Herr von Gerold lächelte und nahm das schäumende Glas, das ein Diener ihm brachte. „Allerdings,“ sagte er und trank.

Claudine, die während seines Sprechens aufgestanden war und das Tuch um ihre Schultern gezogen hatte, ward, als sie dieses Lächeln sah, bleich wie der Tod. Und plötzlich stand sie vor ihm, hochaufgerichtet und stolz.

„Allerdings,“ wiederholte sie mit zuckender Lippe, „ich konnte die Aufforderung Ihrer Hoheit nicht zurückweisen. Ich bin heute zu ihr gegangen und werde morgen wieder gehen und übermorgen und alle Tage, wenn Hoheit es befiehlt! Ich weiß, ich handle auch im Sinne Joachim’s, wenn ich einer Kranken ein paar Leidensstunden verkürzen helfe; sei es nun die Herzogin oder das arme Weib, welches Tagelöhnerdienste in unserem Garten versieht.“

Sie hielt plötzlich inne, aber es war, als thäte sie sich Gewalt an, um nicht weiterzusprechen.

„Laß den Wagen vorfahren, Beate,“ bat sie dann, „es ist hohe Zeit, ich muß heim.“

Einen Moment war das Lächeln von seinem Antlitz gewichen, jetzt aber zuckte es schon wieder um seinen Mund. Er verbeugte sich tief und wie zustimmend. „Gestatten Sie, daß ich Sie begleite,“ sagte er nun und griff nach seinem Hut.

„Ich danke Ihnen, ich möchte allein sein!“

„Ich bedaure, daß Sie meine Gegenwart noch eine Viertelstunde ertragen müssen, aber ich lasse Sie nicht allein fahren.“

Sie faßte Beate um den Hals und küßte sie.

„Was hast Du?“ fragte diese. „Du zitterst ja?“

„O nichts, Beate.“

„Also laß es mich wissen, Claudine, wenn Du nicht daheim bist; ich hole mir dann die Kleine.“

Und wieder fuhr sie in den schweigenden Wald hinein. Sie lehnte in der Ecke des Wagens, ihr Kleid hatte sie dicht an sich gezogen und mit ihrer Hand fest in die Falten gegriffen, als wollte sie irgend etwas zerdrücken, um ihre innere Empörung zu beschwichtigen. Neben ihr saß Lothar; der Schein der Wagenlaterne streifte seine Rechte, an welcher der goldene breite Ehering blitzte; sie ruhte unbeweglich, als schlafe Der, dem sie gehörte. Kein Wort ward geredet in diesem lauschigen, seidengepolsterten kleinen Raum, der zwei Menschen abschloß von dem [135] Unwetter und den Schrecken der Nacht. In dem Herzen des Mädchens wogte ein Sturm von Zorn und Schmerz; was glaubte dieser Mann von ihr, was war sie in seinen Augen?

Sie vermochte es nicht auszudenken, denn schreckhaft klangen ihr die eigenen Worte in die Ohren: „Und morgen werde ich wieder hingehen, und übermorgen und alle Tage!“

Nun war der Würfel gefallen; was sie gesagt, das that sie, und sie that das Rechte.

Sie beugte sich vor; Gottlob! Dort schimmerte das Licht aus Joachim’s Fenster; nun hielt der Wagen und der Schlag wurde aufgemacht. Baron Gerold sprang hinaus und bot ihr die Hand zum Aussteigen. Sie übersah es und ging der Pforte zu. Mit einer stolzen Wendung des Kopfes streifte sie ihn noch einmal, und da glaubte sie beim Scheine der Laterne, die der alte Heinemann mit hoch erhobenem Arme hielt, zu sehen, daß er ihr mit einem bekümmerten Ausdruck nachschaue. Aber das war wohl nur Einbildung gewesen, hervorgerufen durch das Schattenspiel. Pah! Lothar bekümmert, um sie bekümmert!

Sie kam fast athemlos in das Haus, und hinter sich hörte sie das Rollen der Equipage, mit der er nach Neuhaus zurückkehrte.

„Sie schlafen schon alle,“ wisperte der alte Mann, indem er seiner Herrin die Treppe hinaufleuchtete, „nur der gnädige Herr arbeiten noch. Die Kleine hat bei Fräulein Lindenmeyer gespielt, und dann haben wir Erdbeeren mit Milch gegessen; es ging alles wunderschön. Das gnädige Fräulein brauchen garnichts mehr zu thun, von rechtswegen.“

Sie nickte ihm zu mit ihrem ernsten blassen Gesicht und schloß die Thür ihres Stübchens hinter sich; dort sank sie auf den ersten besten Stuhl und schlug die Hände vor das Gesicht – und so saß sie lange, lange.

„Er ist nicht besser als die Anderen,“ sagte sie endlich und schickte sich an zu Bette zu gehen; „auch er glaubt nicht mehr an Frauenehre, an Frauenreinheit!“

Was hatte sie ihr genutzt, ihre Flucht? Glaubte nicht gerade Er – Er das Schlimmste von ihr? Sein Lächeln – die Reden heute Abend – hätten es ihr gezeigt, auch wenn sie es nicht schon längst gewußt. O, die ganze Welt mochte denken von ihr, was sie wollte – wenn nur ihr Herz, ihr Gewissen rein blieb! Sie allein würde dafür sorgen, daß sie den Blick nicht niederzuschlagen brauchte.

Sie preßte die Lippen auf einander. Wohl, sie würde ihm zeigen, daß eine Gerold selbst den trübsten schlammigsten Weg zu gehen vermag, ohne sich auch nur die Schuhsohlen zu beschmutzen! Und sie schaute hastig dorthin, wo sie den Stern zwischen dem Geweihe des Hirsches wußte; ihretwegen würde sein Glanz nie verbleichen!

Sie erhob sich, zündete Licht an und blickte sich in ihrem Stübchen um; wie sah es hier aus! Die Spuren ihres Seelenkampfes, ihrer in Unordnung gerathenen Gedanken zeigten sich erschreckend deutlich in dem sonst so zierlichen Raum; dort die Schrankthür weit geöffnet, auf der Kommode Schleifen, Nadeln, Kämme in wirrem Durcheinander, verschiedene Kleider auf Bett und Stühlen; alles spiegelte so klar die Stunde der Unentschlossenheit wieder, die sie durchlebt hatte, ehe sie nach Altenstein fuhr. Planlos hatte sie die Sachen aus den Behältern genommen und sie immer wieder hingeworfen; sie wollte nicht, nein, sie wollte nicht gehen und fand doch nicht den Muth, sich mit einer Lüge entschuldigen zu lassen. Draußen hatten die Pferde ungeduldig gescharrt vor der fürstlichen Equipage und eine Viertelstunde nach der andern war verstrichen, bis Joachim zuletzt kam: „Aber, Schwester, bist Du noch nicht fertig?“

Da war sie gegangen.

Sie begann aufzuräumen; wie erleichtert athmete sie auf, als wieder Ordnung um sie herrschte. Ja, es war nun überhaupt alles geordnet; sie selbst hatte die Entscheidung getroffen in einem Moment des Zornes, des bittersten Wehes. Aber war es wirklich das Rechte?




Frau von Berg saß in ihrem Zimmer im Neuhäuser Schlosse am Schreibtisch. Die Thür zum Nebenraum stand offen; dort wohnte das Kind mit einer Wärterin. Vor den Fenstern rauschte der Regen hernieder und winkten die nassen Zweige der Linden; die Dame hatte sich in ein dickes wollenes Tuch gehüllt und schrieb; die Erregung mochte wohl ihre Feder führen; denn diese jagte förmlich über das starke krêmefarbige Papier und die Buchstaben waren so merkwürdig klein und flüchtig; eine eigenthümliche Schrift, die an zierliche Katzenpfötchen erinnerte.

Sie war außerordentlich schlechter Laune, und als eben Beatens laute Stimme vom untern Hausflur bis hier herauf scholl, machte sie eine Faust und sah zornfunkelnd zur Thür hinüber. Wer stand ihr denn dafür, daß dieser Hausdrache nicht, kraft seines Amtes, wieder einmal bei ihr eindrang, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung hier oben? Ebenso, wie sie gestern, kraft ihrer Autorität, in den Wagen gedrungen war und eine gemüthliche Plauderstunde gestört hatte. Und das Schlimmste blieb eben, daß man hier so machtlos war. Der Herr Baron hatte ja kaum noch Augen für sein Töchterlein, und wo diese Augen waren, das wußte sie nur zu genau. Gestern Abend hatte er sie ja noch bei Nacht und Nebel nach dem Eulenhause begleitet!

Sie blickte durchs Fenster; dann nickte sie, als ob ihr etwas Besonderes einfalle, und schrieb weiter:

„Ich habe bereits gestern Prinzeß Thekla in meinem wöchentlichen Bericht über das Befinden ihres Enkelkindes verschiedene Andeutungen gemacht, die nach allem, was ich Ihnen schon meldete, Prinzeß Helene in einen ihrer bekannten Wuthanfälle versetzt haben werden. Es ist kaum glaublich, wie sehr diese junge Dame zur Eifersucht neigt; nun, ich erzählte Ihnen ja öfter davon.

Uebrigens, mein bester Palmer, hörte ich gestern Abend im Vorübergehen an dem Wohnzimmer – ich kam aus der Plättstube, wo ich einen Disput mit dem Hausmädchen hatte – Sie glauben nicht, wie man sich ärgern muß in diesem gottbegnadeten Musterhaushalt, wenn man einmal etwas Außergewöhnliches verlangt – ich hörte also im Vorübergehen, wie das Gänschen, ci-devant Schwan, ihrem allergetreuesten Verehrer mit erhobener Stimme erklärte, daß sie die Absicht habe, jeden Tag nach Altenstein zu pilgern! Somit hätte sich ja Ihre Prophezeiung als wahr erwiesen. Wie sagten Sie doch noch? ‚Es giebt kein besseres Mittel, einen schüchternen Liebhaber um den letzten Rest gesunder Vernunft zu bringen, als ein wenig Versteck mit ihm zu spielen.‘ Darauf wäre ich nie gekommen! Sie sagen freilich, der Herzog ist abgekühlt – tant mieux! Erlauben Sie mir aber, vorläufig noch einige geringe Zweifel an dieser ‚Abkühlung‘ zu hegen; ich glaube den Allergnädigsten besser zu kennen.

Morgen hoffe ich Sie zu sehen. Mademoiselle Beate hat nämlich großes Reinmachen angesagt. Sie pflegt sich dabei ein weißes Kopftuch umzubinden und mit einem langen Besen die Ahnenbilder abzustäuben. Es ist ein Festtag dann; es giebt Kartoffelklöße mit Backobst zum Diner; ah, es ist ein idyllisches Leben hier! Lange halte ich es nicht mehr aus, mein Bester, die Versicherung gebe ich Ihnen. Sorgen Sie, daß man nicht ewig hier bleibt; dann hört auch meine Gefangenschaft auf. Lassen Sie Cholerabacillen im Brunnenwasser sein auf Altenstein, oder setzen Sie einige Dutzend Ratten und Mäuse in die allerhöchsten Zimmer; lassen Sie den seligen Oberst oder die schöne Spanierin spuken gehen oder den Blitz einschlagen: mir einerlei was, wenn es nur die Einwohner hinaustreibt und ich die Dächer der Residenz wiedersehe; ich kann in dieser Kuhstallluft nicht athmen.“

Sie brach hier wieder ab und wandte den Kopf nach dem Nebenzimmer, wo ein erbärmliches Kinderweinen erklang. Ein bitterböser Ausdruck überflog das volle weiße Gesicht der Lauschenden. „O Gott, ich wollte, daß –“ murmelte sie und erhob sich.

„Frau von Berg, die Kleine ist sehr unruhig,“ berichtete die Kinderfrau.

„So geben Sie ihr doch Milch; mein Gott, sie wird Hunger haben; was ist’s denn weiter!“

„Sie nimmt nichts, gnädige Frau.“

„So tragen Sie das Kind umher; es muß sich beruhigen.“

„Ich darf das Kindchen nicht herausnehmen, so lange es in dem nassen Umschlag liegt; der Arzt hat’s extra –“

Frau von Berg schleuderte die Feder auf den Tisch und rauschte in das Kinderzimmer.

„Ruhig! Ruhig!“ rief sie mit ihrer gellenden Stimme und klatschte, an das Bett tretend, in die Hände; ihre Augen sahen so drohend aus, so geradezu wüthend, daß das Kind verstummte, um nach ein paar Sekunden desto lauter zu schreien. Es klang so ängstlich, so hilfesuchend, dieses Weinen, daß die Kinderfrau [138] von der Spiritusmaschine, wo sie das verordnete Süppchen kochte, herzustürzte, und daß draußen auf dem Korridor plötzlich Schritte erklangen und Baron Gerold im nächsten Moment auf der Schwelle stand.

„Ist Leonie krank?“ war die erste Frage, und seine verdüsterten Augen suchten das Kind im Bettchen, das jetzt seine Aermchen verlangend nach ihm ausstreckte, aber auch ruhig ward.

Frau von Berg war verlegen, aber sie blieb standhaft am Fuße des Bettchens. „Nein,“ erwiederte sie, „nur hungrig oder eigensinnig.“

„Aber es war nicht das Schreien eines eigensinnigen Kindes,“ sagte er kurz und bestimmt.

„Nun, es ist auch möglich, daß sie sich nicht wohl fühlt,“ erklärte die schöne Frau; „es ist mir schon längere Zeit vorgekommen, als vertrage die Kleine die Luft hier nicht; man denke auch, von dem weichen lauen Klima der Riviera nach dem deutschen Waldklima, in diese kühle scharfe Bergluft!“

Er sah sie ernsthaft an.

„Meinen Sie?“ fragte er. Und dieser Tonfall trieb ihr das Blut in die Wangen, sie fürchtete längst seinen Sarkasmus. „Ich bedaure nur,“ fuhr er gelassen fort, „daß das arme Kindchen da von dem ersten Arzte Nizzas direkt in diese scharfe kühle Luft verwiesen wurde. Es muß sich nun leider schon daran gewöhnen; denn vor der Hand liegt Nizza so wie so außer Frage, da sein Vater gegenwärtig gezwungen ist, hier zu bleiben. Im Uebrigen, meine liebe Frau von Berg, scheint ihm die ‚kühle, scharfe‘ Luft dennoch recht gut bekommen zu sein; gestern sah ich, wie das Kind lebhaft durch das Zimmer rutschte und sich an jenem Stuhl dort völlig allein aufrichtete.“

Frau von Berg zuckte unmerklich die Schultern.

„Was will das heißen für ein zweijähriges Kind?“ sagte sie.

„Bleiben Sie logisch, gnädige Frau; es ist hier davon die Rede, ob das Kind Fortschritte im Befinden gemacht hat oder nicht. Das Alter der Kleinen gehört nicht hierher. – Ich möchte Ihnen jetzt noch eine Mittheilung machen, die Sie vermuthlich interessiren dürfte. Ihre Durchlauchten, Prinzeß Thekla und Helene, werden in allernächster Zeit auf einige Wochen nach Neuhaus kommen, um sich persönlich von dem Befinden ihrer Enkelin zu überzeugen. Woher mag doch Ihre Durchlaucht wissen, daß der Reitenbacher Arzt mein Kind jetzt behandelt? Haben Sie keine Ahnung?“

Frau von Berg wechselte die Farbe. Sie blieb jedoch ruhig und zuckte die Achseln.

„In meinen verschiedenen Schreiben an Ihre Durchlaucht habe ich nichts davon verlauten lassen,“ fuhr er fort und trat von dem Bette an das Fenster; „ich liebe nicht das Hineinreden in die Anordnungen, die ich treffe. Außerdem – Prinzeß Thekla ist Homöopathin und hat alle Taschen voll Kügelchen und Tropfen. Haben Sie wirklich keine Ahnung, Frau von Berg?“

Sie schüttelte den Kopf. „Keine!“ antwortete sie.

Er achtete auch schon nicht mehr darauf; er preßte plötzlich die Stirn an das Fensterkreuz und starrte auf die Chaussee, die sich wie ein weißer leuchtender Streifen am Walde dort drüben hinzog. Da kam ein herzoglicher Wagen im schnellsten Tempo gefahren; ein Frauenantlitz ward einen Moment hinter der Spiegelscheibe des Fensters sichtbar, dann war die Equipage verschwunden. – Claudine fuhr nach Altenstein!

Als er sich umwandte, sah er seltsam bleich aus. Frau von Berg musterte ihn mit einem bösen Lächeln um den Mundwinkel; auch sie hatte den Wagen gesehen. Er bemerkte es nicht; er trat zu dem Bettchen des Kindes, das jetzt schlief, und betrachtete das kleine kränkliche Geschöpf lange Zeit.

Frau von Berg ging mit leisem Schritt in das Nebenzimmer. Er blieb stehen und allmählich legte sich ein harter bitterer Zug um seinen Mund. Die alte Kinderfrau hinter dem blauverhangenen Bettchen sah ihn starr an – der Herr mochte wohl das arme Kindchen gar nicht leiden, weil es seiner vergötterten Frau das Leben gekostet, als es geboren ward? Ja, ja, es kam das öfter vor, daß so ein Würmchen es entgelten mußte! Armes Ding, so ein unschuldiges Geschöpfchen, das bestimmt ist, stets mit vorwurfsvollen Augen angesehen zu werden; armes Ding!

Und plötzlich wandte sich der Mann dort am Bettchen und ging mit schnellen Schritten hinaus. Die Alte duckte sich scheu und hielt die Hände über das fest schlummernde Kind; sie meinte, die Thür müßte krachend ins Schloß fliegen, so desperat hatte er ausgesehen. Gott sei Dank! Er schloß sie zwar hastig und fest, aber die Kleine schlief weiter.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 10, S. 149–152

[149] Ja, Claudine fuhr zu Hofe. Sie saß da in dem Wagen mit dem stillen stolzen Ausdruck, den ihre Züge für gewöhnlich zeigten. Sie hatte heute früh ihren Haushalt besorgt und war dann nach Tische aus ihrem Aschenbrödelgewand geschlüpft, um die eben so einfache wie elegante Toilette aus dunkelblauer weicher Seide anzulegen, die sie noch einige Tage, bevor sie um ihre Entlassung gebeten, von dem Schneider zugeschickt bekommen. Es war keine Eitelkeit von ihr; sie war gezwungen, diese Robe zu wählen; denn Ihre Hoheit hatte gestern gesprächsweise erwähnt, daß sie schwarze Kleider nicht liebe.

Als Claudine, um Abschied zu nehmen, zu ihrem Bruder in das Thurmzimmer trat, betrachtete er sie verwundert.

„Wie schön Du aussiehst!“ sagte er stolz und küßte sie auf die Stirn.

Und sie blickte ihn ängstlich und verwirrt an; „ich habe kein anderes Kleid, Joachim – und bei diesem trüben Wetter – ?“

„Ich mache Dir doch keinen Vorwurf,“ erwiderte er freundlich, „ich freue mich nur über die harmonische Wirkung Deiner blonden Haare mit dem tiefen Blau. Leb’ wohl, Schwesterchen, geh’ ohne Sorgen; Elisabeth ist gut aufgehoben bei Fräulein Lindenmeyer, und ich schreibe. Was zögerst Du denn noch, Liebling? Hast Du Kummer?“

Sie war wie schwankend ein paar Schritte zu ihm hinüber getreten, und ihre Lippen bewegten sich leise, als wollte sie sprechen. Dann wandte sie sich rasch, murmelte ein „Adieu!“ und ging. Ihm, dem Träumer mit dem weichen Gemüth, durfte sie ihre Sache nicht zur Entscheidung vorlegen. Selbst handeln, das ist der einzig richtige Weg. So war sie denn in den Wagen gestiegen mit dem Unbehagen, das edle Naturen erfaßt, wenn nicht alles klar und durchsichtig um sie her erscheint, und dennoch mit dem festen Vorsatz, durch eigene Kraft sich aus diesem Irrsal herauszufinden.

Aber was in aller Welt sollte sie zunächst thun? Die Herzogin rief – und sie mußte kommen. Wenn sie nicht krank lag, hatte sie keinen einzigen Grund abzulehnen; eine Lüge wollte sie nicht sagen und die Wahrheit durfte sie ihr gegenüber nicht aussprechen. Und war sie denn nicht am sichersten neben der fürstlichen Gemahlin? In dem Boudoir der Gattin durfte keiner der heißen flehenden Blicke sie streifen; in Gegenwart dieser liebenswürdigen Frau mußte jeder selbstsüchtige Wunsch verstummen. Sie drückte das Batisttuch an die pochende Schläfe, als könne sie den Schmerz dämpfen, der dort schon den ganzen Tag gewühlt.

Dort unten tauchten jetzt die hochgiebligen Dächer des Altensteiner Schlosses aus den Gipfeln der Bäume, und gerade in diesem Augenblick brach nach langen düstern Regentagen der erste Goldblitz der Sonne aus den lichter gewordenen Wolken und ließ den vergoldeten Knauf des Thurmes aufleuchten, als sende ihr die alte Heimath einen Willkommengruß.

„Ihre Hoheit haben schon mit Ungeduld gewartet,“ berichtete flüsternd die alte Frau von Katzenstein in dem Vorzimmer, „Hoheit wollen von Ihnen ein neues Lied von Brahms hören und haben diesen Morgen zwei Stunden an der Klavierbegleitung geübt. Sie sind schrecklich nervös und aufgeregt, liebste Gerold; es hat einen kleinen Disput mit Seiner Hoheit gegeben.“

Das junge Mädchen sah fragend in das Gesicht der Hofdame.

[150] „Entre nous, liebste Gerold,“ flüsterte diese; „Hoheit wünschten, daß der Herzog heute Nachmittag den Thee bei ihr nehme, und er lehnte es rundweg und mit einer Kürze ab, die fast unfreundlich genannt werden kann. – ‚Wir wollen musiciren,‘ sagte Ihre Hoheit schüchtern, ‚und ich glaubte, mein Freund, Du habest Dich gerade im letzten Winter sehr für Gesang interessirt? Ich meine, Du hast die kleinen musikalischen Abende bei Mama niemals versäumt?‘ – Seine Hoheit antwortete darauf: ‚Ja, ja, gewiß, meine Theure – aber – augenblicklich – ich habe Palmer zu einem Vortrag befohlen, und da das Wetter besser, so will ich mit Meerfeld auf den Anstand heute Abend; Du weißt, der Arzt hat mir dringend gerathen, so viel frische Luft wie möglich.‘“

Claudine drehte ihr Notenheft in den Händen; sie war roth geworden und unendlich peinlich berührt durch diesen Bericht. „Wollen Sie mich Ihrer Hoheit melden?“ fragte sie.

„Sogleich, liebstes Geroldchen; lassen Sie mich Ihnen nur noch erzählen: die Herzogin wandte ihm den Rücken und sagte ganz leise: ‚Du willst nicht, Adalbert!‘ Und dann ist er ohne Antwort fortgegangen, und sie ist zu tausend Thränen aufgelegt.“

Die fürstliche Frau saß an ihrem Schreibtisch, als Claudine eintrat, und streckte ihr die Hand entgegen. „Es ist, als ob der Sonnenstrahl, der eben da draußen aufleuchtet, in mein Zimmer geflogen käme mit Ihnen, beste Claudine,“ sprach sie liebenswürdig mit ihrer matten klanglosen Stimme. „Sie glauben nicht, wie einsam man sich bisweilen fühlen kann unter Menschen, selbst unter denjenigen, die uns alles sein sollen – ja sogar sind. – Ich habe vorhin in beängstigender Unruhe mein Tagebuch geholt und darin geblättert, da ist mir leichter geworden. Ich habe doch schon viel, sehr viel Glück erlebt; das tröstet mich und macht mich dankbar. Nehmen Sie Platz; sind das die Lieder, von denen ich sprach?“ Sie ergriff die Noten und blätterte darin. „Ah, richtig – Liebestreue! Sie sollen es mir nachher singen, liebstes Fräulein von Gerold; jetzt möchte ich bitten, eine kurze Spazierfahrt mit mir zu machen; ich sehne mich unaussprechlich nach frischer Luft und – Gott sei Dank! – der Himmel hat sich gelichtet.“

Als die Damen nach einer Stunde zurückkehrten, nahmen sie den Thee, und dann trat Claudine an den Flügel. Die Herzogin lag auf ihrer Chaiselongue und lauschte; die alte Hofdame saß am Fenster hinter der fürstlichen Frau und achtete auf die leiseste Bewegung ihrer Gebieterin.

Claudinens schöne weiche Altstimme schwebte durch den leicht dämmerigen Raum; sie hatte zwar die Noten da vor sich stehen, aber sie brauchte sie nicht. Und so reihte sich Lied an Lied. Sie sang mit einer traurigen Lust; der kostbare Flügel stand merkwürdigerweise in dem nämlichen Zimmer, an der nämlichen Stelle, wo einst ihr Instrument gestanden. Das volle süße Glück ihrer Jugend ward lebendig in dieser Umgebung; sie wußte nicht, wie es kam, daß Joachim’s Lieblingslied von ihren Lippen floß:

„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar –
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein, was mein einst war –“

Sie sang die traurige einfache Weise mit innigem Gefühle, und dann brach sie inmitten der letzten Strophe mit einem Tone ab, der wie gebrochen klang, und nach ein paar falschen Accorden, welche die begleitende Hand noch mechanisch griff, ward es still.

Dafür scholl es aber weich und leise durch das Gemach: „Adalbert, ich wußte ja, Du würdest kommen!“

Claudine hatte sich erhoben und starrte zu der hohen Gestalt hinüber, die sich eben zu einem Kuß herabneigte auf die Hand der Gattin. Nun verbeugte sie sich und faßte nach der Lehne ihres Sessels, als müßte sie sich stützen.

„Singen Sie weiter, Fräulein von Gerold,“ bat der Herzog; „es ist lange her, seitdem ich die Freude hatte, Sie zu hören.“

Er saß im tiefen Schatten neben dem Lager seiner Gemahlin, den Rücken dem Fenster zugewandt. Claudine sah sein Gesicht nicht; sie wußte aber, daß der letzte rosige Schein der Abendsonne sie streifte. Das machte sie noch verwirrter. Sie suchte sich gewaltsam zu fassen; aber als sie einsetzte, klang die Stimme verschleiert und kraftlos; es war, als schnüre ein Krampf ihr die Kehle zu. Sie stammelte eine Entschuldigung und erhob sich.

„Wie eigenthümlich!“ sagte die Herzogin. „Haben Sie schon früher daran gelitten, liebste Claudine?“

„Niemals, Hoheit!“ stotterte sie der Wahrheit gemäß.

„Es giebt derartige nervöse Erscheinungen,“ bemerkte der Herzog ruhig; „vielleicht hast Du Fräulein von Gerold bereits zu sehr angestrengt?“

„O, das wäre möglich; verzeihen Sie, meine liebe Claudine, und ruhen Sie sich aus,“ rief sichtlich erschreckt die Herzogin. Und sie winkte das junge Mädchen zu sich auf das kleine Sesselchen, von dem soeben der Herzog aufgestanden war, um fast unhörbaren Schrittes im Zimmer auf- und abzugehen.

„Setzen Sie sich so, daß ich Ihr Gesicht erblicken kann,“ bat sie. „Wirklich, Sie sehen angegriffen aus; aber jetzt kommt Ihre Farbe wieder. Mein Gott, ich glaube fast, Sie haben sich vor dem plötzlichen Eintritt des Herzogs erschreckt! – Adalbert!“ lachte sie und bemühte sich, ihren Kopf zu wenden – er stand in diesem Augenblick hinter ihrem Sofa. „Du wirst schuld an diesem Verstummen sein – o Du böser Mann, was richtest Du für Sachen an!“

Unwillkürlich hatte Claudine die Augen zu dem Angeredeten erhoben, um sie im nächsten Moment tödlich erschreckt zu senken – da war er ja wieder, dieser heiße, flehende Blick! Ueber das Haupt der Gattin hinweg war er zu ihr geflogen, indeß seine Stimme so ruhig erklang: „Es sollte mir leid thun, gnädiges Fräulein; ich kann mir aber nicht denken, daß mein Erscheinen hier etwas Erschreckendes, Ungewöhnliches haben soll. Ich –“

„O gewiß nicht, Hoheit,“ erwiderte Claudine laut und richtete sich empor, „ich war in dem Augenblick ermüdet, ich hatte ein wenig Kopfschmerz – es ist mir jetzt viel besser.“

„Um so besser!“ lächelte die Herzogin, „und nun wollen wir plaudern. Du bist so stumm, Adalbert; wie kam es, daß Du Dein Jagdvergnügen aufgabst? Erzähle! War es wirklich nur, weil Du diesen Abend bei mir sein wolltest?“ – Und sie folgte ihm, wenn er wieder an ihr vorüberschritt, mit glückseligen Augen, und ohne eine Antwort abzuwarten, plauderte sie weiter: „Denke Dir, Adalbert, der Erbprinz hat ein Gedicht gemacht, seine ersten Verse; der Doktor ließ es mir heute zugehen; er hat es in seinem Lateinheft gefunden; willst Du es lesen? Liebste Claudine, dort, auf meinem Schreibtisch unter dem Briefbeschwerer – nein, dort unter dem mit der Statuette des Herzogs. Danke sehr; würden Sie es uns vorlesen? Es ist so kindlich geschrieben und so ernst empfunden.“

Claudine nahm das Blatt, trat zum Fenster und las beim sinkenden Tageslicht die großen kinderhaften Schriftzüge:

„Wenn ich ein Mann erst werde sein,
Hab’ ich ein Wörtlein mir erkoren –
Das schreibe ich ins Herz mir ein,
Daß niemals werde es verloren:
Treu will ich sein, das ist mein Wort,
Treu meinem Volk, treu meinem Gott,
Treu meinen Freunden immerfort;
Treu meiner Pflicht, mir selber treu,
Daß treu stets meine Treue sei!“

Claudine konnte das Gesicht der Herzogin nicht erblicken; aber sie sah, wie sie die Hand nach dem Gatten ausstreckte, und hörte, wie eine leisbebende Stimme flüsterte: „Dein Sohn, Adalbert!“ Und laut fragte sie: „Ist es nicht köstlich?“

Er hatte sein Umherwandern eingestellt. „Ja, es ist köstlich, Elise; möge der liebe Gott ihn so führen, daß es ihm niemals schwer falle, die Treue zu halten.“

„Das kann nicht schwer fallen, Adalbert, niemals!“

„Niemals?“ fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Niemals! – Was sagen Sie, Claudine?“

„Hoheit, es kann Fälle geben,“ begann das schöne Mädchen, „wo es einen schweren Kampf kostet, die Treue zu halten.“

„Aber dann ist’s keine Treue, die durch Liebe bedingt wurde,“ unterbrach die fürstliche Frau und ihre Wangen wurden heiß; „dann ist es eine künstliche Treue.“

„Ja,“ sagte der Herzog halblaut; sie klang eigenthümlich, diese einfache Bestätigung.

„Dann ist’s eben keine Treue, dann ist’s Pflichtgefühl,“ erklärte die Herzogin eifriger.

„Treue in der Pflicht – sie ist vielleicht der höchste Grad der Treue, Hoheit,“ sprach Claudine sanft.

[151] „Ach, das ist ja ein Streiten um des Kaisers Bart, bestes Kind,“ unterbrach abermals die Herzogin; „eine Treue, die erst mit sich kämpfen muß, hat überhaupt ihre Bedeutung verloren. Wenn zum Beispiel – sans comparaison – wenn der Herzog,“ sie stockte einen Augenblick und ein schalkhaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, „wenn – nun, wenn er mit seinen Gedanken zuweilen – sagen wir einmal – bei Ihnen, Claudine, wäre, dann würde doch seine Gattentreue keinen Werth mehr haben und wäre er thatsächlich der tadelloseste Ehemann. Hörst Du, Adalbert? Dann hättest Du, nach meiner Ansicht, überhaupt schon die Treue gebrochen.“

Der Herzog hatte sich umgewendet und schaute zum Fenster hinaus; Claudine saß mit fast entstellten Zügen da; die Herzogin bemerkte es nicht; sie lachte jetzt, es war eine so drollige Idee, die sie eben ausgesprochen. Und sie lachte weiter, so kindlich glücklich, wie nur der zu lachen versteht, der ein großes Glück sein eigen nennt und spielend von einem möglichen Verlust spricht, weil er so sicher weiß, daß dies niemals möglich sein kann.

„Claudine!“ rief sie dazwischen, „wie sehen Sie aus! Aengstigen Sie sich nicht, es ist kein Hochverrath; nicht wahr, Adalbert, Du weißt, wie ich oft necke? Mein Gott, und nun thut mir die Brust weh – o das Lachen. – Claudine! Claudine!“ Das Wort erstarb in einem heftigen Hustenanfall. „Wasser! Wasser!“ stieß sie hervor.

Das erschreckte Mädchen war aufgesprungen und zu dem Tischchen geeilt, das stets eine Wasserflasche trug. Frau von Katzenstein, die in das Zimmer gestürzt war, hielt die nach Athem Ringende in den Armen; der Herzog stand mit finsterer Miene neben der Chaiselongue; die Leidende hatte seine Hand wie im Krampf erfaßt.

Sie war wie geschüttelt von dem furchtbaren Husten und vermochte nicht zu trinken. Mit leisem Schritte kam der herbeigerufene Arzt durch das Zimmer; Claudine trat zur Seite und gab dem alten liebenswürdigen Herrn Raum.

„Lieber Doktor Westermann!“ stieß die Kranke hervor, „es wird schon besser, es geht vorüber – o mein Gott, ich athme wieder!“

Die allerletzte graue Dämmerung füllte das Zimmer. Claudine hatte sich in die Fensternische zurückgezogen; sie stand wie auf glühenden Kohlen und sah, fast abwesend, auf die Gruppe inmitten des Gemaches.

Jetzt trat der Herzog zurück, und die Leidende fragte mit matter Stimme: „Habe ich Dich sehr erschreckt, Adalbert? Vergieb mir!“

Er machte eine verneinende Bewegung, aber es lag viel heimliche Ungeduld darin.

„Hoheit müssen sich sogleich niederlegen,“ erklärte der Arzt.

Der Herzog, der sich bereits der Thür genähert hatte, kam plötzlich zurück. Frau von Katzenstein stützte die Kranke, die sich gehorsam erheben wollte. Sie winkte freundlich zu Claudine hinüber:

„Auf Wiedersehen! Ich werde Sie bald rufen lassen, Liebste! Gute Nacht, mein Freund,“ wendete sie sich dann zum Herzog; „morgen bin ich wieder ganz wohl.“

Der Arzt trat, nachdem die Kranke hinter dem Vorhang verschwunden war, zum Herzog.

„Hoheit, es ist nichts Aengstliches; nur muß die hohe Patientin sehr geschont werden – keine aufregenden Gespräche, keine geistreichen Debatten, wie Ihre Hoheit es lieben. Das Temperament Ihrer Hoheit spielt mir ohnehin schon böse Streiche; ebenmäßig langweilig soll die Kranke leben.“

„Bester Medicinalrath, Sie kennen ja die Herzogin – eben hat sie übrigens bloß ein wenig gelacht.“

„Ich erlaube mir nur, Ew. Hoheit nochmals darauf aufmerksam zu machen,“ erwiderte der alte Mann sich verbeugend.

Der Herzog winkte sichtlich zerstreut und ungeduldig mit der Hand. „Guten Abend, lieber Westermann.“

Claudine erschrak; sie preßte sich tiefer hinein in die Dämmerung der Fensternische und blickte dem sich entfernenden Arzte mit seltsam bangen Augen nach. Sie war allein – allein mit dem Herzog. Das, was sie stets klug zu vermeiden gewußt, was er unverkennbar gesucht, heiß gesucht, war geschehen. Aber – vielleicht hatte er ihre Gegenwart vergessen; er schritt so erregt auf und ab im Zimmer. O, er würde sie nicht bemerken; das einzige Licht des Armleuchters, das man vorhin so eilig angezündet hatte, genügte kaum, den nächsten Umkreis des Kamins zu erhellen, und sie stand geborgen hinter dem seidenen Vorhang der Fensternische.

In athemloser Angst verharrte sie, wie ein verfolgtes Reh, das dem Jäger nicht mehr zu entrinnen weiß. Sie hörte das Klopfen ihres Herzens so deutlich, wie seine gedämpften Schritte dort auf dem weichen Teppich. Dann zuckte sie empor – die Schritte näherten sich; eine hohe Gestalt war unter den Vorhang getreten und eine Stimme, welche von einer leidenschaftlichen Aufregung seltsam klanglos gemacht wurde, nannte ihren Namen: „Claudine!“

Sie trat furchtsam einen Schritt seitwärts, als wollte sie eine Gelegenheit erspähen, zu fliehen.

„Claudine,“ wiederholte er und bog sich herab zu ihr, daß sie trotz der tiefen Dämmerung den flehenden Ausdruck seiner Augen sehen mußte. „Die Scene that Ihnen weh? Sie war nicht meine Schuld – ich möchte Sie um Verzeihung bitten.“

Er wollte nach ihrer Hand fassen; sie barg sie in den Falten ihres Kleides. Kein Wort kam aus ihrem fest geschlossenen Munde; so stand sie in stummer Abwehr, mit den schönen zornigen Augen ihn anblickend.

„Wie soll ich das verstehen?“ fragte er.

„Hoheit, ich habe den Vorzug, die Freundin der Herzogin zu sein!“ sagte sie dann verzweiflungsvoll.

Ein trauriges Lächeln flog einen Moment über sein Gesicht. „Ich weiß es! Sie sind im Allgemeinen nicht dafür, von heut auf morgen Freundschaften zu schließen; indessen – Sie meinen, man müsse alles benutzen?“

„So scheinen Ew. Hoheit zu denken!“

„Ich? Auf Ehre nicht, Claudine! Aber Sie, Sie haben sich mit wahrer Sturmeseile hinter die Schranke geflüchtet, die diese Freundschaft zwischen Ihnen und mir errichtet.“

„Ja!“ sagte sie ehrlich, „und ich hoffe, daß Hoheit diese Schranke achten – oder –“

„Oder? – Ich ehre und erkenne Ihre Zurückhaltung an, Claudine,“ unterbrach er sie, in respektvoller Entfernung von ihr stehen bleibend. „Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen wie ein verliebter Page nachschleichen werde. Nichts soll Sie daran erinnern, daß ich Sie liebe, so leidenschaftlich, wie je ein Mann ein Mädchen geliebt hat. Aber erlauben Sie mir, daß ich in Ihrer Nähe sein darf, ohne dieser eisigen Kälte begegnen zu müssen, die Sie mir gegenüber zur Schau tragen; lassen Sie mir die – Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Sonne auch für mich scheinen wird, nur diese Hoffnung, Claudine!“

„Ich liebe Sie nicht, Hoheit!“ sagte sie stolz und kurz und richtete sich hoch auf; „gestatten Sie, daß ich mich zurückziehen darf.“

„Nein! Noch ein Wort, Claudine! Ich verlange kein Zugeständniß Ihrer Neigung; es ist weder die Zeit dafür noch der Ort; Sie haben Recht, mich daran zu erinnern! Daß ich die Herzogin nicht aus Liebe gewählt habe, daß meine erste innige Liebesleidenschaft Ihnen gehört – kann ich dafür? Ich meine, das geschieht Besseren als mir! Es kommt ohne unser Zuthun, ist da und wächst mit jeder Stunde; wächst, jemehr wir dagegen kämpfen. Ich weiß nicht, ob Sie so fühlen wie ich? Ich hoffe es nur und will ohne diese Hoffnung nicht leben.“ Er trat näher und bog sich zu ihr nieder. „Nur ein Wort, Claudine,“ bat er leise und demüthig, „darf ich hoffen? Ja, Claudine? – Sagen Sie ja! und kein Blick soll verrathen, wie es um Sie und mich steht.“

„Nein, Hoheit! Bei der Liebe zu meinem Bruder schwöre ich Ihnen, ich fühle nichts für Sie!“ preßte sie hervor und wich zurück bis an das Fenster.

„Für einen Andern, Claudine, für einen Andern? Wenn ich das sicher wüßte!“ tönte es leidenschaftlich.

Sie antwortete nicht.

Er wandte sich mit einer verzweiflungsvollen Bewegung und ging zu der gegenüberliegenden Thür; dann kam er noch einmal zurück.

„Glauben Sie denn, daß nicht allen Rücksichten der Ehre genügt werden würde? Glauben Sie, ich könnte Sie erniedrigen?“ fragte er, „glauben Sie –“

„Hoheit beginnen bereits damit,“ unterbrach sie ihn, „indem Sie mir in dem Zimmer Ihrer kranken Gemahlin von Liebe sprechen.“

„Wenn Sie die Sache so auffassen …“ sagte er schmerzlich.

„Ja, das thue ich, Hoheit, bei Gott, das thue ich!“ rief das schöne Mädchen fassungslos.

„Claudine, ich bitte Sie!“ flüsterte er, und wieder schritt er hastig im Zimmer auf und ab, daß die Flammen des Armleuchters [152] auf dem Kamin sich im Zuge seitwärts legten und dunkler brannten. Und abermals trat er vor sie. „Sie wissen, daß mein Bruder, der Erbprinz, plötzlich starb, kurz vor meines Vaters Tode, vor nunmehr zwölf Jahren?“ fragte er.

Sie neigte bejahend den Kopf.

„Nun, Sie wissen aber nicht, daß damals seitens unseres Hofes mit dem Kabinett zu X. Unterhandlungen stattgefunden hatten über das Projekt einer Heirath der Prinzessin Elise mit dem Erbprinzen, meinem Bruder. Man war fast zum Abschlusse gelangt, das heißt, mein Bruder sollte wie von ungefähr nach X. zur Brautschau kommen – da starb er und mit den Rechten, die ich übernahm, übernahm ich auch die Pflichten. Nach beendeter Trauerzeit reiste ich nach X. und freite die Braut.“

„Es ist freier Wille gewesen, Hoheit!“

„Mit nichten! Mir war diese Heirath eine schwere Bürde mehr zu der, die mir ohnehin die Krone brachte. Prinzeß Elise, die mich ahnungslos empfing und mich mit ihren großen Kinderaugen anstarrte, war von der Bewerbung meines Bruders so wenig unterrichtet, wie von der Absicht, mit der ich ihr entgegentrat. Sie läßt sich leicht begeistern, und mit wenig Mühe gewann ich ihr Herz; mir waren die Frauen höchst gleichgültig zu jener Zeit, ich kannte die Besten nicht, die Andern schienen mir langweilig. Prinzeß Elisabeth war mir unbequem im Anfang; ich vertrage es nicht, wenn Frauen beständig in höheren Regionen schweben. Ich hasse alles Exaltirte, dieses himmelhoch Jauchzende, zum Tode Betrübte; ich konnte anfänglich rasend werden bei ihren Thränenergüssen. Später wurde mir das, was mich anfangs abstieß, im höchsten Grade gleichgültig. Ich bin ihr stets ein aufmerksamer Gatte gewesen und von einer gewissen nachsichtigen Schwäche gegen ihre Kapricen, seitdem sie krank; ich ehre und achte sie als die Mutter meiner Kinder; aber mein Herz blieb ewig ruhig und ward immer ruhiger, je inniger ihre Neigung zu mir wurde. Ich kann nicht dafür; es wird auch nicht anders durch Reflexionen darüber. Da sah ich Sie. Ich weiß, ja ja ich weiß, Sie beurtheilen das vom herkömmlichen Standpunkte und flüchteten vor dieser Neigung in Ihr Waldidyll; aber mich trieb es nach mit dem alten heißen Sehnen und ich finde Sie unnahbarer als je, finde Sie als die Freundin der Herzogin.“

Es zuckte unsicher in seinem Gesicht. „Gut, Claudine, ich werde für jetzt mich bescheiden,“ fuhr er fort; „nur die eine Bitte noch, sagen Sie mir, lieben Sie einen Andern?“

Sie schwieg. Eine Purpurgluth floß über ihr Antlitz; die vollste schämige Mädchenhaftigkeit kam über sie. Stumm senkte sie das blonde Haupt.

„Sagen Sie ‚Nein‘!“ flüsterte der Herzog leidenschaftlich.

„Hoheit wünscht, Fräulein von Gerold möge mit den Aventiureliedern von Scheffel in das Schlafzimmer kommen, um Hoheit vorzulesen,“ sagte Frau von Katzenstein eintretend.

Claudine war erschreckt zusammengefahren und sah ihn an, wie um Erbarmen flehend.

„Ja – oder Nein, Claudine, ist Ihr Herz schon gebunden?“ flüsterte er befehlend.

Sie trat zurück und verbeugte sich tief. „Ja!“ sagte sie fest und schritt hochaufgerichtet an ihm vorüber, in der Hand das Buch, das sie mechanisch vom Tisch genommen. Vorlesen – jetzt? Sie war halb betäubt.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 11, S. 170–172

[170] Die Herzogin lag in ihrem mächtigen französischen Himmelbette, dessen schwere seidene Purpurvorhänge zurückgenommen waren. Das ganze Gemach zeigte dieses tiefe satte Roth, die Lieblingsfarbe seiner Bewohnerin; unter der Decke hing eine Ampel aus Rubinglas. Neben dem Bette stand ein niedriges mit rother Seide bezogenes Tischchen, darauf eine Lampe mit ebenfalls rothem Lichtschirm; in einem zusammenlegbaren Juchtenrahmen die Photographie des Herzogs und der Prinzen. An der gegenüberliegenden Wand hing in schwerem Goldrahmen eine wundervolle Kopie der Madonna della sedia; der erste Blick der Erwachenden mußte dieses schöne Bild treffen.

Die fürstliche Frau schien sich ganz erholt zu haben; sie lag mit einer gewissen Behaglichkeit unter ihrer Purpurdecke und lächelte der Eintretenden entgegen. „Setzen Sie sich auf das Tabouret hier und lesen Sie mir die Thüringer Lieder, liebe Claudine. War der Herzog noch bei Ihnen?“ fragte sie dann, „ist er sehr geängstigt über den Hustenanfall? Es thut mir so leid, wenn ich in seiner Gegenwart husten muß; ich weiß, er ist dann verstimmt. War er sehr traurig?“

Die Kranke sah forschend in die bewegten Züge des schönen Mädchens, welches nicht wußte, was sie antworten sollte. Sie nahm Platz und bückte sich nach ihrem Taschentuch zur Erde, um Zeit zu gewinnen. Wie furchtbar war doch ihre Lage!

„Claudine,“ sagte die Herzogin, „ich glaube, Ihr haltet mich alle für sehr krank, für kränker als ich bin. Lesen Sie nur, ich will keine Antwort. Dort, wo das Zeichen liegt.“

Und Claudine las mit bebender Stimme:

„Denn das ist deutschen Waldes Kraft,
Daß er kein Siechthum leidet
Und alles, was gebrestenhaft,
Aus Leib und Seele scheidet –“

„Hören Sie?“ unterbrach die Herzogin, „hören Sie? Auch ich werde hier genesen! Und morgen wird die Sonne scheinen, und wir wandern hinaus in die Tannen und athmen Gesundheit – o, meine geliebte Heimath!“

* *
*

Als Claudine Abends die Treppe hinabstieg, um heimzufahren, trat ihr Herr von Palmer entgegen und begleitete sie vollends hinunter. Er gab hinter Claudinens Rücken der Kammerfrau einen Wink, die sogleich verschwand.

„Mein gnädiges Fräulein,“ begann er mit einer geflissentlich zur Schau getragenen Ehrfurcht – er hätte nicht devoter sein können, wäre sie die Herzogin selbst gewesen – „Se. Hoheit hat mich mit dem schmeichelhaften Auftrage betraut, ein Billet in Ihre Hände zu legen, was ich hiermit thun möchte.“

Er hielt ihr ein Briefchen hin, mit dem herzoglichen Wappen gesiegelt. „Es betrifft Ihre Hoheit, die Frau Herzogin, und Antwort sei nicht nöthig, sagten Hoheit. Darf ich bitten?“

Sie mußte es nehmen, obgleich sie die Hand des Menschen am liebsten zurückgestoßen hätte. Wie konnte der Herzog so unvorsichtig sein, ihr durch diese Kreatur einen Brief, einen verschlossenen Brief zu senden! Sie riß das Kouvert in seiner Gegenwart auf und las; es waren nur wenige Zeilen:

„Claudine! 

Sie sind ein ungewöhnlicher Charakter und werden dementsprechend auch das Ungewöhnliche richtig beurtheilen. Nach Ihrem letzten Wort – habe ich nur noch eine Bitte: bleiben Sie der Herzogin auch trotzdem eine Freundin, geben Sie meinem Bekenntniß nicht die Folge, Altenstein zu meiden! Sie haben es nicht nöthig, Claudine! Bei meinem Wort, Sie dürfen mir vertrauen!

Adalbert.“     

Sie ging rasch, Billet und Kouvert in der herabhängenden Rechten tragend, weiter. Herr von Palmer folgte ihr und half ihr devot in den Wagen; er ließ sich sogar nicht nehmen, behutsam die Schleppe ihres Kleides in das Koupé zu legen, so zart und vorsichtig wie eine Mutter, die um den Ballstaat einer Tochter besorgt ist, und trat erst mit tiefer Verbeugung zurück, als der Diener die Wagenthür schloß.

„Auf Wiedersehen!“ sagte er, als jetzt der Lakai zum Kutscher auf den Bock sprang und die Pferde anzogen. Dann nahm er mit lächelnder Miene aus seinem rechten Aermel ein Papier. „Man muß derartiges fester halten, schöne Claudine,“ murmelte er und überflog die Zeilen beim Scheine der Thürlaterne.

Er nickte befriedigt und ging, eine Operettenmelodie vor sich hinsingend, in das Schloß zurück, um sein Zimmer im Erdgeschoß aufzusuchen. Dort zündete er sich eine Havanna an, warf sich auf die Chaiselongue und überlas das Billet noch einmal. Was es enthielt, wußte er bereits seit Stunden; er las, sozusagen, alles, was der Herzog schrieb, heimlich, aus der Ferne, aus der Bewegung der Feder; schlimmsten Falles öffnete man so ein Kouvert. Heute war es sogar ohne diese Mühe geschehen; denn der Herzog war, bevor er das Kärtchen in die Enveloppe schob, erregt aufgesprungen und im Zimmer umher gegangen, und somit hatte der Inhalt des Billets für solche Falkenaugen offen dagelegen. Aber trotzdem, es war doch angenehm, das Original zu besitzen!

„Se. Hoheit scheinen einen etwas stürmischen Anlauf genommen zu haben,“ murmelte er, „und sie – hat ihn in tugendhafter Entrüstung abgewiesen, gedroht, nicht wieder zu kommen. Und nun bittet er, der Herzogin wegen, diesen grausamen Vorsatz aufzugeben, und verspricht Besserung. Zeit gewonnen – alles gewonnen! denkt er. Es entwickelt sich sehr logisch, es ist gar nichts dagegen zu sagen – hm! Sie ist klug, sie wird sich nie begnügen, Sr. Hoheit die Stirn mit Rosen zu bekränzen; sie wird regieren helfen wollen; diese Damen glauben ja alle, ihre schiefe Stellung durch sogenannte gute Thaten zu sühnen; sie wollen den Unglücklichen, den sie in ihrer Macht haben, veredeln, wollen dem Volke zeigen, daß sein geliebter Herrscher keiner Unwürdigen in die Hände fiel; es soll anbetend vor ihnen auf den Knieen liegen und sie ‚des Landes guten Engel‘ nennen. Und mit ihrem auf Kleinliches gerichteten Interesse sehen auch die Klügsten nur das, was ihnen zunächst vor Augen steht, und dieses Nächste könnte möglicher Weise im vorliegenden Falle – ich sein!“

Er blies den Rauch seiner Cigarre zur Decke empor und betrachtete die Stuckarabesken dort oben.

„Sie kann mich nicht leiden,“ sprach er weiter; „es geht ihr mit mir, wie es weiland dem unschuldigen Gretchen mit Mephisto erging; und es ist klar, daß sie eines Tages zu ihrem fürstlichen Faust sagen wird: ‚Der Mensch, den Du da bei Dir hast, ist mir in tiefer innerer Seele verhaßt‘ – und so weiter. Das möchten wir am Ende doch verhindern! Ich will es nicht darauf ankommen lassen, ob der Herzog ihr glaubt oder nicht – daß ich ein Schelm. Einstweilen freilich – Attention! Die Berg wird helfen, sie hat eine hervorragende Begabung für Intriguen; mir selbst graut zuweilen vor diesem Weibe.“

„Das Souper ist servirt,“ meldete ein Lakai. Herr von Palmer erhob sich ohne allzu große Eile, schloß sorgsam das Billet in einen riesigen alten Schreibtisch, dessen Täfelung das Gerold’sche Wappen zeigte, ordnete vor einem großen Stehspiegel sein spärliches Haar, wusch sich mit einer wahren Fluth Eau de Cologne die mageren feinen Hände, gähnte herzhaft, nahm den zusammenlegbaren Hut und die Handschuhe von dem ehrerbietig harrenden Diener, und nachdem er noch einen Blick auf die Uhr geworfen, welche die zehnte Stunde anzeigte, ging er nach dem kleinen Speisezimmer, wo die wenigen Kavaliere, die der Herzog für seinen hiesigen Aufenthalt gewählt, bereits versammelt waren: der alte Kammerherr von Schlotbach, der Adjutant von Rinkleben, der die Charge eines Rittmeisters besaß, und der Jagdjunker von Meerfeldt, ein Kerl wie ein junger Hund – wie Herr von Palmer ihn bezeichnete. Der letztere schien sich im allgemeinen der Freundschaft dieser drei Herren auch nicht besonders zu erfreuen. „Verzeihung,“ sagte er zu den in einer Gruppe Versammelten; „ich ließ warten, war im Allerhöchsten Dienste beschäftigt; und ein reizender Dienst, meine Verehrtesten! Ich hatte auf Befehl Sr. Hoheit die schöne Claudine von Gerold in den Wagen zu heben.“

„Donnerwetter, sie war schon wieder hier?“ rief der Jagdjunker mit ungeheucheltem Erstaunen.

[171] „Soeben verließ sie die herzoglichen Gemächer –“

„Sie wollen sagen: ‚die Gemächer Ihrer Hoheit‘, mein Herr von Palmer,“ berichtigte nicht ohne Schärfe der Rittmeister, und eine leise Röthe stieg in sein Gesicht.

„Ich hatte das Glück, den schönsten Gast dieses Hauses auf dem oberen Korridor zu treffen,“ erwiderte Palmer lächelnd und vielsagend.

„Ah so! ‚Man wußte nicht, woher sie kam; und schnell war ihre Spur verloren, sobald sie wieder Abschied nahm‘,“ deklamirte der Jagdjunker lachend.

Der Rittmeister warf ihm einen unwilligen Blick zu. „Fräulein von Gerold war bei der Herzogin, hat in ihrem Salon gesungen und ist dann im Schlafzimmer Ihrer Hoheit gewesen,“ sagte er laut und bestimmt.

„Vorzüglich orientirt!“ flüsterte Palmer und verbeugte sich tief; der Herzog war soeben eingetreten. – – –

„Ich verstehe Claudine von Gerold nicht,“ sagte der Rittmeister ernst, als er nach beendetem Souper neben dem Jagdjunker den Korridor entlang schritt, an dessen Ende sich ihre Zimmer befanden. „Es ist Muth am unrechten Platz; sie sollte die Höhle des Löwen meiden. Unglaublich, mit welcher Tollkühnheit ein Weib seinen guten Ruf aufs Spiel setzt im Gefühl seiner Sicherheit und Tugend.“

„Vielleicht macht’s ihr Spaß, auf dem gefährlichen Seil zu tanzen,“ erwiderte der Jagdjunker leichthin; „strauchelt sie, dann sind ja die Arme längst geöffnet, die sie auffangen; strauchelt sie nicht – um so besser. Ich denke aber, es kann ganz amüsant werden; es ist ohnehin verteufelt langweilig in diesem deutschen Aranjuez.“

„Von einer Andern würde ich vielleicht auch so denken, lieber Meerfeldt; aber in Anbetracht dieser Dame möchte ich doch bitten, Ihre scharfe Kritik etwas mäßigen zu wollen.“

„Na, nur nicht tragisch, Rittmeisterchen,“ lachte der Andere. „Lassen Sie sich den Schlaf nicht vergehen darüber, vorläufig sehen Se. Hoheit noch nicht aus wie ein Beglückter; Sie waren mehr denn schlechter Laune. Die Langeweile! Die Langeweile! Dieses Altenstein ist aber auch eine tolle Idee. Wenn man hier dumme Streiche macht, so plädire ich für mildernde Umstände.“




Claudine langte vor dem Eulenhause an; sie hatte noch immer ein zerknittertes Papier in der Hand. Der alte Heinemann, der schon lange neben seinem Laternchen vor der Gartenthür auf sie gewartet, erhielt kaum mehr als einen flüchtigen Gruß von seiner jungen Herrin. Sie flog förmlich vor ihm her in das Haus hinein, und als er nachkam und die Thür verriegelte, hörte er nur noch das Rascheln ihres seidenen Kleides auf dem oberen Flur; dann ging eine Thür und es ward still.

Auch in dem kleinen Mädchenstübchen blieb es still und dunkel, als sei niemand drinnen; und doch saß am Fenster eine Gestalt und starrte regungslos in das Waldesdunkel, das schwärzer noch als die lichtlose Nacht das einsame Haus umgab, und mühte sich, das heute Erlebte ruhig zu überdenken mit Aufbietung aller Seelenkräfte. „Was ist geschehen?“ fragte sie sich. Und sie begann: „Der Herzog hat mir seine Liebe gestanden und – ich wies ihn zurück, auf immer zurück; aber um welchen Preis?“ Um das Bekenntniß ihres tiefsten heiligsten Geheimnisses, das sie sich selbst noch nicht zu gestehen wagte, weil sie es vor sinnbetäubendem Herzklopfen nicht auszudenken vermochte, daß sie liebte; ihr Stolz empörte sich gegen diese Thatsache; und jetzt wußte es derjenige, der ihr heute mit einem beleidigenden Geständniß genaht! Ob der Herzog ahnte, wen sie liebte? Es wäre unerträglich!

Sie ballte unwillkürlich das Billet in ihrer Hand zusammen und Tropfen heißer Scham traten ihr in die Augen. Rasch erhob sie sich, zündete Licht an, faltete das Papier wieder aus einander und bemühte sich, es zu glätten; dann stützte sie sich schwer auf den Tisch und starrte auf das zerknitterte weiße Kouvert; es war eben nur das Kouvert, weiter nichts – das Briefblatt fehlte! Unruhig begann sie in der nächsten Minute zu suchen, auf dem Tische, an der Erde; an dem Fleck, wo sie gesessen; sie schüttelte den Mantel aus und die Falten ihres Kleides, sie nahm endlich den Wachsstock und leuchtete das Treppchen hinunter in dem schlafenden todtenstillen Hause – auch dort nichts! Wie ein Dieb schlich sie zur Hausthür, schob den Riegel zurück und leuchtete hinaus auf die Schwelle und den Sandsteintritt – auch hier nichts zu sehen. In ihrer Besorgniß ging sie, das flackernde Flämmchen mit der hohlen Hand schützend, den Gartenweg entlang bis zur Pforte; möglicherweise war ihr das Papier beim Aussteigen entfallen. Die Gitterthür, die auf die Landstraße führte, knarrte, als sie von ihr geöffnet wurde; der Lichtschein flammte geisterhaft über den Weg – nichts Helles glänzte ihr entgegen. Mit angstvollen Augen spähte sie unter die Weißdornsträucher zur Seite der Pforte – nichts! Und plötzlich flackerte das Licht auf und erlosch dann und sie befand sich im Dunkeln; und so tief erschien den an das Licht gewöhnten Augen die Finsterniß, daß sie einen Augenblick rathlos stand und nicht zu unterscheiden vermochte, wohin sie sich wenden müsse, um wieder in den Garten zu gelangen.

Ah, richtig! Dort über ihrem Fenster leuchtete Joachim’s Studierlampe friedlich in die Nacht hinaus und sandte einen schmalen Streifen Helligkeit auf das Gärtchen und die Chaussee. Wenn er ahnen könnte, wie sie hier draußen stand, Angst und Zorn im Herzen! Sie beneidete ihn förmlich um den Frieden seiner engen Stube, in die kein Sturm von außen drang; sein Schifflein lag im Hafen, und ihres trieb auf dem wilden Meer, und wo es einst einen Hafen finden würde, das mochte Gott allein wissen! – Unwillkürlich hatte sie sich umgewandt und schaute sehnsuchtsvoll über die finsteren Berge hinweg nach der Richtung, wo Neuhaus lag, und gerade an diesem Punkte zerrissen die Wolken und blitzend trat ein einzelner Stern hervor. Sie mußte lächeln unter Thränen; es erschien ihr so trostverheißend, so glückbringend, wie ein gutes Zeichen.

Dann schrak sie plötzlich zusammen und huschte in die geöffnete Pforte. Auf der Landstraße scholl Hufschlag, nahe schon und immer näher; ein rascher Trab war es, und jetzt kam der Reiter dicht an ihr vorüber, und just in dem Lichtschein blieb er halten und sah zu dem Fenster des Thurmes hinauf. Sie faßte auf einmal, wie nach einer Stütze suchend, in die Latten der Pforte und starrte hinüber – Lothar! Was wollte er hier? Ein fast betäubendes Glücksgefühl überkam sie, der Leuchter entsank ihren Händen, die sich fest in einander schlangen wie zum Gebet. Sah sie recht? War er es wirklich? Was wollte er? Kam er wahrhaftig, um nach ihrem Fenster zu spähen? Barmherziger Gott, ein Zeichen, daß sie nicht träume, daß es Wirklichkeit!

Da wandte er das Pferd, und langsam ritt er zurück; die Dunkelheit verschlang aufs neue seine Gestalt; nur der Hufschlag klang noch lange in den Ohren des zitternden Mädchens nach, bis sie sich endlich in das Haus zurückschlich.

Sie dachte nicht mehr an das verlorene Billet; sie konnte überhaupt nicht mehr denken; ihre Augen brannten, und ihre Lippen waren trocken; es bohrte ihr schmerzend in den Schläfen. „Ruhe! Ruhe!“ flüsterte sie und barg die heiße Stirn in die Kissen, als sie hastig ihr Lager aufgesucht und die Lampe gelöscht – „Ruhe! Schlaf!“




Auf Neuhaus herrschte am andern Tage ein ganz ungewöhnliches Leben. Zu ebener Erde neben dem Wohnzimmer, links von dem großen Flur, stand in dem hohen geräumigen Speisesaal eine Tafel, die wesentlich abstach von derjenigen, an welcher gewöhnlich hier gegessen wurde. Während sie sonst mit einem blendend weißen, aber doch ziemlich derben Drelltischtuch nebst Servietten von gleicher Qualität gedeckt war, breitete sich heute schimmernder Damast darüber aus und hing bis auf den getäfelten Fußboden hernieder, der wahrhaft beängstigend glatt gebohnt erschien. Das einfache Geschirr von englischem Steingut mit blauen Rändchen war durch köstliches altes Meißner Porzellan verdrängt, welches schon seit langer Zeit den Stolz des Neuhäuser Geschirrschrankes ausmachte; reizend geformte Tafelaufsätze, deren Platten Früchte und Konfitüren trugen, hatten die Blechkörbchen ersetzt, in denen Beate für gewöhnlich den Nachtisch präsentiren ließ, mochte derselbe in Frühbirnen oder Winteräpfeln oder in kleinem Gebäck bestehen, und die sehr handfesten Solinger Messer und Gabeln mit Griffen von Hirschhorn waren den Silberbestecks gewichen, die glänzend wie eben aus dem Laden gekommen blinkten und Wappen, Namenschiffre der Gerolds und eine Jahreszahl trugen, welche das hohe Alter verrieth, wenn es ihre schöne Form nicht bereits gethan.

Die Arme des mächtigen Kronleuchters aus Bergkrystall über der Tafel, die übrigens nur sieben Kouverts zählte, waren mit gelblichen Wachskerzen besteckt, eben so die zahlreichen Wandleuchter. [172] Auf dem riesigen eichenen Kredenztische aber funkelte und blitzte es von silbernem Geräth und prächtigem Krystall; verwundert lugte die Sonne, die täglich um diese Zeit hier herein einen Blick that, auf diese Pracht, ließ farbige Lichter aufsprühen und streifte das braune Haar über der weißen Stirn Beatens, die beschäftigt war, auf einem Tischchen Blumen in ein paar Vasen zu setzen.

„Werdet Ihr gleich stehen!“ murmelte sie ärgerlich vor sich hin, als ein paar Levkojen immer wieder zur Seite fielen. „So, nun geht’s.“ Und sie steckte in die bunte Pracht eine rothe Rose, und den zierlichen Aufbau betrachtend, reichte sie ihn dem Stubenmädchen, das neben ihr stand. „Trag’ es zur Frau von Berg, Sophie; sie soll es in das Zimmer der Prinzessin Thekla setzen; der Herr habe es befohlen. Dann bist Du gleich wieder unten und wischest noch einmal Staub von allen Stühlen und schließest die Jalousien; eben kommt die Sonne.“

Nun ging auch Beate noch einmal an der Tafel hinunter und blieb kopfschüttelnd vor dem Platz stehen, den sie, nach der Bestimmung Lothar’s, neben Ihrer Durchlaucht der Prinzessin Thekla einnehmen sollte; heute Abend zum ersten Male und dann täglich vier Wochen lang. Wie würde sie das nur aushalten? – Da lag die Suppenkelle, das Symbol ihrer Hausfrauenwürde; Lothar hatte gewünscht, daß sie dieses Amt wie immer verwalten möge, „denn wir sind auf Rittergut Neuhaus, meine beste Beate, und nicht bei Hofe, und nichts in der Welt ist mir unangenehmer, als ein Umhertragen der gefüllten Suppenteller, sie haben so leicht überlaufende Ränder.“

Dies war aber auch so ziemlich das Einzige, was in Hinsicht seines hohen Besuches von ihm angeordnet worden; alles Uebrige hatte er vertrauensvoll ihrem klugen Kopf und ihren geschickten Händen überlassen und allen Fragen gegenüber nur geantwortet: „Aber Du wirst es ja so gut machen; thue ganz nach Deinem Gefallen.“

Nun war sie auch dieser Riesenarbeit Herr geworden. Sie hatte ein weißes Tuch über ihre glänzend braunen Haare gebunden und war in Hauskleid und Wirthschaftsschürze, mit Schlüsselbund, Staubtuch und Besen im Hause umhergezogen, hatte dem Dienstpersonal „Beine gemacht“, wie sie sich ausdrückte, Möbel rücken, Vorhänge aufstecken, Teppiche auf Treppen und Korridoren ausbreiten lassen und Truhen und Spinden das Feinste und Beste entnommen. Und eben war das Letzte gethan; sie konnte sich noch ein paar Stündchen ausruhen, ehe sie ihren Gästen als Hausfrau gegenüber treten mußte.

Die ganze obere Etage hatte man für die durchlauchtigste Schwiegermutter und Schwägerin Lothar’s hergerichtet; der Hofdame war ein nettes Zimmer neben Frau von Berg eingeräumt, der Kavalier nebst Kammerdiener im Gartenpavillon untergebracht worden und die Kammerfrau Ihrer Durchlaucht in der Nähe ihrer Damen. Lothar behielt sein Zimmer rechts vom Hausflur; das liebe alte Wohnzimmer und die Schlafstube Beatens sollten ganz und gar abgeschieden bleiben; einen Zufluchtsort mußte man doch haben.

Beate war eben den Korridor entlang geschritten und näherte sich der Thür ihrer Wohnstube; ein humoristischer Zug flog einen Moment um ihren vollen Mund; dann nahm sie ein Kreidestückchen aus dem Schlüsselkorb, schrieb auf die braune Täfelung „Verbotener Eingang!“ und trat nun, noch immer lächelnd, in ihr Reich. Sie saß ein Weilchen ruhend im Lehnstuhl; dann sprang sie empor und eilte in die Schlafstube. Nach ein paar Augenblicken kam sie zurück; sie hatte einen großen braunen Strohhut aufgesetzt und eine leichte Pelerine um die Schultern geworfen. Im Hinausgehen zog sie ein Paar Leinwandhandschuhe an und trat, noch an denselben knöpfend, in die Küche, wo die Mamsell mit rothem Kopf vor dem Backofen stand und Mürbkuchen herauszog.

„Gut, Riekchen, daß ein paar fertig sind,“ sagte Beate und nahm ein halbes Dutzend des zierlichen Gebäckes, „gebt etwas Papier – so – ich mache noch einen Spaziergang und bin pünktlich zurück. Begeht nur keine Dummheiten mit den Kücken und setzt die Schoten nicht zu früh an; den Rehrücken knapp eine Stunde im Ofen! – Ich sag’s Ihnen noch einmal, ich habe keine Zeit, darnach zu sehen, wenn ich bei Tische sitze, und daß nur die Forellen schön blau und krumm sind und im Grünen servirt werden. Es kommt alles auf Sie, Riekchen.“

Sie nickte noch einmal und ging raschen Schrittes direkt aus der Küche, einen Seitenweg durch den Park nehmend, auf die Landstraße. Eigentlich war’s nicht zu rechtfertigen, daß sie davonlief, heute, wo ihr Ruf als Hausfrau geprüft werden sollte. Wie, wenn irgend etwas mißlang?

„Auch gleich!“ sagte ihr eine innere Stimme, „denn wenn die ganze Hatz hier eingezogen ist, komme ich fürs Erste nicht wieder nach dem Eulenhause zu – zu Claudine und zu der Kleinen.“

Sie ging in wahrem Sturmschritt und nahm allerhand Richtwege; dunkelroth glühte ihr Gesicht, als nach einer halben Stunde das Eulenhaus aus grünen Wipfeln auftauchte; es war just drei Uhr Nachmittags.

Im Schatten der alten Mauer spielte die Kleine mit ihrem Puppenwagen; sie kam mit wehenden Locken auf die Tante zugestürmt, und diese hockte sich an die Erde und fing das Kind mit beiden Armen auf.

„Es war gar nicht hübsch, Tante Beate,“ klagte es; „immerzu hat es geregnet und Tante Claudine ist so oft fortgefahren.“

„Aber heute scheint die Sonne und Du kannst wieder im Garten spielen – gelt, das gefällt Dir?“

Die Kleine nickte und trippelte neben ihr her. „Und Tante Claudine ist auch zu Hause,“ plapperte sie; „sie sitzt in ihrer Stube und schreibt und ist so fein angezogen.“ An der Hausthür blieb das Kind stehen und schüttelte den blonden Kopf; „ich gehe wieder zu Heinemann,“ erklärte sie und lief eilends davon.

Beate stieg die schmale Treppe empor und klopfte an die Thür ihrer Kousine. Claudine saß in der That am Schreibtisch, aber sie schrieb nicht mehr; vor ihr lag ein fertiger Brief; der Duft von feinem Siegellack füllte das Zimmer.

„O Beate, Du?“ sagte sie müde und kam der Eintretenden entgegen.

„Ei, ei!“ scherzte diese. „In Weiß mit blauen Schleifen? Was ist denn los? Willst Du nach Altenstein?“

Das Mädchen nickte.

„Ich hatte abgesagt heute früh, aber die Herzogin ließ es nicht gelten. Sie schrieb mir, wenn ich nicht zu ihr kommen wolle, würde sie zu mir kommen; sie will hier vorüber fahren und mich abholen.“ Sie schaute dabei resignirt an Beate vorüber. „Es ist so heiß,“ fuhr sie fort, „ich sehnte mich nach einem lichten Kleide. Man sagt immer, die Farbe der Toilette habe Einfluß auf die Stimmung, nun – ich könnte ebenso gut –“

„Schwarzen Flor anhaben,“ ergänzte Beate und setzte sich. „Was ist Dir denn? Du siehst aus, als ob Du Migräne hättest!“ und sie sah befremdet in die abgespannten Züge Claudinens.

„Mir fehlt eigentlich gar nichts, Beate.“

„Eigentlich? – Na, das hast Du noch vom Hofe; so eine unglückliche Hofdame muß sich immer ‚wohl‘ befinden, wie ein Ballettmädel immer lächeln muß, auch wenn sie kaum noch Athem kriegt.“

„Beate, Du übertreibst,“ sagte Claudine ruhig. „Nein, ich bin nicht krank; aber denke – vielleicht verreise ich auf einige Zeit.“

„Du?“ rief die Kousine, „jetzt?“

„Ja, ja! Schweige aber darüber. Joachim weiß es noch nicht,“ erwiderte sie. Und ehe noch Beate die Frage aussprechen konnte, die auf ihren Lippen schwebte, fiel Claudine ein: „Ist Dir Joachim nicht begegnet?“

„Nein!“ antwortete Beate leise.

„Ich glaube, er wollte Lothar’s Besuch erwidern; Du weißt, das ist ein Entschluß für ihn. Er ging vorhin erst fort; ich bin überzeugt, er braucht drei Stunden zu dem Wege; denn beim Gehen wird ihm allerlei einfallen, und da setzt er sich denn hin und schreibt und notirt in seine Brieftafel und vergißt Zeit und Ort.“

„Er wird Lothar nicht antreffen,“ sagte zögernd Beate. „Lothar ist nach Lobstedt.“

„Nach Lobstedt?“ fragte Claudine. „Will er verreisen?“

„Nein; er erwartet Prinzeß Thekla mit Tochter; weißt Du das noch nicht? Sie will vier Wochen in Neuhaus residiren, um ihr Enkelchen zu genießen.“

„Nein –“ sagte Claudine tonlos.

„Ich dachte, ich hätte Dir davon gesprochen, Claudine?“


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 12, S. 182–188

[182] Auf die Mittheilung Beatens, daß Prinzeß Thekla mit ihrer Tochter Lothar in Neuhaus besuchen würden, gab Claudine keine Antwort. Es war so still in dem Zimmer, daß selbst das leise Ticken der kleinen brillantbesetzten Taschenuhr hörbar ward, die auf dem Schreibtischchen in zierlichem Perlmutterständer hing. Beate schaute sehnsüchtig durchs Fenster; sie wäre am liebsten gegangen. Sie dachte an ihren Hausfrauenposten, den sie heute, gerade heute treulos verlassen, und dann sah sie eine Männergestalt in dem dämmerigen Korridor des Neuhäuser Schlosses, wie sie vor einer Thür stand, auf der in Kreideschrift zu lesen war: „Verbotener Eingang!“ Und sie sah, wie dieser Mann den Kopf schüttelte und langsam umwendete. – Er durfte nicht so fort – nein, nein! Vielleicht käme er nie wieder!

Sie sprang plötzlich empor.

„Verzeih’, Claudine, ich möchte doch lieber heim; Du weißt, es ist allerlei zu besorgen.“ Die Lüge erstarb ihr auf den Lippen; sie war jäh erröthet. „Leb’ wohl, mein Schätzchen!“

„Adieu, Beate!“

„Um des Himmelswillen, Du bist krank, Claudine!“ rief Beate und starrte ihre Kousine an, erst jetzt bemerkend, daß deren Antlitz völlig entfärbt war.

„Nein, o nein!“ wehrte diese. Und jetzt zog eine wahre Purpurgluth über Stirn und Wangen. „Ich bin gesund, ganz gesund! Geh’ nur,“ drängte sie dann, „geh’, ich bin völlig kräftig, ich begleite Dich hinunter. – O, sicher hast Du noch vieles vorzubereiten und sage Joachim gleich, wenn Du ihn triffst, daß er fortgehe, ehe die Damen anlangen; er ist so scheu, weißt Du, so sonderbar.“

„Er braucht sie ja gar nicht zu sehen! Ich habe mein Zimmer für mich,“ murmelte Beate.

„O, da kennst Du Prinzeß Helene nicht!“ klang es bitter.

„So?“ fragte Beate, indem sie neben Claudine die Treppe hinunter schritt. „Na, da gieb mir doch einige Winke über diese kleine Prinzessin; von Lothar ist kein Wort herauszubringen.“

„Beate – ich – weißt Du, ich bin nicht unparteiisch genug, um gerecht zu sein. Sie mag mich nicht, glaube ich, und kehrt mir gegenüber stets die schnippische Seite heraus. [183] Diejenigen, denen sie wohl will, sind entzückt von ihr. Sie ist ein Sprühteufelchen, anziehend, ohne gerade hübsch zu sein, voller Leben, launisch –.“ Sie stockte. „Ja, ja,“ sagte sie dann leise, „sie ist sehr reizend, sehr – und nun leb’ wohl, Beate!“

„Willst Du weinen?“ fragte die Kousine, „Du hast so glänzende Augen!“

„Nein,“ sagte Claudine, „ich will nicht weinen.“

„Na, dann Adieu, Herzenskind, und denke an frische Toiletten. Lothar will ein Fest geben; ich meine, Du wirst dann selbst diese ‚sehr reizende‘ Prinzessin ausstechen, und nicht wahr, Du leihst mir ein wenig Deinen Rath; ich bin in der Hofetikette so unerfahren wie ein kleines Kind. Adieu, Schatz, leb’ wohl!“

Claudine eilte ins Haus zurück in ihr kleines Stübchen. Ihr war, als sei die Welt aus den Fugen gegangen seit gestern; sie wußte ja nur zu gut, warum Prinzeß Thekla ihr zweites Töchterchen nach Neuhaus brachte!

„Verloren!“ flüsterte sie, „verloren für immer! – Aber kann man denn etwas verlieren, was man nie besessen?“

Sie war nicht ärmer als bisher, und doch – seit gestern, seit diesem bunten schrecklichen Gestern hatte sich riesengroß eine Hoffnung in ihr Herz gedrängt; sie hatte wider Willen an seinen nächtlichen Ritt tausend süße thörichte Gedanken geknüpft. Hoffen und Bangen hatte sie bewegt bis zum grauen Morgen. Als sie dann nach einem kurzen Schlummer erwachte, stand wieder sein Bild vor ihr, wie sie es gestern Abend gesehen in dem dämmernden Lichtschein ihres Fensters.

Welche Thorheit! Er war nicht gekommen, um mit liebendem Auge ihren Schatten zu erspähen; er hatte kontrolliren wollen, ob sie daheim sei, wie es ehrbaren Mädchen ziemt! O, er war sehr besorgt um die Ehre seines Namens!

Sie preßte die Hände vor die Augen, so fest, daß sie Feuerfunken zu sehen vermeinte; aber mitten darinnen gaukelte eine zierliche Mädchengestalt. Sie ließ die Arme wieder sinken – und schaute durchs Fenster. War sie überhaupt noch bei Sinnen? Durch die rothen Flecke, die noch vor ihren Augen tanzten, leuchtete von jenseit des Gitters die Purpurlivree des herzoglichen Dieners, und nun stürzte Fräulein Lindenmeyer bereits ins Zimmer:

„Claudinchen! Fräulein Claudine, die Hoheiten!“

Mit schwankendem Schritt trat Claudine vor den Spiegel, setzte das weiße Strohhütchen auf, ließ sich von Fräulein Lindenmeyer den blaugefütterten Sonnenschirm in die Hand drücken und ging hinunter. Sie sah kaum, daß auf dem hohen Bock des sehr niedlichen zweisitzigen Wagens der Herzog in eigenster Person die Zügel hielt. Mechanisch beugte sie sich auf die Hand der Herzogin, deren zartes Gesicht vor Wonne über diese Spazierfahrt leuchtete.

„O, danke, danke, meine beste Claudine, es geht mir vortrefflich!“ sagte sie mit ihrer matten belegten Stimme, „wie soll es auch anders sein? Dieses himmlische Wetter, dieser Tannenduft, der Herzog als Wagenlenker und – Sie mir zur Seite! Sagen Sie selbst, meine Beste!“

Man war stundenlang in den Wäldern umhergefahren; vor einer einsamen Mühle am rauschenden Bach wurde Halt gemacht und die Herzogin hatte von der jungen, ganz bestürzten Müllersfrau ein Glas kühler Milch erbeten, während der Herzog dem Diener die Zügel zuwarf und plaudernd am Wagenschlag lehnte. Den ehrerbietig herzu geeilten Müller hatte er huldvoll nach dem Gange des Geschäftes gefragt und ihn geheißen, der Frau Herzogin die drei Buben vorzustellen, die mit den kleinen Prinzen just in einem Alter standen, und die fürstliche Frau hatte die blonden sonnverbrannten Kinder gefragt, was sie werden wollten, und auf die Antwort: „Soldaten!“ jedem für die Sparkasse einen blanken Thaler mit dem Bilde des Herzogs geschenkt. Dann war man weiter gefahren, heimwärts; denn die Abendsonne begann schon durch das Tannengezweig zu leuchten.

Die Herzogin that noch immer tausend Fragen; gewaltsam mußte Claudine ihre wild davon flatternden Gedanken zusammennehmen.

„Neuhaus hat Gäste,“ sagte jetzt die fürstliche Frau; „dort weht die Standarte unseres Hauses.“

„Ihre Durchlaucht Prinzeß Thekla,“ bestätigte Claudine mit matter Stimme.

„Und Helene?“

„Prinzeß Helene wird ebenfalls erwartet, Hoheit.“

„Adieu, du schöne Einsamkeit!“ seufzte die Herzogin.

Die Equipage näherte sich rasch der niedrigen Mauer des Neuhäuser Parkes; ihr entgegen rollten in scharfem Trabe zwei Landauer, die Kutscher und Diener in großer Livree. Man mußte sich unmittelbar an der Einfahrt begegnen, und in der That, der Herzog senkte grüßend die Peitsche, und die Herzogin winkte freundlich mit der Hand zu dem Wagen hinüber, in dessen braunseidenem Fond zwei Damen saßen, gegenüber Baron Lothar. Claudine sah, wie die junge Prinzessin, im koketten Reisemantel aus hellgrauer glänzender Seide mit blaugefütterten weiten Aermeln, unter dem zierlichen Strohhütchen hervor einen spöttisch verwunderten Blick zu ihr hinüber warf; wie Prinzeß Thekla die Lorgnette bei der Verneigung, die sie der regierenden Herzogin halb widerwillig angedeihen ließ, kalten Auges auf sie richtete und wie Lothar sie kaum zu beachten schien. Nach ein paar Sekunden war man an einander vorüber.

„Dort tritt die künftige Herrin in das Neuhäuser Schloß,“ sagte der Herzog, indem er sich wandte auf dem hohen Sitz, und seine blitzenden Augen streiften das bleiche Mädchengesicht.

„Du meinst wirklich, Adalbert? Welch Glück für die kleine Verwaiste!“

Er antwortete nicht. Claudine preßte die Hände um den Griff ihres Sonnenschirmchens; sie zwang sich gewaltsam, ihre tiefe Bewegung nicht zu verrathen. Ahnte der Herzog, wer es war, den sie im Herzen trug? – Sie konnte nicht hindern, daß eine heiße Röthe sich über ihr Antlitz ergoß, und jetzt begegnete sie abermals dem forschenden Auge des Herzogs.

„Sie ist ein verwöhntes kleines Geschöpf,“ sagte die Herzogin, die jetzt wie träumerisch in dem Polster des Wagens lehnte; „möchte sie Glück bereiten und finden! Unter uns, liebste Claudine, ich glaube, Gerolds Neigung wird von ihr erwidert und von Prinzessin Thekla begünstigt.“

„Ich glaube es auch, Hoheit,“ bestätigte Claudine und erschrak fast über ihre harte Stimme. Es war mit einem Male seltsam kalt und still in ihr geworden.

In Neuhaus waren indessen die fürstlichen Gäste heimisch geworden. Prinzeß Helene hatte das Kind ihrer Schwester, das Frau von Berg den Damen im weißen, überreich mit Spitzen garnirten Kleidchen entgegen trug, geküßt und dann sofort das Terrain sondirt. Sie war treppauf und -ab gegangen, hatte Thüren geöffnet, in die Zimmer gesehen und gefragt, wo denn ihr Schwager sein Domicil habe, um stehenden Fußes auch in dessen Räume einzudringen, die mit ihren Jagdtrophäen und Waffen, mit Bilderschmuck, mit antiken Möbeln und persischen Teppichen das Muster einer eleganten Garçonwohnung boten, und hatte dort, neugierig wie ein Kind, mit ihren schwarzen Beerenaugen alles gemustert. Sie war im Garten gewesen und wieder in das Herrenhaus gekommen und hatte da plötzlich vor einer Thür gestanden, die mit großer energischer Schrift die Worte: „Verbotener Eingang!“ zeigte. Sofort hatte Ihre Durchlaucht den Drücker gebogen, und ihr dunkles Köpfchen lugte neugierig in das altväterische Wohnzimmer. Wie das gemüthlich aussah! Wie traulich das Abendroth die altersbraunen Möbel überhauchte! Und wunderbar – dort am offenen Fenster saß ein schlanker Mann und las; sein feines Profil hob sich scharf ab gegen das dunkle Grün der Bäume hinter den Scheiben. Er war so tief in den alten Lederband versunken, daß er garnicht bemerkte, wie er beobachtet wurde.

Leise machte die kleine Prinzeß die Thür wieder zu und flog die breite eichene Treppe hinauf. Oben warf sie sich in einen Lehnstuhl und wollte sich todtlachen über das erschreckte Gesicht der Frau von Berg, die da eifrig schrieb auf ihrem gewöhnlichen Platz.

„Was haben Sie uns denn eigentlich immer berichtet von diesem Neuhaus, liebste Berg?“ fragte sie und setzte ihre kleinen Füße energisch auf ein Kissen. „Da war in Ihren Briefen an Mama von weiter nichts die Rede, als von ‚durchaus nicht comme il faut‘, von ‚spießbürgerlichen Gewohnheiten‘ et cetera. Ich finde es reizend, überaus reizend hier; ich werde nicht einen Augenblick die Langeweile verspüren, die man immer zwischen Ihren Zeilen lesen mußte. Und was wollen Sie denn von der Schwester des Barons? Sie ist eine originelle [186] Dame und sieht stattlich genug aus in ihrem grauen Seidenkleid; und was das Aeußere des Kindes anbetrifft, so waschen Sie der Kleinen nur die dichte Schicht Reispuder ab, die Sie auf das arme Gesichtchen gelegt haben, wahrscheinlich, um Mama zu rühren. Dann wird’s besser aussehen. Augenblicklich gleicht es Ihnen, liebste Berg, wenn Sie nämlich schmachtend zu erscheinen wünschen.“

„Durchlaucht!“ rief Frau von Berg beleidigt und wurde roth unter eben dieser Schminke.

„Ereifern Sie sich doch nicht,“ fuhr die Prinzessin fort, „geben Sie lieber alle derartigen Attentate auf! Ich finde es nun einmal charmant hier draußen und werde das meinem Schwager sagen.“

„Da werden Durchlaucht völlig seinen Geschmack treffen; auch er findet es in hiesiger Gegend reizend!“

„O, was Sie meinen, Beste, das weiß ich,“ erwiderte die Prinzessin, „aber das ist lächerlich, einfach lächerlich. Heraus mit der Sprache, liebstes Bergchen, wenn Sie etwas Positives wissen,“ sagte sie siegesgewiß. „Sie begreifen doch, es kann mir nicht gleichgültig sein, wer die Mutter des Kindes –“ sie wies nach der Nebenthür – „wird.“

„Durchlaucht glauben mir ja doch nicht,“ schmollte die Dame und sah vorüber an den funkelnden schwarzen Mädchenaugen, die sich fast leidenschaftlich in die ihren senkten.

„Mitunter nicht! Ich weiß indessen ganz genau Wahrheit und Dichtung bei Ihnen zu unterscheiden.“

„Nun, so lasse ich Ihnen die Wahl, Prinzessin,“ begann Frau von Berg eifrig, „ob Sie glauben wollen oder nicht. Er –“

„Es ist nicht wahr!“

„Aber, Durchlaucht, ich sprach noch gar nicht!“

„Alice, sagen Sie nichts, es ist nicht so,“ rief die Prinzessin fast drohend. „Er hat sie niemals angesehen, er ist ihr geflissentlich aus dem Wege gegangen. Sie wollten etwas Anderes erzählen.“

„Gut, wie Durchlaucht befehlen. Sie –“

„Sie ist in andern Ketten und Banden, ich habe es gesehen,“ rief Prinzeß Helene. „Der Herzog –“

„Aber ich habe ja noch garnichts gesagt,“ unterbrach die Berg. „Wenn Durchlaucht so gut unterrichtet sind, was soll ich dann noch sagen?“

„Sprechen Sie, Alice,“ bat die Prinzessin jetzt, „ist es denn möglich? Mama ist außer sich darüber, ich sehe es ihr an; sie redet kein Wort zu mir, seitdem wir den Herzog mit ihr im Wagen gesehen haben, und ihre Nase ist spitz; das bedeutet Sturm. Sie wissen es, Alice.“

„Aber die Herzogin fuhr mit, Prinzessin.“

„Ach Gott,“ rief diese und schlug die kleinen Hände zusammen, „die arme gute Liesel! Sie schwebt, wie gewöhnlich, in höheren Regionen und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich wette, Hoheit, meine Kousine, schreibt wieder an einem Trauerspiel, das dann im nächsten Winter zu unser aller Erbauung aufgeführt werden wird. Wissen Sie noch, Alice, vorigen Winter? Aber Sie waren ja in Nizza. Schauerlich! Schauerlich! Ein paarmal kamen mir Thränen in die Augen vor Rührung, im Großen, Ganzen aber – behüt uns der Himmel! Drei Todte waren zuletzt auf der Bühne; und ich hörte, wie Graf Windeck zu der Moorsleben sagte: ‚Passen Sie auf, Gnädigste, jetzt sticht gleich noch der Souffleur den Lampenputzer todt.‘“

Sie lachte schier übermüthig, die kleine Prinzessin, wurde aber sofort wieder ernsthaft. „Ich bin ihr bei alledem doch sehr gut, Alice; sie ist liebenswürdig, trotz ihrer Romanideen. Arme, arme Liesel! Hätte sie nicht heute neben ihr gesessen, ich wäre aus dem Wagen gesprungen und ihr um den Hals gefallen. Sagen Sie, Alice, wie kann man einen solchen Eiszapfen, wie diese Claudine, zu näherem Verkehr um sich haben?“

Die Tischglocke erscholl in diesem Moment und Prinzeß Helene ließ sich in ihrem Zimmer noch in aller Eile die Stirnlöckchen von der Kammerjungfer arrangiren. Auf der teppichbelegten Treppe schritt eben Prinzessin Thekla am Arme des Hausherrn hinunter, als sie mit Frau von Berg und der Hofdame nachfolgte.

„Apropos, Alice,“ fragte die junge Prinzeß leise; „was ist das für ein Herr, der in dem Zimmer wohnt, wo angeschrieben steht ‚Verbotener Eingang‘?“

„Ein Herr, Durchlaucht?“

„Nun ja, ja!“

„Durchlaucht müssen einen Geist gesehen haben.“

„Doch nicht. Ich werde mich bei Fräulein von Gerold erkundigen.“ Und sie that es auch sofort, man hatte kaum Platz genommen.

„Das war mein Vetter Joachim, Durchlaucht,“ antwortete Beate, und die Suppenkelle schwankte ein klein wenig in ihrer Hand.

„Der Bruder von Claudine Gerold?“

„Ja, Durchlaucht.“

„Das Eulenhaus ist ja wohl sehr nahe, lieber Gerold,“ erkundigte sich Prinzeß Thekla und nahm etwas mehr Salz in die Suppe.

„In einer halben Stunde zu erreichen,“ erwiderte er; „wenn die gnädigsten Herrschaften befehlen, fahre ich sie vorüber an der Klosterruine. Sie ist sehenswerth.“

„Danke!“ unterbrach ihn kühl die alte Prinzessin.

„Danke!“ betonte ebenso kühl Prinzeß Helene.

Er sah verwundert von seinem Teller auf. „Durchlaucht werden diesen Anblick kaum vermeiden können; unser schönster Waldweg führt an der Ruine vorbei.“

„Ich hoffe, Baron,“ nahm Prinzeß Helene das Wort und lenkte damit Lothar’s Blicke von der wirklich eigenthümlich spitz gewordenen Nase seiner erlauchten Schwiegermutter ab, „ich hoffe, Sie werden mich auf meinen Ritten begleiten; Komtesse Moorsleben ist zuweilen auch von der Partie.“

„Durchlaucht brauchen nur zu befehlen,“ erwiderte er und streifte das hübsche Gesichtchen der Komtesse, die über das „zuweilen“ mühsam ein spöttisches Lächeln unterdrückte. In der Residenz mußte sie alle Tage dabei sein, sonst ritt die kleine Prinzeß nicht.

Prinzessin Thekla sprach jetzt von einer Milchkur, die sie unternehmen wollte. Sie war mit einem Male blendend liebenswürdig, scherzte mit Lothar über seine idyllische Häuslichkeit und nannte Beate einmal über das andere: „Meine Theure“. Niemals hatte sie so deliciöse Forellen gegessen; und als Lothar sich erhob, das gefüllte Glas mit dem perlenden Champagner in der Hand, für die große Ehre dankend, die ihm durch den Besuch der durchlauchtigsten Großmama zu Theil geworden, reichte sie ihm huldvoll die reich beringte schmale Hand zum Kuß und drückte das spitzenbesetzte Tuch einen Moment gerührt an die Augen.

Unter dem Vorwand, sie sei ermüdet, hob sie die Tafel noch vor dem Nachtisch auf und die Damen zogen sich in ihre Gemächer zurück. Frau von Berg durfte noch lange am Bette der Prinzessin Thekla sitzen, und als sie endlich ihr Zimmer aufsuchte, geschah es mit erhobenem Kopfe; sie schrieb noch ein Postscriptum unter den Nachmittags begonnenen Brief:

„Es ist alles in schönster Ordnung; die Kleine brennt lichterloh in Liebe und – Haß. Für wen die erstere Flamme leuchtet, wissen wir, und die letztere flackert für Claudine.

In wenigen Tagen werden die Bäume im Walde sich eine große Neuigkeit erzählen. Im übrigen, anfangs der nächsten Woche findet hier ein Fest statt; es wird hervorragend sein; Prinzeß Helene schwärmt von einem Tanz unter den Linden im Garten. Notabene, sie hat bei aller Bosheit eine gewisse Gutmüthigkeit, so daß man sich bei ihr eines thörichten Streiches wohl versehen kann und vorsichtig sein muß!

A. v. B.“     

Sie siegelte den Brief und trug ihn hinunter; eins der Küchenmädchen empfing ihn im Halbdunkel des Souterrains und steckte schmunzelnd einen Thaler in die Tasche. Frau von Berg mußte hohes Porto zahlen.

In der dämmerigen Wohnstube aber erscholl ein herzliches Frauenlachen. Als Beate hereintrat, saß da noch immer eine Gestalt in ihrem Lehnstuhl auf der Estrade und schrieb an ihrem Nähtischchen im allerletzten Tagesschein.

„Aber, Joachim!“ rief sie mit ihrer klingenden Stimme, „wollen Sie sich durchaus die Augen verderben?“

Er fuhr empor; er hatte ganz vergessen, wo er war. „Mein Gott,“ sagte er erschreckt und faßte nach dem Hut, „ich habe mich [187] über dem alten Buche da verspätet; verzeihen Sie, Kousine, ich räume sofort das Feld.“

„Jetzt nicht!“ erklärte sie, noch immer lachend; „denn Lothar wird Sie auch sehen wollen; ihm gilt ja wohl Ihr Besuch?“ Und sie drückte ihn sanft auf den Sessel zurück und suchte ihren Bruder.

Er stand in seinem Zimmer am Fenster und starrte auf die Landstraße hinaus.

„Lothar,“ bat sie, „komm herüber! Joachim sitzt noch immer dort und hat Zeit und Weile vergessen über dem alten Reisetagebuch aus Spanien – weißt Du, das vom Großvater, in dem weißen Lederband.“

„Wie kam er denn eigentlich hierher, der Joachim nämlich?“ fragte Lothar und nahm eine Cigarrentasche nebst Aschenbecher von dem eleganten Rauchtischchen.

„Ich fand ihn hier vor, als ich vom Eulenhause zurückkam, und da ich noch allerlei zu besorgen hatte, wie Du Dir denken kannst, das mich hinderte, ihm Gesellschaft zu leisten, ihn auch nicht unausgeruht heimschicken durfte, so fiel mir das Buch ein. Du siehst, er hat sich trefflich damit unterhalten.“

Er blickte sie lächelnd an, indem er neben ihr durch die erleuchtete Halle schritt und in den Korridor einbog.

„Sage einmal, Beate,“ fragte er, „hast Du die Warnung an die Thür dort geschrieben, als er schon drinnen saß, oder vorher?“

„Natürlich vorher,“ erwiderte sie unbefangen, und dann ward sie roth. „Ich verstehe Dich nicht!“ fügte sie ärgerlich hinzu.

„Nun, weißt Du, Schwester,“ sagte er mit einem Anflug von Schelmerei, der sein vornehmes Gesicht wunderbar gut kleidete, „verbotener Eintritt! schreibt man mitunter an Thüren, die etwas verschließen, das man am liebsten ganz allein für sich behalten will.“

„O Du abscheulicher Mensch,“ schmollte Beate verlegen und wischte eilig mit der Hand über die Kreideschrift. Und dann saßen sie alle drei in der Wohnstube beim Glase Wein und Joachim erzählte, an das Buch anknüpfend, von seinen Reiseerlebnissen. Er sprach wunderbar gut. „Wie Musik“ dachte Beate, die auf der Estrade hockte und alles vergaß; vergaß, daß die Wachskerzen auf dem Kronleuchter im Eßsaal unnütz verbrannten, vergaß, die Reste der Tafel in die Speisekammer zu verschließen und das Dejeuner für morgen anzuordnen. Der Schlüsselbund an ihrem Gürtel verhielt sich ganz still; nicht das leiseste Klirren mahnte sie an ihre Hausfrauenpflichten. Vor den Fenstern flüsterten die Linden im Abendwind und der Duft vom frisch gemähten Gras zog in das Gemach.

Es war spät, als Lothar seinen Vetter durch den Wald fuhr nach dem Eulenhause. Auf dem Rückwege kam ihm das Koupé der Herzogin entgegen. Er wußte, wen es trug; in rasendem Tempo jagte er an dem Gefährt vorüber. Als er vor der Neuhäuser Rampe hielt, klirrte über ihm ein Fenster zu, und in dem stillen Zimmer dort oben barg sich ein leidenschaftliches junges Gesicht wieder in die Kissen.

Prinzessin Helene hatte ihn fortfahren sehen – dort hinaus, wo das Eulenhaus lag. Gottlob, jetzt war er daheim!




Im Eulenhause war eine Veränderung eingetreten: Fräulein Lindenmeyer hatte Besuch.

Es war erst ein mächtiges Hin- und Herschreiben gewesen, und dann war am Morgen nach dem Tage, als Claudine mit der Herzogin spazieren fuhr, Fräulein Lindenmeyer mit rothem verlegenen Gesicht in die Stube Claudinens getreten, einen offenen Brief in der Hand.

„Ach, Fräulein Claudinchen, gnädiges Fräulein, ich hätte so eine rechte Herzensbitte.“

„Nun, meine liebe gute Lindenmeyer, dann ist sie bereits gewährt,“ hatte Claudine erwidert, indem sie Thee aufgoß für Joachims Frühstück.

„Aber Sie müssen es ehrlich sagen, gnädiges Fräulein, wenn’s nicht paßt; ich werde alles thun, damit keinerlei Störung zu bemerken ist, aber –“

„Nur heraus damit, Lindenmeyerchen,“ hatte das schöne Mädchen freundlich ermuthigt; „ich wüßte nicht, was ich Ihnen abschlagen könnte, es sei denn, daß Sie das Eulenhaus verlassen wollten – und das würde ich nicht zugeben.“

„Ich von hier? O gnädiges Fräulein, das würde ich ja nicht überleben! – Ach nein, das ist’s nicht – ich erwarte – ich soll – ich bekomme Besuch, wenn’s die Herrschaft erlauben will.“

„Ei, wen denn, meine liebe Lindenmeyer?“

„Frau Försters Zweite, die Ida; sie soll so ein bischen Schick bekommen und feine Handarbeit lernen. Da hat sich nun die Försterin in den Kopf gesetzt, daß sie das bei mir altem Wurm am schönsten kapiren würde. Ich thue es ja auch sehr gern, wenn Sie es erlauben; sie könnte in dem Kämmerchen wohnen hinter meiner Stube, wenn –“

Die alte gute Seele hatte die Hände über ihren Brief gefaltet und ihre Augen sahen mit gespannter Erwartung zu der jungen Herrin hinüber.

„Na, das wird ja sehr hübsch für Sie,“ lautete die freundliche Antwort, „lassen Sie das junge Mädchen nur bald kommen; sie mag hier bleiben, so lange es ihr gefällt.“

Und so stand anderen Tages, als Claudine in die Küche trat, um ihren Hausfrauenpflichten zu genügen, eine kleine runde Mädchengestalt am prasselnden Herdfeuer und wirthschaftete dort mit Tassen und Theekessel umher, als ob es gar nie anders gewesen wäre. Ein Paar schelmische blaue Augen sahen über das Stumpfnäschen hinweg zu Claudine hinüber, und die Besitzerin dieser Augen machte einen etwas unbeholfenen Knix, als sie die schöne schlanke Gestalt über die Schwelle treten sah.

„Aber, liebes Kind!“ sprach Claudine verwundert.

„Ach, gnädiges Fräulein, lassen Sie mich das thun!“ bat das Mädchen zutraulich. „Den ganzen Tag kann ich nicht bei Tante Doris in der Stube sitzen und sticken; ich käme um dabei, wenn ich nicht ein bischen Wirthschaft hätte. Bitte recht sehr, lassen Sie mich!“

„Aber das darf ich nicht annehmen, liebe Ida – so heißen Sie ja wohl? – gewiß nicht; ich verwöhne mich nur dadurch.“

„Ich möchte so gern etwas lernen,“ sagte das Mädchen und schlug die schelmischen Augen nieder.

Claudine lächelte. „Bei mir? O, da sind Sie schlimm angekommen – ich bin selbst noch Lernende.“

„Gnädiges Fräulein, dann will ich nur die Wahrheit sagen – ich kann schon etwas in der Wirthschaft, aber in so manchen andern Dingen fehlt mir’s; ich möchte gern eine Stelle als Kammerjungfer in S. annehmen, und da dachte ich, ich könnte hier so ein wenig wegbekommen, wie man seine Dame zu behandeln hat beim Ankleiden, und so weiter. Lassen Sie mich das bischen Wirthschaft hier thun und sich dafür meine ungeschickte Hilfe gefallen beim Nähen, Toilettenmachen und Schneidern.“

Die Blicke des Mädchens hingen so freudig erwartungsvoll an Claudinens Augen und sie selbst fühlte sich so müde und traurig; aber sie antwortete nicht und ging zu Fräulein Lindenmeyer.

„Gestehe es nur, Lindenmeyerchen,“ sagte sie, sich zum Scherz zwingend und das alte Fräulein duzend, wie in ihrer Kinderzeit; „Du hast Dir Besuch eingeladen, um die Last der Wirthschaft von meinen Schultern zu nehmen?“ Dabei flimmerten ihre Augen feucht.

„Ach, Herzenskindchen,“ jammerte das gutmüthige Geschöpf; „so hat’s die Ida doch dumm angefangen und wir hatten es uns so fein ausgedacht! Seien Sie nicht böse! Ich kann’s nicht mit ansehen, wie Sie des Morgens mit verwachten Augen herunter kommen und so blaß sind, so blaß! Es ist so ein altes Sprichwort: ‚Rosenbeet und Ackerland, gedeihen nie in einer Hand.‘ Wenn Sie frisch sein wollen bei Hofe, dann müssen Sie auch Ihr Recht haben; sonst ist’s bald vorbei mit Ihrem weißen klaren Teint. Heinemann sagt’s auch; er hat sich mit mir um die Wette geängstigt Ihretwegen. Und, Fräulein Claudine, die Ida hat ihren regelrechten Profit dabei. Sie könnte durch ihre Tante die Stelle bei der Gräfin Keller als Kammerfrau bekommen; aber so weg von der Waldwiese geht’s doch nicht. Wahrhaftig, es ist so!“ betheuerte die alte Seele.

Und so hatte Claudine plötzlich eine Hilfe bekommen, so sehr sie sich auch sträubte und wehrte. Es war eine ordentliche Behaglichkeit in das Haus eingekehrt durch dieses frische unscheinbare [188] Mädchen, und eifriger ist wohl nie eine Herrin bedient, herzlicher nie ein Kind verwöhnt worden wie Claudine und die kleine Elisabeth. Heinemann strahlte ordentlich, wenn er der flinken Dirne auf dem Treppchen begegnete oder sie in der Küche die alten Volkslieder mit halblauter Stimme – um den Herrn Baron nicht zu stören – singen hörte. Jetzt weinte auch die kleine Elisabeth nicht mehr, wenn Tante Claudine fort fuhr in dem schönen Wagen der Frau Herzogin, und Claudine saß nicht mehr so abgespannt bei Tische wie bisher, ohne einen Bissen zu genießen.

„Es ist ganz vornehm bei uns!“ lächelte Joachim, als Heinemann zum ersten Male die einfachen Gerichte auftrug und Claudine ruhig an ihrem Platz verblieb, „ich bin glücklich Deinetwegen, Schwester.“

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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 13, S. 201–204

[201] Claudine hatte ihre Reise aufgegeben. Als sie der Herzogin von ihrer Absicht sprach, war dieselbe in leidenschaftliches Schluchzen ausgebrochen: „Ich kann Sie nicht halten, Claudine, gehen Sie!“ Und da hatte sie, erschreckt und gerührt zugleich, versprochen zu bleiben. Nun kam der Hofwagen, der sie nach Altenstein holte, täglich früher. Die Neigung der fürstlichen Frau zu dem stillen schönen Mädchen wuchs eben täglich, und sie war jetzt ruhig, ganz ruhig; sie fuhr in der Herzogin Wagen spazieren und saß in dem Boudoir derselben, vorlesend oder plaudernd. Zuweilen freilich trat der Herzog unangemeldet und rasch ein, von einem Freudenruf der fürstlichen Frau begrüßt, aber Claudine fürchtete seine Begegnung nicht mehr. Keiner jener heißen Blicke war ihr mehr gefolgt; keine Silbe hatte er zu flüstern versucht; sie wußte, er hielt sein fürstliches Wort. Sie kannte ihn genau durch seine Mutter; wie manchen tollen Streich hatte die alte Herzogin gelegentlich von ihm erzählt, von den Sorgen, die er ihr bereitet, von den Gebeten, die sie im heißen Flehen um diesen Sohn gesprochen vor dem Betschemel ihres Schlafzimmers unter dem Muttergottesbilde, über welchem die silberne kleine Lampe hing, daß er nicht untergehen möge in dem wilden Treiben seiner Jugend! „Und,“ hatte die alte Dame dann hinzugefügt, „es war doch nur überschäumende Jugendlust; sein Herz blieb edel; er war zu lenken, wenn man das richtige Wort fand.“ Und Claudine meinte, sie habe das richtige Wort gefunden. Sie gehörte zu den edlen Naturen, die nicht ruhen, bis sie das Gute in einer Menschenseele entdeckt haben; die suchen und suchen und, wenn sie das Gold gefunden, keine Grenzen kennen im Verzeihen.

Sie verzieh dem Herzog stillschweigend die Beleidigung, die er ihr zugefügt, als sie sah, wie ritterlich er seine Leidenschaft bekämpfte, wie er sich bemühte, gegen seine Gemahlin geduldiger zu sein, als vordem; wie er in ihr die Freundin dieser Gemahlin ehrte. Sie sei gefeit als solche gegen Lieb und Haß – das war ihr Glaube geworden. An die Herzogin-Mutter schrieb Claudine; es waren dankbare, gerührte Worte, mit denen das schöne Mädchen ihr Glück pries, die bevorzugte Gefährtin der Herzogin sich nennen zu dürfen. „O, wenn Ew. Hoheit wüßten,“ hieß es darin, „wie glücklich ich bin in der Liebe und dem Vertrauen des edelsten Herzens; ich sinne nur darauf, wie ich vergelten kann, daß ich die Freundin dieser liebenswürdigen Fürstin geworden. Selbst das, was Ew. Hoheit zuweilen tadelten, ist beim näheren Kennenlernen kein Fehler mehr; Ihre Hoheit trägt nicht nur äußerlich die Liebe für ihren hohen Gemahl zur Schau, Ihrer Hoheit ganzes Sein und Wesen ist so in diese Liebe getaucht, daß Hoheit sich verstellen müßten, wollten sie dieselbe verbergen.“

Claudine schien lebhafter als seit langer Zeit. Sie konnte mit Ungeduld den Wagen erwarten, der sie nach Altenstein holte. In der durchgeistigten Atmosphäre, die um die kranke Fürstin wehte, fühlte sie ihr eigenes Leid kleiner werden. Die Herzogin [202] hatte eines Tages, schüchtern wie ein Pensionsmädchen, ein paar Hefte in Claudinens Hand gelegt; es waren liebliche kleine Gedichte, von ihr verfaßt. Zuerst jubelnde Lieder der Brautzeit, dann die tiefinnerlichen Glücksworte der jungen Ehefrau, und zuletzt die Verse, die sie aufschrieb an der Wiege ihrer Söhne. Vielleicht waren die Lieder zu zart, zu sentimental; aber wenn Claudine die anschaute, die sie gedichtet, so meinte sie, sie könnten nicht anders sein, als durchweht von überschwenglichem Glück und von todestraurigen Ahnungen.

Auch einige kleine Novellen waren darunter, eigenthümlich erdacht. Es gab da immer ein paar Menschen, die sich über alles lieben und – getrennt werden durch den Tod, durch einen tückischen Zufall, durch ein unabweisbares Verhängniß – niemals aber durch die Schuld des Einen oder Andern. Claudine hatte gestaunt über die traurigen Abschlüsse, aber nicht gewagt, darüber zu sprechen, weil sie fürchtete, die schon zur Schwermuth Geneigte noch trauriger zu machen.

So waren acht stille schöne Tage vergangen. Die Neuhäuser hatten diesen Frieden nicht gestört, wie die Herzogin anfänglich fürchtete. Prinzeß Helene war einige Male wie ein Wirbelwind in den Zimmern der Herzogin erschienen, hatte aber deutlich zu erkennen gegeben, daß sie die größtmögliche Eile habe, zu dem süßen Baby ihrer verstorbenen Schwester zurückzukehren. Die alte Prinzeß lag derweilen in Neuhaus auf einer Chaiselongue mit verletztem Fuß. Claudine sah Beate nur einmal flüchtig, als diese in aller Morgenfrühe nach dem Eulenhaus gewandert war, um sich nach einigen kleinen Prinzessin-Angewohnheiten zu erkundigen und eine Menge köstlicher Kuchenstückchen, Bonbons und Konfitüren abzuladen. Sie sprach sich anerkennend aus über die neue Einrichtung auf Eulenhaus, den Besuch des Fräulein Lindenmeyer betreffend; im übrigen war sie still und gedrückt und hatte auf Claudinens Frage ungeduldig die Schultern etwas gehoben und gesagt, sie wünsche weiter nichts, als vier Wochen älter zu sein. Es sei fürchterlicher, als sie sich gedacht; kein Winkelchen sei im ganzen Hause, wo man seines Lebens sicher wäre vor der Prinzeß, diesem Irrwisch, und Lothar erwidere ihre Klagen mit Achselzucken.

Claudine hatte das Haupt gesenkt, als käme jetzt ein Blitzstrahl, der die letzte Hoffnung vernichten müßte; aber Beate war still geworden und hatte dann von etwas Anderem gesprochen, nämlich, wie diese Berg doch täglich unangenehmer werde; sie habe entschieden einen sehr großen Einfluß auf die alte Prinzessin. „Mir kann es aber gleich sein,“ hatte sie noch hinzugefügt.

Heute, an einem echten köstlichen Sommertage, hatte die Herzogin den Thee im Parke befohlen, dort, wo die Waldbäume an den Garten stoßen, an jenem Platze, wo Joachims Weib für immer eingeschlafen war. Unter den alten Eichen schaukelte die Hängematte der Herzogin, und Claudine, im leichten weißen Kleide, saß neben ihr auf einem bequemen, mit Leinen überspannten Sessel aus Bambusstäben und las. Vor ihr auf dem Tischchen aus japanischer Flechtarbeit lag die unvermeidliche Wollstickerei der Frau von Katzenstein; diese selbst stand etwas seitwärts und bereitete den Thee. Im Schatten einer mächtigen Kastaniengruppe, von den Damen um die Breite des Kiesplatzes getrennt, spielte der Herzog Luftkegel mit den zwei ältesten Prinzen ,dem Rittmeister von Rinkleben und Herrn von Palmer; das Jubeln der Kinder, das Lachen und das Klappen der umfallenden Kegel tönte herüber und die Augen der Herzogin sahen mit glückseligem Ausdruck dorthin.

„Halten Sie ein, Claudine,“ bat sie jetzt. „Der Tag ist so schön, die Sonne so golden und diese Erzählung so düster. Heute erscheint mir das so unnatürlich – was glauben Sie, daß noch geschehen wird? Mit jenen Beiden in dem Buche, meine ich.“

„Hoheit, ich fürchte, es endet entsetzlich,“ sagte die junge Dame und gehorsam legte sie das Buch auf den Tisch.

„Er hat sich ja bereits Gift verschafft,“ gab die Herzogin zu.

„Ja,“ erwiderte Claudine, „sie wird sterben müssen.“

„Sie?“ fuhr die Herzogin erstaunt auf; „aber beste Claudine, welch entsetzliche Phantasie! Er selbst will sich vergiften, weil er fühlt, er kann mit ihr nicht leben, und ebenso wenig ohne die Andere.“

„Ich weiß nicht, Hoheit,“ stotterte das Mädchen, – „dem Gange der Geschichte nach vermuthete ich –“

„Bitte, geschwind das Buch!“ rief die Herzogin. Sie schlug es auf und las das Ende. „Mein Gott, Claudine, Sie haben Recht,“ sagte sie dann.

„Es ist psychologisch auch nicht anders möglich; wenn Hoheit der Charakterschilderung des Mannes gefolgt –“

„Es ist mir nichts Besonderes an ihm aufgefallen,“ unterbrach die Herzogin. „Nein, Claudine – das ist unwahr! Gott sei Dank, solche Phantasien gehören in die Rubrik des Wahnsinns. Wir wollen das Buch nicht weiter lesen; die Welt ist so schön und ich bin so froh, so leicht heute.“

Sie warf die seidene Decke zurück, die über ihr mattrothes, mit weißen Tüpfelchen gemustertes Foulardkleid gebreitet war, und winkte mit der Hand hinüber zu den Kastanien.

„Sehen Sie, Claudine, da kommt eben der Herzog; er scheint müde vom Spiel. – Mein lieber Freund, ich bin etwas zu faul heute für unsere Dominopartie, aber vielleicht übernimmt Fräulein von Gerold meine Stelle? – Bitte, das Tischchen hierher,“ befahl sie und wandte sich herum in der Hängematte, stützte das Haupt auf die Hand und sah zu, wie der Herzog Claudine gegenüber Platz nahm, die Steine vertheilte und die seinigen aufbaute.

Claudinens schlanke Finger begannen plötzlich zu zittern; sie neigte das schöne Gesicht tiefer über die schwarzweißen Steinchen und eine rosige Gluth stieg ihr bis unter das wundervolle üppige Blondhaar. Dort drüben, jenseit des Rasenplatzes, war etwas Blaues aufgetaucht – flatterte näher wie ein zierlicher Schmetterling und blieb dann mit einem Male regungslos stehen. – Und hinter diesem Blauen?

„Ah, mein Kind,“ sagte die Herzogin halblaut, „Sie scheinen zerstreut, der Herzog wird die Partie gewinnen.“

„O, das ist ja eine idyllische Gruppe; das ist, als habe Watteau sie arrangirt! Ich fürchte, Baron, wir stören,“ rief die in hellblaues Leinen gekleidete Prinzessin und wandte sich mit einem halb spöttischen, halb ärgerlichen Ausdruck nach rückwärts, wo ihre Mutter am Arme des Schwiegersohnes ging, gefolgt von dem Kavalier und der Hofdame. Und sie sah in Lothars Gesicht, das, wie aus Erz gegossen, keinen Zug veränderte.

Ihre Durchlaucht, die alte Prinzessin, nahm die Lorgnette vor die Augen und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: „En avant, mein Kind; Du wünschtest Elisabeth zu überraschen – übernimm also die Anmeldung – bitte!“

Prinzeß Helene bewegte sich vorwärts; aber sie flatterte nicht mehr, es war nur ein langsames Gehen und ihre schwarzen Augen sahen sehr unzufrieden drein. Sie klappte geräuschvoll ihr Sonnenschirmchen zu, als sie sich näherte, und blieb dann mit einer schmollenden Miene stehen. „Pardon, Hoheit, wenn ich störe –.“

Die Herzogin blickte auf und lachte. „Wo kommst Du her, Wildfang?“ und sie streckte ihr die Hand entgegen. „Bist Du über die Mauer geflogen, oder –?“

„Mit der Neuhäuser Equipage gekommen. Mama, Baron Gerold und die Andern sind dort hinten und bitten um den Vorzug, Hoheit begrüßen zu dürfen.“

Sie verneigte sich graziös vor dem Herzog und küßte die Hand der Herzogin. Claudine, die neben dieser stand, schien Ihre Durchlaucht nicht zu bemerken; sie begann mit komischem Eifer ihren Sonnenschirm zu schwenken, als wollte sie den Nahenden ein Zeichen geben, daß sie willkommen seien.

Der Herzog schritt der alten Prinzessin entgegen und führte sie seiner Gemahlin zu; Lothar kam bei der Begrüßungsscene neben Claudine zu stehen, aber vergeblich wartete sie auf ein Wort; sie erhielt nur eine stumme Verbeugung. Man nahm Platz; ein lebhaftes Gespräch entspann sich zwischen den fürstlichen Damen. Prinzeß Thekla bat um Entschuldigung, sich so unverantwortlich spät nach dem Befinden Ihrer Hoheit erkundigt zu haben; aber sie habe einen Unfall auf der Neuhäuser Schloßtreppe erlitten und sechs Tage lang Arnikakompressen auf dem Fuße gehabt; und Prinzeß Helenes Besuche wären auch so flüchtig gewesen, sie sei aus der Kinderstube und aus dem Neuhäuser Schlosse gar nicht wegzubringen; sie habe sich sogar von Fräulein Beate eine leinene Schürze geborgt und sei mit ihr in allen Wirthschaftsräumen umher gelaufen, auf dem Boden und in Keller und Speisekammer. Die alte Prinzessin drohte dabei scherzhaft ihrem Töchterlein mit aufgehobener Hand. „Gestern [203] ertappte ich sie in der Küche beim Himbeereinkochen! Ja, ja, verstecke nur Deine Arbeitsfingerchen!“

Die Herzogin wandte sich lächelnd an Prinzeß Thekla. „Wie befindet sich das Enkelkindchen?“ fragte sie.

„Nun, es erholt sich ja,“ antwortete die alte Dame widerwillig, „aber noch lange nicht genügend. Die gute Berg hat wohl die Vorschriften des Arztes, den der Baron sich ausgesucht, etwas allzu streng befolgt – niemals Medicin, aber dafür kühle Abwaschungen und frische Luft von früh bis Abends; das Kind ist dafür viel zu zart. Es bekommt jetzt als Präservativ gegen Erkältung Aconit und wird bis Mittags im Zimmer gehalten.“

„Mein Töchterchen läuft bereits ein wenig, wenn auch noch schwankend,“ fügte der Baron gelassen hinzu, „und da sie die normale Größe einer zweijährigen jungen Dame hat, klettert sie auf Sophas und Stühlen umher.“

„Noch lange nicht genug,“ wiederholte Prinzeß Thekla, ihn unterbrechend.

„Ich bin mit diesem Wenigen schon sehr zufrieden,“ erwiderte er.

Claudine hatte sich inzwischen freundlich zu Komtesse Moorsleben gewandt und fragte sie irgend etwas Gleichgültiges. Einige wenige Worte, wobei die lustigen braunen Augen der jungen Dame nach einer ganz anderen Richtung schauten, waren die Erwiderung.

Befremdet schwieg Claudine. Die kleine Prinzessin ihr gegenüber im Schaukelstuhl sah sie schon eine ganze Weile mit herausfordernden Blicken an. Claudine richtete ihre schönen blauen Augen ruhig und wie fragend auf diese dreisten schwarzen Sterne; da wandte sich der dunkle Lockenkopf und ein verächtlicher Zug flog um den fast zu vollen kleinen Mund.

„Die jungen Damen sollten eine Partie Croquet spielen,“ schlug die Herzogin vor. „Die Herren dort drüben werden sich gern betheiligen. Meine liebe Claudine, geleiten Sie die Prinzessin und Komtesse Moorsleben hinüber und geben Sie den Befehl zum Aufstellen der Reifen.“

Claudine erhob sich.

„Verzeihung, Hoheit, – ich danke!“ sagte Prinzeß Helene, „ich bin etwas ermüdet.“ Sie legte den Kopf an die Lehne des Schaukelstuhles und wiegte sich langsam. Komtesse Moorsleben setzte sich sofort wieder hin, als ihre Gebieterin refüsirte. Auch Claudine nahm ruhig Platz.

Es wurde Eis servirt und Thee und Kaffee in kleinen Sèvrestassen. Die Herren kamen jetzt vom Spielplatz herüber und gesellten sich zu den Herrschaften; Claudine sah plötzlich zwei Kavaliere hinter ihrem Stuhl, Herrn von Palmer und den Rittmeister von Rinkleben. Sie wandte sich zu letzterem und war bald mit ihm im Gespräch; sie kannte seine jüngere Schwester aus der Pension und fragte nach ihrem Ergehen; er gab einen langen Bericht über ihre Heirath und das Glück, das sie darin gefunden gegen alle Erwartung. Enge Verhältnisse, schmales Auskommen, und doch sei sie heiter und zufrieden.

„O ja,“ stimmte die junge Dame bei; „es läßt sich mit ein wenig Zufriedenheit das engste kleine Heim ganz köstlich ausschmücken.“

„Das redendste Beispiel giebt gnädiges Fräulein selbst; Eulenhaus ist ein Idyll, ein Traum, wo Sie walten wie eine Fee des Behagens,“ fiel Palmer ein. „Das Bewußtsein freilich, daß dies nur eine Episode ist, hilft wohl diesen Zauber vollenden; es ist leicht, zufrieden zu sein, schaut man in der Ferne einen Tempel des Glückes.“

Claudine sah ihn fragend an.

Er lächelte vertraulich und langte sich den Krystallbecher mit Eis von dem Tischchen an seiner Seite.

„Etwas dunkel, Herr von Palmer; ich verstehe Sie nicht,“ sagte Claudine sich wendend.

„Wirklich nicht? Ah, meine Gnädige, bei Ihrer glänzenden Fassungsgabe. Es muß Ihnen doch sehr heimisch hier vorkommen,“ fuhr er ablenkend fort, „hoffentlich ist die Zeit nicht mehr fern, wo Sie definitiv den Sitz Ihrer Väter wieder beziehen. Die ewigen Fahrten von und nach dem Eulenhause sind doch lästig, meine ich, und noch dazu in nächster Zeit, wo die Festlichkeiten sich jagen werden in Altenstein und Neuhaus.“

„Ich habe heute Unglück, Herr von Palmer; schon wieder will mir der Sinn Ihrer Rede nicht klar werden.“

„So betrachten Sie doch die Worte prophetisch, Fräulein von Gerold!“ sagte eine helle Stimme, und der Erbprinz, ein bildschöner Junge von zwölf Jahren mit den großen schwärmerischen Augen seiner Mutter, rückte mit seinem Tabourett zu Claudinen hinüber; „Propheten redeten ja immer dunkel,“ setzte er hinzu.

„Bravo, Hoheit!“ rief Herr von Palmer lachend.

„Ich wollte, Herr von Palmer hätte wahr geweissagt,“ fuhr der Erbprinz fort und sah mit der knabenhaft kecken Bewunderung seines Alters auf das schöne Mädchen. „Sie könnten wohl ganz zur Mama kommen, gnädiges Fräulein. Mama sagte erst gestern zu Papa, es würde nett sein, wenn Sie nicht immer wieder fort führen.“

Herr von Palmer lächelte noch immer.

„Das kann ich leider nicht, Hoheit, ich habe daheim meine Pflichten,“ erwiderte Claudine ruhig; „wie gern käme ich sonst nach meinem lieben Altenstein!“

„Es ist eine köstliche Besitzung,“ lenkte der Rittmeister ab, „welch wundervoller Garten!“

„Er war Großpapas Steckenpferd,“ bemerkte Claudine traurig.

„Sie haben hier immer mit Ihrem Bruder und andern Kindern ‚Räuber und Prinzessin‘ gespielt, als Sie noch klein waren?“ fragte der Erbprinz, ohne einen Blick von dem Gesicht der jungen Dame zu wenden.

„Dort unten,“ nickte sie und wies nach links, „an der Mauer, wo die kleine Pfortenthür ist; die wurde dann zu Ausfällen benutzt.“

„Herr Rittmeister,“ rief Prinzeß Helene jetzt laut, „ich möchte nun doch eine Partie Croquet machen! Kommen Sie, Isidore!“

Die Komtesse und der Rittmeister erhoben sich und eilten nach dem Rasenplatz; Prinzeß Helene zögerte noch. „Baron,“ sagte sie dann zu Lothar von Gerold, und ihre Stimme hatte plötzlich etwas Bittendes, „sind Sie nicht auch dabei?“

Er erhob sich und schaute sie an, während er sich zustimmend verneigte. „Haben Durchlaucht schon alle Personen befohlen, die Theil am Spiel nehmen sollen?“ fragte er dann.

„Warum? Sie sehen ja, wir sind Zwei zu Zwei.“

„Nicht mehr als Vier? Ah so! Hoheit!“ wandte er sich an den Erbprinzen; „Prinzeß Helene wünscht Croquet zu spielen – ich weiß, wie Sie das Spiel lieben.“

Der Fuß der kleinen Durchlaucht trat merklich ungeduldig den Rasen.

„Ich muß bedauern,“ erwiderte der Prinz ernsthaft; „Fräulein von Gerold hat soeben versprochen, mir den Platz zu zeigen, wo ich am besten eine Festung bauen kann mit meinem Bruder. Das ist mir interessanter.“

Baron Lothar lächelte. Er blieb einen Moment stehen und sah, wie der junge Prinz Claudine mit einer allerliebsten Wichtigthuerei den Arm bot.

Die Herzogin folgte dem schönen Mädchen am Arme des Knaben mit erstaunter Miene. „Warum spielt Fräulein von Gerold nicht mit?“ fragte sie den Baron.

„Hoheit, Prinzeß Helene wählte soeben selbst ihre Partner,“ erwiderte er.

„Bitte, Baron,“ sagte die Herzogin liebenswürdig, aber bestimmt, „gehen Sie Ihrer Kousine nach und sagen Sie ihr, wie sehr ich bedaure, daß man vergaß, sie aufzufordern, und bringen Sie sie womöglich zurück; der Hofmeister des Erbprinzen, der dort eben kommt, wird so lange Ihre Stelle übernehmen.“

Der Baron verbeugte sich und ging, sich bei der Prinzeß zu entschuldigen und dem Hofmeister, einem liebenswürdigen, aber etwas damenscheuen Herrn, den Hammer in die Hand zu drängen. Dann schlug er langsam und auf Umwegen die Richtung ein, die seine Kousine genommen.

Die Nase der alten Prinzeß war während dieses Vorganges plötzlich spitz und weiß geworden.

„Verzeihung, Hoheit,“ sagte sie und setzte die zierliche Tasse klirrend auf das Tischchen; „Helene hatte sicher nicht die Absicht, zu kränken; sie meint es sicherlich nur gut, sie liebt Eure Hoheit schwärmerisch. Ihr ehrliches Herz geht eben immer mit ihr durch, und –“

„Ich sehe nicht ein, was die Ehrlichkeit damit zu thun hat, liebste Tante,“ erwiderte die Herzogin und ihre Wangen färbten sich purpurn vor Erregung.

[204] Herr von Palmer sah zu dem Herzog hinüber, der von diesem kleinen Wortwechsel nicht die geringste Notiz nahm. Hoheit spielte mit seinem Monocle, indem er ernsthaft der weißen schwebenden Mädchengestalt nachschaute, an deren Arm zutraulich der Erbprinz hing und sie nach allem Möglichen befragte. Sie war schon eine ganze Weile in dem dichten Gewirre eines Jasminbosquetts verschwunden; da wandte der Herzog langsam den Kopf zurück und begegnete den Augen der Prinzeß Thekla; sie sahen noch funkelnder aus als sonst, es lag ein verbissener schadenfroher Ausdruck über ihrem mageren Gesicht.

„Er macht zeitig die Kour,“ sagte der Herzog unbefangen; „der Junge ist ja Feuer und Flamme!“

„Und guten Geschmack hat er auch,“ ging die Herzogin fröhlich auf den Scherz ein.

„Das hat er von seinem Papa,“ schrillte die Stimme der alten Prinzessin, und das liebenswürdigste harmloseste Lächeln der Welt verdrängte für einen Moment die Verbissenheit. Sie sah aus, als hätte sie nie ein Wässerchen getrübt, und setzte sich noch einmal so aufrecht in ihren Stuhl zurück.

Der Herzog nahm verbindlich den Hut ab und verneigte sich vor ihr.

„Ja, meine allergnädigste Tante, ich sah stets lieber eine schöne Frau, als eine häßliche, und wenn Sie meinen, der Erbprinz habe diese Eigenschaft von mir, so machen Sie mich sehr glücklich; ich danke Ihnen.“

In Herrn von Palmers scharfgeschnittenem Gesicht wetterleuchtete es vor unterdrückter Heiterkeit. Es war ja unbezahlbar; wenn die Berg das hören könnte! Prinzeß Thekla zupfte nervös an den Spitzen ihres Taschentuches; die Herzogin aber warf dem Gemahl einen bittenden Blick zu; sie kannte vollauf seine Antipathie gegen Tante Thekla. Die stammte noch aus seinen Jünglingsjahren, wo diese besagte Tante, mit einem hervorragenden Talent für Spionage begabt, seine tollen Streiche auskundschaftete, um sie bei der Herzogin-Mutter gesprächsweise anzubringen; natürlich nicht immer ganz der Wahrheit gemäß. – Jetzt würdigte sie Seine Hoheit keines Wortes mehr; sie wandte sich zu der Herzogin und überschüttete sie mit wahrhaft unheimlichen Freundlichkeiten, die eine mitleidige Färbung hatten, wie man zu Leuten zu sprechen pflegt, die unverschuldet einen großen, großen Kummer tragen; eine Freundlichkeit, die nervöse stolze Naturen bis aufs Blut peinigen kann.

Die Herzogin verstand sie nicht, aber sie litt unter all den Fragen und Rathschlägen und Erkundigungen, und als endlich Prinzeß Thekla seufzte: „Wenn ich nur ganz gewiß wüßte, ob Eurer Hoheit dieses Altenstein gut thun kann?“ ward sie ungeduldig und bat, man möge sie hinaufführen, sie fühle sich ermüdet.

Das galt als Zeichen zum Aufbruch; in kurzer Zeit war der Platz unter den Eichen leer, lagen die bunten Kugeln verlassen auf den Wegen, und auf der Chaussee rollten die beiden Prinzessinnen nebst ihrer Begleitung Neuhaus zu.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 14, S. 221–226

[221] Claudine war mit dem jungen Erbprinzen dem letzten Theile des weiten Parkes zugeschritten. Sie war innerlich froh, fortzukommen aus dem Bereiche von Lothars Augen, die ihr wehthaten. Die absichtliche Kränkung der kleinen Prinzeß hatte sie kaum verletzt; es erschien ihr so überaus kindisch, daß sie sich nicht die Mühe nahm, weiter darüber nachzudenken. Es hatten ja stets kleine Plänkeleien von jener Seite gegen ihre Person stattgefunden; sie datirten von Bällen und anderen Hoffestlichkeiten her, wo ihre Erscheinung zuweilen – wider ihren Willen – die Prinzessin etwas verdunkelt hatte. Warum die Prinzessin es aber heute, sogar unter den Augen des Herzogs und der Herzogin, wagte, ihre Abneigung in so herausfordernder Weise zu zeigen, begriff sie allerdings nicht. Die kleine Durchlaucht mußte sehr schlechter Laune gewesen sein, oder – sollte sie mit dem hellsehenden, ahnenden Geist der Liebe Claudinens Gefühle für den Mann, den sie begehrte, erkannt haben? Aber doch nicht! Die Prinzessin war ja ihrer Sache sicher, so sicher, daß sie sogar Beatens Wirthschaftsschürze lieh und ein wenig Hausfrau spielte im künftigen Heim.

Und auch Lothar mußte dieses wetterwendischen koketten kleinen Herzens gewiß sein; sonst würde er sich kaum erlaubt haben, sie in so ironischer Weise auf die Unart aufmerksam zu machen, die sie beging.

Claudine runzelte plötzlich die Stirn und biß sich auf die Lippen. Was ging ihn das an, wenn ihr wehgeschah? Er würde es sicher kaum bemerkt haben, wenn sie nicht den Namen „Gerold“ trug. – Immer dieser wahnsinnige Familienstolz! Sie wußte doch wahrlich selbst, wie weit man ihr gegenüber gehen dürfe, sie wußte sich allein zu vertheidigen, sie wollte keine Bevormundung, kein Mitleid, am allerwenigsten von ihm!

Sie war mit ihrem jugendlichen Begleiter in den einsamsten Partien des Parkes angelangt, wo schon zu ihrer Kinderzeit die Büsche und Bäume wuchsen und wachsen durften, wie sie wollten. Es war eine feuchte, moosdurchduftete Wildniß, von einem kleinen Bach durchrieselt, an dem die Farrenkräuter in üppigster Pracht ihre grünen Wedel entfalteten. Unter der kleinen Brücke, aus Birkenstämmchen gezimmert, gluckste und schluchzte das Wasser noch eben so eigenthümlich wie damals, als sie, ein Kind, hier umhergestreift. Dort war das halbzerfallene Mooshüttchen, das bei ihren Spielen bald als Gefängniß, bald als Ritterburg diente; wie oft hatte sie darinnen gesessen als gefangenes Burgfräulein! Ein wehmüthiges Gefühl beschlich sie, als sie dem Prinzen davon erzählte und ihm alles zeigte. Da war auch der [222] Grabstein, unter dem Joachims Lieblingshund lag, die kleine gelbe Dachshündin, die Lola hieß und so klug war, daß sie ihn niemals verrieth, wenn die Kinder Verstecken spielten; sie lag dann mäuschenstill neben ihrem jungen Herrn und hielt den Athem an, wie er, wenn der Suchende in die Nähe kam. – Es waren glückliche Zeiten – wo waren sie geblieben?

„Wo geht es dort hinaus?“ fragte der Prinz, auf eine schmale niedere Pforte in der Mauer deutend.

„In das Dorf, Hoheit,“ erwiderte Claudine. „Die Pforte wird benutzt zum sonntäglichen Kirchgang.“

Der wißbegierige Prinz zog das schöne Mädchen immer weiter an der Mauer entlang, sie mit allerhand Fragen bestürmend. Plötzlich erblickte er einen Häher in einem der hohen Bäume und vergaß seine Dame und seine Ritterpflicht, indem er dem Vogel nachlief, der durch die Aeste streifte, als wollte er den Knaben necken, bald hier, bald dort auftauchte und verschwand, immer weiter und weiter.

Claudine, die, in ihren wehmütigen Erinnerungen versunken, achtlos dahingegangen war, kam erst nach einer ganzen Weile zum Bewußtsein, daß sie allein sei. Sie holte tief Athem und wischte mit dem Tuche über die Augen. Was wollte sie denn eigentlich? – Es war doch nicht anders, als es eben war! Mit Kopfhängen und Thränen zwingt man nichts Verlorenes zurück, mit Weinen und Sehnen kann man nichts erringen, was einem versagt sein soll nach Gottes Rathschluß. „Es wird die Zeit kommen, wo es nicht mehr schmerzt,“ tröstete sie sich, „sie muß kommen; es wäre ja nicht möglich, zu leben mit der brennenden Wunde im Herzen!“

Sie war selbstvergessen stehen geblieben; es hatten sich doch ein paar große Tropfen an den Wimpern gesammelt. – Jetzt, wo sie allein, wollte all das Weh hervorbrechen, das sie empfand in seiner Gegenwart; sie meinte in diesem Augenblick, sie würde es nicht ertragen, ihn mit lächelnder Ruhe neben jener Andern zu sehen, als das erklärte Eigenthum einer oberflächlichen unartigen kleinen Frau.

„Verzeihen Sie, Kousine,“ klang plötzlich seine Stimme in ihr Ohr. Sie wandte sich mit jähem Erschrecken, und blitzgeschwind fiel ein funkelnder Tropfen aus dem Auge auf ihre Hand, die sie hastig mit der andern verdeckte, und der alte stolze Ausdruck breitete sich über ihre schönen Züge.

„Ich würde nicht gewagt haben zu stören,“ fuhr er fort, einen Schritt näher tretend, „Ihre Hoheit beauftragte mich aber, Ihnen zu sagen, wie leid es Hochderselben thue, Sie verletzt zu wissen.“

„Hoheit ist wie immer gütig,“ scholl es kühl zurück. „Ich bin nicht verletzt; derartiges lernt man übersehen und – beurtheilen nach Verdienst.“

„Es scheint, Sie haben viel gelernt in der letzten Zeit, Kousine,“ sagte er bitter und ging neben ihr weiter. „Ich erinnere mich der Zeit, wo Sie noch scheu wie ein Reh vor jedem Blick flohen, und ich dächte, das ist noch gar nicht so lange her – in den Sälen des Residenzschlosses.“

„Gewiß!“ erwiderte sie. „Urplötzlich erstarkt ein schwaches Herz, sobald es fühlt, es muß allein für sich einstehen. Ich bin übrigens dreiundzwanzig Jahre alt, Vetter, und in der letzten Zeit gewaltsam aufgerüttelt aus dem sorglosen Mädchenleben.“

„Es ist etwas Großes um eine stolze Frauenseele,“ antwortete er ironisch; „nur schade, daß dieser Stolz beim ersten Anprall des Lebens so leicht brechen kann. – Für mich hat es stets etwas Rührendes,“ fuhr er fort, „wenn ich sehe, wie ein Weib, das die Welt nicht kennt, mit einem Muth sondergleichen sich als Heldin auf einen unmöglichen Posten stellt; man möchte sich die Augen zuhalten, um nicht zu sehen, wie sie zusammenbricht, und vermag es doch nicht; man möchte sie zurückreißen von dem schwindelnden Abgrund und wird doch nur kalt lächelnde Zurückweisung dafür ernten.“

„Vielleicht besitzt dennoch die Eine oder die Andere neben dem Muth auch die nöthige Stärke, auf dem Posten auszuhalten,“ sagte Claudine, bebend vor innerer Erregung, und schlug einen rascheren Schritt an.

„Möglich!“ erwiderte er achselzuckend. „Es giebt Naturen, die da von sich als von einer Ausnahme denken: ‚Seht, das kann ich wagen, ungestraft wagen!‘ Sie sind dann plötzlich am tiefsten zu Boden geschmettert.“

„Meinen Sie?“ fragte sie ruhig. „Nun, es giebt auch Naturen, die hoch genug von sich denken, um den Weg zu gehen, den ihr Gewissen und die Pflicht sie wandern heißt, ohne nach rechts oder nach links zu sehen und ohne auf unberufene Wegweiser zu achten.“

„Unberufene?“

„Ja!“ rief sie, und ihre schönen Augen blitzten in leidenschaftlicher Erregung. „Wie kommen Sie dazu, Baron Gerold, mir Ihre dunklen Weisheitssprüche, Ihre räthselhaften Sarkasmen aufzutischen, sobald Sie mich erblicken? Haben wir je mit einander so gestanden, daß Sie diese Bevormundung wagen dürfen?“

„Niemals!“ antwortete er tonlos.

„Und wir werden auch niemals so stehen,“ fuhr sie bitter fort. „Ich kann Ihnen aber, falls es Sie beruhigt, die Versicherung geben, daß der Name ‚Gerold‘ durch mich nicht leiden wird, denn – und das ist doch wohl Ihre alleinige Sorge – ich kenne meine Pflicht.“

Er war blaß geworden.

Sie eilte jetzt schneller vorwärts; er blieb etwas zurück und holte sie dann wieder ein an der schmucken Gärtnerei, in der Heinemanns einzige Tochter mit ihrem Manne wohnte. Claudine war vor dem offenen Fenster stehen geblieben; da saß Heinemanns niedliche Enkelin hinter dem weißen Vorhange und weinte zum Gotterbarmen, und die Mutter, eine saubere freundliche Frau, trat an ihre ehemalige junge Herrin und wischte sich die Augen mit dem Schürzenzipfel.

„Ihr Bräutigam hat ihr heute abgeschrieben, gnädiges Fräulein,“ erklärte sie.

Das Mädchen preßte jetzt die Hände vor die Augen und bog sich aufschluchzend hinter die Gardine zurück.

„Aber weshalb denn?“ fragte Claudine mitleidig, ihre eigne Erregung beherrschend.

„Sie ist selbst schuld daran, gnädiges Fräulein,“ begann die Frau bekümmert, indem sie den näher kommenden Baron begrüßte; „der junge Herr auf dem Gute, wo sie in Kondition war, ist ihr alleweil nachgelaufen und hat schön mit ihr gethan; da hat der Wilhelm gemeint, sie sei ihm nicht treu.“

„Das ist unrecht vom Wilhelm,“ sagte Claudine kurz.

„Ach, gnädiges Fräulein,“ entschuldigte die Frau, „man kann’s ihm gar nicht so verdenken. Ich weiß ja, daß sie brav ist, ich kenne mein Kind; aber so ein junger Mann – die Lisette hätte eben fortgehen sollen von der Stelle, wie ich es ihr rieth; dann wär’s so nicht gekommen. Sehen Sie, Herr Baron,“ fuhr sie jetzt zu Herrn von Gerold gewendet fort und machte ihm eine ungeschickte Verbeugung, „das glaubt ihr doch kein Mensch, die Welt ist nun einmal so; und wenn sie sich das Haar darum ausrauft, es glaubt ihr keiner, daß sie nichts Unrechtes gethan. Mir ist heute schon gar vielemal der Spruch eingefallen, den mir Ihre gnädige Frau Großmutter selig zu meiner Konfirmation ins Gesangbuch schrieb, gnädiges Fräulein. Da steht es,“ sagte sie und griff zum Fenster hinein, langte ein schwarz eingebundenes Buch mit Goldschnitt von dem Fensterbrett und reichte es aufgeschlagen Claudine hin; „dort, unter dem Spruch des Herrn Pfarrers.“

Claudine nahm das Buch. Dort standen von einer feinen Männerhand die Worte geschrieben: „Selig sind, die reines Herzens sind“ – und mit den großen energischen Schriftzügen der alten Baronin: „Sei nicht nur rein, meid’ auch den Schein.“

In Claudinens Hand begann das Buch zu beben; stumm gab sie es zurück.

„Lassen Sie ihn ziehen, mein Kind,“ tönte jetzt Lothars Stimme seltsam hart; „er wäre ein unbequemer Ehemann geworden mit seinem Hang zur Eifersucht und zu Moralpredigten.“

Das Mädchen fuhr empor. „Nein, nein! Er war so gut und so brav; ich überlebe es nicht, wenn er nicht wiederkommt!“

„Man kann vieles überleben, Kleine,“ sagte er jetzt gutmüthig; „es stirbt sich nicht so leicht an getäuschten Erwartungen.“

Claudine hatte dem Mädchen ernst zugenickt; die Blässe der Erregung lag noch immer auf ihrem Gesichte.

„Leb wohl, Lisbeth,“ sprach sie, „und gräme Dich nicht um einen, der Dir nicht vertraut.“

„Ach, gnädiges Fräulein, sagen Sie das nicht!“ rief das Mädchen und eilte vom Fenster weg.

Claudine wandte sich und schritt weiter; ihr zur Seite Lothar. Die Worte der Großmutter flammten vor ihren Augen und warfen ein befremdendes Licht auf ihre eigene Lage. Wie, wenn man von ihr bereits wisperte und spräche? Und wenn es [223] geglaubt würde? Wenn es einer bereits glaubte, daß sie ihre Ehre schon vergessen habe? Sie wandte ihm plötzlich das Gesicht zu und sah ihn an mit fragenden, angstvollen Blicken.

Er ging ruhig neben ihr. Nein – nein – nein! konnte sie so wahnsinnig sein?

„Der Platz ist verlassen,“ bemerkte er jetzt, nach vorwärts deutend, „die Herrschaften scheinen im Schlosse zu sein.“

In der That, unter den Eichen war es einsam; ein Lakai, der dort aufräumte, berichtete, die Durchlauchten seien nach Neuhaus gefahren und Ihre Hoheit erwarte Fräulein von Gerold in ihrem Zimmer. Der Wagen von Neuhaus werde zurückkommen.

Sie wandte sich dem Schlosse zu, die Abendsonne übergoldete die Wipfel der Bäume und ließ die zahllosen Fenster in dem altersgrauen Sandsteingemäuer in Feuergarben aufsprühen. Ein rosiger Schimmer färbte die Luft; aus dem Dorfe klang die Abendglocke des Kirchleins.

„Leben Sie wohl,“ sagte Lothar stehen bleibend, „ich möchte versuchen, Se. Hoheit aufzufinden, um mich bei ihm zu verabschieden. Sie wissen ja Bescheid in diesen Gängen, können ja überhaupt des Wegweisers entbehren.“

Er verbeugte sich tief vor ihr; sie meinte; ironisch tief.

Stolz neigte sie den Kopf. Sie wußte ja, daß jene schwachen Fäden der verwandtschaftlichen Rücksichten, die sie in der Abgeschiedenheit des Landlebens oberflächlich an einander gefesselt hatten, gewaltsam zerrissen waren, eben zerrissen, als sie sich unberufene Rathschläge verbat. – War sie zu schroff gewesen? – Ihr Fuß zögerte einen Augenblick, bevor sie weiterschritt; dann ging sie doppelt rasch in dem überschatteten Wege dahin, der zur Hauptallee führte.

Um eine Biegung trat plötzlich der Herzog. Er nahm den Hut ab und schritt, ihn in der Hand behaltend, neben ihr. Er sprach über die Parkanlage und wies auf eine Gruppe prächtiger Blutbuchen, die sich wirkungsvoll von dem lichten Grün der dahinter stehenden Lärchen abhob. „Wo haben Sie den Baron gelassen, gnädiges Fräulein?“ fragte er dann.

„Eben verließ mich mein Vetter,“ antwortete sie; „wenn ich nicht irre, wollte er Ew. Hoheit aufsuchen, um sich zu verabschieden.“

„Ah! Nun, er wird mich zu finden wissen. Ich habe überdies ein Attentat auf ihn vor; ich will ihn festhalten heute Abend; er soll eine Partie Billard mit mir machen; meine kapriziöse kleine Kousine muß eine Strafe haben.“ Er lächelte dabei und sah Claudine forschend an. „Sie waren hoffentlich nicht verletzt von diesem Kinderstreich?“ fragte er und trat neben ihr in die große Allee, die zum Schlosse führt.

„Nein, Hoheit!“ erwiderte Claudine, indem sie mit verdüsterten Blicken dem Schlosse entgegensah. Vor der Freitreppe standen zwei Herren im Gespräch; eben wandte sich der eine.

„Bei Gott, Rittmeister,“ sagte er leise, „sehen Sie – wie weiland Ludwig der Vierzehnte, wenn er der Lavallière seine Ehrfurcht bezeigen wollte.“

Der Angeredete schwieg, aber er sah mit einem befremdeten Ausdruck auf das Paar, das scheinbar so einträchtig daherkam.

Oben, am Erkerfenster der Herzogin, aber flatterte ein weißes Tuch und das schmale Gesicht der fürstlichen Frau lächelte hinter den Scheiben.

Die Herren ließen mit tiefer Verbeugung den Herzog und Fräulein von Gerold passiren. Sie sah merkwürdig aus, die schöne Freundin der Herzogin; ein harter Zug lag um den sonst so lieblichen Mund. Im Schlosse angelangt, stieg sie die Stufen empor, so langsam und müde, als trage sie eine schwere Last auf den Schultern. „Nun ist alles vorüber,“ sagte sie noch einmal und betrat das Vorzimmer zu den Gemächern der Herzogin.

„Claudine,“ rief diese, die am Fenster nach ihrem Liebling ungeduldig ausgeschaut hatte, und schlang die Arme um den Hals des schönen Mädchens, „Sie sind so lange geblieben! Wie Sie fortgingen, wurde ich auf einmal so ungeduldig, ich wäre Ihnen am liebsten nachgegangen, ich kann wirklich nicht mehr ohne Sie sein. Hören Sie, Claudine?“

Sie zog die Schweigende neben sich auf das kleine Polstermöbel im Schatten der rothen Vorhänge und sah in die traurigen blauen Augen.

„ Armes Herz, Sie wurden verletzt vorhin, die Kleine war unartig und wird ihre Strafe bekommen. Es ist die Geschichte von dem Gänschen, das neben dem Schwan sich nur durch Geschrei bemerkbar machen kann. Claudine,“ fuhr die Herzogin flüsternd fort, „ich habe doch wieder recht gesehen, wer Sie sind und wer die Andern!“ Sie drückte die kühle Hand des Mädchens. „Ich habe Sie so herzlich lieb, Claudine,“ flüsterte sie weiter, „ich möchte Sie so gern ,Du!‛ nennen dürfen, wenn wir unter uns sind. Ist das unbescheiden?“

„Hoheit! Bitte!“ stammelte sie.

„ Nicht Hoheit, Claudine. Denkst Du, ich werde ,Du‛ zu Dir sagen, wenn Du mich ,Hoheit‛ nennst? ,Elisabeth‛ will ich heißen und ,Du Du‛! Ach bitte, bitte! – Nicht eine einzige Seele habe ich im Leben gehabt, die so mit mir verkehren durfte. Gönne mir doch dieses reine schöne Bewußtsein, daß Du meine Freundin bist und keine Untergebene. Bitte, bitte, Claudine, sage ‚ja‛!“

„Hoheit sühnen die unbedeutende Kränkung von vorhin durch allzu große Gunst,“ sprach das Mädchen erregt; „ich kann, ich darf es nicht annehmen.“

Und sie sprang plötzlich empor und faßte sich an die Schläfen, als müsse sie sich besinnen, was sie thun wolle.

„Ich hätte Dich für vernünftiger gehalten, Claudine,“ sagte die fürstliche Frau, „als daß Du über eine so einfache Sache außer Dir geräthst! Es ist der Inbegriff alles Vertrauens, aller Liebe – das ‚Du‛! Und weil ich zufällig Herzogin bin, soll ich das entbehren? So darfst Du nicht denken, und so denkst Du auch nicht. Komm her, Claudine, und gieb mir den Schwesterkuß!“

Claudine kniete vor der liebenswürdigen Frau nieder; sie wollte sprechen. „Laß mich! Laß mich! Es ist besser für Dich und für mich, ich gehe fort von Dir, soweit nach meine Füße tragen!“ Und sie brachte es doch nicht über die Lippen unter diesen fieberglänzenden kranken Augen, die so innig bittend in die ihren blickten. Und dann schloß ein Kuß ihren Mund. Im nächsten Augenblick fühlte sie etwas Kaltes an ihrem Arm, ein schmaler goldner Reifen in Gestalt eines Hufeisens, die Stellen der Nägel mit Sapphiren und Brillanten geschmückt, blitzte ihr entgegen.

„Wird Ew. Hoheit – wird Dich –“ verbesserte sie sich weinend, „diese Wahl nie gereuen? “ und ihr ernstes blasses Gesicht sah fragend zu ihrer fürstlichen Freundin auf.

„Ich habe ein feines Gefühl, Claudine, für – Menschenwerth; ich weiß, ich habe keiner Unwürdigen mein Herz angeboten.“




Prinzessin Helene war in außerordentlich schlechter Stimmung nach Neuhaus zurückgekehrt. Sie hatte während der Fahrt schweigend in der einen Ecke des Landauers, Prinzeß Thekla in der andern gelehnt, ebenso still. Komtesse Moorsleben, die in den Wagen befohlen war, wußte nur mit Mühe ein Lächeln zu unterdrücken: so gleich sahen sich in diesen Minuten des Verdrusses das junge und das alte Antlitz.

Erst oben, in den Gemächern des Neuhäuser Schlosses, entlud sich das Gewitter, und zwar über dem Haupt der Frau von Berg, die in das Zimmer der jungen Prinzessin befohlen ward. Die Kleine überhäufte die scheinbar schwer gekränkte Frau mit den wahnsinnigsten Vorwürfen, gerade als ob sie schuld sei, daß vor vierhundert Jahren ein alter Gerold die Idee bekam, in dieser Gegend ein festes Schloß zu bauen, das nach und nach zu diesem unausstehlichen Altenstein von heut geworden war. Ein gräulicher Aufenthalt, eine Einöde sei es; es liege ja klar am Tage, daß niemals ein vernünftiger Mensch so eine geschmacklose Acquisition hätte machen können, wenn nicht ganz besondere „Absichten“ damit verbunden wären.

Ob denn so etwas erhört sei, daß man öffentlich einen Verweis von Ihrer Hoheit hinnehmen müsse wegen – wegen so einer –. Sie fand in ihrem Zorn kein passendes Wort. Es habe ja gerade noch gefehlt, daß sie, Prinzeß Helene, die Hofdame Ihrer Hoheit um Verzeihung bitten solle!

„O!“ fragte die schöne Frau, die mit gesenktem Haupt diesen Sturm über sich ergehen ließ, „um Verzeihung bitten? Durchlaucht hatten doch nichts gethan?“

„Ich habe sie einfach nicht gesehen, denn ich mag sie nicht leiden,“ erklärte die Prinzessin.

In Frau von Bergs Augen leuchtete es auf.

„O allerdings, Durchlaucht, das war schlimm,“ sagte sie sanft. „Ihre Hoheit ist wahrhaft bezaubert von dieser Freundin; man möchte glauben, die schöne Claudine braue in ihrem alten Eulenhause Liebestränke. Wie unangenehm mag diese Scene dem Baron gewesen sein!“

[224] „Unangenehm?“ stieß die Prinzeß hervor. „Meinen Sie Alice? Er ging nicht gerade ungern von dem Spielplatz, um auf Befehl Ihrer Hoheit seine Kousine versöhnt zurückzuführen.“

Die Prinzessin sprang nach diesen Worten aus ihrem grau- und blaugeblümten Kretonnesessel empor und lief an das Fenster. Frau von Berg sah, wie sie beide Hände zur Faust geballt hatte und wie einer ihrer Füße nervös den Parkettboden trat, wie es ihr kaum gelang, die Fassung zu bewahren.

„Was sollte er denn thun, Durchlaucht? “ sprach Frau von Berg. „Aber freilich, es ist nicht unmöglich, wer kennt die Männerherzen?“ Und sie lächelte hinter dem Rücken der Prinzessin.

Diese wandte sich jäh, als sei sie von einer Schlange gebissen, sie sah noch das Lächeln um den Mund ihrer Vertrauten, im nächsten Moment flog etwas an dem künstlich frisirten Frauenkopfe vorüber und fiel neben dem Kachelofen zur Erde. Es erwies sich zwar nur als das weiche blauseidene Arbeitsbeutelchen der Prinzessin, das eine niemals über die Anfänge hinauswachsende Stickerei Ihrer Durchlaucht enthielt; aber die Thatsache blieb bestehen: es war nach Frau von Bergs Kopf geworfen.

Die schöne Frau hielt sich plötzlich das Sacktuch vor die Augen und begann zu schluchzen.

„Weinen Sie nicht!“ herrschte die Prinzessin sie an, „Sie wissen, daß es mich rasend machen wird, wenn – – Ich kenne Sie zu genau, Sie sind schadenfroh, Alice!“

„Bei Gott nicht, Durchlaucht!“ betheuerte die Weinende. „Ich dachte an – man lächelt doch auch aus Mitleid.“

„Ich brauche Ihr Mitleid nicht!“

„Wer sagt denn, daß es Ew. Durchlaucht galt? Mich dauert die Herzogin! Ihre Hoheit kommt mir vor wie das Lamm, das sich den Wolf zu Gaste gebeten hat. Hoheit vergöttert ja diese Claudine und – Durchlaucht, es ist doch traurig komisch, wenn man jemand sieht, der seinen ärgsten Feind mit Zuckerplätzchen füttert.“

Die Prinzeß antwortete nicht. Sie saß jetzt hinter dem Kretonnevorhang auf dem breiten Fensterbrett, und ihre Füße waren in hastiger Bewegung, während die Augen brennend auf die Chaussee starrten, die jenseit des Parkes ein wenig sichbar ward.

„Was kann ich dafür, wenn die Leute blind sind,“ sagte sie endlich.

„Ich glaubte, Durchlaucht liebten die Frau Herzogin?“

„Ja, sie ist gut, kindergut und hat mir immer viel Zuneigung bewiesen. Aber Mama sagt, sie ist überspannt, und das hat sie heute deutlich genug gezeigt. Ich kann ihr nicht helfen.“

Auf dem Rokokoschränkchen, dem echten alten mit blanken Messingschlössern und Henkeln, schlug die Uhr eben Sieben. Die kleine Prinzessin bemerkte es ungeduldig. „Schon so spät?“ sagte sie, „der Baron vergißt, daß wir heute Abend im Garten den Tanzplatz aussuchen wollten für das Fest.“

„Vielleicht befahl Ihre Hoheit ihn noch in ihren Salon,“ bemerkte Frau von Berg. „Fräulein von Gerold singt jeden Abend und der Baron ist, wie Durchlaucht wissen, ein fanatischer Musikliebhaber.“

„Die Herzogin aber weiß, daß er Gäste hat!“ rief die Prinzessin mit funkelnden Augen und sah ihre Peinigerin drohend an.

„Wenn aber Hoheit befehlen?“ sagte diese sanft entschuldigend.

„Befehlen? Wir leben doch nicht im Mittelalter? Am Ende kann meine Kousine wohl gar noch befehlen, er soll ihren Liebling heirathen?“

Frau von Berg ging harmlos auf diesen etwas gewaltsamen Scherz ein. „Wer weiß, Durchlaucht, wenn es der Herzenswunsch dieses Lieblings wäre?“

Das war zu viel für Prinzeß Helene. Sie lief zu Frau von Berg hinüber und faßte sie zornig an die Schulter; ihr schmales Gesicht war ganz bleich.

„Alice,“. sagte sie, „Sie sind schlecht! Ich fühle es, daß Sie schlecht sind! Sie können mich bis aufs Blut peinigen; es ist entsetzlich, was Sie da sagen – aber – es ist nicht unmöglich. Alice, ich habe keine ruhige Stunde mehr, ich wollte, ich wäre todt wie meine Schwester! Die ist doch wenigstens einmal glücklich gewesen.“

„Aber, Durchlaucht, ein Scherz!“

„Nein, nein, keinen Scherz – um Gotteswillen, nehmen Sie es nicht als Scherz! Ich weiß nicht, was ich thun könnte vor Seligkeit, wenn sie fort wäre aus diesen Bergen! Warum ist sie nicht mit der Herzogin-Mutter nach der Schweiz gegangen? Warum muß sie hier sitzen?“

„Ja warum?“ fragte Frau von Berg und küßte die Hand der kleinen Prinzessin.

„Armes Kind!“ seufzte sie dann.

„Ach Alice, wissen Sie keinen Weg? Nennen Sie mir einen! Ich ertrage die Zweifel nicht länger!“ flüsterte das leidenschaftliche Mädchen.

„Ich, Durchlaucht? Was kann ich denn thun? Wenn da nicht ein ‚Zufall‛ hilft, Ihrer Hoheit die Augen zu öffnen.“

„Ein Zufall? “ wiederholte die Prinzessin bitter.

„Wie denn sonst? Ihre Hoheit haben keine einzige Seele, die es gut genug mit ihr meint, um ihr einen solchen Freundschaftsdienst zu erweisen.“

„Ein schöner Freundschaftsdienst!“ antwortete die Prinzeß spöttisch, „das ist schon mehr eine Henkersarbeit; denn das weiß ich, so wahr ich hier vor Ihnen stehe, Alice, daß die Kenntniß dieser Angelegenheit Elisabeths Herz brechen würde.“

„Durchlaucht würden lieber mit ansehen, wie das edelste, beste Geschöpf systematisch hintergangen wird? Ich muß gestehen, die Ansichten von ‚Freundschaft‛ sind sehr verschieden,“ erwiderte Frau von Berg vorwurfsvoll.

„Sie haben wohl niemals einen so recht lieb gehabt, Alice? So lieb, daß man eher sterben möchte, als ihn missen? Nein, das haben Sie nicht, sagen Sie es nur nicht etwa. Wo andere ein Herz haben, da haben Sie eine leere Stelle! Sehen Sie mich nicht so an; durch mich erfährt die Herzogin es nicht, Alice; nebenbei behaupte ich nie etwas, das ich nicht zuverlässig weiß, und hier dürften vollgültige Beweise doch vorläufig fehlen.“

Frau von Berg lächelte und strich über das Haar der Prinzessin, eine Thräne blitzte in ihrem Auge.

„Wie könnte ein so goldreines liebes Kinderherz auch an solche Schuld glauben?“ sagte sie leise, „es würde selbst die Beweise nicht anerkennen.“

Die Prinzeß schüttelte die Hand ab. „Bitte, thun Sie nicht, als hätten Sie alle Taschen voll davon, “ sagte sie ärgerlich über die Berührung.

„Ich habe zwar nicht alle Taschen voll, es würde aber auch ein Beweis genügen, Durchlaucht.“

Das Gesicht des fürstlichen jungen Mädchens überzog eine flammende schämige Röthe.

„Es ist nicht wahr!“ stammelte sie, „so ehrlos ist kein Weib, daß es Freundschaft heuchelt, wo es Verrath übt. Sie sind entsetzlich, Alice!“

„O Durchlaucht, Sie kennen das Leben nicht!“

Die Prinzessin faßte sich plötzlich an die Stirn und lief in ihr Schlafzimmer, krachend flog die Thür hinter ihrer leichten Gestalt zu. Frau von Berg blieb allein in dem anmuthigen einfachen Raum, sie schaute die Thür an und wieder glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Dann zog sie ein Notizbuch aus der Tasche und nahm ein Billet heraus. „Da ist es,“ flüsterte sie, es liebevoll betrachtend. Einmal hatte es bereits seine Zauberkraft bewährt – da drinnen in ihrem Boudoir saß jetzt Durchlaucht Prinzeß Thekla und schrieb an Ihre Hoheit die Herzogin-Mutter einen Brief voll tugendhafter Entrüstung!

Nebenan erklang jetzt ein leidenschaftliches Schluchzen. Frau von Berg verließ das Zimmer und kam gleich darauf mit frischem Wasser und Himbeersaft zurück. Ohne weiteres betrat sie das Schlafgemach der Prinzessin. „Durchlaucht sollten sich fassen,“ bat sie weich und mischte den kühlenden Trank. Sie kniete vor dem weinenden jungen Geschöpf nieder, das auf dem Divan zu Füßen des Bettes saß, und sah sie wie um Verzeihung bittend an.

„Die rothen Augen müssen fort,“ sprach sie weiter; „wenn ich nicht irre, fuhr soeben der Baron in den Hof. Auf dem Tische drinnen liegen die Maskenbilder für das Kostümfest und eine große Auswahl entzückender Proben von Monsieur Ulmont.“

Die Prinzessin erhob sich, ließ sich von Frau von Berg das Haar ordnen und die Augen kühlen. „Sehe ich sehr verweint aus?“ fragte sie.

„Nein, nein; reizend wie immer!“ klang es zurück.

Unten läutete setzt die Tischglocke in vollen lauten Tönen. Ein paar Minuten später flog die Prinzessin hinunter, als wollte sie keine Minute einer köstlichen Stunde versäumen; ihr Auge strahlte, ihr Mund lächelte. An den weit geöffneten Thüren des [226] Speisesaales, in welchem die Kerzen flammten über dem blitzenden Tisch, stand Beate in dem raschelnden grau- und schwarzgestreiften Taffetkleide, das sie jetzt regelmäßig bei den Mahlzeiten zu tragen pflegte.

„Mein Bruder läßt Ew. Durchlaucht bitten, seine Abwesenheit zu verzeihen; Se. Hoheit haben ihn für sich in Anspruch genommen, soeben kam der Wagen leer zurück,“ sagte sie, sich leicht verneigend, mit ihrer zuweilen so hart klingenden Stimme.

Das Strahlende aus dem Gesichte der Prinzessin war verschwunden, sie saß still neben Beate; die alte Prinzessin hatte sich mit plötzlich aufgetretenem Kopfweh entschuldigt. Komtesse Moorsleben unterdrückte mühsam ein Gähnen, der Kammerherr sprach gedämpft mit Frau von Berg, sonst hörte man nichts, als das leise Klappern der Teller oder Beatens Stimme, die laut und deutlich wie immer erscholl. Einmal redete sie die Prinzessin an; die wandte auch den Kopf herum zu ihr; ohne zu antworten, aber noch ehe der Nachtisch kam, erhob sie sich, winkte der Komtesse, sie solle zurückbleiben, und lief wie ein trotziges Kind in den Gärten hinaus. Als sie nach ein paar Stunden in ihr Zimmer zurückkam, war ihr Haar feucht vom Nachtthau und die Augen verschwollen. Aber diese Augen sahen nicht das, was sich vor ihnen befand – sie sahen ein lauschiges Gemach und an dem Flügel ein schönes Mädchen, um dessen Blondhaar der Lichtschein eine Glorie wob, und einer lauschte den süßen weichen Tönen, die sein Herz bestricken mußten wider Willen. Es war zum Verzweifeln!

„Frau von Berg soll kommen,“ sagte sie zur Kammerjungfer, „ich will kein Licht.“

Nach ein paar Minuten rauschte die Schleppe der schönen Frau über die Schwelle des dunklen Gemaches, und die kleine zitternde Hand der Prinzeß faßte nach der ihren.

„Den Beweis, Alice, geben Sie ihn mir!“ flüsterte die bebende Stimme.

„Hier!“ erwiderte Frau von Berg gelassen und legte den verräterischen Brief in die Rechte der Prinzessin „Ich glaube, es lohnt der Mühe nicht. Werfen Sie den Zettel fort, Durchlaucht, wenn Sie ihn gelesen.“

„Es ist gut, Alice, ich danke. Sie können mich verlassen.“

Die Prinzessin ging in ihr Schlafzimmer und las beim Schein der rosa Ampel, die vom Plafond herabhing. „Auch trotzdem eine Freundin? Arme Liesel!“ flüsterte sie.

Dann machte sie eine Bewegung, als wollte sie das Blättchen zerreißen, und hielt wieder inne. Eine heiße Blutwelle stieg ihr zum Kopf, sie holte schwer Athem. In dem Raume lag noch die Schwüle des Tages und durch das offene Fenster strömte der süße berauschende Duft blühender Linden, berauschend wie die Sehnsucht, die das Herz des Mädchens erfüllte – nach Glück und Seligkeit. Und sie wollte glücklich werden um jeden Preis, auch um den größten! Mit bebenden Fingern faltete sie den Brief so klein wie möglich zusammen und schloß ihn in eine goldene Kapsel, die sie am Halse trug. Ein Bild war darin, ein Männerkopf; sie nahm es einst ihrer Schwester heimlich fort, als diese Braut war – Lothars Braut. Es war ihr tiefstes Geheimniß.

„Nur für den Nothfall!“ flüsterte sie noch einmal und verbarg das Medaillon.

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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 15, S. 241–244

[241] Fräulein Lindenmeyer schüttelte verwundert den Kopf unter der rothbebänderten Haube. Merkwürdig, was aus dem sonst so verlassenen Paulinenthal geworden war! In den Waldwegen leuchteten helle Damenkleider auf und schollen fröhliche Stimmen; es schien, als habe die ganze Stadt sich gerade diese Gegend zu ihren Sommerpartien ausgewählt. Eine Menge eleganter Wagen fuhr seit kurzer Zeit vorüber, und in Xleben war kein Ei mehr zu haben. Alles ging nach Brötterode, dem Duodezbade, eine halbe Stunde vom Eulenhause, wo, wie die Frau Försterin sagte, die fremden Herrschaften in diesem Jahre nur so wimmelten. Jede noch so kleine Wohnung sei vergeben und der Wirth in der „Forelle“ zum Platzen hochmüthig geworden, er habe zwei Grafenfamilien im ersten Stocke, und im Hinterhause wohne eine Frau von Steinbrunn mit zwei Töchtern; alle hätten Equipage mit, und das sei ein ewiges Gefahre nach Altenstein und nach Neuhaus. –

Ja, der ganze Hofschwarm war den fürstlichen Herrschaften nachgezogen, wie der Schweif mit seinen unzähligen Papierschnitzeln dem Drachen nachfliegt. Man fand in diesem Sommer die heimischen Gebirge unvergleichlich schön in den höchsten Kreisen der Residenz, es war einmal etwas Anderes als die Schweiz oder Tirol, als Ostende oder Norderney. Diejenigen, die bereits abgereist waren, kamen hierher zurück. In dem primitiven Speisesaal des Brötteroder Gasthofes, wo die Bilder des Herzogs und der Herzogin in wahrhaft empörendem Farbendruck die getünchten Wände zierten, wo man auf tannenen Stühlen an schmalen Tischen saß, trockenen Rinderbraten und Backpflaumen als Kompott aß und zweifelhaften Rothwein trank, herrschte trotz alledem eine animirte Stimmung. Hatte man doch Aussicht auf Picknicks im Walde, auf Croquet und Lawn Tennies im Altensteiner Park. Die Herzogin sollte sogar von einem bal champêtre gesprochen haben, einem Kostümball im Mondenschein unter den Eichen des Schloßgartens.

Es versprach diese Sommerfrische nach allen Seiten hin eine ganz ungewöhnliche zu werden; außer allem Andern war es auch schon höchst interessant, diese romantische Freundschaft Ihrer Hoheit zu der schönen Claudine zu beobachten; wahre Wunderdinge hatte man schon gehört.

„Sie sollen sehr intim sein,“ erzählte die Gräfin X.

„Neulich hat man sie in ganz gleichen Kleidern gesehen,“ berichtete Frau von Steinbrunn.

„Pardon! Das ist nicht der Fall. Die Herzogin trug rothe Schleifen, Claudine von Gerold blaue,“ ereiferte sich ein junger Offizier in Civil, der seinen Urlaub anstatt in Wiesbaden hier verlebte.

[242] „Die Herzogin soll sie ja förmlich mit Schmuck und Kostbarkeiten überhäufen, sie sind den ganzen Tag beisammen, lesend, plaudernd und spazierengehend, wahrscheinlich dichten sie auch mit einander. Prinzeß Helene hat vorgestern zu Isidore von Moorsleben gesagt, sie nennten sich ‚Du‛!“ rief die Komtesse Pausewitz.

„Nicht möglich! Unglaublich!“

„Die Gerolds machen eigenthümliches Fortune!“

„Was sagt Seine Hoheit dazu?“ fragte plötzlich die kecke Stimme eines jungen Diplomaten.

Die alte Excellenz mit weißem Scheitel und würdevollem Gesicht am oberen Ende der Tafel räusperte sich vernehmlich und schüttelte mißbilligend das Haupt.

Man sah sich lächelnd und vielsagend in die Augen, trank schweigend seinen Wein aus, reichte längst zurückgewiesene Kompottschüsseln noch einmal herum; die weibliche Excellenz begann nach einer Pause vom Wetter zu sprechen. Ein paar Gräfinnen-Mütter erfaßten mit einem Blick auf die Töchter begierig das neue Thema, „ob man es wagen dürfe, auf die hohe Warte zu steigen, einen der beliebtesten Aussichtspunkte der Umgegend?“ – Und als die Tafel aufgehoben war, traten die älteren Damen zusammen und flüsterten und zuckten die Achseln und hielten die Taschentücher vor den Mund und lächelten dahinter.

Bis jetzt war es noch nicht gelungen, mit eigenen Augen sich zu überzeugen, denn bis zu diesem Augenblick hatten sämmtliche um das Befinden der hohen Frau besorgten Herren und Damen sich damit begnügen müssen, ihre Namen in das Buch einzutragen, das in einem Saale zu ebener Erde des Altensteiner Schlosses auslag. Aber man hörte doch dieses und jenes, man vermuthete, man kombinirte. Man war so neugierig aus den nächsten Donnerstag; denn daß die fürstlichen Herrschaften auf dem Feste des Baron Gerold erscheinen würden, ließ sich mit Bestimmtheit annehmen, man erwartete sogar ganz sicher, an diesem Tage eine große Neuigkeit zu hören, nichts Geringeres als die Bekanntmachung einer längst erwarteten Verlobung.

Ja, es konnte interessant werden! Und während aller dieser Vermuthungen, während aller dieser Erwartungen lebte man auf Neuhaus und Altenstein scheinbar in aller Ruhe weiter.




Prinzeß Helene saß im Neuhäuser Garten und neben ihr stand das elegante Kinderwägelchen der kleinen Leonie. Ihre Durchlaucht spielten noch immer die zärtliche Tante in der stürmischen Art, wie sie alles auffaßte, was ihr durch das Köpfchen schoß. Sie schleppte die Kleine überall mit herum, sie bemühte sich mit unermüdlicher Ausdauer, ihr geliebtes Nichtchen das Wort „Papa“ zu lehren; doch die scheuen schwarzen Kinderaugen sahen sie zwar groß an, aber das trotzige Mündchen blieb geschlossen. Sie wußte nicht, daß selbst das jüngste Kind schon in den Zügen zu lesen versteht, und die Ungeduld und Leidenschaft, die aus den Blicken der Prinzessin sprühten, machten das arme kleine Wesen furchtsam. Es fing gewöhnlich nach ganz kurzer Zeit an zu schreien.

Und dann ward es mit Inbrunst getragen, beschwichtigt, geküßt und mit unmöglichen Koseworten überschüttet, so daß Beate die Hände rang in ihrem Zimmer und mit besorgten Mienen lauschte, ob nicht jemand dem unglücklichen Würmchen zu Hilfe kommen wollte. Aber wer denn? Lothar saß wie vergraben in seiner Stube, wohin er sich nach beendeten Mahlzeiten zurückzuziehen pflegte; Prinzeß Thekla lag meistens auf ihrer Chaiselongue, gähnte oder schrieb Briefe, und Frau von Berg – nun, die bestärkte Prinzeß Helene noch in ihren Extravaganzen; diese große, überstolze Person beugte sich bis in den Staub vor der kindischen Herrin.

Die alte Kinderfrau, die erschreckt hinzulief, ward höchstens dazu benutzt, den süßen Liebling etwas zu beruhigen und, wenn das kaum geschehen war, ihn seiner fürstlichen Tante wiederzugeben, bis er aufs neue zu schreien anfing. Beate, die bisher nicht wußte, was Nerven zu bedeuten haben, spürte zum ersten Male in diesen Tagen ein merkwürdiges Kribbeln in den Fingerspitzen; es flog ihr mitunter heiß um die Ohren, wie sie selbst sagte; sie ertappte sich sogar einmal auf einer unerklärlichen Lust zum Weinen. Das war, als Lothar vor dem Fest apathisch erklärte, ihm sei es ganz gleich, wie sie es arrangiren wolle. Da stand sie nun, die sich nie im Leben um derartiges bekümmert hatte, und sollte für Konzertprogramm, Tanzordnung und Kotillon sorgen. Sie hatte nicht übel Luft, dem, der da in seinem verdunkelten kühlen Zimmer so schweigend und brütend auf- und abschritt, die Wahrheit zu sagen:

„Du bist hier der Herr vom Hause, und wenn Du Dir Gäste einladest, so habe auch die nötige Geduld, um die Pflichten des Wirthes zu ertragen.“

Aber ehe sie noch die Lippen geöffnet, wandte er sich um, und sie blickte in ein blasses Gesicht von so sorgenvollem Ausdruck, daß sie erschrak; sie hatte in letzter Zeit gar nicht Muße gefunden, ihn anzuschauen.

„Um Gottes wissen, Lothar,“ sagte sie und trat zu ihm, „Du bist krank?“

„Nein! Nein!“

„Dann hast Du Sorgen!“

„Sorgen wie ein Mann, der sein ganzes Hab und Gut, seine Hoffnung, seine Zukunft auf ein gebrechliches Schiff lud und es vom sicheren Ufer aus Sturm und Wellen preisgegeben sieht; der dasteht, ohne retten zu können, und weiß, daß der Untergang gleichbedeutend ist mit Elend und Verzweiflung –“ sagte er leise.

„Aber, Lothar!“ rief Beate entsetzt. Sie war es nicht gewohnt, ihn in solchen Bildern sprechen zu hören und mit einer so bitteren Betonung. Und fast flehend bat sie. „Schenke mir Dein Vertrauen, Lothar, erkläre Dich deutlicher – Du ängstigst mich!“

„O nichts – nichts, Beate; kehre Dich nicht daran, es kam just so unwillkürlich über die Lippen. Es wird überwunden werden – dann – wenn es wieder still und einsam ist hier auf Neuhaus. Habe Nachsicht mit mir.“

Aber die Schwester wich nicht. „Lothar,“ begann sie resolut, obgleich ihr das Herz wehthat, „ich glaube, Ihr Männer seid in manchen Sachen schwer von Begriffen; ich denke, Du darfst auch diesmal nur die Hand ausstrecken.“

„Nein, mein kluges Schwesterchen, diesmal nicht,“ erwiderte er. „Ueber meine geöffnete Hand hinweg streckt sich siegesgewiß eine andere; und als ich das sah, da habe ich die meine still zurückgezogen und zur Faust geschlossen. So, und nun frage nicht mehr und laß mich allein, Beate!“

„Du bist noch immer der thörichte Junge wie früher,“ murmelte sie und wandte sich. „Bei Gott, sie läuft Dir nach, wie Deine Diana da –“ Und sie wies auf den Hühnerhund, der mit klugen Augen jeder Bewegung seines Herrn folgte.

Sie stand dann plötzlich in der Halle und sah mit finsterer Miene, wie Prinzessin Helene im lichten Morgenkleid, gefolgt von der Komtesse, die breite Treppe herunter kam, um im Garten zu verschwinden. Die schwarzen Augen der Prinzeß hatten durchbohrend auf die feste Eichenthür gesehen, die zu Lothars Gemächern führt, und in Beatens bekümmertem Herzen hatte sich der Zorn geregt. Sicher, das war verschroben von ihm; deutlicher konnte ihm nicht gezeigt werden, daß er geliebt wurde, nach ihrer Meinung schon viel zu deutlich! Ihr waren diese dreisten leidenschaftlichen Augen, dies unstete flatterhaft nervöse Wesen der Prinzessin unsäglich zuwider. Gott mochte wissen, was ihr jetzt wieder durch den Kopf schoß; der Kuh- und Pferdestall war so wenig vor ihr sicher wie die Kinderstube oder das Erbbegräbniß dort am Ende des Parkes, zu dem sie neulich gebieterisch den Schlüssel verlangt hatte, um die Särge der heimgegangenen Eltern zu bekränzen. Eine Aufmerksamkeit für den Sohn, die nur leider von diesem völlig übersehen worden war.

Beate schüttelte den Kopf und stieg die Treppe hinauf nach der großen Mansarde, wo die Wäschespinde und Truhen standen. Dort setzte sie sich hin und gab der Lust zum Weinen nach. War es denn ein Glück, das er ersehnte in Bangen und Verzweiflung? Dieses hochgeborene leidenschaftliche Geschöpf! – War denn die erste Ehe ein Glück gewesen? Warum flogen Lothars Wünsche so hoch? – Sie dachte seiner Zukunft an ihrer Seite; an das verlassene schlichte Haus seiner Väter, in welchem sie einsam und allein verbleiben würde, es hütend und beschützend wie jetzt. Er würde hinausgehen mit ihr in das bewegte Leben der Residenz, auf Reisen sein, wie mit der ersten Gattin; und mitunter würde er kommen, auf ein paar Tage – allein! Was sollte die erlauchte Frau auch hier? Ihre Anwesenheit jetzt bedeutete so nur eine Ermutigung; ihr spielendes Interesse an dem Haushalt des Stammsitzes war nur ein Beweis, daß auch sie sich gern herablassen werde, wie einst ihre Schwester sich herabgelassen.

[243] Und wenn er dann kam, würden sich Brüder und Schwester in die Augen sehen und finden, daß sie gealtert; der Eine in der schwülen sengenden Hofluft, die Andere in der Einsamkeit und in der Sehnsucht nach eigenem Glück.

Sie erschrak selbst über den schluchzenden Ton, der sich ihr wider Willen entrungen; sie biß die Zähne zusammen und schloß mit umflorten Augen die Truhe auf, die ihr zunächst stand, und raffte eilig Teppiche und bunte gewirkte Decken heraus. Es waren köstliche Sachen; sie wollte damit die Halle dekoriren lassen. Joachim hatte sie auf seinen Reisen gesammelt, diese Smyrnagewebe und türkischen Stoffe, und bei der Auktion hatte sie es erstanden mit ihren eigenen Mitteln. Und während sie die stimmungsvolle Farbenpracht der wundervollen Gewebe betrachtete, rollten ihr die Thränen unaufhaltsam über das stille Gesicht.

Was war ihr nur eigentlich? Sie kannte sich gar nicht so! – Mit einer energischen Bewegung wischte sie die Tropfen ab und zwang sich, an Kotillonbouquetts und Schleifen, an unzählige Stöße Porzellanteller und Tassen, an eine Friseurin, an Eis, Mandelmilch und Gott weiß an was zu denken, und zuletzt an diese unglückliche Idee der kleinen Prinzeß, ein Kostümfest mit Tanz aus dem einfachen Kaffee machen zu wollen.

Sie eilte die Treppen wieder hinunter, gab Befehle, schickte Boten fort, sprach mit Gärtner und Mamsell, und mitten in diesen Trubel kam die Absage von Claudine und Joachim. Auf letzteren hatte man ja kaum gerechnet; aber Claudine? Beate suchte eilenden Schrittes ihren Bruder auf. Sie fand ihn im Garten; er stand neben Prinzeß Helene und der Komtesse auf dem improvisirten Ballparkett, das unter den Linden hergerichtet war. Die Zimmerleute waren eben fertig geworden und ein paar Gärtnerburschen bekleideten die grob behauenen Pfähle der Einfriedigung mit Tannengrün und zogen Festons von Pfeiler zu Pfeiler.

„Lothar,“ begann sie, „Claudine sagt ab; willst Du nicht hinüber und sie bitten, dennoch zu kommen?“

Er sah in diesem Augenblick noch bleicher aus. „Nein!“ erwiderte er kurz.

In Prinzeß Helenens Augen blitzte es auf, sie hatte dies Blaßwerden bemerkt.

„Dann werde ich hinfahren, wenn Du es erlaubst,“ sprach Beate.

„So wirst Du Deine Schritte nach Altenstein lenken müssen. Im Eulenhause triffst Du sie schwerlich.“

„Heute Abend, wenn sie zurückgekehrt ist,“ erwiderte Beate. „Ich komme nicht ohne ihre Zusage wieder.“

„Sie scheinen Unglück zu haben, Baron,“ sagte die Prinzessin mit unheimlich flackernden Augen, „wie Mama mir mittheilte, wird auch der Herzog höchst wahrscheinlich dem Feste seine Gegenwart versagen. Ihre Hoheit, die soeben wegen einer kleinen Toilettenfrage schrieb, theilte es Mama tiefbetrübt mit.“

Auf der Stirn des Barons schwoll eine Ader; sonst veränderte sich kein Zug seines Gesichtes; er sah gespannt den Gärtnern zu, welche roth-weiße Fähnchen auf den Säulen befestigten. „Es sieht gut aus,“ bemerkte er gelassen, „meinen Durchlaucht nicht auch?“

Die kleine Durchlaucht nickte.

„Warum nicht auch die Farben Ihres Hauses?“ fragte sie bezaubernd liebenswürdig. „Abwechselnd das Gelb und Blau mit dem Purpur und Weiß?“

„Ich liebe diese Zusammenstellung nicht,“ erwiderte er. „Es sind gesuchte Kontraste.“

Beate, die sich eben zurückziehen wollte, wandte sich erschreckt ab. Aber die Prinzessin lächelte, sie mochte einen andern Sinn heraus gehört haben, als Beate.


* *
*


Claudine stand am Nachmittag dieses Tages, Adieu sagend, am Schreibtisch ihres Bruders.

„Meine Absage ist doch besorgt?“ fragte er.

Sie nickte. „Deine und meine. Leb’ wohl, Joachim!“

„Deine?“ fragte er bestürzt.

„Ja! Ich sehne mich nicht nach derartigen Festen; sei nicht böse, Joachim!“

„Böse? Ich verstehe Dich nur nicht, Du wirst Beate sehr betrüben.“

Ueber das schöne Gesicht der Schwester flog ein leiser schelmischer Zug.

„O, ich denke, ich werde sie wieder versöhnen. Joachim, laß mich doch hier; Du hast keine Ahnung, wie ich mich auf diesen Tag freue, auf den Nachmittag unter der Steineiche, auf den Abend mit Dir.“

Er reichte ihr die Hand. „Wie Du willst, Claudine. Du weißt, alles ist mir recht, was Du thust.“

Und Claudine ging hinunter, küßte das Kind zum Abschied, das unter Idas Leitung Puppenkleider nähte, und schaute in Fräulein Lindenmeyers Zimmer. Die schlief im Lehnstuhl; leise machte Claudine die Thür zu und schlüpfte durch den Hausflur in den Garten hinaus, vor dessen Pforte der fürstliche Wagen hielt. Nach kaum einer halben Stunde saß sie unter den Eichen des Altensteiner Gartens und las der Herzogin vor aus Joachims Werk „Frühlingstage in Spanien“. Die Geschichte seiner Liebe war in die wundervollen landschaftlichen Schilderungen anmuthig mit eingewebt.

„Claudine,“ unterbrach die Herzogin die Lesende, „sie muß sehr reizend gewesen sein, diese kleine Schwägerin! Beschreibe sie mir!“

Das Mädchen heftete ihre blauen Augen auf die fürstliche Frau. „Sie glich Dir etwas, Elisabeth,“ sagte sie.

„O Du Schmeichlerin!“ drohte die Herzogin; „aber da bringst Du mich auf eine Idee – verzeih, daß mich die interessante Lektüre zu einer Toilettenfrage anregt. Wie wär’s, Claudine – ich nehme Fächer und Mantille und komme einmal ‚spanisch‛ nach Neuhaus? Es ist ein guter Gedanke, meine ich. Und Du, Dina?“

„Ich – ich habe abgesagt, Elisabeth.“

Ueber das Gesicht der Herzogin flog ein betrübter Zug. „Wie schade!“ sagte sie langsam und nachdenklich; „auch der Herzog hat refüsirt.“

Claudinens blasses Antlitz flammte plötzlich im Roth des Erschreckens. Die Augen der fürstlichen Freundin hefteten sich fragend in die ihren.

„Ist Dir heiß?“

„Aber weshalb will Seine Hoheit nicht teilnehmen?“ erkundigte sich Claudine ausweichend.

„Er hat mir keinen Grund angegeben,“ war die Antwort.

„Elisabeth,“ sagte das schöne Mädchen hastig, „wenn Du es befiehlst, nehme ich meine Absage zurück; ich kann das leicht, Beaten gegenüber.“

„Ich befehle es nicht, aber ich würde mich freuen,“ sagte die Herzogin mit dem alten Lächeln.

„So beurlaube mich eine Stunde früher, ich möchte Beate selbst meinen geänderten Entschluß mittheilen.“

„Natürlich! So schwer es mir auch wird, Dich zu missen. Aber berichte mir, warum wolltest Du nicht nach Neuhaus? Ich kann mir nicht denken, Claudine, daß Du die Lappalie mit Prinzeß Helene so ernsthaft genommen, um es Deine Verwandten entgelten zu lassen.“

Die Herzogin hatte während dieser Worte die Hand der Freundin erfaßt und suchte mit ihrem Blick nach den blauen Augen.

Aber die langen blonden Wimpern hoben sich nicht und unter ihnen flammte wieder die heiße Röthe auf von vorhin.

„Nein, nein!“ stieß sie hervor, „das ist es nicht. Ich hatte Joachim einen stillen Abend versprochen; ich glaubte, Du würdest mich nicht vermissen in dem Glanz und Lärm des Festes.“

„Ich fühle mich nie einsamer als unter vielen Menschen,“ erwiderte die Herzogin leise und hielt Claudinens Hand fest, die sie ihr entziehen wollte.

„Ich komme ja mit, Elisabeth.“

„Gern? Ich lasse Dich nicht früher los.“

„Ja,“ klang es zögernd und ihre Wange neigte sich gegen die der Herzogin. „Ja!“ wiederholte sie noch einmal, „weil ich Dich unsagbar lieb habe.“

Die Herzogin küßte sie. „Ich Dich auch, Dina! Seit meiner Brautzeit habe ich nicht wieder das frohe, beglückende Gefühl gehabt, wie jetzt neben Dir. Und was so gut ist: in der Freundschaft kann man nicht so leicht Enttäuschungen erleben wie in der Liebe, sie gewährt ein ruhigeres Glück!“

Claudine sah forschend in die Züge der Herzogin.

„Ja, ja, die Liebe, die Ehe bringen mancherlei mit sich, Schätzchen,“ lächelte diese; „kleine Kränkungen, kleine Enttäuschungen. [244] Denke doch, Claudine, mit welchem Idealismus tritt so ein achtzehnjähriges Mädchen vor den Altar! Aber darum, mein Kind, bin ich doch die glücklichste Frau, denn er liebt mich. Sich geliebt zu wissen, fest auf die Liebe und Treue des Mannes zu vertrauen, darin liegt alles, was es Seliges giebt für ein Weib – und dieses Vertrauen verlieren würde für mich gleichbedeutend sein mit Sterben!“

Sie plauderte, während das Buch vergessen auf den Knieen des Mädchens ruhte, leise weiter von dem ersten Sehen des Geliebten, von jener innigen Liebe, die sie sogleich für ihn hegte, von dem Taumel, der sie ergriffen, als man ihr mittheilte, daß er um sie geworben. Wie sie die Hände gefaltet habe und gefragt mit zitternden Lippen: „Mich? Mich will er?“ Sie erzählte, wie sie täglich während des kurzen Brautstandes an ihn geschrieben, wie sie mit einem Glücksgefühl, einem Stolz ohnegleichen nach der Vermählung mit ihm auf den Balkon des väterlichen Schlosses getreten sei, um ihren schönen ritterlichen Gemahl den Tausenden von Menschen zu zeigen, die den großen Platz dort unten füllten; und wie sie dann so heimlich beide in dem unscheinbaren Wagen durch die Frühlingsnacht gefahren nach dem stillen Schlößchen in der Nähe der Residenz, wo sie ihr erstes junges Glück verbergen wollten.

Sie war beim Aussteigen mit der Schleppe am Wagen hängen geblieben und ihrem jungen Gatten buchstäblich zu Füßen gefallen; sie hatten beide gelacht, und weil ihr der Fuß schmerzte, hatte er sie in seinen Armen die Treppe hinaufgetragen, durch die menschenleeren Korridore, auf denen nur dämmernd die Lampen brannten, bis in ihre Zimmer, und dort hatten sie am offenen Fenster gesessen und die Nachtigallen im Parke gehört und die Lichter des Schlosses auf dem Weiher sich spiegeln sehen; und die feuchte warme Luft war voller Veilchenduft gewesen.

Die dunklen Augen der Erzählerin schimmerten in der Erinnerung jenes Glückes, und als jetzt eben die schlanke Gestalt des Herzogs um das nächste Bosquet bog im tadellosen eleganten Sommeranzug, da flog ein wunderbar verklärender Glanz über ihr krankes schmales Gesicht.

Er grüßte näher kommend, war aber jedenfalls nicht rosiger Stimmung.

„Störe ich die Damen?“ fragte er; „ohne Zweifel werden Toiletteangelegenheiten erörtert? Tolle Idee, ein Kostümfest!“

„Mein Himmel, ja!“ rief die Herzogin. „Claudine, wo werden Sie nun in aller Eile noch eine Toilette herbekommen?“

„Ich habe ein ganzes Spind voll alter prächtiger Sachen von Großmama,“ erwiderte sie, „es wird sich wohl etwas darunter finden, denke ich.“

„Die Fracks der Herren werden sich recht malerisch neben diesen Zigeunerinnen und Rokokodamen ausnehmen,“ spottete der Herzog. „Natürlich, eine Laune von Helene, das ist klar.“

„Warum kommst Du nicht, Adalbert? Thue es doch! Weshalb willst Du Gerold diese Gunst versagen? Du hast ihn früher in jeder Weise verwöhnt,“ bat die Herzogin.

Er zuckte die Achseln. „Es wird sich nicht arrangiren lassen,“ sagte er kurz und begann von etwas Anderem zu reden.

„Nun, Claudine, so werden wir uns mit einander trösten, ich als Spanierin und Du?“

„In einer der unkleidsamen Trachten des Empire, Hoheit; kurze Taillen, enge Röcke und –“

„Pardon! Unkleidsam ist die Tracht nicht,“ fiel der Herzog ein, „im Gegentheil. Aber es gehört ein tadelloser Wuchs und eine gewisse Grazie dazu. Denken Sie an das entzückende Bild der Königin Luise, und an das Bild meiner eignen Großmama, der Herzogin Sidonie, in der Galerie unseres Schlosses –“ er küßte die Fingerspitzen. „Sie war reizend, diese Mode.“

Claudine schwieg. Die Herzogin sprach noch einiges, dann empfahl er sich, und Claudine las weiter.


* *
*


Es war gegen neun Uhr und der letzte Tagesschein lag noch über den Bergen, als sie nach Neuhaus fuhr. Herr von Palmer stand an seinem Fenster hinter der Gardine und hörte das Gefährt vom Schloßhofe rollen. Er drehte seinen langen, sorgsam gefärbten Schnurrbart mit den wachsbleichen Fingern, die in der Dämmerung ordentlich leuchteten. Er wußte ja, der Pfeil lag auf der Sehne, der Bogen war gespannt; es bedurfte nur eines Impulses, dann war ein armes Menschenherz zu Tode getroffen – „unmöglich gemacht“ nannte es Herr von Palmer. Es war nöthig, es war sogar die höchste Zeit; die Freundschaft nahm überhand; die Herzogin behandelte ihn jetzt miserabel, noch miserabler als früher; er wußte, woher dieser Wind wehte. Wenn der Pfeil auch sie streifte – es geschah ihr recht. „Lächerlich, daß die Berg sagt, die kleine Prinzeß fürchte für Ihre Hoheit; diese Naturen sind zähe.

Süperbe Idee, die kleine eifersuchtstolle Durchlaucht auszuwählen, diejenige zu sein, die das Geschoß abdrücken soll, großartig, großartig!“ sagte er bewundernd und ging im Zimmer auf und ab. „Das konnte auch nur ein Weiberkopf aussinnen. Es giebt einen Knalleffekt, einen riesigen, schöne Claudine! Die Säle des Residenzschlosses sehen Dich nicht wieder. Unschädlich for ever! Lothar denkt so wie so nicht an sie, dieser Hochmuthsnarr mit seinen fürstlichen Freiereien; wie die Berg darauf kommt, ist mir räthselhaft. Der Herzog aber mag an sie denken, soviel er will, hat Ihre Hoheit erst Verdacht, dann hilft es Ew. Liebden nichts: geschieden muß sein! Wer nachher vor Euren herzoglichen Augen Gnade finden soll, das wird von mir abhängen. Die Berg ist noch schön genug und – alte Liebe rostet nicht. Sie liebt ihn auch noch immer und würde doch dabei mit dem größten Verständniß auf meine Pläne eingehen.“

Eine endlose Reihe glänzender Geschäfte entwickelte sich vor den Augen des Mannes, und zunächst winkte der verlockende Titel „Hofmarschall“. Die alte kopfwackelnde Excellenz von Elbenstein, welche zugleich die Funktionen des Oberstallmeisters vertrat, und deren Geschäfte er, Palmer, bereits seit Monaten versah, konnte unmöglich noch lange leben; Se. Hoheit hatte auch bereits ein verheißungsvolles Wort gesprochen. Freilich, er wußte, daß es böses Blut geben würde unter den Hofchargen, wenn er, der Ausländer, den Se. Hoheit in Kairo, sozusagen von der Gasse, aufgelesen, diese Stellung erhielt. Er lächelte abermals und pfiff ein paar Takte des Fatinitzamarsches. „Es wird nicht allzulange sein, meine Herrschaften; ich will mein Leben noch genießen, solange ich genußfähig bin“ Dabei schwebte ihm Paris und ein entzückend eingerichtetes kleines Hôtel in den Champs Elysées vor. „Und dabei frei von Fürstendienerei! Aber Alice? Vielleicht würde sie dort mitwohnen, vielleicht! Nous verrons!“

Und er nahm seinen Hut und ging zur Tafel, wo eben der Rittmeister eine Pfirsichbowle braute; die ersten köstlichen Früchte aus den herzoglichen Treibhäusern waren angelangt. –


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 16, S. 262–264

[262] Claudine ließ den Wagen am Eingange der Neuhäuser Lindenallee halten; sie wollte unbemerkt ins Haus, in Beatens Stube treten. Die Halle vermeidend, gelangte sie ungesehen durch die Hinterthür, huschte leise durch den Korridor und pochte kaum hörbar an die Wohnstube. Ein Schritt kam durch das Zimmer und die Thür wurde geöffnet.

„Ich bin’s, Beate“ flüsterte sie, „störe ich Dich nicht? Nur einen Augenblick.“

„Also wirklich, Du!“ rief die Kousine und zog das Mädchen in das noch finstere Gemach und zu einem Sessel.

„Laß nur, laß,“ wehrte Claudine; „ich wollte Dir nur sagen, daß ich übermorgen dennoch komme, wenn Du erlaubst.“

Beate lachte herzlich und küßte sie.

„Nun,“ rief sie in die Dunkelheit hinein, „wer hat denn Recht, Lothar? Mein Gang ist gar nicht einmal nöthig.“

Claudine erschrak; am Fenster hatte sich eine Gestalt erhoben. Um ihre Stirn flatterte es heiß. „Die Herzogin befahl,“ sagte sie stotternd.

„Es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihrer Hoheit,“ sprach er, und seine Stimme klang sonderbar heiser, „soeben erwies auch Se. Hoheit mir die Ehre, die bereits erfolgte Absage zurückzuziehen.“

Claudine griff in das Polster des Sessels; sie zitterte plötzlich, aber sagte kein Wort. Welch peinlicher Zufall!

„So setze Dich doch,“ drängte Beate, „man sieht und hört so jetzt nichts mehr von einander. Ich habe begreiflicherweise wenig Zeit; aber da Du einmal hier bist, hilf mir die Tischplätze ordnen; ich kenne ja alle diese Menschen nicht, die da eingeladen sind und zugesagt haben.“

„Verzeih, Beate; ich habe etwas Kopfweh und der Wagen wartet draußen,“ sagte Claudine ablehnend und wandte sich zum Gehen. „Laß doch losen,“ setzte sie dann hinzu, als empfinde sie die Unart, Beaten diese kleine Gefälligkeit zu versagen.

„Natürlich!“ pflichtete Lothar bei; „mitunter bringt der Zufall das große Los und erhört fromme Wünsche. Darf ich mir gestatten, Sie zu Ihrem Wagen zu geleiten? “

Beate schmollte wirklich ein wenig; sie blieb zurück. Lothar schritt neben dem erregten Mädchen durch die erleuchtete Halle in den Garten hinaus. Sie sprachen nicht miteinander.

Im Schlosse war die ganze Fensterreihe des ersten Stockes erleuchtet; Prinzeß Helene liebte Licht, viel Licht. Sie hatte sich früh von der Tafel zurückgezogen, „um Kostüme anzuprobiren“. Der Schein, der von dort hernieder fiel, verbreitete sich noch bis unter das Dunkel der Bäume. Die Lindenblüthe duftete betäubend , es war ein warmer feuchter Sommerabend, der Mond verbarg sich hinter dunklen Wolken.

Sie kamen raschen Schrittes neben einander daher; vor ihnen huschte ein Schatten hinter einen der riesenhaften Bäume, ein zweiter folgte nach. Er hatte es wohl nicht bemerkt, Claudine aber war unwillkürlich stehengeblieben. „Sehen Sie nichts?“ fragte sie ängstlich.

„Nein!“ erwiderte er.

„So war es wohl eine Sinnestäuschung?“ entschuldigte sie sich.

Und nun ging sie rascher vorwärts bis zu dem Wagen, neigte den kleinen Kopf mit einem kühlen „Gute Nacht“ und schlüpfte hinein.

Das Rollen verklang in dem schweigenden Garten; der Mann dort, der dem Wagen nachgeschaut hatte, schritt nun langsam auf dem Fußwege außerhalb der Parkmauer dahin, dem Walde zu, als wollte er sich auf einsamen Pfaden Ruhe erwandern.

„Alice,“ flüsterte leidenschaftlich Prinzeß Helene und kam hinter dem Baumstamm hervor, „Alice, er ist mit ihr gefahren!“

„Durchlaucht, nur eine Kavalierpflicht.“

„O, ich kann das aber nicht ertragen, Alice, was thut sie hier? Was wollte sie? Alice, so sagen Sie doch ein Wort!“

Das erregte Flüstern der Prinzeß war in heftiges Sprechen übergegangen.

„Aber mein Gott, Durchlaucht,“ begann die schöne Frau, als könne sie vor schmerzlichem Staunen nicht Worte finden, „was soll ich sagen? Ich bin selbst konsternirt und fassungslos!“

Die Prinzeß eilte vorwärts bis zum Parkthore; dort stand eine alte Sandsteinbank und sie knieete hinter derselben im Dunkeln zur Erde und wartete, wartete mit fiebernden Pulsen – auf seine Wiederkehr. Frau von Bergs Stimme erschallte vergeblich durch den dunklen schwülen Garten. Sie ging endlich hinauf und lächelte in ihren großen Stellspiegel, indem sie das kokette Tuch um ihr volles Haar schlang, das sie übermorgen tragen wollte als Italienerin. Die Prinzessin kam erst nach Stunden zurück, mit bleichem Gesicht und verweinten Augen. Sie schlief nicht einen Augenblick in dieser Nacht.




Das Fest in Neuhaus war auf seinem Höhepunkt angelangt. Der warme Sommerabend, ohne jede Zugluft, machte es selbst der leidenden Herzogin möglich, im Freien zu bleiben. Die Purpurvorhänge des Zeltes, das unter den Linden unfern des Tanzplatzes stand, waren weit zurückgenommen; sie lehnte dort im bequemen Sessel, umgeben von einem dichten Kreis von Damen und Herren. Das wunderbare Licht, welches Dämmerung, Mondschein und Hunderte von farbigen Laternen schufen, ließ ihr schmales Gesicht unter der schwarzen mit Brillantnadeln befestigten Spitzenmantille noch blasser erscheinen als sonst, und die Augen größer noch und gluthvoller. Sie trug ein granatrothes kurzes Atlaskleid mit dem Spitzenvolant und das schwarze goldgestickte Jäckchen der Andalusierin. Man hatte ihr ein weißes flockiges Bärenfell zu Füßen gebreitet; auf den schmalen schwarzen Atlasschuhen blitzten Brillantschnallen. Sie sah schön aus heute Abend, sie wußte es, die Augen des Herzogs hatten es ihr verrathen, und das machte sie glückstrahlend.

Prinzeß Thekla in grauer Moirérobe saß neben ihr.

Vor ihnen breitete sich das reizvollste Bild aus unter den Zweigen der hundertjährigen Linden, deren Blätter smaragden schimmerten in dem Lichte zahlloser Flammen. Eine Fülle von Jugend und Schönheit wogte dort: blitzende Steine, leuchtende Schultern, brillante Farben und seltsame Beleuchtungseffekte. Die Gruppen dieser phantastischen, wie aus dem Feenreiche entstammenden Gestalten waren umschmeichelt von dem betäubenden Duft der Lindenblüthe, umrauscht von den elektrisirenden Klängen eines Straußschen Walzers.

„Ein Fest, wie zu Goethes Zeit in Tiefurt,“ sagte die Herzogin.

„Besonders, wenn man die schöne Gerold sieht; bitte, Hoheit, betrachten Sie diese Gestalt – wahrhaft klassisch! Wunderbar!“

Der Sprechende, ein kleiner aristokratischer Herr, dessen schmales Gesicht eitel Entzücken verrieth, stand hinter dem Stuhl Ihrer Hoheit und seine Blicke deuteten auf Claudine.

„O ja, mein lieber Graf,“ erwiderte die Herzogin und betrachtete ihren Liebling mit leuchtenden Augen, „sie ist, wie immer, der Stern des Abends.“

„Hoheit sind allzu bescheiden,“ sagte Prinzeß Thekla und ihre kalten Augen blickten wahrhaft vernichtend nach der bezeichneten Richtung.

Claudine stand außerhalb des guirlandenumschlungenen Tanzplatzes auf dem Rasen. Der alte Herr hatte nicht zuviel behauptet; nie war wohl ihre eigenartige Schönheit mehr zur Geltung gekommen, als an diesem Abend in der Tracht der Urgroßmutter. Sie trug das prachtvolle Blondhaar zu einem antiken Knoten am Hinterkopf zusammengebunden; einige kleine Löckchen krausten sich im Nacken und über der Stirn; ein schmales Diadem, in dessen Mitte ein Brillantstern funkelte, krönte den schönen Kopf. Die kurze Taille zeigte wundervoll geformte Arme und Schultern, nur leicht von einem seidenglänzenden Flor umhüllt. Ein kurzes enges Unterkleid aus weißem durchsichtigen Seidengewebe, am Saum mit breiter Silberstickerei verziert, ließ kleine rosa Schuhe mit kreuzweis gebundenen Bändern sehen. Und dieses duftige Kleid ward vervollständigt durch eine mattrosa Schleppe aus schwerer Seide, von breiter Silberstickerei umrandet. Ein rosa silberdurchwirktes Band, das in flatternder Schleife zur Seite endigte, war um die Taille befestigt; ein Strauß frischer Centifolien, der gefeierten Rose jener Zeit, schmückte die Brust. Die [263] ganze berückende Schönheit und Grazie dieses Mädchens kam zur Geltung in dem alten Gewand, das einst die Urgroßmutter getragen, die, damals ebenfalls Hofdame in X., mit ihrer Gebieterin bei einem der Feste in Weimar zugegen gewesen, einer jener zwanglosen, witzdurchwobenen Redouten, die Karl August und Herzogin Amalie so liebten und die ein unsterblicher Geist verherrlicht hat.

Ja, an diesem Kleide hingen unvergeßliche Erinnerungen! Diese Schleppe war neben Goethe über das Parkett geglitten, damals, als er noch der Schönheit „unendlich“ huldigte. Er hatte entzückt von den Augen der jungen Baronin gesprochen und das war lebenslang der Stolz der klugen Frau geblieben In ihrem Tagebuche stand noch heute zu lesen: „Der junge Goethe, des Herzogs Freund, schäkerte sich mit allen hübschen Gesichtern herum und sagte mir etwas Liebenswürdiges über meine Augen.“ – Aus den Falten dieses Gewandes wehte noch heute ein feiner Lavendelduft, das Parfüm jener geistesvornehmen, lebensvollen, sprühenden Vergangenheit.

Es mochte wohl Se. Hoheit förmlich berauschen; denn der Herzog stand bereits seit einer Viertelstunde vor dem schönen Mädchen, das, die schweren Falten der Schleppe in der Hand, wie fluchtbereit mit unruhigen Augen an ihm vorüber spähte, als suche sie nach einer Gelegenheit zu entschlüpfen. Man hatte einen förmlichen Respektkreis um sie und den Herzog gebildet, als wollte man Sr. Hoheit um jeden Preis Gelegenheit geben, unbelauscht mit der schönen Gerold zu plaudern Und dennoch, während man dort, scheinbar mit sich selbst beschäftigt, fragte, plauderte, neckte, waren aller Augen verstohlen auf jenes unvergleichlich reizende Mädchen gerichtet, welches von herzoglicher Huld und Gnade so auffallend ausgezeichnet wurde.

Prinzeß Helene, die als Griechin gekleidet mit dem Adjutanten Sr. Hoheit in eine Quadrille eingetreten war, sah es mit heimlicher Freude; sie wandte ihr dunkles Köpfchen so energisch herum, daß alle Goldmünzen des blauen Sammetkäppchens klirrten und blitzten. Sie mußte doch sehen, wie der Baron dieses tête-à-tête vor aller Augen beurtheilte. Eben stand er noch an jenen Baumstamm gelehnt, ein Glas eisgekühlten Champagners in der Hand, mit welchem er einige Kelche berührt hatte, die ihm zwei oder drei Herren entgegenhoben. Jetzt war er verschwunden. Blitzschnell drehte sich das Köpfchen nach jener Seite, wo Claudine stand, und ihre Lippen preßten sich auf einander – denn jetzt schritt Baron Lothar auf das Paar zu.

„Verzeihung, Hoheit! Ihre Hoheit die Frau Herzogin wünschen Fräulein von Gerold zu sprechen. Darf ich bitten, Kousine?“

Der Herzog fuhr rasch mit der Hand über seinen Bart; er war gerade in einer angelegentlichen Auseinandersetzung über Kostüme und Haartrachten begriffen gewesen und schien ungern abzubrechen.

Claudine verbeugte sich tief und legte ihre Fingerspitzen auf Lothars Arm, der sie langsam dem Zelt der Herzogin zuführte.

„Treten Sie einen Moment zu Ihrer Hoheit,“ sagte er ruhig, „es möchte sonst auffallen. Nachher –“

Sie blieb stehen und sah ihm in das unbewegte Gesicht. „Ich denke, Ihre Hoheit will mich sprechen?“

„Nein,“ erwiderte er gelassen; „ich sah nur, daß Sie wie auf Nadeln standen, und erblickte hundert lauernde Augen auf Sie gerichtet. Ueberhaupt,“ fuhr er fort, „da ich Sie doch einmal hier sehen muß heute Abend, würde ich Sie am liebsten in der Nähe Ihrer Freundin bewundern. Ich denke, Sie in Ihrer blonden Schönheit neben der Andalusierin würden das reizvollste Bild des Abends sein – gönnen Sie es uns!“

Sie zog die Hand von seinem Arm zurück. Die Erleichterung, mit der sie seiner Aufforderung gefolgt war, wich einer heißen Empörung; aber sie vermochte nicht mehr zu erwidern, schon stand sie vor der Herzogin.

„Claudine,“ sagte diese und reichte ihr die Fingerspitze, „ warum tanzen Sie nicht? Ich möchte Sie in dieser Quadrille sehen; ich glaube, in jenem Karree fehlt noch das vierte Paar. Herr von Gerold, bitte!“

Sie konnte sich nicht weigern; mechanisch nahm sie seinen Arm; man hatte rasch einen Platz geschafft für den Hausherrn und seine Dame. Claudine stand Prinzeß Helene und dem Rittmeister gegenüber. Lothar blieb schweigend; es war ein merkwürdig stummes Paar, gleichwohl das schönste von allen.

Das himmelblaue Atlasröckchen der Prinzeß streifte knisternd an ihr vorüber in den Touren, eine zitternde eiskalte Hand berührte zuweilen die ihre, sie merkte es kaum. Sie sah nur einmal in das Gesicht der Prinzeß und erblickte darin eine tödliche Nichtachtung. Die schwarzen Augen bohrten sich wahrhaft grausam in die ihrigen. Es ward ihr unheimlich; sie hob wie fragend die Blicke zu dem Rittmeister, er sah sie an mit einem beredten vorwurfsvollen Ausdruck. Stolz warf sie den Kopf in den Nacken zurück, und kaum war die Schlußverbeugung des Tanzes geschehen und Lothar hatte ihr den Arm geboten, so fragte sie: „Wo ist Beate?“

„Sie wird im Schlosse sein,“ erwiderte er.

Sie dankte und schlug eilig den Weg dorthin ein. In der großen Halle hatte man, der leidenden Herzogin wegen, die Tafel gedeckt für einige wenige Auserkorene; die mächtigen Flügelthüren waren zurückgeschlagen und ließen den Blick in den erleuchteten Garten frei; die Tafel war wie hineingebettet in die Orangerie. Wirkungsvoll drapirten Joachims Teppiche, vermischt mit Waffen und Fahnen, die Wände; auch die Stufen der alten schönen Treppe waren bedeckt mit köstlichen Geweben. Die prosaische Beate hatte ein wahres dekoratives Meisterstück geschaffen.

Sie stand an der Tafel und wiederholte ihre Instruktionen einem halben Dutzend Lakaien zum so und so vielten Male. Claudine mußte lächeln, als sie sah, wie gehorsam die Leute sich dem derben Bauernmädchen gegenüber betrugen, in welch unscheinbare Tracht die Gestrenge heut geschlüpft war. Die schlug fröhlich in die Hände, als sie Claudine erblickte.

„Wahrhaftig, Herzenskind,“ rief sie; „Du bist unheimlich reizend heute in Deinem vorweltlichen Kleide da. Und wie gut sich der Urgroßmutterstaat konservirt hat, nicht einmal das Silber ist schwarz geworden!“

Sie klopfte der Kousine die Wange und küßte sie, und auf die Tafel zeigend, die blitzte und funkelte, fragte sie: „ Ist’s recht so, Claudinchen? Von dort oben, wo Ihre Hoheit sitzt, kann man das Feuerwerk am besten sehen. Du kommst hier etwas weiter unten her, diese zwölf Gedecke sind für die Prinzessinnen und ihre Kavaliere. Die Andern müssen sich an allen den kleinen Tischen im Garten oder im Saale vertheilen, wie das Geschick sie zusammenführt; dort stehen die Körbchen mit den Losen, ich habe Deinen Rath befolgt.“

„Ich bitte Dich, Beate, laß mich von der herzoglichen Tafel weg,“ rief Claudine flehend, „ich sitze irgend wo anders lieber.“

„Damit mir Deine Hoheit den ganzen Abend ein böses Gesicht zieht! Nein, mein Schatz, daraus wird nichts; beiße nur in den sauren Apfel. Wer Dein Nachbar wird, weiß ich allerdings nicht. Aber verzeih, ich muß noch einmal zu der Mamsell.“

„Beate!“ rief Claudine und suchte den blüthenweißen Aermel der Bäuerin zu fassen; aber diese war schon hinter dem Teppich verschwunden, der den Korridor heute von der Halle abschloß. Sie blieb allein und schritt zögernd wieder dem Ausgang zu; sie stand dann draußen auf der Plattform und schaute in den Garten. Am liebsten wäre sie noch in dieser Minnte auf den dünnen Sohlen die steinigen Waldwege entlang gewandert nach ihrem friedvollen, weltabgeschiedenen Heim. Drüben klangen jetzt die Töne eines Walzers; ihr war so bitter zu Muthe. Sie wußte sich frei von Schuld, und dennoch wich ein beklemmendes Gefühl nicht von ihr. Sie wußte, daß thatsächlich der Herzog deshalb noch zugesagt hatte, weil die Durchreise des Großherzogs von Z., den zu begrüßen er nach der nächsten Bahnstation hatte fahren wollen, abgemeldet war. Und dennoch, auf all diesen Gesichtern hatte sie einen so sonderbaren Ausdruck gelesen, devot, neugierig, lüstern. Man war so beflissen gewesen, zurückzutreten, als Seine Hoheit sich näherte, und er hatte sie aus der Nähe des Herzogs entfernt mit einer Bemerkung, so unartig, so unritterlich wie möglich!

Sie preßte die Lippen auf einander; das bittere Lächeln war erstorben, dem alten herben stolzen Ausdruck gewichen.

Sie hob plötzlich den Kopf. Ein eigentümlicher Laut, der grell über der gedämpften Musik schwebte, ließ sie aufhorchen; sie wußte nicht, kam er aus der Halle oder von draußen. Es klang wie der ängstliche Schrei eines Thieres. Aber jetzt – nein, das war eine Kinderstimme – angstvoll, gellend scholl sie herunter von dort oben. Im nächsten Augenblick flog Claudine die Stufen empor, eilte durch den breiten oberen Korridor und trat in die weit geöffnete Thür, aus der die Klagetöne erschollen.

[264] Der rosa Schein der leise schwankenden Ampel erhellte nur matt das Gemach. Zunächst sah Claudine nichts als den großen weichen Spielteppich der Kleinen mit durch einander geworfenen Puppen und anderem Spielzeug, und das leere Bettchen, dessen Vorhänge weit zurückgeschlagen waren. Das Zimmer schien völlig verlassen; das Weinen war verstummt, nichts rührte sich. – Claudinens Blicke forschten umher, dann trat sie einen Schritt näher und ihre Augen wurden starr vor Entsetzen. Dort – im weit geöffneten Fenster, nicht mehr auf der inneren Fensterbank, nein, auf der Steinbrüstung außen kauerte das Kind! Sein langes Nachtkleid hatte sich hindernd um die Beinchen gewickelt; die Angst mochte es wohl plötzlich erfaßt haben; es saß da ganz frei, den Rücken nach der Tiefe gewendet, und starrte mit seinen thränenerfüllten Augen die unerwartete Erscheinung der fremden Dame an. Die geringste Bewegung, und das Kind mußte hinunter stürzen.

Athemlos stand das junge Mädchen einen Augenblick, kaum die Seide ihres Kleides knisterte; blitzschnell kreuzten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Würde das Kind erschrecken, wenn sie näher trat? „Barmherziger Gott, hilf mir!“ flüsterte sie.

Ueber ihr starres Gesicht glitt plötzlich ein Lächeln, sie hatte mit raschem Griff ihr Armband abgenommen und drehte es spielend und lockend hin und her, während sie einen Schritt vorwärts that – und noch einen und noch einen. Jetzt erfaßte sie das lange Kleidchen, ein schwacher Schrei entrang sich – der kleine Körper schlug rückwärts, aber kraftvoll griff die zweite Hand nach, und im nächsten Augenblick knieete sie auf dem Teppich, das zum Tode erschreckte lautlose Kind im Schoß; die zitternden Kniee hatten ihr den Dienst versagt, halb ohnmächtig sank ihr Kopf gegen den Pfeiler eines Spiegeltisches, während ihre blauen großen Augen wie erloschen aus dem kreideweißen Antlitz blickten.

Es knieete jemand neben ihr, genau so erschreckt, so blaß, so zitternd; zwei heiße Lippen preßten sich aus ihre Hände und auf des Kindes Gesichtchen.

„Lothar!“ murmelte sie und strebte zitternd empor.

Er nahm ihr das Kind vom Schoß, trug es ins Bettchen und trat dann zu ihr, die hoch aufgerichtet dort stand und nun mit schnellen Schritten an ihm vorüber strebte.

„Claudine!“ scholl es bebend, und seine Gestalt vertrat ihr den Weg.

„Es war beinahe zu spät,“ sagte sie und versuchte zu lächeln, aber fast verzerrte sich noch ihr entfärbtes Gesicht.

Er faßte ihre Hand und führte sie zu dem Bettchen. Die Kleine saß aufrecht darin und lachte; er hob sie empor und hielt des Kindes Gesicht an die blasse Wange des Mädchens.

„Bedanke Dich!“ sagte er mit seltsam bewegter Stimme, „Dein Vater darf es nicht.“

Claudine sah, wie die Hände, die das Kind hielten, zitterten. Sie küßte flüchtig die kleine Wange.

„Ich war vorher sehr zornig auf mich,“ sprach sie kühl, „daß ich Ihre Einladung doch noch acceptirte, Vetter – ich darf es mir jetzt wohl verzeihen.“

Eine schwüle Pause entstand. Die Kleine hatte jauchzend nach dem Stern in dem blonden Haar gegriffen, Claudine mußte den Kopf neigen, um die Fäustchen zu lösen; es dauerte eine ganze Weile. Draußen flog eben mit zischendem Laut eine Rakete empor, das Zeichen für den Beginn des Soupers. Musik, Lachen, plaudernde Stimmen drangen deutlicher herauf, und ein gluthrother Schimmer brach durch die Fenster.

Sie war vor den Spiegel getreten, um die zerzausten Löckchen etwas zu ordnen. Sie sah nicht den leidenschaftlich schmerzlichen Blick der dunklen Männeraugen, die ihr folgten, wie sie nicht gesehen, daß vor ein paar Minuten in der weit geöffneten Thür eine zierliche Gestalt im blaßblauen Seidenröckchen wie hingeweht gestanden hatte, um gleich wieder zu fliehen, als sei dort etwas Entsetzliches zu erblicken gewesen in dem dämmernden Zimmer, während es doch das entzückendste Genrebild war, eines Meissonnier würdig, ein schlankes Mädchen an der Seite des Barons, der sein spielendes Kind auf den Armen hält.

„Ich werde veranlassen, daß die Wärterin kommt,“ sagte Claudine jetzt im Hinausgehen; „die kleine Unternehmungslustige möchte sonst zum zweiten Male aus dem Bettchen echappiren.“

In diesem Augenblicke erschien zwar nicht die unzuverlässige Kinderfrau, wohl aber Frau von Berg.

„Sie werden die Güte haben, Frau von Berg, an Leonies Bett zu bleiben, bis die Kinderfrau, die Sie übrigens vortrefflich instruirt zu haben scheinen, zur Stelle ist. Ich möchte nämlich nicht gern, daß die Kleine noch einmal in die Gefahr kommt, dort hinaus zu stürzen, wie sie es tatsächlich eben war.“ Er hatte das gelassen, beinahe sarkastisch gesprochen.

Claudine war rasch auf den Korridor getreten; sie konnte nicht mehr das namenlos bestürzte Gesicht der schönen Italienerin erblicken, die auf ein paar verzweiflungsvoll geflüsterte Worte der Prinzeß Helene über das befremdende Schauspiel kraft ihres Amtes einmal in der Kinderstube nachschauen wollte. Claudine schritt schon am Ende des Ganges, als Lothar sie einholte. Neben einander betraten sie die Treppe, die in die Halle führte.

Es ging wie staunende Bewunderung einen Augenblick durch alle die Menschen, die den Raum füllten oder draußen vor der Halle standen. Wie ein Bild erschien diese schöne Frauengestalt auf der reichgeschmückten Treppe in dem alten Urgroßmuttergewand.

„Magnifique! Entzückend!“ murmelte der Herzog, und sein Blick trübte sich etwas. Die Herzogin aber winkte mit ihrem Granatstrauß empor.

„Claudine,“ sagte sie, als das Mädchen vor ihr stand. „Wir haben beschlossen, mit zu losen, warum sollten der Herzog und ich nicht auch dem Zufall heute einmal vertrauen? Unsere liebenswürdige Wirthin hat noch rasch unsere Namen hineinwerfen müssen.“

Und als jetzt Komtesse Moorsleben in einem blumigen Rokokokostüm mit kokettem Knix Ihrer Hoheit die silberne Schale präsentirte, welche die goldgeränderten Zettelchen enthielt mit den Namen der Kavaliere, griff die schmale Frauenhand keck hinein und entnahm eine der kleinen Rollen. Prinzeß Thekla dankte. Die Hand der Prinzeß Helene , die einen Schritt hinter Ihrer Hoheit stand, zitterte, als sie den kleinen Zettel nahm. Es war, als ob die Komtesse absichtslos unbemerkt an Claudine vorüberschreiten wollte, aber die Herzogin berührte lächelnd die Schulter der jungen Dame mit dem Strauß, sie mußte anhalten.

„Liebste Claudine,“ sprach die fürstliche Frau, „Ihr Schicksal winkt,“ und die Angeredete ergriff nun auch eines der Zettelchen.

„Noch nicht lesen!“ sagte die Herzogin, die außerordentlich erheitert schien von diesem Spiel. Ihre großen dunklen Augen glänzten freundlich; sie stützte sich leicht auf Claudinens Arm. „Sieh, Dina,“ sagte sie leise, „mit welch neugierigen Gesichtern die Kavaliere die Damen mustern! Mich dünkt, selbst Adalbert wirft einen komisch fürchtenden Blick auf meine gute Katzenstein; wie sie drollig aussieht in dem Kostüm der Frau Rath Goethe.“

Das weiß gepuderte Köpfchen der hübschen Hofdame war hin und wieder aus der Menge aufgetaucht; jetzt hielt sie das geleerte Silberkörbchen in die Höhe und im nämlichen Momente begann die Kapelle die Ouvertüre aus dem „Sommernachtstraum“.

Die Damen sollten die ihnen durch das Los zugetheilten Herren zur Tafel führen; so war es von Prinzeß Helene bestimmt. In die weichen Töne der Musik mischte sich das Knistern der Zettelchen; Lachen, Ausrufe wurden laut.

Ihrer Hoheit Augen leuchteten. Sie hatte den Namen eines blutjungen schüchternen Lieutenants auf ihrem Zettel gefunden.

„Nun, Claudine?“ fragte sie, indem sie in das Papier der Freundin blickte. „O!“ machte sie dann – „Seine Hoheit!“

Claudine war bleich geworden, der Zettel in ihrer Hand bebte. „Eigenthümlicher Zufall!“ flüsterte eine leise Stimme hinter ihr.

Die Herzogin wandte sich langsam um und maß Prinzeß Helene mit einem kühlen Blick von oben bis unten. Aber aus ihren Augen war plötzlich die harmlose Freude gewichen. Stumm legte sie ihren Arm in den Claudinens und zog das Mädchen vorwärts durch alle die suchende, wogende Menge, die ehrerbietig zurückwich.

„Hier, mein Freund,“ sagte sie zu dem Herzog, der noch immer neben Palmer stand, „Deine Tischnachbarin, die Dir ein gütiges Geschick bestimmte. Mein Herr von Palmer, bringen Sie mir den Lieutenant von Waldhaus; er wurde mir durch das Los zugetheilt.“

Herr von Palmer flog davon. Die fürstliche Frau stand, das Antlitz lächelnd in dem Granatstrauß geborgen, neben Seiner Hoheit und Claudine. Dann kam athemlos, dunkelglühend, ein schlanker blonder Husarenoffizier und verneigte sich tief vor Ihrer Hoheit.

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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 17, S. 277–280

[277] In wenig Sekunden hatte sich die bewegte Schar um die Tische gruppirt; ein breiter glitzernder Strom von Jugend, Schönheit und Pracht quoll aus der Halle, wo die Herzogin unter einem Purpurbaldachin an der Tafel neben ihrem jungen Kavalier präsidirte, bis in den Garten hinaus. Man saß auf den teppichbelegten Treppenstufen im bläulichen Mondlicht, unter den Linden im röthlichen Schein der Laternen, und dazu die schwüle duftige Sommernacht, die weiche Musik.

Der Herzog wandte sich mit Claudine dem Garten zu und deutete auf das Dunkel der Linden. „Es ist schwül hier in der Halle,“ erklärte er. Auf den Stufen der Treppe blieb er stehen und blickte in das von peinvoller Verwirrung unsagbar liebliche Mädchengesicht.

„Um Gotteswillen, gnädiges Fräulein, “ sagte er erschreckt und mitleidig, „was glauben Sie –? Ich bin weder ein Räuber noch ein Bettler, und – Sie haben mein Wort. Mißgönnen Sie mir doch diese harmlose Freude nicht!“

Sie ging mechanisch neben ihm die Treppe hinunter zu einem der kleinen Tische unter den Linden, der nur vier Kouverts trug. Ihre lange rosa Schleppe lag noch im silbernen Mondlicht auf dem Rasen, ihren Aufenthalt verrathend, sie selbst stand im Dunkeln hinter ihrem Stuhle, hoch aufgerichtet jetzt.

„Eh!“ rief der Herzog plötzlich, „Gerold, hier ist noch Platz!“

Der Baron war mit seiner Dame, der jungen harmlosen Frau des Landraths von N., die Stufen herabgeschritten; es lag eine qualvolle Unruhe über seinem Wesen. Er kam im völligen Sturmschritt auf den Tisch des Herzogs zu; die niedliche Frau an seiner Seite, in perlendurchwirkter grüner Gaze mit Wasserrosen im Haar, vermochte kaum ihm zu folgen.

„Hoheit haben befohlen,“ sprach er.

Es war, als hole er tief Athem, während er seiner Dame den Stuhl hielt, als sie Platz nahm. Und er winkte dem Diener, der die Platte mit Speisen trug.

Der kleinen Prinzeß war Herr von Palmer durch das Los zugefallen. Sie saß in der Halle an der Tafel Ihrer Hoheit, ebenso Prinzessin Thekla. Die Herzogin konnte von ihrem Platz aus den Tisch erblicken, an dem ihr Gemahl soupirte; die Gestalten der vier Personen waren wie in ein Rembrandtsches clair-obscur getaucht. Sie ergriff verschiedentlich den Champagnerkelch und trank dem Herzog zu. Baron Lothar erhob sich einmal, trat auf die Treppe und brachte das Hoch auf die Hoheiten aus. Der Herzog ließ die Damen leben. Die Augen der Prinzeß Helene hingen mit wahrhaft dämonischem Ausdruck an jenem Tisch dort unten im Garten; man schien sehr heiter dort, das sonore Lachen des Herzogs scholl deutlich in ihr Ohr. Zuweilen wandte sie das bleiche Gesicht mit den funkelnden Augen nach [278] der Herzogin und sah mit stiller Befriedigung, wie auch sie ihre Blicke unablässig dorthin sandte; eine bange Frage schienen sie zu enthalten, obgleich ihr Mund lächelte, obgleich sie so heiter schien, wie seit langer Zeit nicht. Die Stimmung ward auch hier animirt. Frau von Katzenstein, die mit dem Jagdjunker zu Tische gegangen, war köstlich in ihrem trockenen Humor.

Zum Dessert, als die Knallbonbons mit den Raketen draußen wetteiferten, saß Prinzeß Helene plötzlich neben der Herzogin; sie hatte Herrn von Palmer gebeten, den Stuhl mit ihr zu tauschen, worauf er eifrigst einging. Ihre Hoheit hatte so wie so kein Wort für ihn gehabt, nur für ihren jungen Kavalier. Die kleine Prinzessin blieb anfänglich stumm. Trotz ihrer besinnungslosen Eifersucht klopfte ihr das Herz bei dem Gedanken an das, was sie thun wollte. Sie trank gegen alle Etikette ihren Champagnerkelch einige Male rasch aus; Herr von Palmer wußte ihn immer unbemerkt wieder füllen zu lassen.

In ihrem tollen leidenschaftlichen Köpfchen sah es erbarmungswürdig aus an diesem Abend. Wieder blickte sie hinunter; ein großes bengalisches Licht flammte eben auf und zeigte ihr deutlich jene Verhaßte neben ihm; sie sprachen nicht mit einander, nein, aber er hatte das Gesicht ihr zugewandt, als wollte er den Anblick des schönen Mädchens in der weißen Lichtfluth voll auskosten. Das rebellische, durch den Wein erhitzte Blut stieg ihr verwirrend zum Kopf.

„Hoheit,“ flüsterte sie besinnungslos und beugte sich zu ihr, die eben nach Fächer und Strauß griff. „Hoheit! Elisabeth, um Gotteswillen, Sie vertrauen zu viel!“

Hatte es die Herzogin nicht gehört? Sie erhob sich langsam und würdevoll. Das Signal zur Aufhebung der Tafel war gegeben, Stühle wurden geschoben, und draußen unter den dunklen Bäumen flammte ein verschlungenes A. E. auf mit der Herzogskrone. Alles fluthete zurück in den Garten, zum Tanz.

„Prinzeß Helene!“ befahl die Herzogin ihrem Kavalier, als sie nach einem Augenblick in das Zelt neben dem Ballplatz getreten war. Sie hatte den leichten Mantel umgenommen und sah aus, als fröstele es sie. Sie setzte sich nicht mehr, der Befehl für die Wagen war bereits gegeben. Nur der Herzog stand noch dort unter den Linden, mit Claudine plaudernd.

Prinzeß Helene flatterte eilfertig daher; auf ihrem heißen Gesichtchen lag eine Art verzweifelten Trotzes.

„Erklären Sie sich deutlicher, Kousine,“ sprach die Herzogin laut zu ihr, indem sie Frau von Katzenstein winkte, sich zu entfernen. Es war jetzt niemand weiter in diesem kleinen, von rosiger Dämmerung erfüllten Zelte, vor dessen zurückgeschlagener Gardine das Fest im Mondlicht wogte.

„Hoheit!“ rief das leidenschaftliche Mädchen heftig, „ich ertrage es nicht, zu sehen, wie Sie hintergangen werden!“

Wer hintergeht mich?“

Noch einmal gewann alles Vornehme, alles Gute in diesem Mädchenherzen die Oberhand. Sie sah diese so schwer nach Athem ringende Frau; sie wußte, was das nächste Wort bedeute für dieses Leben.

„Nichts! Nichts!“ stieß sie hervor. „Lassen Sie mich gehen, Elisabeth – schicken Sie mich fort!“

„Wer hintergeht mich?“ fragte die Herzogin noch einmal bestimmt mit Aufbietung aller Kräfte.

Die kleinen Hände der Prinzessin falteten sich und ihr Blick wandte sich zu Claudine, die dort noch immer von dem Herzog festgehalten wurde. Die Augen der Herzogin folgten ihr, eine erschreckende Blässe breitete sich über ihr Gesicht.

„Ich verstehe nicht,“ sagte sie kühl.

Das Herz der Prinzessin pochte wie wahnsinnig gegen die Kapsel, in der sie den Brief des Herzogs verwahrte. „Hoheit wollen nicht verstehen,“ flüsterte sie, „Hoheit wollen die Augen verschließen!“ Sie hob die noch immer gefalteten Hände empor und preßte sie auf das blauseidene Jäckchen; sie sah in diesem Augenblick wieder die Scene dort oben in der dämmerigen Stille am Bettchen des Kindes – „Claudine von Gerold!“ stieß sie hervor.

Sie vollendete nicht, die Gestalt der Herzogin wankte; mit einem leisen Schreckensruf hielt die Prinzessin sie umfangen, aber nur einen Moment, die Herzogin war schon wieder Herrin ihrer selbst.

„Es schaut, als ob diese schwüle betäubende Nacht Fieber erzeugt,“ sagte sie mit einem Lächeln um den blassen Mund. „Gehen Sie zu Bette, Kousine, und trinken Sie kühle Limonade – Sie reden irre! – Rufen Sie Fräulein von Gerold, liebe Katzenstein“ wandte sie sich dann an die alte Hofdame, die herbeigeeilt war und unter ihrem Spitzenhäubchen hervor besorgt in das blasse Gesicht der Herzogin schaute.

Und als das schöne Mädchen kam, sagte sie freundlich und so laut, daß auch die Außenstehenden es hören mußten, indem sie das trauliche „Du“ gebrauchte:

„Führe mich zum Wagen, Dina, und vergiß nicht, daß Du morgen an einem Krankenbett sitzen wirst. Ich fürchte, meinen Kräften ist dieses schöne Fest zu viel geworden.“

Sie stützte sich fest auf Claudinens Arm und schritt, begleitet von dem Herzog, von Baron Lothar und dem Gefolge und nach allen Seiten freundlich grüßend, der Freitreppe zu, wo die Wagen hielten. Sie übersah dabei die tiefe Verneigung der Prinzessin Helene. – Als Claudine zurückkehrte an der Seite Lothars, trug sie den Granatstrauß der Herzogin in der Hand.

Sie weilte noch einige Augenblicke unter all den Menschen, die plötzlich kein Auge mehr für sie zu haben schienen; aber sie bemerkte es nicht; sie sehnte sich nach Ruhe. „Gute Nacht, Beate, ich möchte heim.“

„Wie sonderbar die Herzogin war beim Abschied!“ sprach Beate, als sie durch einen Seitengang neben Claudine dem Wagen zuschritt. „Sie sah Dich an, als wollte sie bis auf den Grund Deiner Seele schauen, und doch, als hätte sie Dir etwas abzubitten. Es ist etwas Kindliches in dieser Frau! Wie lieblich die Art und Weise war, als sie Dir den Strauß noch zuletzt aus dem Wagen reichte und: ‚Meine liebe Claudine‘ sagte, als könnte sie Dir nicht Liebes genug thun.“

„Wir haben uns sehr lieb,“ antwortete Claudine einfach.

Prinzeß Helene tanzte weiter in dieser Nacht. – „In völligem Rasen,“ dachte Frau von Berg, die zurückgekehrt war, nachdem sie die Schale ihres Zornes ergiebig über das Haupt der Kinderfrau ausgeleert hatte. Die schwarzen Augen der kleinen Prinzessin funkelten in Thränen, während sie lachte und die Hand zur Faust ballte um den Elfenbeinfächer. Dann meinte sie plötzlich, die innere Unruhe, die Herzensangst nicht mehr aushalten zu können, warf sich im Dunkel eines Bosquetts auf eine Bank und preßte ihre glühende Wange an das kalte Eisen der die Lehne bildenden imitirten Birkenstämmchen. Frau von Berg stand mit finsterer Miene vor ihr.

„Mein Gott“, sagte sie, „wenn jemand Eure Durchlaucht so sähe!“

„Kommt der Baron?“ fragte die Weinende, rasch die Augen trocknend.

Die Berg lächelte.

„O, doch nicht; er spricht mit dem Landrath von Besser über Feuerversicherungen.“

„Haben Sie gesehen, Alice? Die Gerold wurde von der Herzogin noch mit dem Strauß begnadet beim Abschied; das war“ – hier lachte die Prinzessin – „das Resultat meiner gut gemeinten Warnung.“

Frau von Berg lächelte noch immer.

„Durchlaucht verzeihen, die Herzogin konnte nicht anders! Auf ein bloßes on dit läßt ein so vornehmer Charakter seine Freundin nicht fallen. Ich habe geglaubt, Sie kennen Ihre Hoheit besser. Sie bestanden so selbst so dringend auf ‚Beweisen! ‘

Die Prinzessin fuhr mit beiden Händen an die Ohren, als wollte sie nichts mehr hören.

„Beweise!“ wiederholte Frau von Berg noch einmal, „Beweise, Durchlaucht!“




Die Herzogin hatte sich gleich nach der Rückkehr in ihr Schlafgemach zurückgezogen und sich zur Ruhe begeben.

Wie leicht sagt sich das „zur Ruhe begeben“ – wie selbstverständlich klingt es und wie tückisch flieht der Schlaf ein beunruhigtes Herz!

Sie hatte ihr kühlendes Himbeerwasser getrunken und lag, die Arme unter dem Haupt, in ihrem stillen Zimmer. Zuweilen hustete sie und ihre Wangen begannen zu glühen.

Es war zu viel gewesen für sie, dieses rauschende Fest; sie hätte im Krankenzimmer bleiben sollen, wo sie hingehörte – aber, [279] es ist doch hart, so jung noch und schon so gebrechlich! Ob es je besser wird?

Sie griff an ihre linke Seite, sie fühlte da einen sonderbar dumpfen Schmerz. „Merkwürdig, was kann es nur sein?“ War es körperlich? War es das Herz? – Wie lähmende eiskalte Angst kroch es durch ihre Adern und legte sich betäubend auf ihr Denken.

„Unmöglich!“ flüsterte sie. Sie wußte plötzlich, woher der dumpfe Schmerz kam. „Unmöglich!“ – Sie saß energisch im Bette hoch und schaute um sich, als wolle sie sich vergewissern, daß sie wach sei, daß kein schwerer Traum sie quäle. – Dort lagen die Brillanten auf der seidenen Decke des Toilettentisches, die vorhin die Kammerfrau aus ihrem Haar genommen. Sie hatte die Dienerin so eilig entlassen, daß diese nicht mehr forträumen konnte; sie hatte das dringende Bedürfniß empfunden, allein zu sein. Sonst sprach sie auch so gern noch mit ihrer guten Katzenstein über dies und jenes, heute war die liebenswürdige alte Dame schon im Korridor verabschiedet worden.

Dort hing die Spitzenmantille über dem rothseidenen Polster des Sessels, neben ihr lag noch eine der Centifolien, die Claudine an der Brust getragen und die sie sich ausgebeten, weil sie den Duft, diesen echten Rosenduft, so liebte.

Wie schön das Mädchen gewesen war!

Die Herzogin ergriff einen elfenbeingefaßten Handspiegel und schaute hinein. Zwei tief eingesunkene Augen, ein mageres gelbliches Gesicht sah ihr entgegen in der mattrosigen Beleuchtung. Sie ließ den Spiegel auf die Bettdecke fallen und legte sich zurück, an qualvolles Erschrecken auf ihren Zügen. „O Du lieber Gott!“ flüsterte sie. Und sie nahm das Bild des Herzogs vom Tischchen neben ihrem Bette, starrte das schöne stolze Gesicht an und drückte es dann leidenschaftlich an ihre Lippen.

O, sie wußte am besten, wie sehr man diesen Mann lieben mußte!

Das Bild an die Brust gedrückt unter ihren gefalteten Händen, blieb sie liegen, die Blicke unverwandt ins Leere gerichtet. Claudinens hinreißende Erscheinung, wie sie dieselbe vor ein paar Stunden gesehen, gaukelte vor ihren Augen; sie sah sie neben dem Herzog bei Tische, beim Tanz unter den Linden – das Mädchen hatte so oft die Farbe gewechselt. – Wie war sie nicht stets befangen, wenn Seine Hoheit ins Zimmer trat! Sie wollte immer so ungern singen, wenn er zugegen! Sie war zuweilen tief niedergeschlagen, dann wieder so fröhlich!

„Arme Claudine! Eine schöne Freundin, die hier an Dich denkt, die Dich mit aller Gewalt erst hergezogen, um dann an Dir zu zweifeln!“

Nein, sie zweifelte gar nicht. Unerhörter Klatsch! Die kleine Prinzessin war bisweilen nahezu unbegreiflich!

„Arme Claudine!“

Die Herzogin lächelte, und dennoch standen plötzlich perlende kalte Schweißtropfen auf ihrer Stirn, und durch das singende, summende Geräusch des aufgeregten Blutes in ihren Ohren war ein heller unbarmherziger Glockenton, die Stimme der Prinzessin, gedrungen – .„Hoheit wollen nicht sehen, Hoheit wollen nicht verstehen!“ – so bestimmt, so entsetzlich unabweisbar. „Vater unser“ – rang es sich aus ihrer Brust und die heißen Hände drückten das Bild fester gegen das unruhige, laut klopfende Herz. Ihre Lippen flüsterten weiter das alte Gebet des Herrn – „Amen! – Lieber todt, als das erleben – laß mich sterben, guter Gott, laß mich sterben!“

Ihr ganzes Eheleben zog vor ihren Augen vorüber. Sie selbst hatte den Altar ihres Glückes verschwenderisch mit Rosen geschmückt; sollte sie übersehen haben, daß er ohne dies ein recht, recht schmuckloser gewesen? Daß sie allein davor gebetet?

Wie kam sie nur darauf? Nein, sie hatte sich nicht hineinphantasirt in dieses Glück, sie besaß es wirklich! Er war doch stets so freundlich, so nachsichtig, so ritterlich gewesen, besonders jetzt, wo sie krank war.

Freundlich? Nachsichtig? Ist das alles, was die Liebe geben kann?

Sie stöhnte auf; es schien ihr plötzlich, als sei ein Schleier von ihren Augen gerissen und lasse sie in eine grenzenlose Nüchternheit und Aermlichkeit schauen.

Aber niemals hatte er ihr doch einen Grund zur Eifersucht gegeben, dieser bürgerlichen Leidenschaft, wie Prinzeß Thekla sagte, die eine Fürstin nie besitzen dürfe.

„Ich kenne diese Leidenschaft nicht,“ hatte sie damals geantwortet, „ich habe noch, Gott sei Dank, keine Gelegenheit dazu gehabt.“ In diesem Augenblick aber fühlte die regierende Herzogin, die königliche Prinzessin, daß auch sie dieser Leidenschaft verfallen war in furchtbarem Grade, daß auch sie auf dieser Folterbank liegen werde, ohne Rettung.

Wieder blickte sie in den Spiegel, dann schlug sie die Hände vor die Augen. War sie denn blind gewesen? Was konnte sie ihm noch sein, sie, die Kranke, dem Grabe Zuwankende? Nichts, nichts als eine Last. Nur das nicht, das nicht!

Aber konnten sie nicht warten, bis sie todt war? Wie lange würde es denn noch dauern? „Ach, nur Schonung, Mitleid so lange, nur so lange! Erbarmt Euch!“

Sie sank zurück in einem ohnmächtigen Zustande, unfähig sich zu bewegen und doch fühlend, daß sie wache, daß es entsetzliche Wirklichkeit sei, daß ihr Schicksal die lächelnde Maske abgeworfen, um sein wirkliches Antlitz zu zeigen, ein so trostloses, verzweiflungsvolles Antlitz.

Sie wußte nicht, wie lange sie so gelegen. Sie hatte nicht mehr die Kraft sich selbst zu widersprechen; sie sah immer ein blondes Haupt, das sich an seine Brust schmiegte, wie das ihre einst gethan; und sie selbst lag im Sarge und konnte sich nicht rühren, so sehr sie sich mühte. Der kalte Schweiß rieselte ihr über die Stirn; mit einer entsetzlichen Anstrengung schnellte sie endlich empor und riß an der Klingel in wilder Verzweiflung. Erschreckt stürzte die Kammerfrau herzu.

„Die Fenster auf!“ stöhnte die Herzogin, im Bette hochsitzend, „ich ersticke!“

Die Kammerfrau eilte zum Fenster, raffte die Vorhänge zurück und da brach der erste funkelnde dunkelglühende Strahl der Morgensonne in das Gemach und traf das geängstigte fieberhaft erregte junge Weib auf seinem Lager.

Sie starrte wie fragend hinaus in diese wunderbar schöne Welt, über die im Morgenwind zitternden Wipfel der Bäume des Parkes hinweg zu den blaugrünen tannenbewaldeten Bergen. Sie athmete die reine frische Luft; sie hörte das Zwitschern der Vögel im Geäst und sie brach in Thränen aus, in Thränen der Scham über ihre Verzweiflung, über ihr Mißtrauen.

Lange noch lag sie schluchzend und schlief endlich ein. Als sie erwachte, saß Claudine an ihrem Lager.

Sie ordnete einen Strauß Rosen, die sie von Heinemanns Stöcken erbeten, und war damit so lautlos emsig beschäftigt, daß sie nicht merkte, wie die Augen der Herzogin schon eine ganze Weile auf ihr ruhten. Als sie endlich aufblickte, ging ein froher Zug über ihr sorgenvolles Gesicht.

„O, Du!“ rief sie und knieete an dem Bette nieder mit ihren Rosen. „Wie hast Du mich erschreckt, Elisabeth! – Was fehlt Dir? In aller Morgenfrühe ließ mich Frau von Katzenstein schon holen. Ist Dir das Fest gestern nicht bekommen?“

Die Herzogin hatte den Kopf schwer auf die Hand gestützt und sah unverwandt in das schöne Antlitz, aus dem Angst und Betrübniß so deutlich sprachen. Dann strich sie wie liebkosend über das duftige Blondhaar. „Mir ist schon besser,“ sagte sie leise; „wie gut, daß Du gekommen bist!“

Sie blieb sonst stumm während des ganzen Vormittags; aber sie folgte Claudine immerwährend mit den Augen. Gegen Mittag wollte sie aufstehen, aber sie taumelte wie eine Trunkene und mußte wieder zu Bette.

„Bleib’ bei mir, Claudine,“ bat sie.

„Ja, Elisabeth.“

Die Kranke machte die müde zugesunkenen Augen auf, und als wundere sie sich über diese rasche Zusage, fragte sie: „Du kannst doch ohne Sorge fort von daheim?“

„Sprich davon nicht, Elisabeth. Selbst wenn es dort eine Lücke gäbe, ich würde dennoch kommen. Ich schreibe ein paar Worte an Joachim und lasse mir einiges Notwendige holen. Aengstige Dich nicht!“

„Erzähle mir etwas,“ bat die Herzogin gegen Abend. Sie hatte den Tag über fast regungslos gelegen mit geschlossenen Augen.

[280] „O gerne, Elisabeth, aber was?“

„Aus Deinem Leben.“

„Ach Gott, da ist wenig zu berichten. Ich meine, Elisabeth, Du kennst das Alles.“

„Alles?“

„Ja, meine liebe Elisabeth!“

„Hast Du niemals eine Neigung gehabt, Dina?“

Ueber des Mädchens Gesicht flog ein glühendes Roth; langsam neigte sie den Kopf.

„Laß das, Elisabeth,“ bat sie mit erstickter Stimme, „frage nicht weiter – ich –“

„Kannst Du es mir nicht sagen?“ sprach die Herzogin leise und dringend. „Schenke mir Dein Vertrauen, Dina, schenke es mir – Du weißt doch alles von mir.“

In diesem Augenblick meldete die Kammerfrau den Herzog, und fast verstört erhob sich das schöne Mädchen und trat mit einer Verbeugung an ihm vorüber in das Nebenzimmer.

„Claudine! Claudine!“ rief die Kranke, und als sie zurückeilte, deutete die Herzogin auf den Sessel neben ihrem Bette. „Bleib’ hier!“ sagte sie herrisch. Es war zum ersten Male, daß sie so zu ihr sprach.

Gehorsam setzte sich Claudine. Sie hörte, wie theilnehmend der Herzog mit der Kranken redete, wie er hoffe, daß sie morgen doch wieder an dem Fest im Garten teilnehmen könne, daß sicher auch Mama erscheinen werde.

„Ich will mir Mühe geben, gesund zu werden,“ erwiderte sie.

„Das ist prachtvoll, Liesel! Gieb Dir Mühe,“ lachte der Herzog. „Wenn alle Kranken so dächten, gäbe es weniger Patienten. Der Wille thut wirklich etwas zur Genesung, frage nur den Medicinalrath.“

„Ich weiß es, ich weiß es,“ sagte sie hastig.

„Der Medicinalrath behauptet, Du seist heute nur psychisch krank,“ sprach der Herzog weiter. „Ich wüßte nicht, wieso? Ich meine, Du hast Dich einfach erkältet, mein Kind. Du mußt durchaus mehr geschont werden; Nachtluft ist nichts für Dich. Zum Winter gehst Du auf jeden Fall nach Cannes.“

„Zum Winter!“ dachte sie bitter und sagte laut mit völlig ungewohntem Trotz. „Ich will mich aber nicht mehr schonen!“

Se. Hoheit schaute verwundert auf das sonst so fügsame Geschöpf „Du bist in der That angegriffen,“ erwiderte er mit der Schärfe, die ein nicht völlig logischer Widerspruch unwillkürlich erzeugt. Und sich zu Claudine wendend, sagte er, dem Gespräch eine andere Wendung gebend. „Ihr Vetter hat gestern aber in Wahrheit ein reizendes Fest veranstaltet, welch geschmackvolles Arrangement und welch originelle Toiletten! Die Ihrige zum Beispiel, gnädiges Fräulein, einfach großartig! Nicht, Elisabeth?“

„Ich kann das Sprechen nicht ertragen, Adalbert; bitte – geh,“ sagte die Kranke mit nervös zuckender Lippe. Und als er mit einer ungeduldigen Bewegung zurücktrat, reichte sie ihm ängstlich die Hand, während ihre Augen in Thränen schimmerten: „Verzeihe mir!“ Und dann faßte sie Claudinens Hand, und sie in ihrer heißen Rechten haltend, legte sie sich zurück und schloß die Augen.

Er war gegangen.

Der Himmel hatte sich indessen mit schweren dunklen Wolken bezogen, gewitterschwül und beängstigend war die Luft. In der trüben Regenbeleuchtung sah das Gesicht der Herzogin aus wie das einer Todten. So lag sie unbeweglich, und so saß Claudine neben ihr, stundenlang.

Seltsam unheimlich dünkte es ihr.

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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 18, S. 293–299

[293] Die Nachricht, daß die Herzogin krank, war bereits überall verbreitet.

„Sie sah so merkwürdig bleich zuletzt aus,“ bemerkte Prinzeß Thekla, als man beim Abendessen saß im Neuhäuser Speisesaal.

„Meine Kousine ist schon in aller Morgenfrühe hingeholt,“ erzählte Beate, der man keine Spur von Müdigkeit ansah, obgleich sie gar nicht zu Bette gegangen war, um unter ihrer Aufsicht die sämmtlichen Spuren des Festes beseitigen zu lassen. Da befand sich jede Silbergabel wieder an ihrem Platz, jede Tasse, jedes Möbel; nichts erinnerte mehr an das Feenmärchen der letzten Nacht, am allerwenigsten die Menschen selbst. „Sie schreibt mir soeben,“ fuhr Beate fort, „daß sie die Herzogin pflegt und ganz nach Altenstein übergesiedelt ist.“

„Welch rührende Freundschaft!“ rief die alte Prinzessin, die sehr schlechter Stimmung war; denn heute früh, als sie noch süß schlummerte, hatte Baron Lothar die Kinderfrau knall und fall entlassen; und Frau von Berg war schon in aller Morgenfrühe ein Billet an das Bett gebracht worden, das sie just in einem beglückenden Traum störte. Es enthielt die Entlassung von ihrer Stelle als Erzieherin „meiner Tochter“ in aller Form, zwar unendlich artig gehalten, aber es war so, wenn auch liebenswürdigerweise der Baron am Schlusse die gnädige Frau bat, sie möge über die Gastfreundschaft in seinem Hause verfügen.

Sie hatte nur ein Morgenkleid übergeworfen und war gegen alle Etikette in das Schlafzimmer der Prinzessin Helene gestürzt. Die kleine Durchlaucht hatte elend ausgesehen, mit dunklen Ringen um die Augen, als habe sie während der Nacht mehr geweint als geschlafen.

„Was ist da weiter?“ war der verdrießliche Trost gewesen. „Sie kommen dann zu Mama, Alice; ich werde mit ihr sprechen. Die Moorsleben geht ja ohnehin zu ihren Eltern zurück.“

Mama hatte dann auch wirklich sogleich die theure Alice aufgefordert, zu ihr zu kommen. Es war ja unerhört, einer „Dame“ zu kündigen, als sei sie eine Bonne; einer Dame, die sie eigens ausgesucht. Und sie hatte dennoch nicht gewagt, Gegenvorstellungen zu machen; der kurz angegebene Grund des Barons war allzu triftig; man mußte ihr, die beinahe die fahrlässige Tödtung des geliebten Enkelkindes verursacht hatte, sogar pro forma zürnen. Außerdem, noch hatte er nicht gesprochen, und leider konnte man ihn nicht zu einer Heirath „befehlen“, wie zu einem Walzer.

Der Frau von Berg war mit dem Arrangement so gar nicht gedient; sie saß, blaß wie ein unschuldig gekränkter Engel, in ihrem Gemach, äußerlich voll edler Fassung, innerlich vor Zorn „außer sich“. Das Kinderzimmer war urplötzlich nach unten verlegt, dicht neben die alte gemüthliche Schlafstube Beatens, nach dem weiten luftigen Hofe hinaus, wo es Pferdchen, [294] Kühe und Hühner zu sehen gab – die nämliche Aussicht, die schon den Vater des Kindes und Tante Beate entzückt hatte. Und dieselbe treue Hand, die jene einst gehütet, hielt jetzt das Kindchen auf dem Arme, eine saubere, etwa fünfzigjährige Frau mit den freundlichsten Augen der Welt unter der schwarzen Bauernhaube. Lothar hatte sie heute früh persönlich aus dem schmucken Häuschen am Ende des Dorfes zu seinem Kinde geholt.

„Welch rührende Freundschaft!“ hatte die Prinzeß Thekla gerufen, aber Beate merkte den Sarkasmus nicht und Lothar wollte ihn wohl nicht bemerken. Er sah wie traumverloren in die immer finsterer werdende Wetternacht hinaus.

„Die Herzogin ist öfter leidend, wie wir alle wissen, Mama,“ sagte Prinzeß Helene, die Lothar nicht aus den Augen ließ.

„Natürlich! Vielleicht hat sie sich über irgend etwas alterirt,“ meinte die alte Prinzessin bedeutungsvoll. „Uebrigens, diese Schwüle ist erdrückend; ich hätte nie geglaubt, daß es in den Bergen hier so heiß sein kann; ich muß beständig an die kühle, wogende Nordsee denken. Herr von Pausewitz,“ wandte sie sich an den Kammerherrn, „haben Sie Nachricht aus Ostende, ob wir die Zimmer im Hôtel de l’Ocean bekommen werden?“

Beate schaute verwundert ihren Bruder an. Die ungeheuren Koffer, welche die durchlauchtigsten Damen nach Neuhaus gebracht, hätten auf einen längeren Aufenthalt schließen lassen.

Herr von Pausewitz machte eine bedauernde Bewegung. „Durchlaucht, der Wirth depeschirt, daß leider meine Bestellung zu spät kam, glaubt aber, in einem andern Hôtel –“

„Sie werden uns hoffentlich begleiten, lieber Lothar,“ unterbrach Prinzessin Thekla den alten freundlichen Herrn und wandte sich mit so liebenswürdiger Miene zu Baron Gerold, als sie noch je gezeigt. „Die Erinnerung an unsere theure Verewigte wird Sie ebenfalls dorthin ziehen, wo Sie die kurzen Wochen der Brautzeit mit einander verleben durften.“

Lothar verbeugte sich auffallend devot. „Verzeihung, Durchlaucht – ich sehe Plätze, an welche sich Erinnerungen knüpfen, die für mich so traurig sind, nicht gern zum zweiten Male; man läßt sich zu leicht hinreißen, der Vergangenheit ein allzu großes Recht einzuräumen, während es dem Manne obliegt, sich mit jedem zu Gebote stehenden Mittel innere und äußere Ruhe zu erkämpfen, um der Gegenwart, der Pflicht zu genügen. Aber abgesehen hiervon, ich habe in letzter Zeit bemerkt, daß meine Anwesenheit in Neuhaus mehr als nöthig ist; auch für meinen Besitz in Sachsen dürfte es gut sein, wenn das Auge des Herrn einmal wieder sorgend auf ihm ruht. Erst jetzt,“ sprach er weiter, indem er aufmerksam der Prinzeß Helene eine Kompotschale reichte, „erst nachdem ich so lange in südlichen Gegenden leben mußte, erst jetzt liebe ich meine Heimath so recht ehrlich, diese kleine Scholle, auf der ich groß geworden bin; ich möchte ihr wirklich nicht eine Stunde länger meine Gegenwart entziehen.“

Die Prinzeß warf einen verzweiflungsvollen Blick durch das Fenster; er konnte ebenso gut den drohenden Wolken da draußen gelten, als der Starrköpfigkeit ihres lieben Schwiegersohnes.

„Eine Frau, eine Mutter faßt das Angedenken an die Heimgegangene natürlich anders auf,“ sagte sie kühl, „weniger heroisch. Pardon, Baron!“

„Durchlaucht,“ erwiderte er mit Wärme, „es wäre schlimm, würde es anders sein! Die Frauen haben das holde Vorrecht, Kultus zu treiben mit den äußeren Zeichen der Trauer wie der Freude; sie sind es, welche Blumen streuen zum fröhlichen Fest, sie sind es, die das Grab bekränzen. Welcher Schimmer würde dem Leben fehlen, wenn sie ‚heroischer‘ wären!“

Prinzeß Helene ward dunkelroth. Wie kam ihre Mutter auf den Einfall, von hier fortzugehen – jetzt? Die Gabel in ihrer Hand zitterte, sie mußte sie hinlegen.

Komtesse Moorsleben rief: „Um Gott, sind Durchlaucht nicht wohl?“

„In der That – ich bin – mir ist so schwindelig plötzlich,“ stammelte die Prinzessin. „Verzeihung, wenn ich –“

Sie hatte sich erhoben und, das Tuch vor die Augen gedrückt, schritt sie, leicht grüßend, hinaus, der Komtesse winkend, zurückzubleiben. Sie flog die Treppe förmlich hinauf und in Frau von Bergs Zimmer.

„Alice!“ rief sie fassungslos, „Mama spricht vom Abreisen! Es ist schrecklich – es ist alles verloren!“

Frau von Berg, die im hellblauen Morgenkleide mit krêmefarbenem Spitzenbesatz im Zimmer auf- und abschritt und ihr englisches Riechsalz zuweilen mit halbgeschlossenen Augen an die Nase führte, wobei sie jedesmal leicht stöhnte, hielt inne und vergaß für einen Augenblick ihre Krankenrolle.

„Gerold hat Mama seine Begleitung abgeschlagen,“ fuhr die Prinzessin erregt fort, indem sie an ihrem Taschentuch zerrte, daß die feinen Valenciennes zerrissen. „Er schwärmt plötzlich von seinen deutschen Wäldern wie ein erbgesessener Bauernsohn, dem man zumuthet, nach Amerika auszuwandern. Was soll ich in Ostende? Und noch dazu, wenn ich weiß, Sie sind nicht mehr hier, Alice! Ich ertrage es nicht,“ betheuerte sie und warf sich auf das Sofa; „ich springe unterwegs aus dem Zuge, ich stürze mich von der Estacade in die See – ich –“

Das weiße Gesicht der Prinzessin leuchtete kaum noch kenntlich aus der schnell hereinbrechenden Dunkelheit herüber zu der unbeweglich dastehenden Frau.

„Ach Gott, es ist ja alles verloren!“ rief sie, als diese schwieg. „Ich gehe, und sie bleibt!“ Und sie begann leidenschaftlich zu weinen, indem sie aufs neue den Kopf in die Kissen barg. „Ich fühle es, Alice, ich fühle es, er liebt sie; er hat vorhin an sie gedacht!“ schluchzte sie.

Frau von Berg lächelte. Sie hatte keinen Grund mehr zur Schonung; sie haßte alle diese Menschen seit ihrer heutigen Niederlage und fühlte etwas von dem wonnigen Behagen, mit dem ein Anarchist daran denken mag, mittelst einer winzigen Dynamitpatrone eine ganze Gesellschaft in die Luft zu sprengen, Unschuldige und Schuldige.

„Prinzessin, jetzt keine unnöthigen Thränen,“ sagte sie kühl, „jetzt müssen Sie handeln. Vor allen Dingen, meine ich, müßte der Herzogin bewiesen werden, daß Durchlaucht keineswegs ‚im Fieber‘ gestern Abend redeten. Alles andere würde sich dann finden.“

Und Frau von Berg sah im Geiste schon die ganze Klique in die Luft fliegen; ihretwegen auch dieses kindische unentschlossene Geschöpf.

„Aber ich kann es ihr nicht sagen, ich kann es nicht!“ flüsterte die Prinzessin; „ich habe einmal sehen müssen, wie sie ein Reh krankgeschossen hatten, und ebenso blickte sie mich gestern an; ich kann es nicht! Ich habe die ganze Nacht deshalb nicht geschlafen.“

Frau von Berg zuckte die Achseln. „So gehen Durchlaucht nach Ostende; die Idylle hier wird sich um so ungestörter entwickeln.“

Draußen warf der Wirbelsturm, der vor dem Gewitter daherbrauste, Sand und Blätter gegen die Fenster und zerzauste wüthend die Aeste der Linden; dann fuhr der erste grelle Blitz hernieder und streifte das spöttisch verzogene Gesicht der schönen Frau, die am Fenster lehnte und in das Toben hinausschaute.

„Ich will ihr schreiben“ sagte jetzt die Prinzessin. „Sie würde mich ja so wie so gar nicht annehmen.“ Und nach einer Pause, während welcher ein Donnerschlag das Haus erbeben machte: „Ich bin es ihr schuldig – ja, ja, ich bin es ihr schuldig; Sie haben Recht, Alice. Kommen Sie in mein Zimmer, ich fürchte mich.“

Frau von Berg zündete eine Wachskerze auf dem Schreibtisch an und leuchtete der Prinzessin über den Korridor nach ihrem Zimmer. Auf dem weißen runden Frauengesicht lag ein Zug höchster Befriedigung. „Endlich!“ dachte sie und ballte heimlich die Faust; wenn noch eine Spur von Milde in ihr gewesen, der gestrige Abend hätte sie verlöscht. Wie hochmüthig sie an ihr vorübergeschritten war, als Baron Gerold sie – Frau von Berg, eine geborne Cornetzky – gemaßregelt; sie, deren Vorfahren mindestens so alt waren als ihre; sie stammten nachweisbar von den Sobieskis ab. In ihren Augen leuchtete es auf; der Herzog hatte sie gestern seit langer Zeit wieder einmal angesprochen und sie hatte resolut gewagt, ihn an schwüle vergangene Zeiten zu erinnern. Er war damals als junger Prinz blindlings in sie verliebt gewesen; und alte Liebe –

„Was meinen Sie, Alice,“ unterbrach die Prinzessin den kühnen Flug dieser Gedanken, „wie soll ich schreiben?“

Die graziöse Gestalt der kleinen Durchlaucht saß vor dem Rokokoschreibtischchen, vor sich ein wappengeschmücktes Briefblatt; vorläufig stand nichts weiter daraus als: „Geliebte Elisabeth!“

„Irgend so etwas, Durchlaucht, wie – daß die Sorge um das Glück Ihrer Hoheit Sie veranlasse, die gestern hingeworfene Bemerkung noch näher zu begründen; Durchlaucht könnten es vor [295] Ihrem Gewissen nicht verantworten und so weiter, und hier sei der Beweis –“

Die Prinzessin wandte den Kopf und schrieb. Draußen tobte das Wetter, und wenn ein Donnerschlag das Haus erschütterte, hielt die schreibende Mädchenhand inne. Zuweilen fuhr sich die Prinzessin ängstlich über die Stirn; dann flog die Feder aufs neue über das Papier, und endlich reichte das Mädchen der bewegungslos inmitten des Zimmers stehenden Frau das Schreiben.

Diese trat näher zu der kleinen Kerze und las. „Wie immer con passione,“ sagte sie, „rührend! Und nun das Briefchen Sr. Hoheit, Durchlaucht,“ und ihre Augen schimmerten wie die einer beutegierigen Katze.

Die Prinzessin zog das Kettchen unter ihrem weißen gestickten Kleide hervor; zögernd nahm sie den Brief aus der Kapsel und schloß dann die Hand zur Faust darum. Ein letzter Kampf rang in ihrem Herzen. Frau von Berg lehnte an der Wand neben dem Tische und spielte mit der Quaste ihres Kleides. „Uebrigens,“ sagte sie langsam, ohne aufzuschauen, „süperbe sah sie aus, gestern diese Claudine. Sie haben einen eigenen Reiz, diese blonden Frauen mit den feuchten blauen Augen –“ Aber sie bemerkte doch, daß die Prinzessin bereits mit zitternden Fingern das Kouvert schrieb.

In diesem Augenblick erschien die Komtesse, um ihre junge Gebieterin zu der Mutter zu rufen. Die alte Prinzessin hatte Nervenzufälle und war in jener krankhaften Verfassung, wo sie Sachen zerschlug, Stoffe zerriß und mit Schimpfwörtern verschwenderisch umging. Auch heute tobte sie wie das Wetter draußen. Mit verweinten Augen kam die Prinzessin nach einer halben Stunde zurück in ihr Gemach; sie hatte mit stummem Trotz die ganze Fluth der Vorwürfe hingenommen. Sie war doch wahrhaftig nicht schuld, daß ihre Mutter in dieser dumpfen Luft nicht länger athmen konnte, und daß die Herzogin-Mutter so kühl geantwortet auf das vertrauliche Schreiben Ihrer Durchlaucht! Warum schrieb sie an diese formenstrenge Dame mit ihren untadeligen Manieren, die ja stets eine Affenliebe für Claudine gezeigt hatte? – Auf dem Schreibtisch flackerte noch das Wachslicht im Verlöschen; die hastig hingeworfene Feder lag neben dem Schreibzeug, aber – die kleine Hand fuhr nach der Stirn – der Brief? Wo war der Brief?

Eine zitternde Angst überfiel sie; sie stürzte durch den Korridor nach Frau von Bergs Zimmer.

„Alice!“ schrie sie in die Dunkelheit hinein, „der Brief! Wo haben Sie den Brief? Ich will ihn noch einmal lesen!“

Keine Antwort.

„Alice!“ rief sie heftig und trat mit dem Fuße auf.

Alles blieb still.

Ohne an ihre verweinten Augen zu denken, lief sie die Treppe hinunter; durch die halb geöffnete Thür der Halle drang wundervoll erfrischende Luft herein, es hatte aufgehört zu regnen. Draußen auf den Steinfliesen glitt ein Schatten auf und ab.

„Alice!“ rief die Prinzessin zum dritten Male und eilte hinaus. „Der Brief? Wo ist der Brief?“

„Durchlaucht, ich habe ihn pünktlich besorgt.“

Ein halb erstickter Schrei kam aus dem Munde der erregten Prinzessin.

„Wer hat Ihnen befohlen, den Brief abgehen zu lassen?“ stammelte sie zornig und faßte die Schulter der Dame.

„Nun, Durchlaucht,“ erwiderte diese, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, „ich fand just Gelegenheit.“

Aber die Prinzessin beruhigte sich nicht. „Und was soll ich sagen, woher ich dieses entsetzliche Billet habe?“ fragte sie, die Hände in einander windend.

„Gefunden!“ erwiderte die Berg.

„Ich lüge nie!“ rief das fürstliche Mädchen und ihre zierliche Gestalt wuchs förmlich. „Von Ihnen wisse ich es, werde ich sagen, so wahr mir Gott helfe, und ich spreche die Wahrheit damit, Alice!“

„Wie Durchlaucht darüber denken – dann habe ich das Briefchen gefunden,“ erwiderte sie. „Ich gab es dem Reitknecht mit, den der Baron an Fräulein von Gerold noch Altenstein sandte; er soll es an Frau von Katzenstein abgeben; ich schrieb ihr ein paar Worte, daß sie das inliegende Billet Ew. Durchlaucht morgen früh Ihrer Hoheit überreichen solle.“

Die Prinzessin war still geworden; sie hielt sich an dem im blassen Mondlicht schimmernden Thürklopfer von Bronze, den der sterngeschmückte Hirsch krönte. Sie konnte nicht mehr klar denken, sie fühlte sich unsäglich elend.

Frau von Berg wußte ganz genau, daß es ein Brief Beatens war, den der Reitknecht forttrug; aber warum das sagen? So wurde das Feuer noch mehr geschürt.

Die Prinzessin wandte sich in die Halle zurück und dort stand sie still. Es war eine Furcht, ein unnennbares Grauen über sie gekommen.

Beate trat eben aus dem Zimmer Lothars, das Schlüsselkörbchen am Arm. „Prinzessin!“ rief sie erschreckt, „wie sehen Sie aus!“

Da kam es wie Leben über sie. Sie eilte die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, und da wühlte sie die Hände ins Haar und lag angekleidet auf ihrem Bette die Nacht hindurch, halb bewußtlos, und fürchtete, daß es Tag werden möchte.




Die Herzogin hatte beim Ausbruch des Wetters ihre Kinder holen lassen; das jüngste schmiegte sich an sie, die, von Kissen unterstützt, im Bette hoch saß; der Erbprinz stand muthig am Fenster und schaute in die blitzdurchzuckte Nacht hinaus, und den zweiten Prinzen hatte Claudine auf dem Schoß.

Neben dem Erbprinzen stand der Herzog und horchte auf das Prasseln des Hagels und betrachtete die Wassermassen, die der Sturm an die Scheiben warf; die Herzogin plauderte mit dem Baby; im Nebenzimmer befanden sich Frau von Katzenstein, die Gouvernante der Prinzen und die Kammerfrau.

Als der Donner sich entfernte und der Regen nachließ, wurden die fürstlichen Kinder in ihre Zimmer entlassen. Der Erbprinz sah Claudinen einen Augenblick in das Gesicht.

„Haben Sie sich gefürchtet?“ fragte er.

Sie schüttelte freundlich den schönen Kopf.

„Das gefällt mir,“ sagte der schlanke Junge, „Mama fürchtet sich immer gleich.“

Die Mutter zog ihr Kind an sich.

„Fräulein von Gerold gefällt Dir überhaupt?“ forschte sie mit trübem Lächeln.

„Ja, Mama,“ antwortete der Knabe, „wenn ich groß wäre, würde ich sie heirathen.“

Niemand lachte über dieses Kindeswort; der Herzog am Fenster rührte sich nicht und Claudine war verlegen. Die Herzogin nickte: „Schlaft wohl, Ihr lieben, lieben Kinder, Gott behüte Euch!“

Als das Getrappel der kleinen Füße verhallt war, sagte sie leise. „Ich bin recht müde, Adalbert.“

Auch der Herzog empfahl sich. Er küßte seine Gemahlin auf die Stirn und verließ das Gemach. „Erwache gesund morgen!“ sagte er noch.

„Ich verspreche es Dir!“ erwiderte sie freundlich.

Claudine wollte sich mit Frau von Katzenstein in die Nachtwache theilen. Sie ging in das Zimmer, das man ihr angewiesen, das nämliche, in dem sie geschlafen, als sie noch Kind dieses Hauses war, und zog sich ein bequemeres, wärmeres Kleid an. Dann kehrte sie zurück und saß neben dem Bette, still und geduldig.

Die Herzogin lag mit geschlossenen Augen. Die kleine Nachtuhr tickte leise; das Bildniß der Madonna leuchtete matt herüber, des Mädchens Augen blieben hängen an diesem holden Antlitze und wanderten dann zu dem bleichen der Kranken. Dann sank ihr Kopf an das Polster, sie schloß die Augen und dachte nach.

Sie war wohl müde von der gestrigen Nacht; ein leises traumhaftes Dämmern kam über sie; sie sah sich mit seinem Kinde aus dem Arme und fühlte seinen Dankeskuß auf der Hand und sie lächelte im Schlaf. Dann schreckte sie empor und saß wachend, und ein Grauen schlich durch ihren Körper. Sie sah in die Augen der Herzogin , die mit einem unheimlich forschenden Ausdruck auf sie gerichtet waren, so seltsam starr!

„Elisabeth,“ fragte sie unter leisem Frösteln, „kannst Du nicht schlafen?“

„Nein!“ war die kurze Antwort.

„Soll ich Dir vorlesen?“

„Nein, ich danke!“

„Willst Du plaudern? Soll ich Dir das Kopfkissen zurechtlegen?“

„Gieb mir die Hand, Claudine; war ich sehr unleidlich heute?“

„Ach, Elisabeth, das kannst Du gar nicht sein!“ rief das Mädchen und knieete neben ihr.

[298] „Doch, doch! Ich fühle es. Aber dann – dann ist mein Herz krank und Du mußt verzeihen.“

„Sag’, Elisabeth, geschah Dir ein Weh?“

„Nein; ich dachte nur ans Sterben, Claudine.“

„O, denke das doch nicht!“

„Du weißt ja, Claudine, daß wider die Liebe und den Tod kein Kraut gewachsen ist! Ich glaube, ich fürchte auch nicht den Tod, ich habe eher Angst vor dem Weiterleben.“

„Du bist überaus angegriffen, Elisabeth.“

„Ja, ja; und ich bin so müde. Du sollst auch schlafen, es ist besser, ich bleibe allein; bitte, geh’! Die Kammerfrau wacht nebenan; geh! Ich muß Dich immer ansehen, wenn Du hier sitzest.“

Claudine beugte sich betrübt über die fieberheiße Hand und zog sich zurück. Gegen Mitternacht schlich sie sich im Nachtkleide nach dem Krankenzimmer und lauschte hinter dem rothen seidenen Vorhang, ob die Herzogin wohl schlafe. Es war alles still; aber als durch ihre Bewegung die Falten leise rauschten, wandten sich langsam die großen dunklen Augen der Kranken mit dem nämlichen starren fragenden Ausdruck wie vorhin zu ihr herüber. „Was willst Du?“ fragte sie.

Claudine trat vor. „Ich ängstige mich um Dich,“ sagte sie, „verzeihe!“

„Sage mir,“ sprach die Herzogin völlig unvermittelt, „warum wolltest Du gestern anfänglich nicht nach Neuhaus?“

Claudine war betroffen. Sie trat näher. „Warum ich nicht nach Neuhaus wollte?“ wiederholte sie erglühend. Dann schwieg sie. Es war ihr nicht möglich zu sagen: weil ich Lothar liebe, und weil er mich kränkt, wo er mich sieht – weil er mir mißtraut, weil –

Die Herzogin wandte sich plötzlich um. „Laß, laß, ich will keine Antwort. Geh’, geh’!“

Rathlos wandte sich das Mädchen der Thür zu.

„Claudine! Claudine!“ scholl es hinter ihr, herzzerreißend und bang. Die Kranke saß im Bette hoch und breitete die Arme nach ihr; angstvoll hingen die flehenden Augen an den ihren.

Sie kam zurück, setzte sich auf das Bett und nahm die zarte bebende Gestalt in die Arme.

„Elisabeth,“ sagte sie innig, „laß mich bei Dir bleiben!“

„Verzeihe mir, ach, verzeihe!“ schluchzte die Herzogin, das Mädchen küssend, ihr Kleid, das lange blonde Haar, das lose auf den Rücken herniederfiel, und ihre Augen. „Sage mir,“ flüsterte sie, „sage es ganz laut, daß Du mich lieb hast!“

„Ich habe Dich sehr lieb, Elisabeth,“ sprach Claudine und trocknete die großen Tropfen, die über das heiße erregte Gesicht der Kranken liefen, wie eine Mutter ihrem Kinde thut. „Du weißt überhaupt nicht, wie sehr, Elisabeth.“

Erschöpft sank die Herzogin zurück „Ich danke Dir – ich bin so müde!“

Claudine saß noch ein Weilchen; dann, als sie glaubte, die Kranke schlafe, wand sie leise ihre Hand aus derjenigen der Freundin und verließ auf den Zehen das Gemach. Ein seltsames Grauen schlich ihr nach. Was war es mit der Herzogin? Dieses Anstarren, diese Kälte, diese leidenschaftliche Zärtlichkeit?

„Sie ist krank!“ sagte sie sich.

Sie stand vor dem Spiegel, um das gelöste Haar zu befestigen – ein mißtrauischer Gedanke kam ihr; die Hand, welche die Schildpattnadel hielt, sank herunter. Dann schüttelte sie stolz die goldene Fluth in den Nacken zurück. Weder sie, noch die Herzogin waren kleinlich genug, an Klatsch zu glauben.

Eine jener ahnungsvollen unbegreiflichen Ideenverbindungen ließ blitzgleich die Erinnerung an das verschwundene Billet auftauchen. Ein dumpfes ängstliches Herzklopfen überfiel sie im Augenblick. Dann lächelte sie – wer konnte wissen, in welchem Waldeckchen es vermodert im Regen und Thau?

Sie nahm das kleine Gebetbuch, aus dem ihre Mutter schon allabendlich ihr Sprüchlein gelesen und schlug irgend eine Seite auf:

„Behüte mich, Herr, vor böser Nachrede und wehre meinen Feinden! Laß kein Uebel mir und den Meinen begegnen und keine Plage unserer Wohnung sich nahen –“ las sie und ihre Gedanken flogen nach dem friedlichen Hause, aus dessen Thurmgemach die Studirlampe des Bruders in den Wald hinaus schimmerte. Und von dort wanderten sie an das Bettchen des mutterlosen Kindes in Neuhaus. „Beschirme es auch ferner, lieber Gott, wie Du es gestern behütet hast!“ flüsterte sie und senkte die Augen wieder aus das Buch. „Erbarme Dich der Kranken, die schlaflos auf ihrem Lager nach Linderung schmachten,“ las sie weiter. „und aller Sterbenden, denen diese Nacht die letzte sein soll.“

Das Buch entglitt ihren Händen, eine eiskalte Furcht erfaßte sie – das entstellte Antlitz der Herzogin schaute sie plötzlich an. Sie barg den Kopf in die Kissen – wie kam sie auf so Schreckliches?

Erst nach einer langen Weile richtete sie sich auf und hüllte sich fröstelnd in die Decken. Und sie ließ die Lampe brennen auf dem Tischchen, sie mochte nicht im Dunkeln bleiben.




Der andere Morgen war so golden, so klar, von so köstlicher Frische. Die Sonne funkelte in Millionen Thautropfen auf den weiten Rasenflächen des Altensteiner Parkes, wo eine Schar Arbeiter die Vorbereitungen zu einem Feste traf; wie lustig und bunt das Alles erschien! Eine Stange hatten sie errichtet mit einem buntgemalten Vogel daran, ein Karoussel aufgestellt, dessen Pferdchen purpurrote Decken trugen, ein Kasperletheater und ein roth und weiß gestreiftes Zelt, von dessen Dache lustig eine Menge Purpurfähnchen und Wimpel wehten. Im Schatten der Bäume befand sich eine Tribüne für die Musikanten und ein gedielter Platz zum Tanz, alles für kleine Leute berechnet.

Der Erbprinz feierte heute seinen Geburtstag, und dies war die Ueberraschung seiner Großmama väterlicherseits, außer dem reizenden kleinen Schimmel, der gestern Abend heimlich in den Pferdestall geführt war und sich dort an der Krippe wohl sein ließ, obwohl er kaum recht hinaufreichen konnte.

Die Herzogin-Mutter wurde gegen Mittag erwartet laut einer Depesche, die in aller Morgenfrühe eingetroffen war. Um zwei Uhr sollte die Familientafel stattfinden, und zum Nachmittag war eine Menge Einladungen ergangen, besonders Kindereinladungen. Selbst die kleine Elisabeth aus dem Eulenhause und Leonie, Baronesse von Gerold, waren mittelst großer feierlicher Karten befohlen.

Das Unwohlsein der Herzogin, dazu das gestrige Unwetter, hatte mancherlei Bedenken erregt. Würde das Fest stattfinden können? Aber, Gott sei Dank, die gefürchtete Absage war nicht erfolgt, Ihre Hoheit befanden sich wohler und das Wetter war unvergleichlich. Man durfte ungetrübt sich auf den interessanten Nachmittag freuen als auf eine Fortsetzung von neulich. Es war ja da in Neuhaus einfach „göttlich“ gewesen, „pikant wie ein Kapitel von Daudet,“ sagte Excellenz Plassen zur Gräfin Lilienstein, als sie ihre Morgenpromenade im Walde machten, und dann wisperten sie sich geheimnißvoll in die Ohren und Ihre Excellenz verdrehte die Augen.

„Wenn sie nur schlau genug ist, heirathet er sie auch noch einmal, die Nachfolge ist ja gesichert,“ meinte die Dame endlich.

„Keine Sorge, meine liebe Gräfin, die Gerolds verstehen alle ihren Vortheil. Der Baron bekommt auch noch die zweite Prinzessin – er thut zwar gewaltig spröde –“

„Schlauheit, liebste Gräfin.“

„Ah! Sie verkehren ja schon wie intime Familien; der Herzog nennt ihn verschiedentlich ‚Vetter‘“

„Kann er auch – doppelte Verwandtschaft!“ Und sie lachte über ihren Witz.

„Ahnt die Herzogin wirklich nichts?“ fragte einer der Herren in der Kegelbahn zur „Forelle“, wo man eine kleine Partie zum Frühschoppen machte, „oder übersieht sie es geflissentlich?“

„Möglich, sie ist eine gescheite Frau,“ meinte Baron Elbenstein und wog eine Kugel in der Hand.

„Warum nicht gar!“ widersprach der dicke Major Baumberg; „die arme Frau sieht, was ihren Gemahl anlangt, in einen goldenen Becher – sie hat keine Ahnung – sie vergöttert so den Herzog.“

„Eben deshalb – sie gönnt ihm sein Glück!“

„Verteufelt hübsches Weib, die Gerold!“

„Reizend!“

„Ueber alles erhaben!“

„Und grundkokett!“

„Und schlau, schlau! Welch ein feiner Schachzug – läuft aus der Hofdamenstellung in diese Wildniß gerade in dem Augenblick, wo das väterliche Gut subhastirt wird. Famos, nicht? “ „Und er biß an!“ sagte ein melancholischer Herr von der Gesandtschaft.

[299] Die alte Excellenz mit dem ehrwürdigen weißen Haupt zog mißbilligend die struppigen Augenbrauen in die Höhe. „Ihre Hoheit ist eine feinfühlende Dame,“ sagte er mit seiner vor permanenter Heiserkeit kaum vernehmbaren Stimme. „Meine Herren, ich muß bitten!“

Er wurde nicht gehört.

„Alles schon dagewesen!“ rief einer, der eben „Acht um den König“ geworfen.

Noch einmal trat Seine Excellenz für die so hart Verurteilte ein und suchte zu beweisen, daß es eine ganz nichtswürdige Klatscherei sei, aber mitten darin schnappte ihm die krähende Stimme über, er pustete noch ein paarmal, trocknete sein dunkelrothes feuchtes Antlitz ab, trank zornig sein Bier aus und verließ die Lästermäuler.

„Unglaublich! Unglaublich!“ murmelte er vor sich hin. Und als er einem Paar junger Damen begegnete, die leise plaudernd an ihm vorbeischritten, schaute er den hübschen Gestalten ingrimmig nach. „Wette, die flüstern auch von dem Skandal; grüne Dinger, die noch gar kein Urtheil haben. Ei, so wollte ich doch, daß –“ Aber die gute Excellenz vermochte dem Raunen und Wispern auch mit den kräftigsten Verwünschungen keinen Einhalt zu thun. Leise, leise flüsterte es weiter. So wie der Sommerwind rauschte in den Waldbäumen von Wipfel zu Wipfel, ging es von Ohr zu Ohr; sogar die Dienerschaft steckte die Köpfe zusammen, und immer weiter abwärts war es bereits gedrungen; die Schwalben zwitscherten es in den Nestern der Dorfhütten, und eine Nachbarin erzählte es der andern. Und in einer der ärmlichsten kleinen Hütten saß eine alte Bäuerin und schrieb mit kindlicher Begeisterung an das gnädige Fräulein von Gerold und bat dieselbe, sie möge dem Herrn Herzog sagen, er solle ihren Sohn vom Militär freimachen, wenn sie das thäte, würde es gewiß helfen.

Im Schlosse war es heute schon früh lautlos lebendig. Das zierliche Stubenmädchen, das auf einen Druck der elektrischen Klingel in Claudinens Zimmer trat, brachte einige Briefe mit.

„Weiß man schon, wie Ihre Hoheit sich befinden?“ fragte Claudine.

„O, außerordentlich gut! Hoheit sollen so schön geschlafen haben und wollen um elf Uhr dem Erbprinzen im rothen Salon einbescheren.“

„Gott sei Dank!“

Claudine sandte das Mädchen an die Kammerfrau und ließ durch sie um weitere Befehle bitten. Als sie Toilette gemacht hatte, erbrach sie die Briefe; einer war von Beate, die ihr versprach, sich um die kleine Elisabeth zu bekümmern und das Kind heute zu dem Feste abzuholen.

„Ich komme mit zwei Nichten zum Hofball,“ schrieb sie, „wie klingt das ehrwürdig – und wie drollig ist es in Wirklichkeit. Die Würmer! Gott gebe, daß Hoheit wohler, wenn Du diese Zeilen erhältst. Lothar ist bereits mit den Durchlauchtigsten zur Tafel befohlen. Ich wollte, Claudine, wenn er denn einmal durchaus eine Prinzessin freien will, er machte die Sache klar. Dies lange Schmachten ist mir fremd an ihm, er ist doch sonst ein so resoluter Mensch. Vielleicht jetzt, wo die alte Durchlaucht abreisen will? Ach, Claudine, ich hatte mir meine Schwägerin einmal anders vorgestellt. Auf Wiedersehen!“

Trüben Auges legte Claudine den Brief bei Seite und öffnete mechanisch den zweiten. Welch eine grobe ungelenke Hand, und welche Idee! Claudine lächelte; sie sollte vom Herzoge erbitten, daß er einer armen Mutter den Sohn vom Militär freigebe? – Und auf einmal wurde sie leichenblaß. Mein Gott, was für ein Zeichen! Wie kam die alte Bäuerin auf sie?

Das war einer der Briefe, wie sie sonst an die Herzogin gelangten.

Sie warf stolz den schönen Kopf zurück. Lächerlich! Im Gehirn solcher Leute steigen mitunter wunderliche Blasen auf. Sie beschloß, den Brief der Herzogin zu zeigen; sie würde sich amüsiren.

Es lag doch wie ein schwerer Druck auf ihrer Brust; der dumme Brief war ihr wie ein feiner haarscharfer Nadelstich ins Herz gefahren.

Weshalb rief man sie denn nicht zu Ihrer Hoheit?


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 19, S. 309–312

[309] Es klopfte an der Thür, und das gutmüthige Gesicht der Frau von Katzenstein schaute herein. „Darf ich?‟ fragte sie, und gleich darauf stand sie vor Claudine. „Hoheit wachten so fröhlich auf,‟ erzählte sie. „Sie wollten selbst den Geburtstagstisch aufbauen. Sie nahmen das Frühstück im Bette ein und verboten noch extra, Sie, liebste Claudine, zu wecken, damit Sie ausschlafen könnten. Die Kammerfrau mußte für das Diner eine rothseidene Robe mit Krêmespitzen zurechtlegen, und nun –‟

„Ist Hoheit kränker? ‟ fragte athemlos Claudine und that einen Schritt nach der Thür.

[310] „Bleiben Sie, liebstes Kind, ich muß Ihnen noch weiter erzählen; die Herzogin bekam Briefe heute früh, und plötzlich – ich hatte die Kouverts aufgeschnitten – höre ich vom Nebenzimmer aus einen sonderbaren Ton, wie einen schweren Seufzer, und als ich zurückkomme, liegt die Herzogin wieder in den Kissen mit geschlossenen Augen. – Ich bemühte mich um sie, und da sagte Hoheit auf einmal mit eigenthümlich schwerer Zunge: ‚Gehen Sie hinaus, liebe Katzenstein, ich will allein sein‘– Ich ging widerstrebend, und als ich vorhin in meiner Angst hinein wollte, hatte die Herzogin sich eingeschlossen – etwas, was noch nie dagewesen ist. – Seine Hoheit hatten schon zweimal geschickt, um sich anzumelden, der Erbprinz vergeht vor Ungeduld; im Garten steht die Kapelle und wartet auf Befehl zum Beginnen des Ständchens, und noch rührt sich nichts in dem Zimmer der Herzogin.“

„Mein Gott, sie bekam doch keine schlimmen Nachrichten von ihrer Schwester?“

Die alte Hofdame zuckte die Schulterm „Wer kann es wissen?“

„Kommen Sie, liebste Frau von Katzenstein! Hoheit war gestern schon so sonderbar, so aufgeregt!“

Das schöne Mädchen mit dem sorgenvollen Gesicht stand an der kleinen Tapetenthür, die an das Schlafzimmer der Herzogin führte, und lauschte. Kein Ton zu hören. „Elisabeth!“ rief sie leise und angstvoll.

Dort innen wurde der Ruf gehört. Vor ihrem Bette knieete die Herzogin und hob den Kopf; ihre starren Augen wandten sich nach jener Richtung, aber ihre Lippen preßten sich nur noch fester auf einander. In der Hand hielt sie ein kleines, vielfach gebrochenes Billet. – Das Zweifeln, das Bangen war vorüber; mit der Gewißheit war Ruhe über sie gekommen, eine schreckliche starre Ruhe, und mit ihr der Stolz, der Stolz der königlichen Prinzessin, allgewaltig und stark. Niemand durfte es ahnen, wie arm sie geworden!

Nur diese kurze Rast noch, nur diese eine Stunde, um das todeswunde Herz zu beschwichtigen, zu betäuben! – Gönnte man ihr auch das nicht?

„Elisabeth!“ klang es wieder. „Um Gotteswillen, ich sterbe vor Angst!“

Die Herzogin erhob sich plötzlich. Sie trat einen Schritt auf die Thür zu, die Fäuste an die Schläfen gepreßt wie verzweifelt. Dann ging sie und öffnete.

„Was wollen – was willst Du?“ fragte sie kühl.

Claudine war eingetreten und blickte in zwei starre, glühende Augen, auf eine hoch aufgerichtete Gestalt. „Elisabeth,“ fragte sie leise, „was ist Dir? Bist Du krank?“

„Nein! – Rufe die Kammerfrau!“

„Kämpfe nicht so dagegen an, Elisabeth; lege Dich. Du siehst sterbend aus, Du bist leidend,“ stammelte Claudine, die furchtbare Veränderung gewahrend. Aus dem lächelnden Antlitz war eine starre Larve geworden.

„Rufe die Kammerfrau und bringe mir ein Licht!“

Claudine that schweigend, wie ihr befohlen. Die Herzogin hielt ein Papier in die Flamme; sie ließ es erst zur Erde fallen, als das Feuer um ihre schmalen durchsichtigen Finger spielte, und trat dann mit dem Fuße darauf.

„So!“ sagte sie, indem sie die Hand auf die Brust legte und tief Athem holte. Ein Zucken flog dabei über ihr Gesicht, als empfinde sie lebhaften körperlichen Schmerz.

Sie ließ sich ankleiden, aber sie befahl eine dunkle Toilette. Ihr Gesicht mit den zwei brennend rothen Flecken unter den Augen sah merkwürdig gelblich aus zu der dunklen heliotropfarbenen schlichten Robe. Sie ließ alles mit sich thun; als aber die Kammerfrau eine gelbliche Rose im Haar befestigte, riß die Herzogin ungestüm die Blume herunter und warf sie zur Erde.

„Rosen!“ sagte sie mit unbeschreiblicher Betonung. Wie in tiefen Gedanken stand sie dann vor dem Spiegel, Claudine etwas hinter ihr mit bekümmertem Ausdruck.

Endlich begann die Herzogin zu lachen. „Kennst Du das Sprichwort,“ fragte sie: „‚Alles verstehen, ist alles verzeihen‘?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, wandte sie sich an die Kammerfrau: „Melden Sie Seiner Hoheit, daß ich bereit bin.“

Sie winkte Claudine und schritt mit ihr durch das Boudoir in den rothen Salon. Das reiche Gemach war von Blumenduft erfüllt; auf einem Seitentisch hatte man die Geschenke geordnet, Spielsachen, Bücher, ein prachtvolles kleines Gewehr. In der Mitte des Tisches prangte im reich geschnitzten Rahmen eine Photographie der Herzogin. Sie nahm das Bild in die leise bebende Hand und heftete ihre Augen darauf, als sei es etwas Fremdes, nie Gesehenes. „Es ist entzückend ähnlich geworden, Hoheit,“ sagte Frau von Katzenstein, „Hoheit sehen so frisch daraus aus, so glücklich.“

„Es ist ein schlechtes Bild,“ erwiderte die Fürstin hart, „tragen Sie es fort; es ist unwahr, ich bin es nicht.“

Frau von Katzenstein warf Claudine einen verzweifelnden Blick zu im Hinausgehen.

In diesem Augenblick öffnete ein Lakai die Thür, und der Erbprinz kam herein, gefolgt von dem Herzog, der den jüngsten Prinzen auf dem Arme trug und den zweiten an der Hand führte. Jubelnd wollte der Prinz zu seiner Mutter hinüber, aber sein Schritt stockte, ebenso wie der Herzog stehen blieb und auf die Frauengestalt schaute, die dort so seltsam starr und fremd am Tische stand in dem dunklen nonnenhaften Kleide.

Sie sah ihrem Gemahl in die Augen, als wollte sie ihm bis auf den Grund der Seele schauen. Unten begann eben das Ständchen; durch das offene Fenster scholl es feierlich: „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren.“

Einen Augenblick schien es, als könne sie die Fassung nicht bewahren; sie schwankte und preßte ihr Gesicht in das Haar des Erbprinzen.

„Mama, gratulire mir doch!“ bat der Knabe ungeduldig; er durfte erst nach dem Handkuß zu seinen Gaben.

„Gott segne Dich!“ flüsterte sie und setzte sich in den Stuhl, den ihr der Herzog jetzt herzurollte.

Claudine hatte sich zurückgezogen, als dieser eingetreten war; sie mußte es thun, es war Familienfeier im engeren Kreise und niemand hatte sie gebeten zu bleiben. Sie stand im Nebenzimmer am Fenster. Das Jubeln der fürstlichen Kinder vermischte sich mit dem lustigen Marsch, der von unten herauf tönte. „Was, um Gotteswillen, war es mit der Herzogin?“ fragte sie bang.

„Die Großmama! Die Großmama!“ scholl es jauchzend. Ein freudiger Schreck durchfuhr das Mädchen, ihre geliebte verehrte Herrin, die immer Gütige war gekommen. Es zuckte ihr in den Füßen, sie hätte hinfliegen mögen, um ihr die Hand zu küssen. Und jetzt klang die milde Frauenstimme herüber; aber bebte sie nicht seltsam schmerzlich heute?

„Mein liebes Kind, meine gute Elisabeth, wie geht es Dir?“

Lange blieb es still dort drüben. Dann sprach dieselbe schmerzbebende Stimme: „Altenstein scheint Dir nicht gutgethan zu haben, Elisabeth; ich nehme Dich mit nach Bayern.“

„O, ich bin ganz gesund,“ erwiderte jetzt die Herzogin laut, „so gesund! Du glaubst nicht, Mama, was ich ertragen kann!“

Die lärmende Musik draußen verschlang die fernere Unterhaltung.

Claudine stand wie auf Kohlen. Fragte denn Ihre Hoheit nicht nach ihr? Sie wußte doch, daß sie bei der Herzogin weilte, sie hatte es ihr ja selbst geschrieben. Freilich, eine Antwort hatte sie nicht erhalten; es fiel ihr erst jetzt bedeutungsvoll auf. Jene unerklärliche Bangigkeit von heute früh kam wieder über sie.

Dort innen war es allmählich still geworden; die Herzogin-Mutter mochte sich entfernt haben, um nach der langen Fahrt zu ruhen; die Kinder waren in ihre Gemächer zurückgekehrt. Man hörte nur die Schritte Sr. Hoheit, der ungeduldig im Zimmer auf und ab ging.

„Claudine!“ rief die Herzogin. Sie wollte es ertragen lernen, die Beiden zusammen zu sehen. Und als die Gerufene erschien, blickte sie von ihr zu dem Herzog hinüber. Wie gut sie sich in der Gewalt hatten! Se. Hoheit streifte dieses schöne Mädchen kaum mit einem Blick.

Sie mußten sich brillant eingeübt haben im Verstellen! Ach nein, sie hatten so leichtes Spiel ihr, der vertrauenden gläubigen Thörin, gegenüber! Einen Moment kam eine brennende Eifersucht über sie; eine Lust, diejenige, die jetzt neben ihr stand, mit einem Schlage zu vernichten.

„Präsentiren Sie Sr. Hoheit jenes Glas Wein, Claudine,“ sagte sie. „Se. Hoheit vergaß, daß ich es ihm vorhin reichte.“

Claudine that, wie ihr geheißen.

[311] Die Herzogin hatte sich währenddem erhoben und war hinausgeschritten. Sie fürchtete in jenes verzweifelte Lachen auszubrechen, das sie zu ersticken drohte.

„Was ist’s mit der Herzogin?“ fragte der Herzog und runzelte die Stirn, indem er den Wein austrank.

„Hoheit, ich weiß es nicht!“ erwiderte Claudine.

„Gehen Sie der Herzogin nach!“ sagte er kurz.

„Ihre Hoheit befinden sich im Schlafzimmer und wollen nicht gestört sein und wünschen, Fräulein von Gerold in einer Stunde im grünen Salon zu sehen,“ berichtete die Kammerfrau, die eben eintrat.

Claudine schritt zu einer andern Thür hinaus und begab sich nach ihrem Zimmer.

Im Schlafgemach der fürstlichen Frau waren die Vorhänge hernieder gelassen, und in dieser Dämmerung lag die Herzogin auf ihrem Ruhebette. Sie wußte Claudine mit ihm allein. – Jetzt würde er ihr die Hand küssen und sie an sich ziehen, ihr sagen: „Ertrage die Launen, mein Lieb; sie ist eine kranke Frau, ertrage sie meinetwegen!“

Und in beider Augen würde die Hoffnung schimmern auf eine bessere Zukunft, dann – wenn da unten im Gewölbe der Schloßkirche ein neuer Sarg –

Sie schauerte nicht bei diesem Gedanken, sie lächelte nur; es ist ja gut, daß man weiß, es kommt ein Ende! Ach, wieviel verschwiegenes bitteres Leid mochte sich schon zur Ruhe gelegt haben mit denen, die in den Sarkophagen dort unten schliefen!

„Es ist so tröstlich, daß es ein ‚Vergessen‘ giebt und schlaf – wenn es nur nicht so lange mehr dauert, dies Wachen, das man Leben heißt!“

Sie empfand etwas von dem vorwurfsvollen Empfinden, das einen feinfühligen Menschen ergreift, wenn er glauben muß, die Geduld anderer gar zu lange in Anspruch zu nehmen, und es doch nicht ändern kann. Dabei dieser Druck auf der Brust; es war so schwer, das Athmen.

„Wenn nur die Kinder nicht wären!“

Nun, sie würden die kränkelnde leidende Mutter kaum vermissen und – es sind ja Buben. Wie gut das ist! Keine arme beklagenswerte Prinzessin!

Ach, und da draußen die Welt! Ob man es dort wußte? Ob man lächelte und flüsterte über die verrathene Frau, welche die Geliebte ihres Mannes für eine Freundin hielt? – Sie stöhnte schmerzlich auf; der Druck auf der Brust wurde immer schwerer.

Und wieder stand sie auf, die Hände über der Brust gefaltet, und irrte im Zimmer umher. Es blieb ihr nichts übrig, als stolz zu sein, stolz und nachsichtig.

Wäre der Tag erst vorüber! Wäre die Nacht da, wo sie allein sein und weinen durfte!

Unten rollten Wagen in den Hof; auf dem Korridor erklangen Schritte geschäftiger Diener, Schleppen rauschten; die Gäste verfügten sich nach dem Salon vor dem alten Geroldschen Banketsaal, der in einem Zwischenbau lag, welcher die beiden Flügel des Schlosses verband.

Auch Claudine, die in ihrem Zimmer regungslos in einem Fauteuil saß, hörte es. Sie wandte bei jedem Tritt ihr Haupt, und wenn er vorüberging, lief eine flüchtige Röthe über ihr Gesicht. Warum befahl die Herzogin-Mutter sie nicht? Warum kam nicht wenigstens Fräulein von Böhlen, ihre Nachfolgerin bei der alten Hoheit, sie zu begrüßen? Es war doch Usance, daß die Damen sich besuchten. Und bei Frau von Katzenstein hatte die blasse, gelangweilt aussehende junge Dame mit dem röthlich blonden Haar und den unzähligen Sommersprossen schon vor einer halben Stunde angeklopft.

Vor ihr auf dem Tischchen lag die Uhr. Um dreiviertel auf Zwei mußte sie hinübergehen nach dem grünen Salon, wo die Herzogin sie erwartete, um dieselbe von dort zu den Gästen zu begleiten. Sie hatte ihre Toilette gewechselt; sie trug eine kurze Sommerrobe, welche die Herzogin ihr vor ein paar Tagen geschenkt hatte, blaßblauer seidener Foulard mit weißen Spitzen garnirt, und den dazu gehörigen Silberschmuck in Form von Edelweißblüthen als Brosche und Haarnadel. Der Fächer aus blauen Straußfedern lag neben den langen gelblichen Handschuhen. Zögernd ergriff sie die letzteren und streifte sie über; es war Zeit zum Gehen.

Auf dem Korridor traf Claudine mit Fräulein von Böhlen zusammen, die augenscheinlich in das Zimmer ihrer Gebieterin wollte. Die Damen kannten sich von den Hoffestlichkeiten her; Fräulein von Böhlen war namentlich oft bei der Herzogin-Mutter im kleinen Cercle gewesen. Ihr Vater, ehedem Kammerherr des verstorbenen Herzogs, hatte sich durch allerlei Intriguen bei dem Nachfolger mißliebig zu machen gewußt und sich in das Privatleben zurückziehen müssen unter keineswegs glänzenden Verhältnissen. Die alte Hoheit unterstützte die Familie, die sich tief gekränkt glaubte. Ihr immer zur Milde geneigter Sinn vergab und vergalt die Unannehmlichkeiten, die ihrem Hause zugefügt waren, indem sie die Tochter an Claudinens Stelle berief.

Fräulein von Böhlens rothblonder Kopf war vermutlich von einer Art Krampf in den Nacken zurückgezogen; sie schien ihn mit aller Gewalt nicht zu einem Gruß beugen zu können. Claudine, die in ihrer vornehmen stillfreundlichen Art ihr die Hand entgegen reichte, stand plötzlich allein. Die etwas zerdrückte krêmefarbige Schleppe der jungen Dame war ohne Aufenthalt an ihr vorübergerauscht und verschwand in einer der hohen altersbraunen Flügeltüren am Ende des Korridors.

Gelassen wandte sich Claudine und trat in das kleine Vorzimmer zu den Gemächern der Herzogin. Frau von Katzenstein machte ein so komisches Gesicht, so gutmütig, mitleidig und so verlegen.

„Hoheit hat noch kein Lebenszeichen von sich gegeben,“ stotterte sie, dann ward sie still – die Herzogin war auf die Schwelle getreten. Ihr erster Blick streifte die Freundin; Claudine sah vielleicht nie schöner aus, als in diesem leichten mädchenhaften Kostüm.

Die Herzogin neigte leise den Kopf und schritt durch das Gemach der gegenüberliegenden Thür zu; man vernahm dort innen die gedämpfte Stimme des Herzogs und das kalte Organ der Prinzeß Thekla.

Die Herzogin war stehengeblieben. „Gieb mir Deinen Arm, Claudine,“ sagte sie dann fast heiser, und so traten sie neben einander unter der rothen Portière hervor, welche die Lakaien zurückrafften, gefolgt von Frau von Katzenstein. In dem Salon, wo ungefähr zwanzig Personen sich befanden, herrschte momentan eine lautlose Stille.

War das noch die Herzogin?

Eine kleine zierliche Gestalt, dort hinter den Fächerpalmen halb verborgen, griff wie nach Halt suchend in den Purpursammet der Gardine; die zitternden Kniee versagten fast den Dienst bei der tiefen graziösen Verbeugung. Prinzeß Helene trat ein paar Schritt vor auf den Wink der Mutter; aber ihr dunkler Kopf senkte sich vergeblich, der Kuß der fürstlichen Kousine unterblieb heute.

Man setzte sich nicht. Plaudernd stand man umher. Baron Gerolds Augen hingen an Claudine; der Arm der Herzogin lag noch immer in dem des Mädchens. Ihre Augen waren auf die Mittelthür gerichtet, und jetzt ging die Röthe der Freude über ihr schönes Gesicht – die Herzogin-Mutter war eingetreten.

Auf diesem gefurchten gütigen Antlitz, unter dem silberweißen Scheitel, lag heute etwas ungewöhnlich Hartes. Aber Claudine sah es nicht. Auf des Mädchens Arm gestützt schritt die Herzogin ihrer Schwiegermutter entgegen und beugte sich auf die Hand der alten Dame nieder, während Claudine sich tief verneigte. Die Augen des jungen Mädchens sahen erwartungsvoll freudig in das Antlitz der fürstlichen Greisin.

„Ah, Fräulein von Gerold, ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen; sagten Sie mir nicht, daß Sie Ihrem Bruder unentbehrlich seien?“

Die alte Dame hatte die Hände fest über einander gelegt; bei den letzten Worten sah sie zu Frau von Katzenstein hinüber, als wäre Claudine nicht anwesend.

Stolz trat Claudine zurück, und einen einzigen Moment trafen ihre Blicke die des Vetters. Athemlos still war es, nur die alte, jetzt so milde Frauenstimme sprach freundlich weiter mit der „lieben“ Katzenstein.

Claudine sah sich nicht um; es war ein lähmendes Entsetzen über sie gekommen; sie wußte auch nicht, wie ihre Füße sie zu der Herzogin hinüber trugen; sie wollte sprechen, aber in diesem Augenblick wurden die Thüren geöffnet; der Erbprinz, der heute die Ehre hatte, seine Großmama zur Tafel zu geleiten, trat feierlich vor die alte Dame mit seiner kleinen Person, und schon im nächsten Moment rauschte die silbergraue Schleppe der durchlauchtigsten Mutter über den Teppich.

[312] „Gestatten Hoheit, daß ich mich zurückziehe,“ stammelte Claudine zu der Herzogin gewendet, „meine heftigen Kopfschmerzen –“

Einen Augenblick regte es sich in dem Herzen der unglücklichen Frau wie Mitleid mit dem Mädchen, dessen geisterhaft blasse Züge eine furchtbare Gemüthserregung verriethen.

„Nein!“ erwiderte sie flüsternd, denn eben kam Se. Hoheit herüber. „Ich selbst bin krank und kämpfe – kommen auch Sie –“

Claudine schritt mit den Andern den Korridor hinab und trat neben Lothar hinter den Herrschaften in den Empfangssalon. Die Hoheiten begrüßten ihre Gäste, der Erbprinz nahm Glückwünsche entgegen, dann öffneten sich die Thüren zum Speisesaal. Claudine fand ihren Platz Lothar gegenüber. Sie hatte keine klare Vorstellung, wie das Diner vorüberging; sie antwortete wohl auf die Fragen ihres Nachbarn; sie aß, sie trank, aber es war wie im Traume, völlig automatenhaft; Prinzeß Helene, neben Baron Lothar, sprach auffallend hastig und saß dann wieder stumm; zuweilen schauten ihre schwarzen funkelnden Augen zu Claudine hinüber, während sie mit dem Dessertlöffelchen spielte. Und wenn die seltsam abwesenden Blicke Claudinens sie trafen, so ward sie roth und fiel in ihre gezwungene Lebhaftigkeit zurück.

Und wie es kam – wer mag es ergründen? es schwebte in der Luft, es perlte in den Champagnerkelchen; es sagten sich’s Blicke und Mienen ohne Worte, ein Jeder an der schimmernden Tafel wußte es: dort oben in den fürstlichen Gemächern war etwas vorgefallen, die Herzogin-Mutter war gekommen, um dazwischen zu fahren. Mit dieser idealen Freundschaft hatte es ein Ende, die schöne Gerold saß dort zum letzten Male.

Es lag wie lähmend auf allen diesen anscheinend so fröhlich plaudernden Menschen, gleich einem Gewitter, dessen Ausbruch jeder herbeisehnt und doch fürchtet. Se. Hoheit schien merkwürdig gereizt; kein Wunder – die Herzogin sah, ganz gegen ihre Gewohnheit, roth aus; sie fuhr sich oft mit dem Tuch über die Stirn und trank eisgekühltes Wasser.

Endlich, endlich erhob sich die Herzogin; die Tafel war zu Ende und im anstoßenden Salon ward der Kaffee präsentirt.

„Ihre Hoheit hat sich zurückgezogen und wünscht Sie zu sprechen,“ flüsterte Frau von Katzenstein Claudine zu.

Das Mädchen flog die Stufen empor und den Korridor entlang. Nur Gewißheit wollte sie – was hatte sie denn gethan, verbrochen? Und doch verfolgte sie schon eine entsetzliche Ahnung.

Die Herzogin saß auf ihrer Chaiselongue den Kopf gegen die Lehne gestützt.

„Ich will Dich fragen,‟ begann sie mit verzerrtem Gesicht – dann schrie sie auf. „Jesus – ich – Claudine!“ und ein Blutstrom ergoß sich aus ihrem Munde.

Das junge Mädchen hielt sie in ihren Armen; sie zitterte nicht, sie sprach kein Wort, während die Kammerfrau fortstürzte, um Hilfe zu holen. Der Kopf der Herzogin lag an ihrer Brust, sie war völlig bewußtlos.

In der nächsten Minute erschien der Arzt, der Herzog und die alte Herzogin. Die Kranke wurde aufs Bett getragen; die ganze fieberhafte leise Thätigkeit begann, wie in solchen Fällen zu geschehen pflegt. Claudine mit ihrem vor Schreck entstellten Gesicht, mit ihrem blutbefleckten Kleide stand unbeachtet dort; so oft sie auch die Hand ausstreckte zu helfen, niemand beachtete es, niemand schien es zu bemerken.

„Ist irgend etwas geschehen, was Ihre Hoheit beunruhigte?“ fragte der Arzt.

Der Herzog wies auf Claudine. „Fräulein von Gerold, Sie waren zuletzt bei ihr; wissen Sie –“

„Ich ahne es nicht,“ antwortete sie.

In diesem Augenblick traf der Blick der alten Herzogin das Mädchen, streng und feindlich. Sie hielt ihn aus, diesen Blick; sie senkte nicht schuldbewußt das Haupt. „Ich weiß nichts!“ wiederholte sie noch einmal.

Dort unten begann das Konzert. Der Herzog verließ hastig das Krankenzimmer, um den Fortgang des Konzertes zu verbieten – da stand er Prinzeß Helene gegenüber. Sie war noch athemlos vor raschem Lauf; sie war im Garten gewesen, als man ihr die Schreckenskunde zuraunte. Ihre angstvollen Augen sprachen deutlicher, als Worte es vermochten.

„Hoheit,“ sagte der Arzt, der dem Herzog gefolgt war, „es wäre besser, nach H. zu telegraphiren an Professor Thalheim; Ihre Hoheit sind sehr schwach.“

Der Herzog sah ihn groß an; er war bleich geworden.

„Nicht sterben! Um Gotteswillen nicht!“ flüsterte Prinzeß Helene, „nur das nicht!“

Und entsetzt wich sie zurück, als Claudine heraustrat mit blutbeflecktem Kleide.

In ihrem Zimmer traf Claudine Beate.

„Herr Gott, wie schrecklich!“ rief das resolute Mädchen; „paß auf, Schatz, nun ist unser Fest schuld daran.“

„Ach nein“ sagte das Mädchen leise beim Ablegen der Kleider.

„Aengstige Dich nicht so, Claudine; Du siehst ja entsetzlich aus! Dort unten“ fuhr Beate fort, „stiebt alles aus einander. Ich habe die Kinderfrau mit Leonie und Elisabeth tiefer in den Park hineingeschickt. Hier vorn stehen nur noch einige Gruppen, die natürlich erörtern wollen: wieso? woher? – Die Prinzen sind in ihrem Zimmer, der Erbprinz weint zum Gotterbarmen. Wer hätte das auch gedacht!“

„Willst Du so freundlich sein und mich in Deinem Wagen mitnehmen?“ fragte Claudine.

Beate, die ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte, wandte sich hastig um. „Du willst doch jetzt nicht fort, Claudine? Das kannst Du nicht!“

„Doch, ich kann, ich will –“

„Ihre Hoheit wünscht Fräulein von Gerold zu sprechen,“ flüsterte die Kammerfrau durch die Thür.

„Nun, siehst Du, Claudine, Du kannst nicht fort,“ sagte Beate mit unverkennbarer Genugthuung und band die blaßgelbe Schleife ihres Hutes.

In der Krankenstube war es still und dunkel; man hatte alle entfernt; nur im Vorzimmer ging der Herzog mit unhörbaren Schritten auf und ab. Claudine saß auf einem Stuhl zu Füßen des Lagers, wohin eine Handbewegung der Kranken sie gewiesen; mit schwachem Flüstern hatte dieselbe sie gebeten, hier zu bleiben, weil sie etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen habe.

Unten in dem Zimmer des Erbprinzen hockte Prinzeß Helene neben dem schlanken Jungen auf dem Teppich; sie weinte nicht, sie hatte nur die Hände gefaltet, als ob sie bete oder jemand um Verzeihung bitten wollte. Prinzeß Thekla befand sich in den Gemächern der Herzogin-Mutter. Die alte Dame saß völlig erschüttert in einem der tiefen Lehnsessel, die noch das Geroldsche Wappen trugen; sie hörte kaum auf das, was Ihre Durchlaucht mit leiser Stimme vortrug; sie war entsetzt, in welchem Zustande sie „die Liesel“ gefunden.

„Ja, derartige Gemütsbewegungen –“ seufzte die alte Prinzessin „es ist auch kaum zu fassen; sie ist eine Intrigantin, diese sanfte Claudine.“

„Meine liebe Kousine,“ erwiderte die greise Herzogin; „es ist eine alte Erfahrung, den Mann trifft stets die größere Hälfte der Schuld in solchen Fällen – vergessen wir das nicht, bitte!“

„Aber warum duldet man sie noch länger hier?“ ereiferte sich die durch diese Antwort gereizte Prinzessin, deren gelblicher Teint noch um eine Schattirung dunkler ward.

„Wollen Sie sich gefälligst erinnern, daß Se. Hoheit hier allein befiehlt, ma chére?“

„Allerdings – Pardon – aber es ist sonderbar, wenn man denkt –“

„Ja – aber es giebt Fälle, wo man besser thut, man denkt nicht, Kousine,“ klang seufzend die Antwort.

„Baron Gerold bittet um die Gnade, Ihre Hoheit in einer wichtigen Angelegenheit sprechen zu dürfen,“ meldete Fräulein von Böhlen.

Die alte Hoheit bejahte augenblicklich. Im nächsten Augenblick bereits stand Lothar im Gemach. Prinzeß Thekla lächelte ihm liebenswürdig zu und erhob sich. „Eine geheime Audienz? Gestatten Hoheit?“

„Es würde Ew. Durchlaucht Gegenwart in keiner Weise hinderlich sein, meine Bitte zu Füßen Ihrer Hoheit zu legen; um so weniger, als Durchlaucht sicher ein gewisses Interesse an diesem meinem Anliegen nehmen werden.“

Die alte Hoheit warf einen forschenden Blick unter ihrem Blondenhäubchen hervor. „Sprechen Sie, Gerold,“ sagte sie.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 20, S. 325–330

[325] Fräulein von Böhlen, die sich langsam zurückzog, wußte aus der müden Art ihrer sonst so rathbereiten liebenswürdigen Gebieterin, daß ihre Gedanken sich nur ungern von dem Krankenbette der Herzogin losrissen. Die junge Dame verneigte sich mit der bedauerlichen wehmütigen Miene, die sie schon seit längerer Zeit zur Schau trug, schon von dem Tage an, wo sie ihre Gebieterin einmal mit in Thränen schwimmenden Augen gesehen hatte. Und doch war sie innerlich sehr gehobener Stimmung; die geheime Angst, Claudine würde eines Tages in ihre alte Stellung zurückkehren und sie genötigt werden, wiederum in die mißmuthige Häuslichkeit daheim zu wandern, quälte sie nicht mehr; denn niemals würde die sittenstrenge Herzogin-Mutter wieder nach jener verlangen, die mit kecker Hand an den heiligsten Banden gerüttelt, den Frieden ihres Hauses getrübt. Sie lächelte, wie sie jetzt allein war, und ihre Gedanken flogen in die Zukunft, während sie, am Fenster stehend, über den sonnenbeglänzten Garten schaute. Was kümmerte sie der Schmerz und die Qual anderer? Sie empfand nur eins; sie würde nicht mehr um jeden Pfennig zu Hause keifen hören, sie würde nicht mehr mit stolz nachlässiger Miene an den Kaufläden vorüberzugehen brauchen, wo man ellenlange Rechnungen schuldig war und sich jede Woche mahnen lassen mußte; sie durfte nie mehr ihre Handschuhe mit Benzin waschen; sie hörte nicht mehr, wie das Dienstmädchen sich bei der gnädigen Mama beklagte, daß sie hungern müsse. Sie stand jetzt fest und sicher in der angenehmen Position einer Hofdame und Claudine von Gerold, die „reizende unvergeßliche Claudine“, deren Hand so sanft „wie die einer Tochter“ – war unmöglich geworden! Was wollte denn das hochmüthige Geschöpf noch mehr? Sie hatte einen mächtigen Beschützer gefunden! Fräulein von Böhlen wurde plötzlich roth – sie hätte [326] gern getauscht mit Claudine Gerold. – Dort innen in dem Gemache der Herzogin-Mutter war es still. Einigemale nur erhob sich des Barons Stimme, dann ein schrilles helles Lachen der Prinzeß Thekla, und im nächsten Augenblick stand die hagere, von fliederfarbener Seide umrauschte Gestalt Ihrer Durchlaucht vor der erschreckten Hofdame.

„Prinzeß Helene! Suchen Sie die Prinzessin!“ stieß sie mühsam hervor, und die Stäbe ihres Elfenbeinfächers klappten an einander, als schüttele die Hand, die sie hielt, das Fieber.

Fräulein von Böhlen flog davon; athemlos kam die Prinzessin herauf.

„Wir fahren nach Neuhaus! Wo ist die Komtesse?“ schallte es ihr entgegen.

„Um Gotteswillen, Mama, was ist geschehen?“ Prinzessin Helene kannte so gut die Stimmung, die sich auf dem Gesichte der alten Durchlaucht abspiegelte.

„Komm!“ war die Antwort.

„Nein Mama – liebste Mama, laß mich hier – ich halte es vor Angst in Neuhaus nicht aus!“ flehte die Prinzessin.

„Wer sagt Dir, daß Du es aushalten sollst? Wir gehen heut Abend mit dem Schnellzuge nach Berlin. Komm!“

„Nein, ich kann nicht!“ klang es zurück von den blassen Lippen. „Zwinge mich nicht, ich laufe Dir unterwegs davon – ich kann nicht fort von hier!“

Die alte Dame übermannte der Zorn; sie ergriff mit ihren knöchernen Händen den zierlichen Arm. „En avant! Wir haben nichts mehr hier zu thun!“ zischte sie.

Aber die Prinzessin Tochter riß sich los. „Ich thue, was meine Pflicht ist!“ rief sie außer sich und floh aus dem Zimmer. Als die alte Dame ihr nacheilte, war es, als hätte die Luft die weiße Gestalt aufgesogen, so still und verlassen lag der Korridor.

Prinzessin Thekla fuhr mit Komtesse Moorsleben allein nach Neuhaus. Vor ihnen rollte der Wagen mit Beate und den Kindern. Das Jauchzen ihrer kleinen Enkelin scholl bis zu ihr hinüber.

Die Komtesse stand dann mit blassem Gesicht vor Frau von Berg, die eiligst herbeigekommen. Das junge Mädchen war außer sich über die Behandlung, die Ihre Durchlaucht während der Fahrt ihr hatte angedeihen lassen.

„O, ich reiste am liebsten auf der Stelle zu Mama!“ rief sie; „was kann ich dafür, daß königliche Hoheit einen Blutsturz bekam?“

Frau von Berg lächelte noch immer, aber sie war plötzlich blaß geworden. „Einen Blutsturz?“ fragte sie.

„Ja, und zwar recht schlimm. Sie haben nach H. telegraphirt.“

„Und Prinzeß Helene?“

„Sie wollte nicht mit; sie thut, als möchte sie sich am liebsten auf die Schwelle des Krankenzimmers legen.“

„Und wo ist der Baron?“

„Bei Ihrer Hoheit der Herzogin-Mutter; wenigstens war er da, als wir wegfuhren. Die Böhlen sagte, er habe um eine Unterredung bitten lassen bei der alten Hoheit.“

„Nun, und Fräulein von Gerold?“

Die hübsche Komtesse zuckte die Achseln. „in aller Leute Mund,“ erwiderte sie. „Sie thut mir leid. – Man sagt, die Herzogin habe die Untreue ihres Gatten entdeckt; Seine Hoheit sieht aus, als wolle er die Welt in Brand stecken.“

„Mein Gott, einmal mußte doch dieser Skandal zum Klappen kommen,“ sagte Frau von Berg achselzuckend. „Aber wo in aller Welt ist sie denn nun? Sitzt sie im Thurm des Eulenhauses und lugt erwartungsvoll nach Altenstein hinüber – oder – ist sie in den Schloßteich gelaufen, die stolze Claudine?“

Komtesse Moorsleben sah in das Antlitz, das so wenig seine Genugthuung zu verbergen verstand; die wilde Freude flackerte nur so aus den schwarzen Augen. Freude an einer überführten Uebelthäterin war das nicht; Frau von Berg hatte ja auch so wenig Grund, sich zu den Gerechten zu zählen.

„Gnädige Frau,“ sagte die niedliche Komtesse boshaft, „ich habe mich schon den ganzen Morgen besonnen – von wem ist das Wort: ,Wer im Glashause sitzt, soll nicht mit Steinen werfen‘?“

„Ich fragte Sie, Komtesse, wo Fräulein von Gerold geblieben ist nach dem eklatanten Beweis von Ungnade?“ betonte die Dame zornesroth.

„Ich verstehe Sie nicht, liebe Frau von Berg,“ antwortete die Komtesse so sanft, als ihr möglich war. „Sie wissen mehr als ich – Ungnade? Eklatant? – Fräulein von Gerold sitzt am Krankenbette Ihrer Hoheit.“

Frau von Berg schnappte nach Luft und rauschte in das Zimmer Ihrer Durchlaucht, von wo soeben ein wahres Sturmgeläute ertönte.




Die Herzogin schlief; im ganzen großen Gebäude herrschte eine Todesstille.

In dem Zimmer des Rittmeisters von Rinkleben saß Baron Gerold; er hatte den liebenswürdigen Officier gebeten, sich hier aufhalten zu dürfen, er wolle die nächste Nachricht von dem Befinden Ihrer Hoheit abwarten. Er hatte auch die dargebotene Havanna angezündet, aber er rauchte meistens kalt; er hatte ein Buch genommen, aber ihm fehlte die Ruhe zum Lesen. Eine finstere Sorge lag über seinem Gesichte und eine qualvolle Unruhe ließ ihn unaufhörlich hin und her wandern.

Herr von Palmer hatte seine Stube verriegelt, er befand sich in der denkbar schlechtesten Laune. Ein netter Tag, der heutige, wahrhaftig! – Als er diesen Morgen zum Vortrag über eine unumgänglich nothwendige bauliche Veränderung des Residenzschlosses in das Arbeitskabinett Seiner Hoheit trat, war ihm der Herzog mit einer ziemlich verwunderten Miene und einem offenen Briefe entgegengekommen. Es war ein vertrauliches Schreiben des Prinzen Leopold, seines Vetters, und enthielt die Frage, wie es zugehe, daß das Hofmarschallamt seit nahezu drei Jahren der Firma C. Schmidt in R. am Rhein keinerlei Zahlung mehr geleistet habe. Der Chef der Firma habe nun des Prinzen Vermittlung erbeten, da auf direkte Anfragen zwar stets neue Bestellungen, aber immer nur ausweichende Antworten betreffs der Rückstände eingetroffen seien. Ja, in dem letzten Schreiben sei mitgetheilt, daß bei fernerem Drängen die Lieferungen dem Hause entzogen werden würden. – Herr von Palmer hatte gelächelt und gesagt, es liege ein grobes Mißverständniß vor, Seine Hoheit aber energisch den Wunsch ausgesprochen, diese Angelegenheit so bald als möglich und bestens geordnet zu sehen.

Es war sehr unangenehm, sehr! Als ob solch Krämerpack nicht borgen müßte bis in alle Ewigkeit, wenigstens so lange – bis Herr von Palmer nach einigen Jahren in der Lage sein würde, mit aller Ruhe irgendwohin abzureisen! Es war doch ein Trost, diese Berg zur Seite zu haben; wie brillant hatte sie dieses „Unmöglichmachen“ in Scene gesetzt am Geburtstage des Prinzen! Die alte Herzogin hatte Claudine fallen lassen, das war so unbezahlbar! Der Mutter gegenüber würde selbst Seine Hoheit nicht den Muth finden, dieses Schäferspiel weiter zu agiren. Wundervoll! Ganz wundervoll! –

Durch das hohe breite Fenster im Schlafzimmer der Herzogin fielen die letzten Strahlen der scheidenden Sonne.

„Claudine!“ flüsterte eine matte Stimme.

Das Mädchen, das in tiefen schweren Gedanken gesessen, erhob sich und knieete neben dem Bette der Kranken. „Wie geht es Dir, Elisabeth?“ fragte sie.

„O – es geht – es geht besser; ich fühle, daß das Ende kommt –“

„Elisabeth, sprich nicht so!“

„Ist jemand hier, der uns hören könnte?“ fragte die Herzogin.

„Nein, Elisabeth, Seine Hoheit ist hinunter gegangen zu den kleinen Prinzen, die Kammerfrau ist im Nebenzimmer, die Frau von Katzenstein bei der Herzogin-Mutter und die Diakonissin schläft dort über ihrem Gebetbuch.“

Die Kranke lag ganz still und folgte mit den Augen dem glühendrothen Sonnenfleck auf dem Bilde der Madonna, der unmerklich höher und höher glitt, zuletzt noch auf dem Blattweck des Goldrahmens funkelte und dann erlosch.

„Warum hattest Du kein Vertrauen zu mir?“ fragte sie plötzlich mit trauriger Stimme, „warum sagst Du mir nicht offen alles, alles?“

„Elisabeth – ich hatte Dir nichts zu verbergen.“

„Lüge nicht, Claudine!“ rief die Herzogin feierlich, „einer Sterbenden soll man nicht lügen!“

Claudine hob stolz den Kopf. „Ich habe Dich nie belogen, Elisabeth.“

[327] Ein bitteres Lächeln flog über das bleiche abgezehrte Gesicht der Kranken.

„Du hast mich belogen mit jedem Blick!“ sagte sie entsetzlich klar und kalt, „denn Du liebst meinen Gatten.“

Ein wahrer Aufschrei unterbrach sie, und schwer lag Claudinens Kopf auf der rothen Seidendecke des Krankenbettes. Was sie gefürchtet, was sie bis zur Gewißheit gefühlt – das sagte ihr jetzt der Mund der Frau, die sie so treu, so innig liebte.

„Ich mache Dir ja keinen Vorwurf, Claudine – ich will nur, daß Du mir versprichst, nach meinem Tode –“

„Barmherziger Gott!“ stöhnte das Mädchen und richtete sich wild empor. „Wer hat dieses entsetzliche Mißtrauen in Dir geweckt?“

„Mißtrauen? Wenn Du noch fragtest: wer öffnete Dir die Augen, um die entsetzliche Wahrheit zu erkennen? Und er – liebt Dich – er liebt Dich!“ flüsterte die Herzogin weiter. „Ach Gott, es ist ja so natürlich!“

„Nein! Nein!“ rief Claudine außer sich und rang die Hände.

„Ach – schweige doch,“ bat die Kranke müde; „oder laß uns ruhig sprechen; ich habe noch so viel zu sagen.“

Claudine war aufgestanden, ihr schwindelte. Was sollte sie thun, um zu beweisen, daß sie unschuldig sei?

Auf den Wangen der Kranken schimmerte es wieder so roth, sie athmete so schwer.

„Elisabeth, nur dieses eine Mal noch glaube mir, vertraue wir,“ flehte das Mädchen.

Die Kranke richtete sich plötzlich auf.

„Kannst Du schwören,“ fragte sie ruhig, „kannst Du schwören, daß nie zwischen Dir und dem Herzog von Liebe die Rede war? – Schwöre es, schwöre es bei dem Andenken an Deine Mutter , und wenn Du das kannst im Angesicht meines letzten Lagers – so will ich Dir glauben, daß meine eigenen Augen falsch gesehen haben!“

Claudine stand wie leblos. Ihre Lippen bewegten sich zum Sprechen, aber es kam kein Ton heraus, und plötzlich neigte sie den Kopf wie vernichtet.

Die Herzogin sank in die Kissen zurück. „Den Muth hast Du doch nicht!“ murmelte sie.

„Elisabeth,“ rief Claudine jetzt, „glaube mir! Glaube mir! Mein Gott, was soll ich nur thun, daß Du mir noch einmal glaubst! Ich wiederhole es Dir, Du bist im Irrthum –“

„Sei still,“ sagte die Herzogin mit verächtlichem Lächeln.

Seine Hoheit war eingetreten. „Wie geht es Dir, Liesel?“ fragte er herzlich und beugte sich über sie, indem er ihr das feuchte Haar aus der Stirn zu streichen versuchte.

„Fasse mich nicht an!“ stieß sie hervor und ihre Augen wurden angstvoll groß. „Es ist ja bald vorbei,“ flüsterte sie dann.

Claudine lehnte fassungslos an der Thür; der Herzog trat zu ihr und fragte leise und besorgt. „Phantasirt Ihre Hoheit?“

Claudine, der Verzweiflung die Brust zu zersprengen drohte, preßte den schluchzenden Schrei, der sich ihr entringen wollte, mit dem Tuch zurück und wankte in das Nebenzimmer.

Er folgte ihr ängstlich. „Was ist geschehen?“

Die Augen der Kranken richteten sich auf die Thür, durch welche jene beiden verschwunden waren. Der ganze furchtbare, gewaltsam zurückgedrängte Schmerz durchrüttelte sie und verwirrte ihre armen Gedanken. Sie lag mit geballten Fäusten und glühenden Augen. Wie, nicht einmal der Sterbenden wollte sie bekennen? Und sie hatte es so gut gemeint – sie wollte in ihrem letzten Willen bestimmen, daß sie sich angehören sollten, die beiden, für das Leben. Das sollte die Rache sein für ihr gebrochenes Glück. Und sie, sie – welch ein Abgrund von Schlechtigkeit wußte dieses Geschöpf in sich bergen, das auch jetzt noch den Himmel anrief als Zeugen seiner Unschuld!

Eine wahnsinnige, erstickende Angst legte sich auf ihre schmerzende Brust. Ihr Gemahl kam eben wieder herein; er trat an das Fußende des Bettes und blickte sie seltsam forschend an. Claudine, die sich gewaltsam gefaßt hatte, trug ein Glas in der Hand. „Trinke, Elisabeth,“ bat sie, während sie sich niederbeugte und ihren Arm unter den Kopf der Kranken schob. „Trinke, Dir ist so heiß – es sind die Tropfen, die Dir immer so gut bekommen.“

Bewegungslos lag die Herzogin mit fest zusammengepreßten Lippen. Ihre großen Augen hingen mit unheimlicher Starrheit an dem blassen Gesicht des Mädchens und wanderten dann zu ihrem Gatten hinüber. Das Glas in Claudinens Hand begann zu zittern. „O, trinke doch!“ bat sie mit versagender Stimme.

Dann ein schriller Aufschrei, und das Glas ward aus Claudinens Hand geschleudert.

„Gift!“ schrie die Herzogin gellend und saß im Bette hoch mit dem Ausdruck einer Wahnwitzigen, die Hände verzweiflungsvoll ausgestreckt. „Gift! Hilfe! – Geht es Euch denn noch nicht schnell genug?“

Dann sank sie erschöpft zurück und ein erneuter Blutstrahl überschwemmte das weiße Gewand und das Bett.

Claudine, die in die Kniee gesunken war, sprang empor; auch sie sah aus wie eine Irrsinnige. Mit übermenschlicher Kraft nahm sie sich zusammen, ging zur Glocke und half dann die Kranke emporrichten und an die Brust des Herzogs lehnen, in dessen bleichem Gesicht eine tiefe Erschütterung sich ausprägte.

„Liesel,“ murmelte er, „aber Liesel – großer Gott! –“

Sie lag mit geschlossenen Augen wie eine Sterbende.

Und nun ward es lebendig im Zimmer. Mit besorgter Miene stand der alte Medizinalrath vor der Patientin; dann sah er nach der Uhr, fühlte den matten Pulsschlag und schüttelte den Kopf. „Um neun Uhr kann er hier sein, Hoheit,“ flüsterte er der weinenden Herzogin-Mutter zu, „doch – bis dahin – nur Ruhe jetzt, Ruhe, keine Angst zeigen. Es ist am besten, Hoheit bleiben in der gewohnten Umgebung; ich werde mich einstweilen im Nebenzimmer aufhalten.“

„Claudine!“ flüsterte die Kranke, „Claudine!“

Die Herzogin-Mutter sah sich um nach der Gerufenen; sie war verschwunden. In ihrer Angst ging die alte Dame auf den Korridor hinaus und fragte nach dem Zimmer des Fräulein von Gerold. Aber die Thür war verschlossen und innen regte sich nichts.

Claudine war zusammengebrochen in ihrer Stube; einen klaren Gedanken hatte sie nicht mehr. – Dahin war es gekommen, dahin?! Die Welt hielt sie für eine Gesunkene, für die Geliebte des Herzogs – sein eigenes Weib starb in diesem Wahne!

O, diese törichte Vermessenheit ihres wahnsinnigen Stolzes! Und wenn sie die Sterne vom Himmel herunter holen könnte als Zeugen ihrer Reinheit – niemand würde ihr glauben, niemand, die Sterbende nicht und die Lebenden nicht, und jener eine nicht, den sie zurückstieß, als er sie warnte! Gott allein wußte es, daß sie rein, aber Gott thut keine Wunder mehr. Verloren! Verloren! – Der Schandfleck ihrer Familie war sie geworden, das ganze Land würde mit Fingern auf sie weisen. „Seht, seht, das ist Die, um derentwillen unserer armen Fürstin das Herz brach!“

Wer sollte sie retten? Der Herzog? – Er konnte nicht für sie in die Schranken treten; sie hätten alle gethan, als ob sie ihm glaubten, und hätten gelacht hinterher. – Barmherziger Gott, was that sie den Menschen, daß man sie haßte, so bitter haßte?

Wenn sie sterben könnte! Sie nähme damit den Schimpf nicht von sich, aber sie wäre doch todt, sie würde nichts mehr fühlen. Sie dachte und dachte; der kleine Weiher dort unten im Park – sagte eine Stimme in ihr. Es ist so still dort und so kühl – so kühl. Dort fände man sie dann vielleicht, und die Menschen würden sagen: „Sie hatte doch noch Ehrgefühl, diese Claudine; sie konnte nicht leben mit der Schuld auf dem Herzen!“ Und nur einer vielleicht würde sprechen, wenn er an den Sarg trat. „Meine Schwester, mein reiner stolzer Liebling – ich glaube an Dich!“

Und dort drüben in Neuhaus würde ein kleines dunkles Mädchen seinen Kopf an die Schulter des schönen Mannes schmiegen und eine süße Stimme würde sagen. „Was geht es mich an, Lothar, daß eine Deines Stammes auf den Namen Gerold Schande häufte? Vergiß es, ich liebe Dich dennoch!“ –

Ein paar harte Schläge an die Thür ließen sie emporfahren.

„Fräulein von Gerold,“ rief gedämpft die spitze Stimme des Fräulein von Böhlen, „die Herzogin-Mutter erwartet Sie!“

Mechanisch schritt sie hinaus, vergessend, daß ihr das Haar gelöst auf den Rücken herab hing und die goldigen Strähne ihr [328] über die Stirn fielen; vergessend, daß sie nur in dem losen Hauskleide war. Wie eine Irre trat sie ein in das noch nicht erhellte Gemach, auf dessen buntem Teppich der Mondschein in zwei breiten schimmernden Streifen lag.

„Claudine!“ klang es mild vom Fenster her.

Sie kam herüber und verneigte sich.

„Setzen Sie sich, Claudine.“

Aber sie machte keine Bewegung, sie blieb wie gelähmt. „Die Herzogin stirbt?“ fragte sie heiser.

„Es steht in Gottes Hand, Claudine.“

„O, durch mich, durch mich!“ murmelte das Mädchen.

Die Herzogin antwortete nicht. „Ich habe eine Frage an Sie zu richten,“ begann die alte Dame endlich, „sie ist seltsam in dieser Stunde, Claudine, wo der Todesengel vor der Pforte des Hauses steht; aber der, für den ich fragen soll, hat mir zur Pflicht gemacht, es gleich zu thun. Baron Gerold bittet Sie, Claudine, seinem verwaisten Kinde die Mutter, ihm die Gattin ersetzen zu wollen.“

„Hoheit!“ schrie Claudine auf. Sie trat einen Schritt zurück und stützte sich schwer aus den Marmorsims des Spiegels. „Ich danke,“ sagte sie dann „ich verlange kein Opfer von ihm.“

„Gut!“ erwiderte die alte Hoheit streng, „Sie hatten es jetzt in der Hand, mit einem Schlage alle Lästerzungen verstummen zu lassen; Sie hatten es in der Hand, ein entfliehendes Leben für kurze Zeit zu erhalten, damit es in Frieden scheiden konnte.“

„Hoheit!“ stöhnte Claudine.

„Meine arme unglückliche Tochter!“ seufzte die Fürstin.

„Hoheit, mein Leben für die Herzogin,“ flehte das Mädchen, „nur diese Demüthigung nicht!“

„Ihr Leben? Nun, das sagt sich so leicht, Claudine –“

„O, daß ich es beweisen dürfte!“ rief sie dann und trat mit gefalteten Händen vor den Stuhl der Fürstin. Sie stand just in dem vollen Mondesstrahl, und der zeigte die halberloschenen Augen, das ganze verzweiflungsvolle Bild des Mädchens.

Die Herzogin erschrak. „Claudine! Aber Claudine!“ sagte sie begütigend.

„Glauben Hoheit denn wirklich, daß ich eine Ehrlose bin?“ fragte sie. Es klang so seltsam hastig, so gebrochen.

„Nein, mein Kind, denn eine solche würde Baron Gerold nicht zum Weibe begehren!“

Sie wich zurück „Darum, nur darum!“ stammelte sie.

„Es ist mir sehr schwer geworden, dem Geflüster Glauben zu schenken,“ fuhr die Herzogin fort. „Aber, Kind, ich kenne das Leben; ich kenne meinen heißblütigen Sohn, kenne seine Macht über die Herzen der Frauen – und Dich, die Du vor ihm geflohen, Dich weiß ich plötzlich täglich ist seiner Nähe! – Kind, Kind, ich glaube es Dir, daß Du nur die Freundin der Herzogin bist, aber Du hast Dich vermessen, freventlich mit Deinem Ruf zu spielen; Du hast nicht verstanden, den Schein zu meiden, und darum – erfasse die Hand, die sich Dir entgegenstreckt,“ setzte die Herzogin dringend hinzu. „Keiner wird es wagen, selbst die tollste Lästerzunge nicht, zu behaupten, daß Lothar von Gerold ein Weib an sein Herz zieht, das nicht rein ist wie die Sonne. Und er, mein Sohn – niemals würde sein Blick wieder diejenige suchen, die eines Andern Eigenthum ist.“

„Ich bin fassungslos, Hoheit,“ sagte Claudine.

„Du mußt Dich fassen, mein Kind; er wartet unten in Bangen und Hoffen.“

„Hoheit,“ bat Claudine, „er liebt mich nicht – es ist ein Opfer, das er der Ehre unseres Namens bringt. Ich kann es nicht annehmen; haben Hoheit Erbarmen mit mir!“

„So bringt ein Opfer!“ rief die Fürstin, gereizt durch den Widerspruch. „Ist es Ihre Ehre nicht werth, ein Opfer zu bringen? Ist es die nicht werth, die dort drüben mit dem Tode ringt?“

„Hoheit,“ flüsterte Claudine, und ein Gedanke flog durch ihr armes gemartertes Hirn, „ich will – ich will mit Baron Gerold sprechen.“

Die Herzogin hatte Erbarmen mit dem verzweifelnden Mädchen. Sie goß ein Glas Wasser ein und brachte es ihr. „Beruhige Dich erst, dann mag er kommen,“ sprach sie mild und führte die Zitternde zu einem Sessel.

„Der Herr Medizinalrath!“ sagte Fräulein von Böhlen eintretend. Ihr auf dem Fuße folgte die kleine Gestalt des Arztes.

„Hoheit verzeihen mein ungestümes Eindringen,“ begann er hastig; „ich erachte es jedoch für Pflicht, Ew. Hoheit mitzutheilen, daß die erlauchte Patientin sich in größter Lebensgefahr befindet. Hoheit sind durch den Blutverlust vollständig erschöpft, bis auf den Tod. – Professor Thalheim schlägt eine Transfusion vor; ich bin nicht abgeneigt, man soll nichts unversucht lassen. – Seine Hoheit ist entschlossen, das erforderliche Blut zu geben, jedoch – da es immerhin keine gleichgültige Operation ist – sie kann Folgen haben, die das Leben gefährden, wie Blutvergiftung und dergleichen – so müssen wir von der Person Seiner Hoheit absehen, da auch das Hausgesetz ausdrücklich –“

Er stockte. Claudine war von dem Sessel emporgesprungen und streckte die Hand gegen ihn aus. „Herr Medizinalrath, ich bitte, diejenige sein zu dürfen, die –“

„Sie?“ fragte der alte Herr und schaute verwundert in das blasse Mädchengesicht, aus dessen bewegten Zügen ein inniges Flehen sprach, „wahrhaftig, Fräulein von Gerold? Nun, dann kommen Sie, aber rasch! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Doch – halt – meine Gnädige, ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, daß wir Ihnen die Pulsader öffnen müssen.“

„Ach, lieber Herr Doktor!“ sagte Claudine mit einem weichen Tonfall und einem Achselzucken, das bedeutete: wenn es weiter nichts ist! Und sie eilte ihm voraus, die Etikette vergessend in der Angst, ein Anderer könne ihr zuvorkommen.

Die alte Hoheit hatte kaum recht verstanden. Transfusion? Was ist Transfusion? Als sie in das Vorzimmer der jungen Herzogin trat, waren die Aerzte bereits um die Kranke beschäftigt; vor Claudine stand eine Diakonissin, die den Aermel von des Mädchens weißem Kaschmirkleide zurückstreifte. Die alte Dame legte ihrem Sohne die Hand auf die Schulter; er war eben vom Bette der Herzogin zurückgekommen in das kleine Gemach, wo Frau von Katzenstein und die Kammerfrau mit angstvollen Gesichtern standen.

„Adalbert,“ fragte sie leise, „Adalbert, was ist das eigentlich? Der Medizinalrath sagte, sie schneiden ihr die Pulsader auf, um ihr Blut in Liesels Adern zu leiten?“

Er nickte zerstreut; er wandte kein Auge von dem traurig lächelnden Mädchenantlitz.

„Um Gotteswillen, Adalbert,“ fuhr die alte Hoheit fort, „sollen wir erlauben, daß Fräulein von Gerold – es scheint doch eine gefährliche Sache –“

Jetzt sah er sie groß an. „Nicht wahr,“ fragte er leise und bitter, „das erfordert etwas mehr Muth, als dazu gehört, aus sicherem Versteck den Pfeil zu schleudern, der ein armes Weib tödlich verwundet, oder den Ruf eines schuldlosen Mädchens in den Koth zieht? Ich kann es nicht verhindern, daß sie sich zu diesem Opfer versteht,“ sprach er achselzuckend weiter, „ich am allerwenigsten; man könnte ja sonst sagen, ich sei mehr für ihr Leben besorgt, als für das meiner Gemahlin.“

Eine Diakonissin schloß jetzt die Vorhänge, nur Claudinens weiße schöne Gestalt sah man noch einen Augenblick inmitten des Zimmers. Sie stand wie eine Opferpriesterin der Barmherzigkeit. „Von Arm zu Arm, Kollege,“ klang eben des Professors Stimme, „es ist sicherer.“

Aber der Herzog sah es nicht mehr und hörte die Worte nicht mehr, er hatte schon das Zimmer verlassen. Er durchmaß in furchtbarer Erregung den Salon der Herzogin, den nämlichen, ist welchem er Claudine von seiner Neigung gesprochen. Er hätte Jahre seines Lebens ist diesem Augenblick gegeben, um jene Stunde ungeschehen zu machen. „Armes Mädchen, armes Weib!“ Das hatte er nicht gewollt! Er hatte nach diesem Glück gestrebt mit dem Verlangen eines Menschen, der gewohnt ist zu siegen. Für die schöne Hofdame seiner Mutter hatte er eine aufrichtige starke Neigung gefühlt; sie wies ihn zurück, und er ließ sich zurückweisen; zum ersten Male beugte er sich vor einem charaktervollen Weibe, und sein Vergehen wurde zum Verhängniß – Wer um Gotteswillen mochte Claudine bei der Herzogin verleumdet haben?

[330] Auf dem Kaminsims brannte ein einziges Licht des Armleuchters, genau wie an jenem unseligen Abend.

Ueber die Stirn Sr. Hoheit rann kalter Angstschweiß.

„Nur noch soviel Frist,“ sagte er halblaut, „um ihr alles zu erklären, nur soviel, daß sie nicht sterben muß in dem Glauben, ich sei schuldig.“

Es ist doch etwas Großes, Heiliges um die Liebe einer Frau. Sie hatte ihn vergöttert trotz aller seiner Fehler, trotz aller Kälte, aller Gleichgültigkeit. Er glaubte ihre Augen auf sich gerichtet zu sehen mit dem alten innigen Leuchten, von dem er so oft ungeduldig den Blick gewandt. Er hörte die sanfte Stimme, wie sie in dem scherzhaft angenommenen Landesdialekt sprach. „Gelt, mein Adalbert?“ Sie hatte immer so still dahin gelebt, so dankbar für jeden Liebesbrocken, den er ihr zuwarf, so selig über ein zärtliches Wort, so bescheiden in ihren Ansprüchen. Ihre kleinen Fehler, ihre Schwächen, die ihn so unerträglich gedünkt, wie gering erschienen sie ihm in dieser Stunde!

Er stand am Fenster still und dachte an den Tag heute vor elf Jahren. Auch damals hatte man um ihr Leben gebangt; er sah sich an ihrem Lager, an der Wiege seines Erstgeborenen – sie hatte so blaß dagelegen, nur ihre Augen hatten gestrahlt, trotz aller Mattigkeit hatte sie so stolz gelächelt. Er hatte damals nur formelle Dankesworte gehabt für sie, sein ganzes Interesse war dem Kinde zugeflogen, dem Erben – sie hatte ja nur ihre Pflicht erfüllt. –

Er lehnte plötzlich den Kopf an die Scheiben und wischte sich heimlich über die Augen. Wollte man noch nicht berichten, wie es dort drüben stand?

Das ganze Schloß lag wie unter einem unheimlichen Banne; auf den Korridoren brannten die Lampen trübe und standen die Lakaien mit verstörten Gesichtern; unten im Kavalierzimmer saßen die Herren des Hofes zusammen, aber sie sprachen nur flüsternd mit einander. In den Räumen der fürstlichen Kinder blickten sich die Gouvernante und die Wärterin des kleinen Prinzen traurig in die Augen, und in den Souterrains wisperte die Dienerschaft und erzählte sich grausige Geschichten. Die alte Leinenschließerin hatte deutlich vorhin im Mondschein die weiße Frau auf der großen Treppe im linken Flügel gesehen; so ganz langsam, Stufe für Stufe sei sie gegangen, so schwer und gebückt, wie das Gespenst bei bevorstehenden Todesfällen zu gehen pflegte; und die Alte machte es vor und die Augen der Zuhörer wurden groß vor Entsetzen.

Alle wußten, daß noch ein letzter Versuch unternommen werde zur Rettung der Kranken; der Name des Fräulein von Gerold war in aller Munde.

In Herrn von Palmers Zimmer saß Frau von Berg; sie war von der Durchlauchtigsten Mama geschickt, die Prinzessin zu holen. Da hatte sie denn die Gelegenheit benutzt, dem Freunde „Guten Abend“ zu bieten, nach dem Stande der Dinge zu fragen und das Unerhörte zu vermelden, daß der Baron in Gegenwart der Prinzeß Thekla bei der Herzogin-Mutter um seine Kousine angehalten habe.

Die schöne Frau war einfach fassungslos darüber. „Wenn ich nur die Prinzeß erst glücklich im Wagen hätte!“ klagte sie in dem Gemache auf und ab schreitend, während Herr von Palmer sich nervös im Schaukelstuhl wiegte, „sie macht noch die größten Tollheiten in ihren Bußanwandlungen.“

Ja, die Prinzessin, wo war die Prinzessin?

Die alte Leinenschließerin hatte die weiße Frau gesehen; es war die kleine Prinzeß gewesen; und daß sie so schwer und gebückt ging, das machte die Seelenangst bei der Nachricht, daß es mit Ihrer Hoheit zum Sterben komme und daß auch Fräulein von Gerold in Gefahr sei. Sie hatte es aus den abgerissenen Worten der alten Kammerfrau entnommen, die sie unten getroffen bei der Leinenschließerin, als sie aus dem Garten zurückkehrte, in den die Angst sie getrieben, weit, weit dort unten, wo man nichts mehr sah vom Schlosse, in welches das Unglück eingezogen durch ihre Schuld.

Als sie dann mit wankenden Schritten hineingegangen in eins der Gemächer der Herzogin, da hatte der Herzog am Fenster gestanden, und als er sich umgewendet, hatte sie in der trüben spärlichen Beleuchtung auf dem schönen, sonst so kühlen, unbewegten Gesichte desselben eine tiefe Erschütterung gesehen, und an den Augen Thränenspuren. Das war mehr, als sie ertragen konnte!

In undeutlicher verworrener Weise, fast schreiend, klagte sie sich an und gestand alles, indem sie vor ihm auf den Knieen lag, seine Hand in der ihren. Er unterbrach sie mit keinem Worte, er that nur eine Frage, als sie erschöpft schwieg.

„Den Brief, Helene? Wie, um Gotteswillen, kamen Sie zu dem einzigen Brief, den ich je an Claudine geschrieben und der offenbar völlig falsch verstanden worden ist von der Herzogin?“

„Hoheit baten darin, daß Claudine trotzdem eine Freundin Ihrer Gemahlin bleiben sollte.“

„Trotzdem ich Fräulein von Gerold beleidigt hatte – allerdings!“

„Vetter, Vetter, bestrafen Sie mich!“ rief die Prinzessin außer sich, „sagen Sie, was ich thun soll, um wieder gutzumachen –“

Er zuckte die Schultern. „Wie kamen Sie zu dem Briefe?“

„Frau von Berg –“ stammelte die Prinzessin und sank wie gebrochen zusammen. Der Herzog hob sie empor und geleitete sie zum nächsten Fauteuil. Er hatte kein Wort mehr für sie; er wandte sich kurz und verließ das Zimmer.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 21, S. 342–346

[342] Die Operation war vorüber; die Herzogin hatte Farbe bekommen und ihr Puls schlug kräftiger. Das gesunde Lebensblut Claudinens schien ihr neue, frische Kraft verliehen zu haben; es war wie ein Wunder anzusehen. Sie lag sanft schlafend, während in das geöffnete Fenster der duftige Hauch der Sommernacht wehte und eine tiefe Stille in dem Gemach herrschte. Regungslos saß die Diakonissin im Schatten des Bettvorhanges, so daß man nur die sanften regelmäßigen Athemzüge der Kranken hörte.

Claudine stand in ihrem Zimmer mit verbundenem Arm. Sie fühlte sich matt; das war aber nicht allein die Folge des fehlenden Blutes, die ganze erschöpfende Aufregung des Tages machte sich geltend. Ihre Füße wollten sie kaum noch tragen, und dennoch wies sie mit einer an Eigensinn grenzenden Konsequenz die Aufforderung, sich zu legen, zurück. Sie habe noch mit Baron Gerold zu sprechen, sagte sie, und wünsche dann sofort nach Hause zu fahren.

Die alte Herzogin, die ihr vom Bette Ihrer Hoheit in überströmendem Dankesgefühl nachgefolgt war, bat wie eine besorgte Mutter, doch heute von dieser Unterredung abzustehen, sie müsse sich schonen nach der Operation; allein Claudine blieb bei ihrem Verlangen. „Ich thue nichts halb!“ erklärte sie mit ungewöhnlicher Ruhe und ernstblickenden Augen.

Der Professor, den man zu Hilfe rief, wurde fast unangenehm. „Gut,“ sagte der durch sein kategorisches Wesen bekannte Herr, „so mag denn diese Unterredung stattfinden, aber die Fahrt muß unterbleiben. Und nun trinken Sie ein Glas Wein!“ Er hielt ihr das Glas an die Lippen mit einer Miene, die keinen Widerspruch zuließ; widerstrebend nippte sie ein wenig. Als sie aber Schritte auf dem Korridor hörte, wandte sie das Antlitz der alten Herzogin zu. „Hoheit wollen mir gestatten, allein mit meinem Vetter zu reden!“

Die alte Hoheit zog sich kopfschüttelnd und betrübt zurück; Frau von Katzenstein und der Professor folgten ihr.

„Alles Glück mit Ihnen, lieber Baron“ flüsterte die Herzogin dem blassen Manne zu, der sie beim Vorübergehen mit tiefer Verbeugung grüßte.

„Nicht aufregen, Herr Baron,“ warnte der Professor im Vorübergehen; „sagen Sie ‚Ja‘ zu allem, und wäre es auch noch so wunderlich!“

Fast ungestüm trat er ein. Er war zuletzt ruhelos im Parke umhergewandert, wo ihn der suchende Lakai gefunden, ohne eine Ahnung von allem, was im Schlosse inzwischen geschehen war. Seine erschreckten Blicke fielen auf die Binde, in der Claudinens Arm hing, auf das lose weite Morgenkleid, auf die halbgelösten Haare und das farblose, entstellte Gesicht des schönen Mädchens.

Was ging hier vor? fragten seine Augen, aber über seine Lippen kam kein Wort; er deutete nur stumm auf den Verband am Arme.

„Eine Kleinigkeit,“ erwiderte sie, indem sie auf einen Stuhl wies; „nichts weiter als eine winzige Wunde, entstanden durch das Instrument des Arztes, der etwas Blut für die Herzogin gebrauchte. Kommen wir nun zur Sache, Baron!“

„Und das sagen Sie, als ob es so garnichts wäre?“ rief er außer sich. „Wissen Sie, daß das gleichbedeutend sein kann mit dem Tode?“

„Sie vergessen, daß eine Autorität die Operation leitete, und – wenn auch –“

„Sie haben freilich auch so gar niemand auf der Welt, dem Sie Schmerz bereiten würden mit Ihrem Verlust; keinen, den Sie vorher fragen mußten: ‚Darf ich es thun? Habe ich das Recht, meine Gesundheit, möglicherweise mein Leben, aufs Spiel zu setzen?‘“

„Doch,“ erwiderte sie, „einen habe ich – Joachim – aber es war keine Zeit dazu.“

„Joachim!“ wiederholte er mit der nämlichen Bitterkeit. „Ich, der ich eben um Ihr Leben gebeten hatte für mich, für mein Kind, ich war Ihnen keines Gedankens werth!“

Er hatte leise, schmerzlich gesprochen. Ihr war es plötzlich, als erfasse sie ein Schwindel, und sie ließ sich erschöpft in den Sessel nieder, neben dem sie gestanden hatte.

„Ich wollte ja mit Ihnen darüber reden,“ begann sie wieder und sah an ihm vorbei; „ich versprach es der Herzogin-Mutter; es soll nicht lange dauern. Sie sind so unsagbar großmüthig, Vetter – ich weiß in der That nicht, wie ich Ihnen danken soll; ich könnte es eigentlich nur, indem ich Ihre Großmuth zurückweise und –“

Er stand unbeweglich und sah sie an.

„Und das würde heißen,“ fuhr sie sort, „ein Mittel zurückweisen, welches einer Schwerkranken das Leben etwas verlängern könnte – so sagt die Herzogin-Mutter. Ich darf es also nicht; vergeben Sie mir! Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: verlobt sein, heißt nicht: ‚verheirathet sein‘. Wenn die Herzogin genesen sollte, so – so gehen wir aus einander; wenn sie sterben sollte – natürlich ebenfalls, es gilt ja nur ein Beruhigungsmittel; es ist ein wenig gewaltsam, ich weiß, aber – eine Verlobung ist nur ein Versprechen, und bekanntlich werden nicht alle ‚Versprechen‘ gehalten. Gott weiß, wie oft es geschehen mag, daß zwei sich trennen vor der Ehe; es ist keine Schande – ich – ich –“

Sie hatte rasch und immer rascher gesprochen; jetzt lehnte der blonde Kopf schwach und mit geschlossenen Augen an den Polstern. Er war näher getreten, in seinem Gesichte zuckte es seltsam.

„Ich,“ begann sie wieder, „ich werde nicht fortkönnen von hier, aber Sie, Lothar, Sie sind frei; Sie finden nach der leider nicht zu umgehenden Veröffentlichung dieser Verlobung leicht einen Grund, um in irgend einen fernen Weltwinkel zu gehen, bis –“ und sie richtete sich plötzlich empor – „ich spreche dies nicht für mich, bei Gott nicht! Was liegt an mir? Mein reines Gewissen genügt mir vollkommen – aber die Aermste dort drüben – begreifen Sie, Lothar?“

„Wir sollen also ein wenig Komödie spielen?“ fragte er.

„Nicht lange! Nicht lange!“ flüsterte sie, während ihre schönen glanzlosen Augen ihn, wie um Verzeihung bittend, ansahen.

Er ergriff plötzlich ihre Rechte mit einer ungestümen leidenschaftlichen Bewegung.

„Es sei,“ sagte er, „aber Sie sind krank, und vor allem, ehe die Komödie beginnt ...“

„Lassen Sie sie gleich beginnen,“ bat sie; „gehen Sie zur Herzogin-Mutter und melden Sie, daß ich Ihnen mein Jawort gab. Indessen rüste ich mich zur Heimfahrt; ich bin so müde, so sterbensmüde.“

„Ich werde gehen“ sagte er ruhig, „und Sie werden sich legen, Sie werden nicht nach Hause fahren.“

„Ich werde es doch!“ rief sie heftig und wechselte die Farbe; „vergessen Sie nicht, daß es eben nur eine Komödie ist, daß sie sowohl wie ich trotzdem unseren eigenen Willen vollkommen behalten!“

Er bezwang sich und ging.

„Sagen Sie Ja!“ hatte der Arzt gerathen, „nur – Ja!“ Claudine starrte ihm nach wie im Traume; sie fühlte ihre Kräfte schwinden, mehr und mehr, fühlte sich so schwach und gedemüthigt! Am liebsten hätte sie sich den Verband vom Arme gerissen und ihr Leben mit dem Blute dahinfließen lassen; unwillkürlich zuckten ihre Finger nach der Binde. Es ward ihr so sonderbar mit einem Male vor Augen, so roth wie Blut, so schwebend und so wogend, als ob ihr Stuhl zu schwanken beginne. Sie wollte sich festhalten an der Lehne und griff in die Luft hinaus. „Halt ein!“ flüsterte sie; aber im rasenden Wirbel drehte es sich um sie; ihr Kopf sank zurück; sie fühlte sich wie hoch gehoben, dann fühlte sie nichts mehr.

Die Diakonissin, die auf Befehl des Arztes herübergeschlichen war, um nach der fieberhaft Erregten zu sehen, fand Claudine bewußtlos. Mit der lautlosen Sorgfalt ihres Berufes holte sie sich Hilfe und legte die Ohnmächtige auf die Chaiselongue, wo sie bald wieder zu sich kam.

„Es ist nichts wie Erschöpfung, Herr Baron,“ sagte der kleine Medizinalrath, den Lothar aus dem Kavalierzimmer geholt [343] hatte, wo die beiden Aerzte mit dem Kammerherrn saßen. „Nichts weiter. Lassen Sie die Patientin ganz ungestört, morgen wird sie wohl und frisch sein. Ich bitte Sie, bei solcher Jugend und Kraft! Fahren Sie ruhig nach Neuhaus, lieber Baron!“

Herr von Gerold wies die Kammerjungfer selbst an und schärfte ihr ein, die Diakonissin zu rufen, falls ihr irgend etwas bedenklich erscheine bei dem gnädigen Fräulein; dann bat er auch Frau von Katzenstein, die Kranke zu beaufsichtigen.

Die alte Dame wollte eben noch einmal zu Claudinen hineingehen, um ihm Nachricht von ihr zu holen; er stand indeß wartend im Korridor. Jetzt hörte er Claudine drinnen sprechen – mit wem wohl? Deutlich konnte er jedes Wort verstehen, Frau von Katzenstein hatte die Thür nicht fest geschlossen.

„Vergeben Sie mir!“ scholl laut die Stimme der Prinzeß Helene, aber es klang nicht flehend, es klang wie befehlend.

Lothar runzelte die Stirn; er hatte Mühe, an sich zu halten, um nicht sofort hinein zu gehen.

Frau von Katzenstein kam diskret zurück. „Durchlaucht ist bei Fräulein von Gerold,“ flüsterte sie.

„Se. Hoheit haben mir befohlen, Sie um Verzeihung zu bitten, Fräulein von Gerold,“ klang es abermals da drinnen. „Ich bitte Sie also hiermit um Verzeihung. Haben Sie es gehört?“

Außer sich trat der Baron über die Schwelle des matt erleuchteten Zimmers. Ueber das weiße Mädchengesicht dort in den Kissen der Chaiselongue ergoß sich Purpurgluth, als sie ihn erblickte.

„O mein Gott!“ stammelte sie und machte eine abweisende Bewegung mit der gesunden Hand. Ein furchtbares Herzklopfen nahm ihr die Sprache.

Es hatte sie nicht befremdet, daß er hier eingedrungen; sie dachte weiter nichts, als daß jetzt ein vernichtender Schlag auf dieses trotzige Geschöpfchen fallen müsse, das da so hochmütig an ihr Lager getreten war, um auf höheren Befehl „abzubitten“.

Die Prinzessin hatte ihn nicht bemerkt; sie stand da wie die verkörperte Opposition; ihre Zerknirschung verwandelte sich, angesichts der Verhaßten, in Empörung.

„Sie wollen wohl nicht?“ fragte sie. „Ich habe nicht lange Zeit zu warten, ich muß nach Neuhaus; Mama hat Frau von Berg nach mir geschickt; ich fahre aber nicht mit ihr, ich will nicht. Ich werde Baron Gerold um seinen Wagen ersuchen. Also zum dritten Male – ich bitte Sie um Verzeihung, Fräulein von Gerold!“

„Prinzessin, ich weiß zwar nicht, wofür eine Verzeihung erbeten wird – aber von Herzen gern,“ erwiderte Claudine mit bebenden Lippen.

„Durchlaucht, auf diese Weise eine schwer Gekränkte und Leidende um Verzeihung zu bitten, ist nett,“ scholl jetzt Lothars erregte Stimme.

Die Prinzessin wandte sich wie von einem elektrischen Funken berührt. Claudinens Augen sahen mit flehender Angst zu den seinen hinüber; sie hielt den Athem an – o, sie mußte ja aus eigner Erfahrung, wie furchtbar sie wirken kann, die Gewißheit, den geliebten Mann verloren zu haben!

„Es gehört die ganze große Güte und Selbstlosigkeit meiner Braut dazu, um Ew. Durchlaucht die so eigenthümlich erbetene Verzeihung zu gewähren.“

Da war es gesprochen. Eine Todtenstille herrschte im Gemach; Claudine sah wieder jene rothe heiße Fluth vor ihren Augen. Wie? Konnte ein Mann so schonungslos verfahren mit der, die er liebte, um die er geworben seit Wochen schon? War es ein Akt der Verzweiflung, weil er sie aufgeben mußte?

Sie streckte die Hand aus. „Prinzessin,“ sagte sie matt, als wollte sie um Verzeihung bitten.

Aber die zierliche weiße Gestalt schwankte nicht, wie Claudine gefürchtet hatte; sie schüttelte das dunkle Köpfchen mit dem kurzen Gelock stolz in den Nacken zurück. „Meinen Glückwunsch,“ sprach sie kurz. Einzig in der forcirten lauten Stimme erkannte Claudine die furchtbare Erschütterung des Mädchens, dessen glühende Liebe soeben den Todesstreich empfangen hatte.

Die Prinzessin übersah die Hand, die sich ihr bot; stolz neigte sie den Kopf. „Begleiten Sie mich, Baron!“ sagte sie befehlend.

Lothar faßte statt ihrer die dargebotene Hand und führte sie an die Lippen; Claudine entzog sie ihm hastig und unwillig.

„Wozu?“ fragte sie und drehte den Kopf nach der Wand; „das ist überflüssig bei unserem Abkommen.“

Sie waren gegangen. Claudine klingelte und ließ sich bei der Nachttoilette helfen und die Lichter löschen. Frau von Katzenstein schlich behutsam durch das dämmernde Gemach dem Bette zu – es rührte sich nichts hinter den Vorhängen, die Patientin schlief wohl schon den Schlummer der Erschöpfung? Als Frau von Katzenstein aber genauer hinsah, erblickte sie das Mädchen im Bette sitzend.

„Aber, Claudine, Sie ruhen noch immer nicht?“ flüsterte die freundliche alte Dame besorgt und drückte einen Kuß auf das schöne Antlitz. „Eben erfahre ich Ihre Verlobung,“ setzte sie bewegt hinzu, „Gott segne Ihren Herzensbund, meine liebste Gerold!“ Dann ging sie still hinaus.

Claudine griff sich wild an die Stirn. „Herzensbund!“ sagte sie bitter, „welch furchtbarer Hohn!“

Sie grübelte und grämte sich bis über Mitternacht hinaus, bis sich ihre Gedanken verwirrten. Der schrecklichste Tag ihres Lebens war vorüber; was würde ihm nun noch folgen an Qual und Herzenselend?




In der Frühe des folgenden Tages ward Claudine aus schwerem bleiernen Schlaf geweckt durch einen Boten der Herzogin-Mutter, welche ihr einen köstlichen Blumenstrauß nebst einem Brillantring sandte.

Es that ihr weh, sich auf das Gestern besinnen zu müssen, und nur mit Anstrengung konnte sie sich erheben. Die Kammerfrau der Herzogin erschien, als sie eben angekleidet war, und beschied sie in das Krankenzimmer.

Mit müden Schritten trat sie über die Schwelle desselben; das ganze purpurrothe Gemach war von Sonnenglanz erfüllt, am Lager seiner Gemahlin stand der Herzog mit den kleinen Prinzen, die beiden jüngsten hielten Rosen in den Händen, der Aelteste etwas anderes, das funkelte und blitzte.

Der Herzog schritt ihr entgegen und küßte ihr die Hand.

„Nehmen Sie meinen und meiner Söhne innigsten Dank für Ihren freudigen Opfermuth,“ sprach er, indem er sie zum Bette führte; „sehen Sie selbst, gnädiges Fräulein, er hat Großes vollbracht!“

Die Herzogin streckte ihr die Hände entgegen, während der Erbprinz sich jubelnd an sie hing. „Ich habe ja immer gewußt,“ sagte er, „Sie haben Kourage, Fräulein von Gerold, und dies geben wir Ihnen, ich und mein Bruder, weil Sie Mama wieder gesund gemacht haben.“

Er reichte ihr ein kostbares Schmuckstück und die Händchen der Andern hielten ihr stumm die Rosen entgegen.

„Claudine,“ flüsterte die Herzogin.

Sie kniete in alter Gewohnheit am Bette nieder, aber der Kopf legte sich nicht wie sonst zutraulich an die Wange der Freundin; sie verharrte wie eine jener gemalten alten Beterinnen in der Schloßkirche, mit niedergeschlagenen Augen und unbeweglicher Miene. „O, warum den Dank! Ich that ja nichts,“ sagte sie.

Die Herzogin gab, von ihr ungesehen, ihrem Gemahl ein Zeichen, sich zu entfernen; leise trat er hinaus, die beiden ältesten Prinzen folgten ihm; nur das Baby blieb auf dem Bette sitzen und spielte mit den Rosen.

„Dank, Claudine, tausendfachen Dank! Und nimm auch meinen treuesten Glückwunsch zu Deiner Verlobung; ich erfuhr sie vorhin durch Mama. Es hat mich überrascht, Claudine; warum sagtest Du mir nie davon, daß Du ihn liebst?“

Claudine blieb stumm; dann erschrak sie. Wenn sie ihre Rolle so schlecht spielte, dann war ja die ganze Komödie vergeblich! Hier galt es also vor allen Dingen, sich muthig zu zeigen.

„Mir wurde es so schwer, darüber zu sprechen“ stammelte sie; „ich wußte ja nicht, ob er mich wieder liebt.“

Die Herzogin drückte ihr die Hand.

„Claudine,“ flüsterte sie, „weißt Du – der Herzog dauert mich, denn er liebt Dich!“

„Hoheit, nein!“ rief das Mädchen, „er liebt mich nicht!“

„Doch, Claudine,“ versicherte die Kranke, „sieh, ich hatte ja einen Brief von ihm in Händen – an Dich.“

Claudine fuhr empor. „Einen Brief? Ich habe nur einen von Sr. Hoheit erhalten, und der –“

[346] „Pst!“ flüsterte die Herzogin. „Ganz recht! Ich verstand ihn gestern nicht, heute erklärte mir Adalbert seine Bedeutung selbst. Er hat mir alles gesagt; es ist ihm nicht leicht geworden. Ich weiß alles, Claudine, und er dauert mich, weil Du ihm nun verloren bist.“

„Elisabeth!“ stotterte das Mädchen, dem aus Mitleid fast die Sprache versagte. „Es war ein Irrthum Sr. Hoheit, und welcher Mensch –“

„Ja, ein Irrthum! O, ich verstehe, ich kann es begreifen; aber hier innen ist’s so öde, so still geworden, Claudine.“ Sie legte einen Augenblick eine Hand auf die Brust und strich dann schmeichelnd über Claudinens Arm, der in der Binde hing.

„Elisabeth,“ sprach diese, „Du bist immer eine so fromme Natur gewesen, Du richtest sonst so mild die Handlungen der Menschen; willst Du hier ein harter Richter sein?“

Die Herzogin schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe verziehen. Die kleine Spanne Zeit, die mir noch bleibt zum Leben, soll freundlich verfließen. Ach, Claudine, zum ersten Male, seit ich sein Weib bin, hat er heute früh mit mir gesprochen, wie ich es immer ersehnt habe wachend und träumend; herzlich und aufrichtig, mild und gut hat er gesprochen. Es kommt zu spät, ja, ja – aber es ist so schön, so süß, und deshalb habe ich ihm verziehen. – Es ist nur noch ein Rest,“ und sie dämpfte ihre Stimme, „so ein Rest dummer Eitelkeit in mir. Weißt Du, ich wollte ihm immer gefallen und bedachte gar nicht, daß ich ein so elendes krankes Geschöpf bin. – Da habe ich mir rasch den Spiegel hier genommen und hineingeschaut; es that ein bißchen weh zuerst, aber dann –“

Sie verstummte, und in ihren Augen schimmerte es feucht, während sie sich zum Lächeln zwang.

Claudine konnte es nicht hindern, ihr rollten ein paar große Thränen über die Wangen.

„Er dauert mich so,“ sagte die Herzogin noch einmal; „ich will gut und geduldig und liebevoll gegen ihn sein. – Und wer mir noch leidthut,“ fuhr sie fort, „das ist Helene – sie liebt Deinen Bräutigam.“

„Ja!“ hauchte das Mädchen.

„O, Du schönes, von Gott begnadetes Geschöpf Du,“ sagte die Kranke, „dem aller Herzen sich zuneigen! Wie mag es wohl sein, wenn man so geliebt wird?“ Es klang so traurig, so hoffnungslos.

Claudine stand auf und wandte sich zum Fenster; sie durfte nicht zeigen, wie weh ihr war.

„Ich will Dich nicht länger zurückhalten, Claudine,“ fuhr die Herzogin fort; „Du hast so viele, viele Pflichten heute. Du mußt Dich Mama als Braut präsentiren und Deinem Kindchen als Mutter, und Ihr werdet so viel zu sprechen haben, Du und Er. – Geh’, Claudine, geh’ mit Gott!“ Sie lächelte; der kleine Prinz hatte ihr jauchzend das Spitzenhäubchen von dem dunklen Haar gezogen und brachte seinen geöffneten Mund an ihre blassen Lippen. Hastig wandte sie das Gesicht. „Mein Liebling,“ hörte Claudine sie flüstern, „Mama darf Dich so nicht küssen, Mama ist krank.“

Das erregte Mädchen vermochte kaum mit Fassung die durchsichtige Hand zu küssen und ruhig hinauszugehen. Sie sank in ihrem Zimmer auf einen Sessel und barg die weinenden Augen in den Händen. Verwundert schaute das Kammermädchen sie an. Das sollte eine Braut sein? Eine reiche glückliche Braut, die da so blaß und finster saß? – Die Zofe bückte sich und nahm ein Etui auf, das eben achtlos von dem Schoß ihrer Dame geglitten; es war beim Fallen aufgesprungen und den überraschten Augen der Dienerin sprühte es buntfarbig entgegen, ein wunderbares Halsband aus Brillanten. Claudine beachtete es nicht; sie fühlte nur eines, sie würde die Verstellung, welche nun beginnen sollte, nicht ertragen. – –

Gedankenlos kleidete sie sich endlich um. Da das Kleid von gestern verdorben war und sie keine weitere Toilette hier hatte, war sie genöthigt, ein schwarzes Spitzenkleid anzulegen, welches sie mit ein paar Rosen aufputzen wollte. Diese aber, farblos wie ihr Gesicht, machten die dunkle Toilette nicht freundlicher, ebenso wenig als die weiße Armbinde, welche sich grell von dem Schwarz der Robe abhob. So ging sie am Arme Lothars in die Gemächer der alten Herzogin, wo Beide dann bei einem Dejeuner, zu dem das Brautpaar von Seiner Hoheit befohlen wurde, die Glückwünsche des kleinen Hofstaates entgegennahmen.

Am frühen Nachmittag fuhr Lothar mit ihr in seinem Wagen nach Neuhaus. Die ganze Dienerschaft des Gutes war auf der Freitreppe versammelt und rief dem jungen Paar ein schallendes Hurrah! entgegen. Beate stand mit ausgebreiteten Armen, in der rechten Hand einen Rosenstrauß, auf der Schwelle; neben ihr die alte Dörte, welche die Kleine im weißen Kleidchen auf ihren Armen tanzen ließ. Ueber Beatens großes lachendes Gesicht liefen die hellen Freudenthränen.

„Dina, Herzenskind,“ rief sie, das Mädchen an sich ziehend, „wer hätte Das gedacht!“ Und sie riß das Kind von dem Arm seiner Wärterin. „Da hast Du eine Mutter, Du Wurm! Und was für eine!“ jubelte sie.

Lothar wehrte der allzu lauten Freude mit einem Blick auf die stumme Claudine.

„Sie kann Leonie ja nicht halten, Beate,“ sagte er und gab das Kind der Wärterin zurück, um gleich darauf seine Braut in das nächste Zimmer zu führen, sie den Blicken der Leute entziehend. „Du quälst mir Claudine heute nicht mit Fragen, sorgst jetzt für eine Erfrischung, Schwesterchen, und dann machst Du mit uns eine Spazierfahrt nach Brötterode.“

„Aber, Lothar, da ist ja heute großes Konzert vor dem Kurhause –“

„Gerade deshalb, liebe Beate!“

Die Schwester ging kopfschüttelnd, ihre Befehle zu geben, und während sie rasch Toilette machte, murmelte sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, vor sich hin: „Ich denke, Brautleute sitzen immer am liebsten in einer einsamen Laube, und die, welche sonst von Natur nicht zu solchem Trarah neigen, fahren am ersten Verlobungstage mitten hinein unter die Lästermäuler!“


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 22, S. 357–360

[357] Beate begriff überhaupt heute noch nicht alles, was sich bei der Verlobung Lothars ereignet hatte; ihr war von der geräuschvollen Abreise der Durchlauchtigsten Damen ganz wirbelig zu Sinne; sie hatte auch in der vergangenen Nacht kein Auge zugethan. Als gestern Abend spät Lothar mit der Prinzessin allein angefahren kam, stand ihr vor Schreck das Herz einen Augenblick still; ihre Blicke hatten zwar nur flüchtig des Bruders Gesicht gestreift, aber sie hatte es doch gleich gewußt: der ist Bräutigam! Es lag so ein eigener Glanz darauf. – Und die Prinzessin lief so eilends die Stufen empor.

„Die beichtet der Frau Mama jetzt ihr Glück,“ hatte sie sich gedacht. – Und richtig, da rief Lothar sie in sein Zimmer, und als sie hereinkam, lehnte er an seinem Gewehrschrank; das war seine Lieblingsstellung, wenn er ihr Wichtiges mitzutheilen hatte. „Schwester Beate,“ sagte er ihr entgegenkommend, „ich habe mich verlobt.“

Sie hatte ihm die Hand gedrückt und ihn herzlich auf den Mund geküßt. „Ich gratulire Dir, Lothar.“

„Und Du freust Dich gar nicht, Beate?“

„Lothar,“ hatte sie gesagt, „man denkt immer, wenn ein Bruder heirathet, man müsse eine Schwester bekommen; aber –“ und sie hatte gutmüthig gelächelt, „Du kannst Dir doch unmöglich Deine Beate neben der Prinzessin als Schwester vorstellen? Wir würden neben einander sein wie so ein gutes braves Haushuhn und ein Goldfasan – gelt? – Aber das ist Nebensache, wenn Du nur glücklich wirst.“

„Ich habe die Absicht, es zu werden. Und wenn auch ein Schwan nicht besser passen mag zum Haushuhn als ein Goldfasan, so hoffe ich doch, daß sich diese beiden, ins Menschliche übertragen, ganz leidlich für einander schicken werden. Ich habe mich nämlich mit Claudine verlobt, Du kluge Schwester.“

Mit Claudine! Nun, da ließ sich ihrer Klugheit doch wahrlich nicht spotten, wenn man’s so heimlich anfing! „Gott sei gedankt!“ hatte sie gesagt, als sie sich von dieser Ueberraschung allmählich erholte, und sie hatte ihren Bruder herzhaft am Rockärmel genommen: „Da setze Dich hin und erzähle!“

[358] Er hatte auch erzählt, alles Mögliche – von der Operation und der Gefahr der Kranken, von Claudinens Muth und Opferwilligkeit – alles, nur nicht das, was sie wissen wollte. Und sie war diskret geblieben, sie hatte nicht weiter geforscht. Er war eine verschlossene Natur und hätte um alles in der Welt nicht einen Menschen in sein Herz sehen lassen; das war ein Geroldscher Familienzug, eine berechtigte Eigenthümlichkeit.

Während dieser Reminiscenzen holte sie ihren allermodernsten Hut hervor, den sie sich für das gestrige Fest neu angeschafft hatte, und dachte, indem sie ihn aufsetzte, an die Abreise heute früh und an die schreckliche Scene in der Kinderstube. Die kleine Leonie lag nach dem Bade schlafend im Bettchen. Da war Ihre Durchlaucht Prinzeß Thekla erschienen, fix und fertig zur Abreise, hinter ihr Frau von Berg, und hatte nichts mehr und nichts weniger verlangt, als – das Kind! Die alte Dörte hatte sich darauf mit ausgebreiteten Armen vor das Bettchen gestellt und in ihrem plattdeutschen Dialekt erklärt: das müßte der Herr ihr erst selber sagen, daß die Kleine mit der Großmutter abreisen solle! Durchlaucht vergaßen sich aber in diesem Augenblicke so weit, daß sie die alte Bäuerin höchsteigenhändig an die Seite zu schieben versuchten; allein so ein derbes Weib steht fest an seinem Platz, wie eine der Riesentannen im Walde draußen.

„Das mag mir Gott verzeihen,“ hatte die Alte gesprochen, indem sie den fürstlichen Händen energisch wehrte, „daß ich so den Respekt vergesse gegen eine, die zu unserm Durchlauchtigen Herzogshause gehört! Aber Er wird mir verzeihen; ich thue meine Pflicht, ich lasse meinem Herrn nichts stehlen.“

„Einfältige Person,“ hatte Frau von Berg gescholten, „wer will denn stehlen? Ihre Durchlaucht ist die Großmutter des Kindes.“

„Mein Herr mag’s mir selber sagen!“ war die Gegenrede gewesen.

„Ihr Herr ist ja nicht zu Hause; nehmen Sie Vernunft an!“

Aber auch das half nichts; Dörte hatte die Ellbogen in die Seite gestemmt und war schlagfertig auf ihrem Posten geblieben, und plötzlich war es ihr gelungen, den altmodischen Glockenzug zu erwischen; manch ungeduldiges Läuten mochte von dort schon erklungen sein, aber so wie heute wohl noch nie.

Die Kinderstubenklingel war im ganzen Hause bekannt; in diesem Zimmer hatten der alte Herr und die Frau krank gelegen und waren hier gestorben – kein Wunder, daß alle Welt gedacht, es so ein Unglück geschehen, und daß Lothar, der eben von seinem morgendlichen Ritt in die Felder zurückgekommen, allen voran den Korridor entlang gejagt war, Beate hinter ihm drein, und daß von allen Seiten die Dienerschaft hinzustürzte. Er hatte den Leuten gewehrt und hinter ihm und Beate hatte sich die Thür der Kinderstube geschlossen.

„Was geht hier vor?“ war seine erste Frage gewesen. Er schien seinen Augen nicht zu trauen, als er Ihre Durchlaucht erblickte, die sich beim Frühstück hatte entschuldigen lassen wegen ihrer Migräne und die nun dort stand mit hochrothem Gesicht und mit gebieterischer Stimme sprach:

„Ich wünsche meine Enkelin mit mir zu nehmen, und diese Person – –“

„Ah! Durchlaucht glaubten, ich sei so versunken in mein Bräutigamsglück, daß ich die Stunde der Abreise vergessen würde? Oder vielmehr, Durchlaucht wollten mein Nachhausekommen nicht abwarten und mit einem früheren Zug abreisen? Deshalb die Wagen vor der Auffahrt? Und Durchlaucht wünschen die Enkelin mitzunehmen“ – und seine Stimme hatte geklungen wie fernes Wettergrollen – „ohne meine Erlaubniß vorher einzuholen? Mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?“

„Sie ist das Kind meiner Tochter!“

„Und das meine! Das Recht des Vaters dürfte doch wohl etwas über dem Rechte der Großmutter stehen, Durchlaucht.“

„Nur auf wenige Monate, Gerold,“ hatte die Prinzessin eingelenkt, die jetzt wohl zu der Einsicht kam, daß sie eine Thorheit in ihrem Groll begangen.

„Nicht auf eine Stunde!“ rief er mit energischer Betonung, und eine auffallende Blässe hatte sich auf sein Gesicht gelegt. „Dies Kind will ich bewahren vor dem Gifthauch, der da draußen weht und die reinsten Blüthen aussucht, um sie zu verderben; ihm will ich es ersparen, so früh schon Menschenverachtung lernen zu müssen. Meine Tochter soll erzogen werden, wie es einst Sitte war in dem Hause meiner Vorfahren, einfach, natürlich und – vornehm denkend; und hier wird es geschehen, hier in Neuhaus, Durchlaucht, unter meiner und meiner künftigen Gattin spezieller Aufsicht!“ Und er hatte rasch die Vorhänge des Bettchens zurückgeschlagen, in dem die Kleine mit erschrockenen Augen lag. „Wenn Durchlaucht Abschied nehmen wollen?“ – hatte er kühl hinzugesetzt.

Die Prinzessin war einen Augenblick zu der Wiege getreten, die Stirn des Kindes mit ihren Lippen berührend, und dann, ohne ein weiteres Wort, hinausgerauscht durch den Korridor nach der Halle, wo Prinzeß Helene, mit der Hofdame und dem Kavalier, der Mutter harrte. Die alte Durchlaucht war eingestiegen mit dem verbindlichsten Lächeln aus den Lippen; Beate, die sich tief verbeugte, hatte aber doch kaum ein herablassendes Kopfneigen für ihre wochenlange Gastlichkeit bekommen; Lothar saß den Durchlauchten gegenüber, wie damals, als er sie geholt. Als die Pferde anzogen, war aus zwei dunklen Mädchenaugen ein langer Blick über das alte Haus geglitten, so voll bitterer Enttäuschung, so voll schmerzlicher Reue, daß Beate trotz aller Erleichterung vor Mitleid das Herz geschwollen war. Arme, kleine, trotzige Prinzessin! – – –

Beate ertappte sich darüber, daß sie da noch immer vor dem Spiegel stand und an den Hutbändern knüpfte. Sie seufzte tief auf. Gottlob, gottlob, es war Friede im Hause! Dort oben wehte die kräftige Waldluft den letzten Hauch von dem durchdringenden Patchouligeruch aus dem Zimmer der Frau von Berg, und die Hausmädchen hatten längst die Scherben eines kostbaren Krystallglases fortgeräumt, das die alte Prinzessin gegen den Kachelofen geschleudert hatte in ihrem Jähzorn. In den Aesten der Linde flatterte ein Stückchen blaßblaues Band, das der Zugwind von dem Toilettentisch der Prinzessin Helene geweht, und auf dem Rasenplatze wurden Möbel und Betten gelüftet. Morgen würde wieder alles sein wie früher – gottlob!

„Verzeiht mir,“ sprach sie mit heller Stimme, als sie an paar Minuten später in das Wohnzimmer trat, wo Claudine auf der Estrade saß und durch das Fenster blickte, während Lothar gedankenvoll vor dem Bilde seines Vaters stand, um die ganze Zimmerlänge entfernt von seiner Braut. „Verzeiht, ich komme etwas spät; man hat Euch doch Kaffee servirt? Schön, ich sehe schon – nun ich wäre bereit zur Fahrt!“

Sie war etwas betroffen, als sie das sagte; sie hatte gemeint, das Brautpaar neben einander zu sehen, so recht zärtlich und liebevoll. Statt dessen ging Lothar erst jetzt gemessen aus seine Braut zu und bot ihr den Arm, wie auf einem Hofball: „Eine Fahrt in der schönen Luft wird Ihnen gut thun, Claudine.“

Wie? Sie nannten sich nicht einmal „Du!“ – Beate fing an, sich wirklich zu ärgern über diese formellen Menschen.

„Bitte, Lothar,“ erwiderte Claudine, „geben Sie Befehl, nach der Fahrt am Eulenhause zu halten; ich sehne mich nach Ruhe – ich fühle mich noch matt.“

„Ja natürlich! Wir müssen doch auch Joachim eine Brautvisite machen,“ war die Antwort.

Es war eine recht stille Fahrt. Als der Wagen den Abhang hinunter rollte dem Thale zu, aus dem die rothen Dächer des kleinen Badeortes schimmerten, lehnte sich Claudine seufzend zurück. Auch das noch! Sie hatte es geahnt, er wollte sie zeigen – als rehabilitirt.

Von dem Kurhause schallten die Klänge eines Walzers herüber, als sie ist die Allee einbogen. Auf dem freien Platze, in dessen Mitte der Musiktempel sich erhob, standen zahlreiche Tischchen mit roth und weißen Decken belegt. Die ganze vornehme Kurgesellschaft saß dort plaudernd an einer riesigen Tafel, die der schmachtende Oberkellner mit Argusaugen hütete, damit ja kein Unwürdiger sich an ihr niederlasse. Er pflegte zu diesem Zweck schon drei Stunden vor Beginn des Konzertes ein paar primitive Zettel hinzulegen, auf denen „Besetzt!“ zu lesen war, und die Stühle umzukippen. Und wenn nur zwei von der Gesellschaft kamen und wenn gewöhnliche Sterbliche auch nicht einen Stuhl zu erlangen vermochten, er zuckte doch die Achseln: „Bedaure, meine Herrschaften, jene Plätze sind bestellt.“

Heute aber war keiner der Sitze leer, und die Unterhaltung betraf, so lebhaft wie lange nicht, die gestrige Affaire in Altenstein. Die Mär von der Ungnade der Herzogin-Mutter gegen ihren früheren Liebling war auf aller Lippen, natürlich entstellt, [359] nicht zum Wiedererkennen vergrößert und verschlimmert. Nach der einen Lesart sollte die alte Herzogin Claudine geboten haben, sofort das Schloß zu verlassen, die andere wußte von zurückgezogener Pension; ein dritter behauptete, die schöne Gerold habe es zu erzwingen gewußt, daß sie noch bei Tafel erscheinen durfte, und betont, daß der Herzog der Regierende und der allein Befehlende sei.

O unglaublich! Und was noch alles! Und dazu der Blutsturz der Herzogin! – Die arme Frau, die arme Frau! Vor Kummer und Aufregung natürlich!

Dem Herzog konnte man ja schließlich die Aventüre nicht einmal übelnehmen, wenn Claudine so leichtsinnig war. Man zuckte die Achseln und lächelte über die arme betrogene Frau, die geglaubt, eine Freundin an ihr zu besitzen.

„O, schauderhaft!“ klagte eine ältere Baronin; „na, das hatte der Gerold gerade gepaßt; – wie es wohl herausgekommen ist?“ –

„Wie nur Baron Gerold diese Sache auffaßt? Er sah aus wie eine Leiche, als die alte Herzogin die Gerold so abfallen ließ.“

Ein wahres Gewirr von Stimmen erhob sich auf diese Worte; aber auf einmal ward es still; irgend wer hatte gesagt. „Das ist ja die Neuhäuser Equipage!“

„Richtig! Und zwar in nächster Nähe!“

Man hatte soviel Geistesgegenwart, sich den Anschein zu geben, als ob man über irgend etwas anderes angelegentlich spreche. Die Damen wandten sich zu einander und bewegten die Fächer, aber die sämmtlichen alten und jungen Augen an diesem Tische waren dorthin gerichtet, wo das Gefährt sich näherte. Die schönen Rappen vor dem Wagen tänzelten unter den Klängen des Walzers daher; Kutscher und Diener auf dem Bock leuchteten in tadellosen blaugelben Livreen, und da im Fond? –

An der langen Tafel flogen plötzlich sämmtliche Hüte von den Köpfen; die Herren waren aufgesprungen, die Damen grüßten und nickten liebenswürdig.

Was, um Gotteswillen, Claudine von Gerold – den Arm in der Binde, neben Fräulein Beate? Und ihr gegenüber der Baron? – Langsam, sehr langsam passirte jetzt der Wagen den bevorzugten Tisch, dann hielt er vor der Thür des Kurhauses.

Zwei Herren der Gesellschaft stürzten athemlos herbei, ein junger Husarenoffizier und der schwermüthige Gesandtschaftsattaché. Der Lieutenant wollte sich nach dem Befinden der Herzogin erkundigen, seiner hohen Tischnachbarin von dem Neuhäuser Feste; und da er „wohl annehmen dürfe, Fräulein von Gerold sei am besten unterrichtet, so“ u. s. w. Der Gesandtschaftsattaché hatte andere Absichten, er kam auf den geflüsterten Wunsch Ihrer Excellenz: „Man müsse doch wissen, was das zu bedeuten habe –“

„Die Herzogin befindet sich besser,“ erwiderte Claudine freundlich dem Offizier.

„Aber gnädiges Fräulein scheinen verletzt?“ fragte der Attaché und drehte den Schnurrbart, „gewiß haben gnädiges Fräulein –?“

„Eine kleine unbedeutende Verletzung, Herr von Sanders,“ nahm Lothar das Wort. „Ich denke, meine Braut wird den Arm bald wieder – O pardon! Ich vergaß zu sagen, daß Sie hier ein nagelneues Brautpaar vor sich sehen – wir verlobten uns gestern Abend. Eine Ueberaschung, nicht wahr, meine Herren? Aber, Claudine, da kommt das Wasser, hoffentlich ist es frisch und kühl.“

Er drückte sich mit den Herren die Hände, und Gratulationen und Dankesworte flogen hin und her. Claudine trank indeß und gab das Glas zurück.

„Weiter fahren!“ befahl jetzt Lothar, zog den Hut vom Kopf und verbeugte sich tief und ernsthaft gegen die Herrschaften um den Tisch; in den nächsten Minuten hatte der jetzt rasch dahinrollende Wagen den einsamen Waldweg erreicht; nur noch die Schlußaccorde des Walzers zitterten durch die sonnendurchleuchtete tannenwürzige Luft.

Dort an dem Tische vor dem Kurhause schwiegen plötzlich sämmtliche Zungen, genau so, wie eben die Töne schwiegen nach dem mächtigen Paukenschlag, der das Musikstück schloß. Erst ganz allmählich faßte man sich. O, wie das jetzt anders klang!

„Nun,“ erklärte die alte Excellenz würdevoll, „ich habe es ja gleich gesagt, an all dem Gerede war nichts!“

„Ach Gott, es wird so viel gesprochen,“ seufzte die gefühlvolle Baronin. „Wer hat es denn eigentlich aufgebracht?“

„Antonie von Böhlen hat es mir heute geschrieben,“ sagte eine der hübschen Komtessen Pausewitz, „doch ich sollte nicht darüber sprechen.“

„Aber so erzähle doch!“ rief die Gräfin-Mutter, ärgerlich über diese Diskretion.

„Claudine Gerold hat sich die Pulsader aufschneiden lassen, weil die Herzogin dem Verbluten nahe war, und da ist ihr Blut in die Adern der Herzogin geleitet worden,“ berichtete die Komtesse. „Antonie schreibt, ohne das wäre die Herzogin gestorben. O Gott, o Gott, es ist schauderhaft; ich hätte es nicht gekonnt.“

„Himmel, wie schrecklich!“ riefen sämmtliche Damen.

„Wie muthvoll! Das ist Rasse!“ sagte der kleine Offizier mit funkelnden Augen.

„Tausend Wetter, das ist zum Verlieben!“ rief Se. Excellenz und bekam dafür einen verweisenden Blick von Frau Gemahlin.

„Sie sah wunderbar schön eben aus,“ flüsterte der Schwermüthige, noch melancholischer als gewöhnlich. „Der Tausend, warum hat man nicht auch zwei Güter! Dieser beneidenswerthe Gerold!“

„Er hat übrigens seinen Abschied eingereicht,“ erzählte der Husarenoffizier, „er will seine Güter selbst bewirthschaften.“

„Was weißt Du noch, Lolo?“ ermunterte die Gräfin ihre Tochter.

„O, sie hat so viele Brillanten bekommen,“ erzählte eifrig die Komtesse, „und die alte Hoheit hat sie gepflegt wie eine Tochter und sie geherzt und geküßt.“

„Ah, charmant!“

„Wann sie wohl heirathen werden?“

„Sie leben jedenfalls im Winter in der Residenz.“

So ging es weiter. Im innersten Herzen gönnte keiner dieser Claudine das Glück, aber keiner wagte, mit einem Wörtchen den Ruf von Baron Gerolds Braut anzutasten. Es rauschte so ganz anders jetzt in den Bäumen der Waldfrische, und die Damen beschlossen einmüthig, der jungen Braut einen prachtvollen Blumenkorb zu spenden als ein Zeichen ihrer Dankbarkeit für die Rettung der geliebten Herzogin.

Indessen war das Brautpaar vor dem Eulenhause angelangt. Gärtchen und Gebäude lagen friedlich im Abendsonnenschein, und die durchbrochenen Rosetten der Klosterruine schimmerten rosig angehaucht. Claudinens schönes Gesicht ward plötzlich von einer peinvollen Angst belebt; dort war ja die alte rundbogige Hausthür bekränzt mit Guirlanden aus Spargelkraut und Rosen!

„Lothar,“ flüsterte sie und berührte leicht seinen Arm beim Aussteigen „ich bitte, nein ich verlange von Ihnen – kehren Sie heim mit Beate, ich will Joachim erst vorbereiten. Sie werden Nachricht bekommen, wann ich Sie sehen will; ich kann hier nicht Komödie spielen, es geht über meine Kräfte.“

Er kämpfte sichtlich mit einem Entschluß, aber ein Blick in die halb verzweifelten blauen Augen hieß ihn nachgeben; sie mußte sich in der That noch leidend fühlen. Er erwiderte kein Wort; er wandte sich nur und bat Beate, sitzen zu bleiben. Bis zur Hausthür, wo die kleine Elisabeth ihr jubelnd entgegen lief, begleitete er sie und küßte ihr die widerstrebende Hand.

„Wann wünschen Sie den Wagen nach Altenstein, heute Abend?“ fragte er. „Sie gestatten selbstredend, daß ich Sie hinüber begleite?“

Sie drehte sich eben in der Hausthür um und nickte Beate abschiednehmend zu; sie hatte in ihrer Erregung die Gute völlig vergessen. Aber die sah es nicht, sie blickte zum Thurmfenster empor.

„Ich danke Ihnen, Lothar,“ klang es nun leise, aber bestimmt, „ich kehre nicht nach Altenstein zurück; ich bleibe hier. Ich werde die Herzogin hiervon benachrichtigen. Sie glauben es nicht?“ fuhr sie müde lächelnd fort, „ich versichere Sie, ich habe tatsächlich nicht die Kräfte zu diesem Spiel. Ich versuchte ja heute tapfer meine Pflicht zu thun, nicht wahr? Haben Sie Mitleid mit mir!“

Sie neigte ernst den Kopf und ging ins Haus.

Fräulein Lindenmeyer kam ihr entgegen. Die Alte fiel in freudiger Hast beinahe über ihre Stubenschwelle; sie hatte die rothbebänderte Haube auf und breitete beide Arme aus.

[360] „Ach, gnädiges Fräulein, welch ein Glück!“ weinte sie. „O, wir wissen’s schon, wir wissen’s! Was meinen Sie, von wem? Des alten Heinemann Enkelin war da; sie hat’s brühwarm hergebracht – aber warum kommt der Herr Bräutigam nicht mit?“

Claudine mußte sich umarmen und küssen lassen, dem herbeigeeilten Heinemann die Hände schütteln und Idas Glückwünsche entgegennehmen. Ganz betäubt stieg sie endlich die Treppe empor. Wie schwer war doch dies Alles!

Joachim sah von seinem Hefte auf, als sie eintrat; er brauchte erst ein paar Sekunden, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Dann sprang er auf, trat rasch zu ihr und hob ihren Kopf in die Höhe. „Meine tapfere kleine Schwester – und als Braut? Sieh mich an, mein Liebling,“ bat er.

Aber sie hob die Wimpern nicht, von denen jetzt große Tropfen fielen. „Ach, Joachim, Joachim!“ schluchzte sie leise.

Er streichelte ihr über das weiche seidige Haar.

„Weine nicht,“ sagte er ernst, „sprich lieber, was haben sie Dir gethan da draußen?“

Und da brach er los, der Sturm der Verzweiflung, schrankenlos, unaufhaltsam. Sie schonte sich nicht, sie verhehlte, bemäntelte nichts von der Demüthigung, die erbarmungslos über sie gekommen war, gegen die ihr Stolz sich ohnmächtig auflehnte. „Und, Joachim,“ schluchzte sie wild auf, „das Schrecklichste ist, daß ich ihn liebe, liebe, wie nur ein Mädchen lieben kann, seit Jahren schon! An dem Tage, da er neben Prinzeß Katharina[WS 1] am Altar stand, habe ich gemeint, ich könne nicht weiter leben; und jetzt wirft mir das Schicksal hohnlachend das ersehnte Glück in den Schoß und sagt: ‚Da – aber behutsam! Es ist nur Goldschaum, der darauf klebt, es ist nicht echt. Da hast Du es, um was Du gebetet und geweint jahrelang!‘ – Glaube mir, er hat mich an sich genommen, so etwa wie er das Silbergeschirr auf der Auktion erstand, um jeden Preis, weil er lieber sterben würde, ehe er duldete, daß an dem Namen Gerold ein Makel haftet; er hat mich an sich gezogen – der Familienehre halber, um weiter nichts, nichts!“

Sie schwieg erschöpft, aber das bittere leidenschaftliche Schluchzen dauerte fort.

Joachim antwortete nicht; es lag noch immer seine Hand auf ihrem blonden Haar. Endlich sagte er mild: „Und wenn er Dich doch liebte?“

Sie stand plötzlich auf den Füßen.

„O mein Gott!“ sprach sie, und aus ihrem verweinten Gesicht drückte sich etwas wie Mitleid aus mit der Gläubigkeit des Bruders. „Nein, Du argloser guter Mensch, er liebt mich nicht!

„Aber wenn er es doch thäte! Er ist niemals einer von denen gewesen, die Gefühle zu heucheln verstanden. Du weißt, er hätte sich von je lieber die Zunge abgebissen, ehe er ein unwahres Wort geredet. Immer war er so, Claudine.“

„Ja, Gottlob,“ rief sie flammend und richtete sich hoch auf, „das hat er auch nicht gewagt! Du denkst, Lothar hätte um mich geworben mit Liebesheucheln? O nein, unwahr ist er nicht. Und als ich ihm die Komödie vorschlug, da fiel es ihm nicht ein, zu betheuern, daß er etwa sehr betrübt sein werde, wenn wir uns später trennen. Nein, ehrlich ist er – bis zum Verletzen ehrlich!“ Sie schien sich plötzlich zu fassen. „Du Armer,“ sagte sie weich, indem sie des Bruders Hand ergriff, „so störe ich Deine Arbeit mit meinen bösen, bösen Nachrichten. Ertrage mich, Joachim; ich werde ruhiger werden, ich will nun wieder Dein Hausmütterchen sein, Dein guter Kamerad. Daß ich doch nie hinausgegangen wäre! Und allmählich werde ich alles, alles überwinden, Joachim!“

Sie küßte ihn auf die Stirn und ging in ihr Stübchen, dessen Thür sie hinter sich verriegelte.

Wie frisches kühles Quellwasser wirkte die Ruhe dieses eigenen kleinen Heims auf ihre Seele. Sie ging von Möbel zu Möbel, als müsse sie jedes einzelne begrüßen, und stand endlich still vor dem Bilde der Großmutter.

„Du warst eine so kluge alte Frau“, flüsterte sie, „und welch törichte Enkelin hast Du erzogen! Sie bezahlt die zu spät erworbene Klugheit mit ihrem Lebensglück!“

Dann legte sie mühsam die Spitzenrobe ab, hüllte sich in ein einfaches graues Hauskleid, setzte sich still ans Fenster in den alten Lehnstuhl und schaute in den dämmerigen Abend hinaus.

* *
*

Unten in der Wohnstube schlich inzwischen die kleine Elisabeth betrübt um den freundlich gedeckten Tisch; er sah doch schön aus mit der rosengefüllten Porzellanschale in der Mitte, den kunstvoll gebrochenen Servietten, mit denen Fräulein Lindenmeyer sich so geplagt, und den rosenumkränzten Stühlen für das Brautpaar. Und gar der schöne Kuchen von Ida selbst gebacken! Der dicken Wachspuppe hatte die Kleine ein neues blaues Kleid angezogen. Wo blieben sie denn nur alle so lange?

Sie lief hinunter in Fräulein Lindenmeyers Stube. „Wann ist denn endlich Hochzeit?“ fragte sie ungeduldig. Sie hatte gemeint, die festliche Vorbereitung bedeute schon die Hochzeit.

„Ach, mein Liebling“, seufzte das alte Fräulein und sah kopfschüttelnd zu Ida hinüber. „Wer weiß“, fügte sie mit Schiller hinzu, „was in der Zeiten Hintergrunde schlummert!“ Es klang freilich anders, als das, was vorhin die gute Seele dem Brautpaare hatte sagen wollen. „Denn wo das Strenge mit dem Zarten –“

War das auch ein Brautpaar, das am ersten Verlobungstage nicht einmal zusammenblieb? Oder sollte die eine neue Mode sein? Zu ihrer Zeit war das anders gewesen, da mochte man sich gar nicht trennen und saß bei einander und sah sich in die Augen. Sie seufzte.

„Räume ab, Ida,“ flüsterte sie, „die Wespen kommen in die Stube nach dem Kuchen, er wird nur trocken. Ach, unsere duftigen Kränze! Das ist das Los des Schönen auf der Erde! Ida, Ida, mir ist ganz unheimlich zu Muthe!“

„Elisabeth möchte Kuchen haben,“ sagte die Kleine und trippelte hinter dem Mädchen hinaus.

Heinemann saß auf der Bank vor der Hausthür und pfiff ein melancholisches Lied, Ida sang beim Abräumen in der Stube die Worte dazu; wunderlich traurig klangen sie durch die offenen Fenster in den Garten hinaus:

„Saßen einst zwei Turteltauben,
Saßen beid’ auf einem Ast.
Wenn sich zwei Verliebte scheiden,
Dann verwelket Laub und Gras –“

Sie hatten beide keine Ahnung, wie tief das Fräulein Lindenmeyer verwundete. Die alte Dame bog sich aus dem Fenster.

„Seid doch ruhig,“ flehte sie halblaut; „es ist doch, weiß Gott, kein Lied, wenn sich grad eines verlobt hat; das klingt ja wie Unkenruf!“

Auch Claudine hatte den Gesang gehört. „Wenn sie sich scheiden,“ nickte sie; „wenigstens hatten sie sich doch dann schon einmal gefunden. Aber wir –?!“


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 23, S. 373–376

[373] Der erste Schnee in den Bergen! Dort oben fällt er früh; in der Ebene fliegen vielleicht noch die Sommerfäden; da flimmert’s und stiebt’s schon hier oben und liegt duftig weiß und glitzernd auf den Tannen. Dann ist’s behaglich in den Häusern der Menschen; die großen Kachelöfen thun ihre Schuldigkeit und die Fenster sind mit grünem Moos umkränzt, daß der kalte Wind keine noch so kleine Oeffnung findet, ins Innere zu dringen. Köstlich ist es dann besonders Abends, wenn die Lampe über dem Tische schaukelt und ihr Licht auf spiegelndes Theegeräth fällt.

Aber so heimlich warm, so wohnlich, so altväterisch behaglich war es doch nirgend in dem ganzen Gebirg, wie in der Wohnstube des Neuhäuser Schlosses. Schade nur, daß das Spinnrad mit dem farbigen Wockenband nicht mehr auf der Estrade seinen Platz hatte – es paßte so gut hinein in diese behaglichen vier Pfähle! Draußen flimmerte und stiebte es; hier innen brannte die Lampe auf der Platte des altmodigen Schreibtisches.

Beate schrieb: „Also, dies wären die Wirthschaftsfragen gewesen, Lothar; jetzt zu den Herzensangelegenheiten! Ich war vorhin im Eulenhause und traf Claudine in der Wohnstube; sie gab der kleinen Elisabeth Unterricht. Ich möchte Dir ja gern etwas besonders Gutes schreiben diesmal, aber es ist immer das Nämliche. Sie spricht nie von Dir, und wenn ich davon anfange, so erhalte ich keine Antwort, wenigstens keine, die mich befriedigt. Sie zeigt nur ein Interesse, und zwar das an dem Befinden der Herzogin. Sie lebt wie eine Nonne und sieht bleich aus zum Erbarmen; ihre einzige Abwechselung sind stundenlange einsame Spaziergänge. Joachim, der Egoist, scheint es nicht zu bemerken oder will es nicht sehen; ich habe ihm aber heute den Staar gestochen. Er brachte grade wieder ein dickes Manuskript, das Claudine kopiren sollte; ich nahm es ihr vor der Nase weg und sagte ‚Wenn Sie erlauben, besorge ich das, Sie überbürden ja das arme Mädchen.‛ Du weißt , sie hat die Ida abgeschafft und thut alles allein, kocht, näht und plättet, und nicht etwa schlecht! Da soll sie nun neben den Haushaltungsgeschäften noch wie ein Bogenschreiber frohnen und ihre Augen vollends verderben. Als ob die nicht vom Weinen genug gelitten hätten!

[374] Weiß Gott, man steht sie ja kaum anders, als mit eigenthümlich gerötheten Augenlidern, wenn sie auch zehnmal auf meine Frage: „Hast Du geweint?“ antwortet: „Ich? weshalb sollte ich denn weinen?“

Joachim sah mich ganz erstaunt an; ich bin aber gewiß, es ist ihm schrecklich, daß ich in dieses Geheimniß einer Dichterseele gucke. – Er hat mir nicht zu widersprechen gewagt; es hätte ihm auch nichts geholfen, denn er ist einer von denen, die man mittelst Energie gefügsam machen muß; die imponirt ihm einzig und allein!

Aber verzeihe, ich schreibe so lange von Joachim, und Du willst von Claudine hören. Du hast mich gefragt, ob sie den Verlobungsring trägt. Es thut Dir gewiß weh, aber lügen kann ich einmal nicht, Lothar – der goldene Reif fehlt an ihrer Hand. Ich fragte sie darum, da wurde sie verlegen und antwortete nicht. Sie hat so etwas Herbes um den Mund; es schmerzt mich, sie anzusehen. Du hättest wohl anders um sie werben sollen; aber freilich, wie die Sachen lagen –

Manchmal denke ich, sie hat vielleicht doch den Herzog – Nein, nein, Lothar, ich will Dich nicht ängstigen, ich bin so dumm in solchen Dingen; ich weiß ja nicht, was zwischen Euch steht, und ich will mich nicht in Euer Geheimniß drängen. Gott gebe, daß sich diese Wolken verziehen! Aber Eines weiß ich, wenn sie sich nicht bald verziehen, so werdet Ihr beide sterbensunglücklich. Zuweilen packt es mich, ich möchte dann hintreten und fragen. ,Was ist das für ein Getrotze? Der Eine hier, der Andere da. – Liebt Ihr Euch, oder liebt Ihr Euch nicht, was?‘ Aber Du hast es so verboten, also weiter so!

Ich nehme Leonie immer mit nach Eulenhaus, aber sie thut, als ob sie das Kind nicht sieht, und es ist so frisch und herzig jetzt. Joachim sagt, es sei mit seinen dunklen Augen und Locken wie ein – ‚spanisches Baby‘. Einmal habe ich sie heimlich beobachtet, da hat sie das Kind geherzt und geküßt; aber als ich hineintrat, war es wieder das Alte!

Frau von Katzenstein schrieb neulich an Claudine, daß Prinzeß Helene bei der Herzogin in Cannes sei; sie soll sich fast aufopfern und mit unermüdlicher Geduld um die Kranke sein; auch die Herzogin lobt sie in ihren Briefen an Claudine. Ihre Hoheit schreibt fast täglich, und Claudine antwortet pünktlich; aber die Korrespondenz scheint ihr keine Freude zu machen. Sie kann förmlich ungeduldig aussehen, bringt der Postbote so ein duftendes Briefchen mit der herzoglichen Krone. Die hohe Frau erkundigt sich nämlich in jedem Briefe: ,Wann ist Deine Hochzeit, Claudine? Warum schreibst Du nichts von Deinem Bräutigam, von Deinem Glück?‘ Und zuweilen liegt eine Orangenblüthe zwischen den Blättern. Was Claudine antwortet, weiß ich nicht, vermuthe aber aus der immer wiederkehrenden Frage, daß sie gar nichts darauf erwidert.

Herr Gott, ist das ein langer Brief geworden! Und ich will noch mehr schreiben heute, ich beginne nämlich Joachims Manuskript zu kopiren. Ich habe schon darin geblättert, es ist das zweite Heft der spanischen ‚Reiseerinnerungen‘.

Was willst Du sonst noch wissen, Lothar? Frage nur, ich antworte aufrichtig. Laß Dir die Zeit auf Deinem einsamen Schlosse in Sachsen nicht allzu lang werden. Gott gebe im Befinden der Herzogin einen erfreulichen Fortgang! Die arme Kranke, sie soll so unruhig sein, so große Sehnsucht haben nach ihrer deutschen Heimath und nach den Kindern. Gestern schickte sie Rosen an Claudine; vor mir duftet eine der armen weitgereisten Blüthen im Wasserglase und schaut verwundert in das Schneetreiben vor den Fenstern. Es wogt und tanzt ganz unermüdlich in der farblosen Dämmerung des beginnenden Abends; welch ein lautloses Gewimmel! – Ich lege Dir eine Locke bei von unserer Kleinen.

Prinzeß Thekla hat in der That Frau von Berg bei sich; weißt Du das? Und wußtest Du, daß der Herzog Herrn von Palmer nicht mit nach Cannes nahm? Es ist auffallend, er konnte sonst nicht ohne ihn sein.“

Sie adressirte den Brief und stand eben im Begriff nach dem Kinderzimmer zu gehen – es war die Zeit, wo die Kleine ihr Abendsüppchen verspeiste, das Beate als gewissenhafte Pflegemutter nie zu kosten versäumte – da ward ihr Heinemann gemeldet.

„Nun,“ fragte sie, als der Alte eintrat, im Flauschrock und hohen Stiefeln, die Pelzkappe in der Hand, „was ist bei Euch passirt?“

„Gott sei gepriesen, nichts! Aber wir haben ein Telegramm bekommen, das gnädige Fräulein muß noch mit dem Nachtzuge fort; sie läßt Fräulein von Gerold um einen Schlitten bitten, der sie nach der Station fahren kann.“

Beate befahl in aller Seelenruhe das Anspannen und schenkte eigenhändig dem Alten einen Likör ein.

„Ich werde mitfahren,“ sagte sie, „und Sie können hinten aufsitzen.“

„Ja, darum ließ das gnädige Fräulein auch herzlich bitten; ich hatt’s vergessen,“ murmelte der Alte.

Beate fuhr nach kaum einer Viertelstunde in den schneehellen Wald hinaus. – Was in aller Welt mochte geschehen sein?

Das Eulenhaus hob sich grau aus den verschneiten Tannen und röthlich schimmerten die erhellten Fenster in die Nacht. Fräulein Lindenmeyer kam ihr im Hausflur entgegen; sie sah beängstigend feierlich aus und ihre Augen schwammen in Thränen. Sie hatte die Hände gefaltet und flüsterte der erschreckten Beate zu: „Mit der Herzogin geht es zu Ende!“

Beate flog die Treppe empor nach Claudinens Zimmer. Die packte eben eilig ein Köfferchen; sie wandte ihr ein trübes Antlitz zu.

„Um des Himmels willen,“ rief die Eintretende, „Du reisest nach Cannes?“

„O nein,“ erwiderte Claudine, „nur nach der Residenz; die Herzogin will zu Hause sterben.“

Und sie legte die Hände vor das vergrämte Gesicht und weinte.

„Sie bringen sie zurück? Ach Gott! – Meine gute Claudine, weine nicht; liebe, einzige Claudine, Du mußtest ja doch wissen, daß es nur eine Frist sein konnte, dieses scheinbare Besserwerden!“

„Da die Depesche von Frau von Katzenstein, Beate; die Herzogin erwartet, mich in der Residenz zu finden. Morgen Abend kommen sie an; die Depesche ist schon aus Marseille. Ich wollte Dich bitten, Beate, sieh zuweilen nach der Kleinen,“ fuhr Claudine fort; „Joachim ist so in der Arbeit, und Fräulein Lindenmeyer zuweilen schon recht vergeßlich. Ich hatte gedacht, an Ida zu schreiben, aber die Lindenmeyer erzählte mir, sie habe schon eine Stelle angenommen.“

„Was redest Du denn so lange darum?“ sagte Beate scheinbar böse und half der Kousine den Mantel anziehen, „das ist doch selbstverständlich; mach’ Dich gut warm, und –“

„Aber laß das Kind hier im Eulenhause,“ unterbrach Claudine sie; „Joachim ist es so gewöhnt, daß Elisabeth in der Dämmerung herauf kommt und auf seinen Knieen sitzt und sich Märchen erzählen läßt.“

„Versteht sich,“ erwiderte Beate. „Aber, was ich sagen wollte, Claudine“ – sie stockte – „vergiß den Verlobungring nicht,“ setzte sie leise hinzu.

Claudine wandte sich erschreckt um. „O ja, Du hast Recht,“ sagte sie traurig und suchte den Ring aus einer kleinen Kassette hervor.

Fräulein Lindenmeyer stand weinend neben Beate im Hausflur, während Claudine Abschied nahm von Joachim.

„Ach Gott, so jung noch und schon sterben müssen!“ schluchzte das alte Fräulein, dem in seinem Schmerz kein passenderes Citat einfiel; „von Mann und Kindern fort, und so weit da draußen in der Welt! Gott gebe es, daß sie noch lebend die Heimath erreiche!“

„Gott gebe es!“ wiederholte wie unbewußt Claudine und fuhr neben Beate in die Schneenacht hinaus. Beate ließ es sich nicht nehmen, ihre Kousine bis in das Coupé zu befördern; sie sorgte fast mütterlich für ihres Bruders Braut. Und als die erleuchtete Wagenreihe in die Nacht verschwunden war, fuhr sie mit ernsten Gedanken heim. Die Schlittenglocken klingelten seltsam feierlich im Walde, es war so lautlos still rings umher; sie dachte an den Expreßzug, der durch das Land jagte und die kranke Herzogin mit sich führte. Es mußte schlimm, sehr schlimm stehen, daß man die Reise unternahm; es konnte nur sein, weil sie daheim sterben wollte. Und sie dachte an Claudinens Weinen. Welch Wiedersehen zwischen den Beiden! Als die Herzogin Altenstein verließ, um nach Cannes zu gehen, war sie ohnmächtig geworden. Und nun kam der letzte Abschied.

Auch Claudine dachte an ihre fürstliche Freundin, als sie so ganz allein dahin fuhr. Es reist sich schrecklich mit solchem Ziel. [375] So bald schon! klang es in ihrem Herzen. Ja, sie alle hatten sich sagen müssen, daß es nur eine kurze Frist war, die dem armen Leben noch gegeben ward, und nun kam es doch zu rasch! Düster stand die Zukunft vor des Mädchens Seele, düsterer als die Nacht da draußen.

Sie hatte zunächst nur eine kleine Strecke zu fahren, dann aber in Wehrburg zwei Stunden Anfenthalt; der Winterfahrplan war so ungünstig. Und da schimmerten schon die Lichter von Wehrburg, der Zug fuhr langsamer und hielt endlich. Sie stieg aus und ging durch die zugige erleuchtete Halle nach dem Wartesaal; sie hob den Schleier nicht, als sie eintrat, und nahm still in einer Ecke Platz.

Nicht weit von ihr saßen flüsternd ein Herr und eine Dame, die letztere gleich ihr unkenntlich durch einen dichten Gazeschleier; nur die Bewegung des Kopfes schien Claudine bekannt. Von dem Herrn hatte sie bis jetzt nur das stark grau melirte, kurz gehaltene Haar gesehen. Er trug einen kostbaren Pelz, sein Hut lag neben ihm. Er beugte sich über ein Kursbuch, und wenn er eine Seite umschlug, so zuckte das Leuchten eines großen Brillanten zu ihr herüber. Es ist ein trauriger Aufenthalt während einer Winternacht in einem schlecht geheizten und schlecht beleuchteten Wartesaal. Unwillkürlich beobachtet man seine Leidensgefährten und überlegt: was mögen die vorhaben, wohin reisen sie, welche Bande verknüpfen sie unter einander? Ist es ein Ehepaar? Sind es Vater und Tochter?

Claudine in ihren trüben Gedanken starrte ebenfalls auf das einzige Paar Menschen, das, außer dem schlaftrunkenen Kellner, den Raum mit ihr theilte. Die Dame sprach leise und eifrig; ihr Kopf war dicht zu dem Herrn geneigt. Dieser rückte fast ungeduldig auf dem Stuhle hin und her.

„Unsinn!“ hörte Claudine ihn jetzt in französischer Sprache sagen; „ich habe es tausendmal erklärt, ich gehe bis Frankfurt und komme dann zurück.“

„Ich glaube Ihnen nicht,“ flüsterte die Dame heftig; „es bleibt bei dem, was ich gesagt habe – betrügen Sie mich, so wissen Sie, wie ich mich rächen werde.“

„Nun, das wird Ihnen auch nicht zum Heil gereichen, meine Beste!“

„Das thut dann auch nichts mehr,“ erklärte sie lauter, als es ihre Absicht sein mochte, und ihre kleine Hand schlug, zur Faust geballt, auf den Tisch. Besänftigend legte der Herr seine Rechte darüber und sah sich erschreckt um.

Claudinens Schleier war zu dicht; er verbarg völlig ihre Züge und ihre erstaunten Augen. – Das war ja, mein Gott, das war Herr von Palmer und – natürlich, so zischte nur Frau von Berg, wenn sie gereizt wurde. Das war ihr üppiges Haar, ihre volle Gestalt. Was in aller Welt –?

„Ich bitte Dich,“ sagte er jetzt schmeichelnd, „was sollte ich ohne Dich da draußen, m’amie? Sei doch vernünftig und erfülle meine Bitte!“

Eben brauste ein Zug in den Bahnhof, die Fenster bebten leise. Nun ertönte die Glocke und der Portier rief mit singender Stimme in das Zimmer. „Einsteigen in der Richtung nach Frankfurt am Main!“

Eilig erhob sich Herr von Palmer. „Bleibe hier!“ sagte er heftig.

„Ich werde mir doch nicht nehmen lassen, Sie bis ans Coupé zu geleiten,“ erwiderte sie höhnisch; „wer weiß, wie lange ich Ihre Gegenwart entbehren muß!“

Er antwortete nicht und stürmte hinaus, die Dame rauschte hinterdrein.

Claudine erhob sich unwillkürlich und trat ans Fenster; sie sah Palmer eilig in ein Coupé erster Klasse verschwinden. Die Dame stand davor, fest in ihren Pelz gewickelt. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und die Zurückbleibende kam wieder ins Wartezimmer. Sie fixirte einen Moment die verschleierte Claudine; dann schlug sie den Schleier zurück und bestellte sich Thee und Zeitungen.

Richtig, dieser Seidenflor hatte das weiß geschminkte Gesicht ihrer Feindin verhüllt.

Herr von Palmer mochte wohl den Herrschaften entgegen reisen, was aber veranlaßte die schöne Frau zu Besorgnissen? Beate hatte vielleicht Recht; sie standen in engen Beziehungen zu einander und dieses leidenschaftliche Weib war eifersüchtig.

Und endlich, endlich kam ihr Zug. Claudine wartete ab, welches Coupé Frau von Berg nehmen würde; es waren nur zwei erster Klasse im Zuge. In das eine stieg Frau von Berg; so schritt sie auf das andere zu, das der Schaffner ihr sofort öffnete. Einen Moment überlegte sie noch, dort saß ein Herr – sollte sie zweiter Klasse fahren?

„Ist das Nichtrauchcoupé zweiter Klasse frei?“ fragte sie.

„Nein, Madame, es sind fünf Herren drinnen und eine Dame, und im Damencoupé eine Familie mit Kindern.“

Sie stieg endlich ein und nahm am Fenster Platz; der Herr dort in der Ecke schlief, es war nichts von ihm zu sehen, als Mütze und Pelz und eine dunkelviolette Reisedecke. Nun, lange dauerte ja die Fahrt nicht mehr, zwei Stunden höchstens. Sie legte den blonden Kopf mit dem dunklen Pelzmützchen an die Kissen, sie war so müde; aber die rastlos weiter arbeitenden traurigen Gedanken ließen sie nicht schlafen. – Die Herzogin würde sterben, dann hatte sie ein treues Herz verloren und – ihre Freiheit gewonnen; sobald die letzte Fackel gelöscht war am Begräbnißtage, würde sie Lothar den Ring in die Hand legen und aufathmen. Ihre Brust hob sich, aber schon der Gedanke an dieses Aufathmen that ihr weh. Ach, das Leben, das dann kommen würde! So farblos, so einförmig, das Leben eines armen adligen Fräuleins, das allmählich zur einsilbigen alten Jungfer wird. Das Leben einer Verschollenen! – Und wenn Joachim sich nun wieder verheiratete? Wenn zu all der Freudlosigkeit auch noch das Bewußtsein des Ueberflüssigseins käme? Wenn dereinst Beate einem Mann folgte, fort aus dem stillen Paulinenthal? Ach nein, Joachim blieb ihr, mußte ihr bleiben. Wie sollte er in seiner Zurückgezogenheit, in seinem arbeitsvollen Dasein Zeit finden, um zu freien? Joachim blieb ihr und sein Kind; sündhafte Muthlosigkeit war es, so zu denken. Sie hatte noch so viel, viel mehr als Andere!

Sie setzte sich hoch, kerzengerade, und sah auf die flimmernden Eisblumen der gefrorenen Fensterscheiben. Dann zuckte sie tödlich erschreckt zusammen. In dem Rollen und Kreischen des Zuges, der eben kurz vor einer Station gebremst wurde, hatte sie nicht gehört, daß der Herr dort aufgestanden und herüber gekommen war. Erst als sie fühlte, daß etwas ihren Mantel streifte, hatte sie aufgesehen – vor ihr saß Lothar.

„Also wirklich?“ klang es herzlich. „Trotz des Schleiers erkannt! Aber, was spreche ich denn? Es giebt ja nur einmal dieses goldige Haar. Und Sie wollen auch nach der Residenz?“ Es lag ein Ausdruck freudigster Ueberraschung in seinen Zügen. Unwillkürlich hatte seine Rechte gezuckt, als wollte sie eine dargebotene Hand erfassen; die Pelzmütze hatte er abgenommen; nun setzte er sie, wie um eine Verlegenheit zu verbergen, wieder auf.

Claudine saß da wie eine Statue. Sie hatte sich merkwürdig rasch gefaßt.

„Ja,“ erwiderte sie kurz, die Hand übersehend; sie hielt die beiden ihrigen in einander geschlungen im Muff, als wollten sie sich gegenseitig festhalten. „Der Kammerherr von Schlotbach telegraphirte mir, daß die Herrschaften morgen eintreffen, und da habe ich mich gleich aufgemacht.“

„Aber, sagen Sie, wie geht’s in Paulinenthal?“ fragte er dann.

„Gut!“ antwortete sie.

„Und meine Kleine?“

„Sie ist gesund – glaube ich.“

Glauben Sie?“ fragte er mit bitterer Betonung.

Eine Weile schwiegen beide. Der Zug hielt; draußen knirschte der Schnee unter schweren Männertritten; irgend eine Coupéthür wurde zugeschlagen; dann läutete die Glocke und schrillte die Pfeife, und weiter rollte die Wagenreihe.

„Claudine,“ begann er zögernd, „ich habe vorgestern an Sie geschrieben. Der Brief wird heute früh im Eulenhause anlangen –.“

Sie neigte flüchtig den Kopf, ohne ihn anzusehen.

„Ich war in einer furchtbaren Stimmung,“ fuhr er fort; „stellen Sie sich vor, wie ich in dem alten, spärlich möblirten Schlosse hause, zwei Stunden von der nächsten Stadt, völlig eingeschneit. Ich bin vielleicht, naß wie eine Made, eben von einem Birschgange zurückgekehrt, sitze neben einem rauchigen Kamine, der kaum wärmt; der Schneesturm tobt vor den Fenstern, und so allein bin ich, so furchtbar allein in dem öden Gebäude! Dazu [376] habe ich dann zuweilen förmliche Visionen; ich sehe die Neuhäuser Wohnstube, sehe meine Kleine drinnen spielen, höre ihr Jauchzen und meine ordentlich den Geruch von Bratäpfeln zu spüren, die um diese Jahreszeit nie in der Röhre des Kachelofens fehlen.“ Er stockte einen Moment. – „Und da, da denke ich: mein Gott, wozu sitzest Du eigentlich hier in so trübseligen Gedanken? In einem solchen Moment stand ich vorgestern auf, holte meine Schreibmappe und schrieb, um Sie auf der Stelle zu fragen, ob –“

Sie fiel ihm fast heftig ins Wort.

„Weshalb fragen? Ich kann Sie nicht zwingen, Ihr Versprechen zu halten, habe auch wahrhaftig niemals verlangt, daß Sie nach Schloß ‚Stein‘ gehen sollten. Sie wußten ja sonst Berlin und Wien zu finden, oder Paris oder irgend eine große Stadt noch weiter entfernt.“

Er hatte sie ausreden lassen.

„Ich wollte Sie in dem Briefe fragen,“ sprach er ruhig weiter, „soll denn die Komödie noch kein Ende nehmen, Claudine? Es ist doch frevelhaft –“

Sie fuhr empor. Sprach er im Ernst?

„Das sagen Sie mir jetzt?“ rief sie empört, „jetzt, wo die Entscheidung so nahe? Die Arme lebt vielleicht keine vierundzwanzig Stunden mehr! Haben Sie es so eilig, Ihre Freiheit wieder zu erlangen?“

„Sie sind sehr verbittert, Claudine!“ erwiderte er unwillig, und doch klang es wie Mitleid aus seiner Stimme. „Aber Sie haben Recht; angesichts der traurigen Tage, denen wir entgegensehen, sollte man nicht von diesen Dingen sprechen; indessen –“

„Neiu, nein! Sprechen Sie nicht davon!“ pflichtete sie ihm aufathmend bei.

„Indessen ich kann nicht anders,“ fuhr er unerbittlich fort. „Das Neueste ist nämlich, daß Ihre Hoheit sich direkt an mich wandte.“ Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihr ein Schreiben; „es ist besser, Sie lesen selbst.“

Claudine machte eine abwehrende Bewegung.

„Es ist ein eigenhändiges Schreiben der Herzogin,“ betonte er, ohne das Briefblatt zurückzuziehen; „die arme Frau verbittert sich ihre letzten Tage mit Sorgen. Wenn Sie gestatten, Kousine, lese ich es Ihnen vor.“

Und das blasse Mädchengesicht kaum mit dem Blicke streifend, begann er.

„Mein lieber Baron! Diese Zeilen schreibt Ihnen, nach langem innern Kampf, eine Sterbende und bittet Sie, ihr nach Möglichkeit in einer überaus zarten Angelegenheit zu helfen.

Sagen Sie mir die Wahrheit auf eine Frage, deren Indiskretion Sie mir, die ich bald nicht mehr unter den Lebenden sein werde, verzeihen wollen. Lieben Sie Ihre Kousine? Wenn es nur ein Akt der Klugheit und Großmuth war, ihre Hand zu erbitten, dann, Baron, geben Sie dem armen Mädchen die Freiheit zurück und seien Sie überzeugt, daß Sie dadurch die Zukunft zweier Menschen, die mir über alles theuer sind, glücklich gestalten werden.   Elisabeth.“

Die blauen Augen Claudinens starrten wie verzweifelt auf das kleine Briefblatt. Barmherziger Gott, was sollte das sein? War die Herzogin noch immer in dem alten schrecklicheu Wahn, daß ihr Gatte sie liebe oder sie ihn? Oder hatte Prinzeß Helene sich ihr anvertraut, und die Herzogin wollte vermitteln zwischen Lothar und ihr?

„Und Sie?“ klang es endlich gebrochen von ihren Lippen.

„Ich bin auf dem Wege, Ihrer Hoheit die Antwort zu bringen, Claudine. Sie wissen selbst, hoffe ich, daß es unnöthig war von der Herzogin, die Wahrheit zu fordern. Ich habe immer offen gehandelt während meines ganzen Lebens; nur einmal beging ich eine Täuschung, weil ich aus Zartgefühl nicht den Muth hatte zu sprechen, weil ich glaubte, ein einmal gegebenes Wort einlösen zu müssen, und sollte es auf Kosten meines Lebensglückes geschehen. Lassen wir das, es ist begraben. – Niemals haben mich seitdem irgend welche Rücksichten gehindert, der vollsten Ueberzeugung gemäß zu handeln. Ich werde Ihrer Hoheit kurz erklären, daß –“

Ein leiser Schrei unterbrach ihn; flehend streckte Claudine ihm die Hand entgegen und ihre Augen starrten angstvoll in die seinen.

„Schweigen Sie, ich bin nicht die Herzogin!“ stammelte sie.

Er hielt inne vor diesem verzweifelten Gebahren. Das Mädchen sprang empor und flüchtete nach der andern Seite des Coupés.

In diesem Augenblick huschten Laternen vor dem Fenster vorüber, der Zug fuhr langsamer; in der trüben Dämmerung des Schneemorgens erkannte der Baron den Bahnhof der Residenz; über der Stadt erhob sich grau die alte herzogliche Veste.

Claudine war ausgestiegen, ehe er hinzuspringen konnte, ihr behilflich zu sein. Ein fürstlicher Lakai erwartete sie und ein Hofwagen. Als sie eilig hineinschlüpfte, stand Lothar am Schlag. In dem grauen kalten Morgenlicht sah sein Gesicht ganz anders aus als vorher; es schien Claudine, als wäre er seit den paar Monaten um Jahre gealtert.

„Ich bitte, Kousine, nennen Sie mir die Stunde für eine Unterredung,“ forderte er mit höflicher Bestimmtheit.

„Morgen,“ erwiderte sie.

„Morgen erst?“

„Ja!“ entschied sie kurz.

Er trat, sich verbeugend, zurück, nahm wenige Minuten später Platz in einem Hôtelwagen und fuhr mit dem schwerfälligen Omnibus durch das Süderthor, welches eben der fürstliche Wagen mit Claudine in Windeseile passirt hatte.

„Wie,“ dachte er, durch ihr sonderbares Benehmen geängstigt, „wenn die Herzogin dennoch Recht hätte, wenn sie den Herzog wirklich liebte? Wenn ich selbst ihr gleichgültig wäre, wirklich gleichgültig?“

Er hatte sich immer soviel darauf eingebildet, die Frauen zu verstehen; er glaubte Claudine ganz zu kennen – heute zum ersten Male kamen ihm ernstliche Zweifel.


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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 24, S. 397–400

[397] Claudine war den steilen Schloßberg hinauf gefahren und stieg an dem Portale des Flügels ab, den die Herzogin-Mutter bewohnte. Die aufgehende Sonne tauchte eben die verschneiten spitzen Giebeldächer, die Thürmchen und Mauern in Purpurgluth, und in demselben Moment entrollte sich das herzogliche Banner auf dem Hauptthurm der Stadt, die unten noch in grauer Dämmerung lag, ein Zeichen, daß die Herrin heimkehre, ja – heimkehre, um zu sterben.

Claudine fand im zweiten Stockwerk ein paar gemütliche Zimmer zu ihrer Verfügung und ward noch im Laufe des Vormittags zur alten Hoheit beschieden. Die freundliche Dame hatte verweinte Augen; sie saß an dem bekannten Erkerfenster und blickte über die Dächer ihrer guten Stadt hinweg, weit in das verschneite Land hinein. O, wie oft hatte Claudine hier vor ihr gesessen in dem lauschigen Zimmer, mit den steifen kostbaren Möbeln der ersten Kaiserzeit und den vielen, vielen Bildern an den Wänden, und hatte sich mit ihrer Gebieterin der herrlichen Aussicht gefreut. In der gegenwärtigen Stunde hatten sie beide kein Auge für diese Schönheiten. Sie sahen dort hinaus, wo der Schienenstrang aus dem Walde hervortrat, auf dem der Zug daherkommen sollte, der die arme Kranke brachte.

[398] Die Herzogin hatte einen neuen Blutsturz gehabt in Cannes; sie wollte nur noch Eins – ihre Kinder wiedersehen und Verschiedenes ordnen vor ihrem Sterben. Die kleinen Prinzen waren daheim geblieben, sie sollten der Mutter nicht zuviel Unruhe machen; der Arzt hatte es so gewünscht, obgleich sie dagegen gekämpft. „Herr Doktor, ich sterbe ja vor Sehnsucht!“

Die alte Hoheit schüttelte nur immer leise das greise Haupt, während sie dies alles erzählte: „Es ist hart, es ist so besonders hart für Adalbert; sie hatten sich ganz und vollständig gefunden; sie waren auf dem besten Wege, ein glückliches Paar zu werden. Er schreibt so liebevoll von ihr, und nun?“ Sie seufzte; – „Gott mag wissen, was man noch alles erlebt!“

Die Herrschaften hatten sich jeden Empfang verbeten, aber die alte Hoheit wollte doch mit dem Erbprinzen hinunterfahren zum Bahnhof und befahl, Claudine möge sie begleiten. Gegen zwei Uhr fuhren sie den Schloßberg hinab; ein trüber Novemberhimmel hing über der Stadt und sandte große dicke Schneeflocken hernieder. Aber trotz des schlechten Wetters standen Hunderte von Menschen in der Straße, die zum Bahnhof führt.

Der Landauer der Herzogin hielt dicht vor der Rampe des fürstlichen Wartezimmers; die Polizei bemühte sich, der Menge zu wehren, die sich stumm herzudrängte. Alle standen denn auch ruhig in weitem Bogen um die Equipagen. Auf dem Perron befanden sich einige Herren; der Schnellzug, der die herzogliche Familie bringen sollte, war bereits signalisirt. Endlich brausten die Wagen unter die Halle, es entwickelte sich plötzlich ein buntes Treiben auf dem Perron. Der Herzog war zuerst ausgestiegen; er küßte seiner alten Mutter die Hand; dann hob er selbst die leidende Gemahlin aus dem Wagen. Aller Augen waren auf ihr bleiches schmales Antlitz gerichtet, dessen große Augen den Erbprinzen suchten. Sie umarmte die alte Herzogin und küßte ihr Kind mit einem traurigen Lächeln. „Da bin ich wieder,“ flüsterte sie matt. Kaum vermochte sie die paar Schritte zum Wartezimmer zu gehen; der Erbprinz und der Herzog stützten sie; freundlich, müde erwiderte sie die Grüße. Prinzeß Helene und ihre Hofdame, Frau von Katzenstein und die Kammerfrau, die Herren vom Gefolge, alle hasteten durch einander.

Als sie Claudine sah, zuckte es in ihrem Gesicht; sie winkte mit der Hand und deutete auf den Wagen.

Das schöne Mädchen eilte hinüber. „Hoheit,“ stammelte sie ergriffen und beugte sich über die Hand der Herzogin.

„Komm, Dina!“ flüsterte diese, „fahr’ mit mir; und Du, mein Herz,“ wandte sie sich an den Erbprinzen. „Adalbert wird mit Mama fahren.“ Und als man sie in den Wagen gehoben, sagte sie, während sie durch die schweigende ehrfuchtsvoll grüßende Menge fuhr: „Grüße, mein Kind, grüße sehr freundlich; die Leute wissen alle, wie krank ich bin.“

Sie selbst bog sich mit Anstrengung ein wenig vor und wehte matt mit dem weißen Tuche.

„Das letzte Mal! Das letzte Mal!“ murmelte sie. Dann faßte sie des Mädchens Hand. „Wie gut, daß Du da bist!“ – Oben am Portale entließ sie die Freundin. „Wenn ich geruht, so lasse ich Dich rufen, Dina.“

Claudine suchte ihr stilles Zimmer auf und schaute in den winterlichen Schloßhof hinab, der plötzlich das Gepräge der Einsamkeit verloren hatte. Equipagen fuhren ab und zu; die Wache zog auf und die großen Gepäckwagen kamen langsam den Berg herauf. Dort unten läuteten die Glocken der Marienkirche, vielleicht zu einer Hochzeit; hier und da blitzten schon Lichter auf, trotz der frühen Nachmittagsstunde, und es schneite, schneite immerzu.

Stunden vergingen. Man servirte Claudine den Thee in ihrem Zimmer. Sie betrachtete, in einem Fauteuil sitzend, das zuckende blaue Flämmchen unter der Maschine und dachte an Lothar und wie er ihr seine Einsamkeit und Sehnsucht auf dem verlassenen Schlosse in Sachsen geschildert. O ja, es ist schwer, sehr schwer, allein zu sein mit den marternden Gedanken, der schrecklichen Ungewißheit. Ungewißheit? Sie war fast zornig auf sich; ach Gott, sie wußte es so nur zu gewiß!

Prinzessin Helene hatte gut ausgesehen, ihr Gesicht hatte einen etwas anderen, günstigeren Ausdruck gezeigt. Das Leidenschaftliche, Unruhige war von ihr gewichen – sie hatte wohl Hoffnung, gegründete Hoffnung!

Was wollte nur die Herzogin von ihr selbst? Ach, es war ja klar! Sie würde, nachdem sie Lothars Antwort erhalten, zu ihr sagen: „Claudine, sei großmüthig, gieb Du ihm sein Wort zurück! Er fühlt sich gebunden.“

Freilich, das wußte sie, er würde die Verlobung nicht lösen, nie! Er war auf ihre Großmuth angewiesen. Ein heißer leidenschaftlicher Trotz erfüllte sie. „Und wenn ich jetzt nicht will? Und wenn ich lieber elend an seiner Seite werden will, als elend ohne ihn? Wer kann mich hindern?“ Sie schüttelte den Kopf. „O nimmermehr! Nein!“

Die altmodische Uhr auf der Spiegelkonsole schlug Neun. Heute war die Herzogin sicher zu angegriffen gewesen; es war wohl keine Hoffnung mehr, sie zu sehen. Es fror sie plötzlich in dem dunklen Zimmer; das Flämmchen unter dem Kessel war längst erloschen; im Kamin glühte nur noch ein schwacher rother Schein. Sie begann umherzuwandern; bis zehn Uhr wollte sie noch warten, dann zur Ruhe gehen. Vielleicht konnte man ja schlafen. Aber gegen zehn Uhr kam doch die Kammerfrau und beschied sie hinunter.

Sie ging die Korridore entlang und über verschiedene Treppen und Treppchen, bis sie in das wohldurchwärmte und hellerleuchtete Vestibül gelangte, vor den Gemächern Ihrer Hoheit. Sie war früher selten hier gewesen; bei den Festlichkeiten, die im Schlosse stattfanden, hatte sie die Herzogin-Mutter immer nur in die Prunksäle begleitet, und die kleinen Gesellschaftsabende in den Salons Ihrer Hoheit zu vermeiden gesucht. Aber sie empfand auch heute wieder den eigenthümlichen Zauber dieser prächtigen Räume. Ueberall dieses satte Roth auf Wänden, Teppichen und Vorhängen, überall das gedämpfte Licht röthlich verschleierter Ampeln und Lampen, überall Gruppen üppiger exotischer Pflanzen, und überall prächtige farbenglühende Gemälde in breiten funkelnden Goldrahmen.

„Krankhaft! fieberhaft wie der Geist, der diese Räume bewohnt,“ hatte einst Se. Hoheit gesagt, der, an die raue Waldluft gewöhnt, in dieser schweren duftdurchhauchten Atmosphäre zu ersticken gemeint. Es lag etwas Wahres darin. Ein heißes Verlangen, die arme Wirklichkeit zu verschönern, die Sehnsucht nach Leben und Glück sprach sich aus in dieser den Gemächern eines Feenschlosses gleichenden Umgebung.

Die Herzogin lag in ihrem Schlafzimmer, in dem niedrigen, mit schweren rothen Vorhängen umgebenen Bette, deren Falten oben am Plafond ein vergoldeter Adler in seinen Krallen hielt. Auch hier eine röthliche Beleuchtung, die das bleiche Gesicht mit trügerischen Rosen überhauchte.

„Es ist spät, Dina,“ sagte die Kranke mit verschleierter Stimme; „aber ich kann nicht schlafen, fast nie mehr, und ich kann nicht allein sein, ich fürchte mich. Ich habe nur darum einen Vorhang des Bettes so legen lassen, daß ich die Thür nicht sehe. Mich erfaßt mitunter eine unerklärliche Angst, es möchte irgend etwas Schreckliches über die Schwelle kommen, unser Hausgespenst, die weiße Frau, die mir melden will, was ich so schon weiß: daß ich sterben muß. Lache mich nicht aus, Dina; ich lag sonst so gern im Dunkeln. Erzähle, Claudine, erzähle mir alles; ich meine, oft wird es nicht mehr sein, daß ich Dir zuhören kann. Wie erging es Dir, Dina? Sprich!“

Claudine meinte, sie müsse hinauseilen aus diesem reichen Zimmer mit seinem vergoldeten Plafond und dem betäubenden Maiblumenduft, der vom Wintergarten herüberzog.

„Mir geht es gut, Elisabeth, ich bin nur traurig, daß Du leidest,“ sagte sie und nahm Platz zur Seite des Bettes.

„Claudine,“ begann die Kranke, „ich habe noch so vielerlei zu schreiben und zu ordnen, und wenn erst mein Vater hier ist und meine Schwester – sie werden bald eintreffen – und wenn ich die Angst wieder bekomme, die erstickende Angst, dann ist’s zu spät. Hilf mir ein wenig dabei.“

„Elisabeth, Du regst Dich unnöthig auf.“

„Nein, o nein; ich bitte Dich, Dina!“ Und sie wandte ihr abgemagertes Gesicht um und blickte das Mädchen an mit den großen glänzenden Augen, als wollte sie in das Herz der Freundin schauen. „Du bist eine so seltsame Braut, Claudine,“ begann sie nach einer Weile flüsternd, „und seltsam ist auch Euer Brautstand. Er dort, Du da. Claudine – gestehe, es war ein frommes Opfer von Dir, als Du Deine Hand verschenktest an jenem gräßlichen Tage! Sprich, Claudine, Du liebst ihn nicht?“

Mit wahrhaft verzehrender Angst hingen ihre Blicke an dem blassen Antlitz des Mädchens.

„Elisabeth,“ sagte dieses nach einer Pause und legte die Hände auf ihre Brust. „Ich liebe Lothar, ich habe ihn geliebt, [399] als ich noch nicht wußte, was Liebe ist; als halbes Kind schon habe ich ihn geliebt!“

Die Herzogin schwieg, aber sie athmete rasch.

„Glaubst Du mir nicht, Elisabeth?“ fragte Claudine leise.

„Ja, ich glaube Dir, Dina; aber liebt er Dich? Sage, liebt er Dich auch?“ flüsterte die Herzogin.

Sie senkte die Wimper. „Ich weiß es nicht,“ stammelte sie.

„Und wenn Du wüßtest, er liebt Dich nicht, würdest Du trotzdem sein Weib werden wollen?“

„Nein, Elisabeth!“

„Und Du würdest Dich nie entschließen können, einem Andern Deine Hand zu schenken, der Dich unsäglich liebt?“

Das schöne Mädchen saß wie ein Steinbild, ohne zu antworten.

„Claudine, weißt Du, weshalb ich gekommen bin?“ fragte die Herzogin leidenschaftlich erregt – „um mit der letzten Lebenskraft demjenigen, der mir am theuersten ist auf dieser Welt, ein heißersehntes Glück zu retten. Als ich fortging nach Cannes,“ sprach sie weiter, „da kämpfte noch meine thörichte Schwachheit, mein verwundetes eitles Herz mit der besseren Einsicht. Claudine, der Herzog liebt Dich – mich hat er nie geliebt. Er liebt Dich mit aller Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, deren sein edles Herz fähig ist. Ich habe während der Jahre unserer Ehe in jedem Zuge seines Gesichtes lesen gelernt – er liebt Dich, Dina! Und er wird Dich nie vergessen. Sitze nicht so stumm da; um Gotteswillen, antworte!“

„Du irrst Dich!“ rief Claudine angstvoll und streckte abwehrend ihre Hand gegen die Herzogin aus. „Du irrst Dich; Se. Hoheit liebt mich nicht mehr, es ist ein Wahn von Dir! Du darfst nicht grübeln über solche Hirngespinste, Du durftest deshalb nicht kommen.“

„O, glaubst Du, Dina, daß man die Liebe auszieht wie ein Kleid?“ fragte die Herzogin bitter, „daß man sich vornehmen kann, etwa als wolle man einen Spaziergang machen: von heute ab wird nicht mehr geliebt – Punktum!? So ist das Herz nicht beschaffen.“

Claudine schwieg. „Ich werde mich nie verheirathen,“ sagte sie dann leise und bestimmt, „wenn nicht beider Herzen sich einander zuneigen, nie! Verzeihe, Elisabeth, ich darf Dir keine trügerischen Versprechungen machen. Verfüge über alles, alles! Ueber mein Leben, wenn es sein muß, nur verlange das nicht!“

Die Herzogin blickte mit weinenden Augen an Claudine vorüber. Ein Weilchen blieb es ganz still im Gemach.

„Armer Mann! Ich hatte es mir so schön gedacht für Dich,“ sagte sie dann mehr zu sich selbst. „Es soll nicht sein!“ Und etwas lauter: „Welche Verwirrung – Du liebst Lothar, und er – arme kleine Prinzessin!“

„Elisabeth!“ schrie Claudine auf und ihre erblaßten Lippen zitterten. „Ich will ja sein Glück nicht hindern – was denkst Du von mir? Nie! Nie! Erweise mir eine Liebe,“ fuhr sie hastig fort, „gieb ihm in meinem Namen seine Freiheit zurück – ich weiß, Du sprichst mit ihm über diesen Punkt.“

„Morgen,“ sagte die Herzogin.

„So gieb ihm das!“ Sie zog heftig den Brautring von ihrem Finger. „Hier ist das Glück der Prinzessin, nimm es und – laß mich meine eigenen Wege gehen, allein, fern von allem, was mich an ihn erinnert!“

Sie sprang empor und ging zur Thür hinüber.

„Claudine,“ bat die Herzogin mit ihrer schwachen Stimme und ihre kranken Hände umschlossen den Ring, „Dina, geh’ nicht so von mir! Wer ist die Aermere von uns beiden? Hilf mir lieber, daß noch etwas Segen aus alledem werde.“

Claudine kam zurück. „Was soll ich noch thun?“ fragte sie resignirt.

Die Herzogin bat um Wasser. Dann hieß sie Claudine eine Schatulle bringen, öffnete dieselbe und reichte dem Mädchen ein Stück Papier.

„Es ist ein Verzeichniß der kleinen Andenken, die ich nach meinem Tode vertheilt wissen will. Bewahre es – es ist eine Abschrift, das Original hat der Herzog.“

„Du sollst Dich nicht so entsetzlich aufregen, Elisabeth.“

„O, ich werde ruhiger sein, wenn alles geordnet ist, Dina. Lies noch einmal laut, ob ich auch nichts versäumte. Es soll niemand sagen: Sie vergaß mich!“

Mit bebender Stimme las Claudine. Zuweilen machte ein Thränenflor ihren Augen die Schrift unleserlich; es war alles so zart ausgewählt, es zeugte jedes Einzelne von einem so innigen tiefen Gemüth.

„Meiner lieben Claudine gehöre der Schleier aus Brüsseler Spitzen, den ich getragen als Braut –.“

Eine flammende Röthe schlug über des Mädchens vergrämtes Gesicht – sie wußte, was die Herzogin gemeint.

„Nimm es zurück, nimm es zurück!“ schluchzte sie und knieete am Bette nieder.

„O wie schlimm! O wie schlimm!“ sagte die Herzogin, „Du und er – unglücklich. Ihr meine beiden liebsten Menschen!“

Claudine küßte die heißen Hände der Kranken und eilte hinaus; der Schmerz tobte zu heftig in ihr. Im Wintergarten unter den Magnolien und Palmen weinte sie sich aus; das leise Geplätscher des Springbrunnens zu ihren Füßen beschwichtigte ihre wilde Verzweiflung; sie war nach einigen Minuten so weit gefaßt, daß sie ruhig „Gute Nacht!“ wünschen konnte. Als sie durch die seidenen Vorhänge hinüber spähte zu dem Bette, lag die Kranke anscheinend im Schlummer, einen gramvollen Zug um den Mund.

Im Vorzimmer traf Claudine den alten Medizinalrath, er begrüßte sie freundlich.

„Ist es denn wirklich so nahe, das Ende?“ fragte das erschütterte Mädchen.

Er reichte ihr zutraulich die Hand. „So lange noch Athem ist, gnädiges Fräulein, ist auch Hoffnung. Aber nach menschlichem Ermessen – Hoheit wird auslöschen wie ein Licht, wird vor Erschöpfung einschlafen eines Tages.“

Claudine deutete unwillkürlich nach ihrem Arme – „Herr Rath?“

„Ach, gnädiges Fräulein,“ sagte der alte Mann gerührt, „das hilft nicht mehr. Hier ist’s vorbei, hier!“ Und er deutete auf die Brust. „Ich will noch zum Herzog, um Nachricht zu bringen von dem Befinden Ihrer Hoheit“, sprach er leise, indem er neben der jungen Dame den Korridor entlang ging. „Seine Hoheit hat übrigens gleich eine sehr unerfreuliche Ueberraschung hier vorgefunden. Sie wissen doch schon? Palmer ist verschwunden und hat eine große Konfusion hinterlassen.“

„Nach Frankfurt fuhr er diese vergangene Nacht,“ sagte Claudine betroffen „er wollte vermutlich den Herrschaften entgegen reisen; ich sah ihn auf dem Bahnhofe in Wehrburg.“

„Dieser Schuft,“ murmelte der alte Herr, „er ist längst jenseit der Grenze. Entgegenfahren? Wer hat Ihnen das vorgefabelt, gnädiges Fräulein?“

„Ich hörte, wie er zu Frau von Berg davon sprach.“ Und Claudine stand still; das ganze merkwürdige Erlebniß wurde ihr plötzlich klar.

„Die passen füreinander,“ lachte der Arzte „ich will’s aber doch beiläufig Seiner Hoheit erzählen. Da werden wir morgen die Nachricht erhalten, daß auch die Gnädige verreist ist, mit Hinterlassung von allerhand Allotriis und Konfusionen. Man soll nicht schadenfroh sein, aber Ihrer Durchlaucht gönnte ich es; sie hat auf eine wunderbare Art die Dame protegirt. Gute Nacht, gnädiges Fräulein!“

Es war so. Am andern Morgen erfuhr man im Schlosse, daß Frau von Berg plötzlich verschwunden sei. Sie hatte weiter keine „Allotria und Konfusionen“ hinterlassen, als ein Paket Briefe, an die Herzogin gerichtet, und einen Brief an Seine Hoheit. Aber der Schutzengel, der an der Schwelle des Krankenzimmers Wache hielt in Gestalt der Frau von Katzenstein, ahnte sofort, daß der Inhalt des Päckchens nicht geeignet sein könnte für Ihre Hoheit, sie übergab es daher resolut dem Herzog. Die alte Dame kam just in dem Moment, als Seine Hoheit mit der Zornader auf der Stirn einen Haufen Papiere durchstöberte; der Polizeidirektor war ebenfalls im Zimmer anwesend.

Der Herzog mochte glauben, Frau von Katzenstein bringe ihm Nachrichten von Ihrer Hoheit. Statt dessen reichte ihm die alte Dame nun ernsthaft ein mit himmelblauem Seidenbande umwundenes Päckchen Briefe hin, dessen oberster, unverkennbar von der Handschrift Seiner Hoheit, die Adresse der Frau von Berg trug.

Der Herzog ward blaß.

„Und das sollte man Ihrer Hoheit übergeben?“ fragte er bewegt und sah schier fassungslos die Zeugen einer lustigen Junggesellenzeit an, von damals, wo man so gern bei Herrn und Frau von Berg soupirte und Bakkarat spielte in dem blauen koketten Salon der schönen Frau. Dieses Weib, das niemals in einem Raume mit der Frau, deren Lebenszeit nur noch Tage zählte, der man diese Tage durch eine Infamie zu qualvollen [400] gemacht, hätte athmen dürfen – dieses Weib wagte, noch an den Frieden des Sterbebettes zu rühren?

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau!“ sagte der Herzog erschüttert. Und er nahm die Briefe und warf sie in den Kamin, und jene andern Papiere warf er ebenfalls nach. Unwillkürlich wischte er sich hinterher die Finger an dem Batisttuch. „Lassen Sie den Schuft laufen, Herr von Schmidt,“ sagte er dann verächtlich und machte eine liebenswürdige verabschiedende Bewegung zu dem Polizeidirektor.

Der Herzog ging, nachdem jener sich entfernt hatte, sehr erregt im Zimmer auf und ab. Einer der Briefe, ein kleines Billet, war da liegen geblieben vor dem Kamin; der Herzog bemerkte es erst nach einer Weile und hob es auf. Es war Herrn von Palmers wohlbekannte Handschrift.

„Gestern Abend,“ las er, „habe ich der schönen Claudine ein Billet des Herzogs überreichen müssen; ich stahl es ihr, als ich ihr beim Einsteigen half. Anbei übergebe ich Ihrem eminenten Dispositionstalent das werthvolle Blättchen zu beliebiger Verwendung. Nun, mein Schätzchen wird die Mine so geschickt zu legen wissen, daß die kluge, uns beiden so freundlich gesinnte Dame in die Luft fliegt –“

„Also Palmer auch schuldig hierin!“ Er lächelte bitter und dachte an das heißblütige dunkeläugige Geschöpfchen, dem man die Zündschnur zu dieser Mine in die Hand gab. Die Mine war explodirt, das erste Opfer lag da drüben und – die Verbrecher waren entkommen.

Dieser schlaue Mensch hatte sich wenigstens vorgesehen, hatte verstanden zu betrügen mit lächelnder Natürlichkeit, wie es bis jetzt noch an keinem Hofe vorgekommen sein mochte. Es war kein Bediensteter unter dem gesammten Personal des Hofhaltes, der nicht rückständige Gage zu fordern hatte; kein Hoflieferant, welcher Art es sei, der seit zwei Jahren einen Pfennig bekommen. Die Beamten des Herzogs hatten alle Hände voll zu thun, um zu erfahren, bei wem er etwas schuldig war. Im herzoglichen Rentamt drängten sich die Leute mit Forderungen, nachdem die Flucht Palmers bekannt geworden. Der Herzog mußte zornig lachen, als er die Details erfuhr.

Die in Geldsachen sehr peinliche Herzogin-Mutter war darüber empört, einen Landauer zum zweiten Male bezahlen zu müssen, und ertrug dennoch nur mit Mühe den Gedanken, daß sie in eben diesem Wagen ganz ruhig an dem Hause des Fabrikaten vorüber gefahren sei, der so oft unterthänige Mahnbriefe an Palmer geschickt hatte. Die ganze Residenz war außer sich und wünschte dem Entkommenen Zuchthaus und Galgen; aber so schlaue Vögel entwischen in der Regel.

Claudine erfuhr dies alles durch die Zofe; es erregte kaum flüchtig ihr Interesse. Sie dachte nur an das, was das Heute ihr bringen würde, an die Entscheidung ihres Schicksals. Die Nachrichten über das Befinden der Herzogin lauteten nicht schlechter; sie hatte verschiedene Stunden geschlafen, aber noch nicht die Gegenwart der Freundin gewünscht.

Claudine stand am Fenster und sah hinaus in den grauen Novemberhimmel. Es schneite noch immer; so düster lag die Welt vor ihren Blicken, so todt, und drückte ihr bekümmertes Herz noch tiefer nieder. Eine dunkle Röthe überzog plötzlich ihr Antlitz. – Ein Wagen rollte in den Hof und hielt vor dem Portal des Flügels, den die Herzogin bewohnte. Da ihr Zimmer in dem Mittelbau lag, in dem die Prachträume sich befanden, konnte sie deutlich sehen, wer dem Wagen entstieg und das Schloß betrat. Er war es; eben verschwand Lothars hohe Gestalt hinter den spiegelnden Glasscheiben der inneren Thür. Er kam, Ihrer Hoheit die Antwort zu bringen!

Sie mußte sich fest aufstützen, so stürmte es auf ihre Seele ein; was wollte der thörichte Hoffnungsstrahl noch immer in ihrer gequälten Seele? Jedes Wort, das sie von ihm gehört, seitdem sie sich zum ersten Male wiedersahen im Neuhäuser Garten, seit dem Tage, wo sie herüber gekommen, um Beate von dem Wachsfunde zu benachrichtigen, war verwundend gewesen, scharf wie ein geschliffener Stahl. Er hatte ihr Mißtrauen und Nichtachtung gezeigt, wo er gekonnt; er liebte sie nicht, nein, nein! – Einmal, einmal hatte ihr Herz thöricht in Wonne geklopft, das war in jener dunklen Sommernacht, als er daher geritten kam, um nach ihrem Fenster zu lauschen – einen Augenblick, einen einzigen süßen herzverwirrenden Augenblick. Aber die Ernüchterung folgte auf dem Fuße; es war eine militärische Angewohnheit von ihm; er revidirte, ob auch alles in Ordnung – die Familienehre auch nicht in Gefahr!

Sie wandte sich vom Fenster weg und ging zu dem Tische, auf dem noch das Frühstück stand. Sie ergriff die winzige Karaffe, mit Sherry gefüllt, und goß sich ein halbes Glas ein; sie liebte diesen Wein sonst nicht, sie fühlte sich nur so erbarmungswerth schwach in diesem Augenblick. Ein leises Klopfen an die Thür ließ sie das Glas hinsetzen, noch ehe sie es ausgetrunken. „Herein!“ sagte sie so tonlos, daß der Außenstehende es unmöglich hören konnte. Aber Frau von Katzenstein öffnete trotzdem die Thür und kam freundlichernst über die Schwelle. Sie hielt ein Körbchen, mit weißem Seidenpapier verdeckt, in der Hand.

„Meine liebe Gerold,“ sagte sie herzlich, „Ihre Hoheit beauftragt mich soeben, Ihnen dieses zu überreichen.“ Sie stellte den Korb auf einen Seitentisch und trat Claudine näher. „Die Herzogin erwartet Sie in einer halben Stunde,“ fügte sie hinzu und drückte dem Mädchen die Hand. „Verzeihen Sie nur, wenn ich mich nicht verweile, ich kann die Kranke eben nicht lange verlassen.“

„Wie geht es ihr?“ brachte Claudine über die zitternden Lippen.

„Sie klagt heute nicht; sie sagt, es sei ihr leichter und freier auf der Brust,“ erwiderte die alte Dame, die noch athemlos vom Treppensteigen war.

„O, und Sie bemühten sich selbst,“ sprach Claudine zerstreut; aber Frau von Katzenstein ging schon wieder zur Thür hinaus.

Claudine dachte kaum an das Körbchen. In einer halben Stunde sollte sie erfahren, ob er ihren Ring genommen – man würde ihr doch die Wahrheit sagen?

Sie begann unruhig umher zu wandern, obgleich die Füße sie kaum trugen. Dann trat sie ans Fenster; die Wache hatte „Heraus!“ gerufen; der Herzog fuhr eben im Jagdschlitten über den Schloßhof; zwei andere Schlitten folgten; er suchte wohl dem Aerger und der Sorge zu entfliehen? Auch sie fühlte den Drang, hinunter zu laufen in den Park und in der Schneeluft die heiße Stirn zu kühlen, sich müde zu gehen, Schlaf und Vergessen zu finden. Mechanisch war sie vor dem Körbchen stehen geblieben, das die Herzogin ihr geschickt; ein Reisegeschenk vermutlich – die hohe Frau versäumte ja nie, Freude zu bereiten.

Sie hob das Papier ein wenig auf; in einigen Minuten mußte sie hinunter, sich zu bedanken; man wollte doch wissen wofür? In dem mit hellblauer Seide gefütterten Körbchen lag auf kostbarem echten Spitzengewebe ein Zweig blühender Myrthe, und dieser Myrthenzweig war durch ihren Verlobungsring gezogen. –

Das bleiche, heftig athmende Mädchen befand sich plötzlich auf der Treppe; sie durcheilte die Korridore, und erst im Vorzimmer der Herzogin fühlte sie, daß sie die Füße nicht mehr tragen wollten. Dort stand der Medizinalrath und flüsterte mit Frau von Katzenstein. Die alte Dame deutete mit der Hand auf eines der Nebenzimmer und legte den Finger auf den Mund. „Hoheit schlafen eben ein wenig,“ sprach sie leise.

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aus: Die Gartenlaube 1888, Heft 25, S. 420–424

[420] Claudine ging wie im Traume nach dem sogenannten Arbeitszimmer der Herzogin, es war ein kleines, zu halber Höhe mit kostbarer Holztäfelung versehenes Gemach; antike, goldbedruckte Ledertapeten bekleideten die Wände, Bücherschränke und ein Schreibtisch aus dunklem Eichenholz, schwere Vorhänge und Teppiche, und die Büsten von Goethe, Shakespeare und Byron bildeten die Einrichtung. Es war fast dunkel hier an diesem grauen Tage. Durch eine der Thüren, deren Vorhang halb zurückgenommen war, sah man in den Wintergarten, und dort stand in dem vollen Tageslichte, das durch die Glaswände hereinströmte, Lothar, er hatte den Rücken hierher gewendet und betrachtete scheinbar mit Interesse einen Strauch blühender gelber Rosen.

Unwillkürlich trat Claudine zurück in den Schatten der hohen Bücherschränke. Sie sah ihn nicht mehr; sie wollte und konnte ihm jetzt nicht begegnen. Mit furchtbarem Herzklopfen lehnte sie in dem schützenden Winkel; sie wollte den Ring nicht, der ihr als eine Gabe des Mitleids erschien; wußte sie doch, daß er ihn zurückgab, weil er sein Wort nicht brechen wollte, und sie – durfte, konnte ihn nicht behalten. Und plötzlich blickte sie sich um, ob sie nicht entfliehen könne, denn sie vernahm die harte Stimme der Prinzeß Thekla.

„Nun, Baron,“ fragte diese, „also endlich sieht man Sie? Wissen Sie, daß ich Ihnen ganz böse bin? Sie sind seit gestern hier und haben sich im rothen Schlößchen noch nicht blicken lassen!“

„Es ist unrecht, Durchlaucht, allerdings! Ich fand aber hier so vielerlei zu thun, und außerdem – man macht doch nicht gerade Besuche an seinem Hochzeitstage.“

„Hochzeitstag?“ schrillte lachend die alte Dame. „Ich finde, Sie wählen die Zeit zu Ihren Scherzen recht eigentümlich – die Herzogin todtkrank! Wirklich, Lothar, Sie sind jetzt zuweilen sehr sonderbar; wissen Sie, daß Ihre Hoheit noch heute sterben kann?“

„Ach, Durchlaucht nehmen an, ich erlaubte mir einen unpassenden Scherz? Nichts würde mir ferner liegen. Ich selbst bin überrascht worden durch die Nachricht; indeß, die Herzogin wünscht, daß unser Bund noch heute geschlossen wird – wenn meine Braut einwilligt, natürlich.“

„Meinen Glückwunsch, Baron! – Weshalb sollte Ihre Braut nicht einwilligen?“ klang es spöttisch; „sie willigte doch so rasch in die Verlobung, und naturgemäß pflegt dieser doch die Hochzeit zu folgen. Sonderbare Laune übrigens von Ihrer Hoheit!“

[422] „Sonderbar? Ist es so sonderbar, wenn Hoheit, noch ehe sie sterben, das Glück zweier Menschen, so zu sagen, in den sicheren Hafen flüchten möchte, aus allen Ränken und Schlichen hinaus, denen es preisgegeben ist, so lange sie nicht verbunden sind? Ich gestehe, ich finde es so eigentümlich nicht; ich nehme dankbar diese ‚sonderbare Laune‘ an.“

„Sie waren doch sonst nicht so schutzbedürftig, Gerold; seit wann fühlen Sie sich so schwach? Sie wußten doch meine Einwilligung zu ertrotzen, als ich Ihnen die Hand meiner Tochter verweigerte? Seit wann überhaupt fürchten Sie das Recht des Stärkeren – sagen wir das Recht des Mächtigeren, oder –“

„Ich fürchte keinen ehrlichen Feind,“ erwiderte er langsam, und seine Worte hatten eine vernichtende Schärfe. „Durchlaucht wissen ohne Zweifel aus der Fabel schon, daß der Löwe immer großmüthig ist; ihn fürchte ich nicht als Gegner, ich fürchte die Schlangen, die da unbemerkt sich heranschleichen und Unschuldige bespritzen mit ihrem Gifte. Ich kann die, welche meine Gattin werden soll, nicht vor boshafter Verleumdung schützen, bevor sie nicht wirklich mein Weib geworden, denn ich kämpfe hier mit ungleichen Waffen. Mir ist, trotz meines jahrelangen Hoflebens, die Intrigue ein unbekanntes Terrain geblieben; man könnte ebenso gut von mir verlangen, ich sollte eine alte assyrische Keilschrift fließend vorlesen und übersetzen. Und, Durchlaucht, ich fürchte, ich würde es nie lernen, auch nicht durch das hervorragendste Beispiel.“

Aber die Prinzessin schien nicht verstanden zu haben. „Oder,“ wiederholte sie, unbeirrt in ihrer Rede fortfahrend, „ängstigen Sie sich, daß Sie der Treue Ihrer Braut erst dann sicher sein werden, wenn Sie dieselbe, so zu sagen, hinter dem Riegel des Gelübdes wissen?“

„Durchlaucht haben zum Theil recht,“ erwiderte er höflich. „Ich ängstige mich indeß nicht um die Treue und Festigkeit meiner Braut; ich ängstige mich, weil ich noch nicht weiß, ob meine Braut mir verziehen hat, daß ich mich mit der Dreistigkeit der Angst an ihrem Wege aufstellte, um ihr das ,Ja! ‘ gleichsam abzuzwingen.“

Die alte Prinzeß lachte kurz auf. „Man könnte auf die entsetzliche Idee kommen, cher baron, daß, falls Ihr Fräulein Braut nicht verzeiht, Sie sich das Leben nehmen oder sonst etwas Schreckliches thun werden.“

„Das Leben nehmen? Nein! Denn ich habe ein Kind, dem mein Leben gehört; aber ein unglücklicher einsamer Mann würde ich sein, Durchlaucht, denn ich liebe meine Braut!“

Claudine war hervorgetreten; sie that ein paar Schritte nach jener Thür zu, dann blieb sie stehen. Sie sah die Prinzessin dort in dem schwarzen seidenen Pelzmantel; sie sah, wie die Fächerpalme über ihrem Sammethute leise schwankte und wie das gelbliche magere Antlitz von der Röthe unliebsamer Ueberraschung sich färbte. – Sie mußte sich festhalten an dem geschnitzten Löwenkopf des Bücherschrankes, denn die Stimme der alten Durchlaucht sagte in unbeschreiblich verächtlichem Tone:

„Daß Sie diese Dame lieben, Baron, ist mir noch keine Gewähr für die Charaktereigenschaften derjenigen, welche die Stiefmutter meiner Enkelin werden soll.“

„Durchlaucht,“ erwiderte er schneidend, „wollen vermuthlich noch einmal von mir hören, daß ich für mich ganz allein das Recht beanspruche, Leoniens Erziehung zu leiten. Auf welche Weise dies geschieht? Nun, ich übernehme mit Freuden die Verantwortung! Diejenige, welche Mutter des Kindes sein wird, ist in meinen Augen das edelste, das beste, das selbstloseste Wesen der Erde! Niemals sind auch nur ihre Gedanken von dem Pfade abgewichen, den Sitte und Ehre dem Weibe vorzeichnen, nie, das weiß ich. Meine Braut mag in ihrer Liebe für die kranke Freundin vergessen haben, daß tausend hämische neidische Zungen bemüht waren, an ihrem Thun und Lassen zu deuteln und zu drehen; in meinem Herzen steht sie darum nur höher. Vor den Augen der Welt die Ehrbare zu spielen, das ist sehr leicht, Durchlaucht; aber allein, gestützt auf den Muth eines guten Gewissens, der Welt zu trotzen, die uns vernichten möchte – fest zu bleiben in dem, was man für Recht erkannt, und doch zu wissen, man wird falsch beurteilt – fest zu bleiben, indem man unter allen Umständen die Pflicht erfüllt, die man aus ehrlicher Zuneigung übernahm, und wäre es auch nur die von vielen angezweifelte Pflicht der Freundschaft, dazu gehört Seelenreinheit und ein starker Charakter, Eigenschaften. die ich bis jetzt vergeblich in –“

„Lothar!“ schrie Claudine auf. Vor ihren Augen schwankte das Kuppelgewölbe von Glas; es war, als ob der Boden, auf dem sie stand, zu wogen beginne. Dann fühlte sie sich umfaßt, und „Claudine!“ scholl es in ihr Ohr.

„Sei nicht so hart,“ flüsterte sie, „sei nicht so hart! Er ist so schwer, der Gedanke, andere grollend zu wissen, wenn das Glück so allmächtig auf uns hereinbricht!“

Sie waren allein. Sie sah ihn jetzt an mit ihren blauen, in Thränen schimmernden Augen. „Kein Wort,“ sagte sie und legte ihm die kleine Hand auf den Mund, „kein Wort, Lothar – jetzt ist’s nicht Zeit, glücklich zu sein. Ich weiß genug und – dort drüben sitzt der Tod.“

„Aber Du wirst dem Wunsche der Sterbenden nicht widersprechen?“ bat er demüthig.

„Ich werde nicht widersprechen.“

„Und wir fahren heim in unser stilles Neuhaus, Claudine?“

„Nein,“ erwiderte sie bestimmt, „o nein! Ich gehe nicht von ihr, die so schwer um mich gelitten, so lange sie am Leben ist. Ich fürchte mich nicht mehr, denn ich weiß jetzt, daß Du und ich zusammen gehören für immer, daß Du mir vertraust und an mich glaubst, immer, ohne Wanken Und Du – Du reisest indeß; noch einmal gebe ich Dir Urlaub; und dann, wenn Du zurückkehrst, wenn mein Herz sich wieder freuen kann, wenn ich glaube, das Recht zu haben, glücklich zu sein – dann werde ich zu Dir kommen.“




In den Gemächern der Herzogin hatte gegen Abend eine Trauung stattgefunden. Sie wußten es alle im Schloß, von der Leinenschließerin in der netten Mansardenwohnung bis zu dem Küchenjungen, der dort im Souterrain auf seine künftige Laufbahn sich vorbereitete. Man wußte, daß gleich nach der Trauung der junge Ehemann abgereist war und daß Frau Claudine von Gerold ihren Platz am Krankenbette der Herzogin eingenommen hatte.

Die hohe Frau befand sich sehr schwach heute Abend. Bei der Ceremonie war sie zugegen gewesen; sie selbst hatte mit zitternden Händen den Brautschleier über das schöne blonde Haupt des Mädchens gelegt. Seine Hoheit, die Herzogin-Mutter und Frau von Katzenstein waren die andern Trauzeugen gewesen. Noch im Beisein der Herrschaften hatte das junge Paar Abschied von einander genommen.

Und nun saß neben Claudine am Fußende des Himmelbettes eine kleine zierliche Gestalt, und beide hatten verweinte Augen. Die Herzogin war nach der Trauungsfeierlichkeit ohnmächtig geworden, und der Medizinalrath hatte sich zum Herzog begeben und ihn flüsternd vorbereitet auf das Unabweisliche.

Es wollte zu Ende gehen. –

Da draußen waren die Schneewolken zerissen, und die Sterne blitzten herab auf die winterliche Erde. In den Zimmern der Prinzen schien die Ampel auf schlummernde blonde Köpfchen; sie ahnten nichts. Sonst wachte alles in dieser Nacht. Die Lichter des Schlosses flimmerten hinaus in die Schneelandschaft, und dort unten in den Häusern der Stadt betete man für die allzeit hilfsbereite freundliche Herrin, die auf ihrem Sterbebette lag.

Im Vorzimmer ging der Herzog auf und ab; zuweilen warf er einen Blick in das Schlafgemach seiner Gemahlin. Dann hörte er eine leise Stimme:

„Adalbert, ist Claudine fort?“ – Und die junge Frau rückte geräuschlos an die Seite des Bettes. „Du bist noch da?“ fragte die Kranke.

„Laß mich bei Dir bleiben, Elisabeth,“ bat Claudine; „Gerold hat noch so Verschiedenes zu ordnen, bevor ich nach Neuhaus kommen kann.“

Die Herzogin lächelte schwach.

„Du verstehst ja nicht zu lügen, Claudine; ich weiß, weshalb Du bliebst! Armes Kind, welch traurige Hochzeit! – Ruf’ Adalbert!“ stieß sie dann hervor; „ist Helene da?“

Die Prinzeß kam. Dicht neben einander standen Claudine und sie.

„Gebt Euch die Hand,“ bat die Herzogin.

[423] Prinzeß Helene faßte die Hand der jungen Frau. „Vergeben Sie mir!“ sagte sie leise weinend.

„Und nun ruft Adalbert!“ forderte die Kranke.

Er kam, setzte sich auf den Rand ihres Bettes, und sie drückte ihm stumm die Hände bei seinen heißen Bitten um Verzeihung.

„Wenn ich leben könnte, Dich zu trösten, mein armer Freund!“ flüsterte sie. „Es ist so schwer, entsagen zu müssen, ich weiß es. Aber – sie liebten sich nun einmal, und Du, Du gehst so leer aus, so leer! Ach, wenn es in meiner Macht gestanden hätte, wie glücklich solltest Du werden!“

„Sprich nicht so,“ sagte er. „Ich werde nur unglücklich, mein Liesel, wenn Du mich verläßt!“

„Sag’ noch einmal ‚mein Liesel‘,“ bat sie und sah ihn an, und die fast erloschenen Augen flammten noch einmal in dem alten innigen Liebesschein.

„Mein Liesel!“ flüsterte er mit versagender Stimme.

Sie drückte seine Hand.

„Nun geh’, Adalbert, ich will schlafen, ich bin so müde – Küsse die Kinder – geh’!“ drängte sie.

Und sie schlief.

Die junge Frau saß treu wachend an ihrem Lager. Nur einmal war es, als legte sich minutenlang eine zwingende Müdigkeit auf ihre Augen, kaum eine Minute mochte es gewährt haben, da raffte sie sich auf, von einem Schauer erweckt. Die Herzogin lag so seltsam ruhig da, ein Lächeln auf den Lippen, die Hände gefaltet.

Claudine faßte ihre Hand. „Elisabeth!“ sagte sie angstvoll und laut.

Sie hörte es nicht mehr.

Auch die Prinzessin trat näher und sank schluchzend vor dem Bette nieder. Und der Herzog kam und der Arzt, die alte Hofdame –

Es war so still, so beängstigend still in dem hellen prächtigen Raum.

Dann gingen sie alle; nur der Herzog und Claudine blieben zurück. Sie saßen am Bette der Todten, und durch die geöffneten Fenster des Nebenzimmers schollen die tiefen Klänge der Kirchenglocken herein, die an diesem kalten dunklen Wintermorgen dem Lande verkündigten, daß seine Fürstin schlafe, den langen ewigen Schlaf.

So hielten sie Todtenwache, die beiden, die ihr die liebsten Menschen gewesen.




Im Garten des Eulenhauses blühten Leberblümchen, und gelbe, blaue und weiße Crocus lugten aus der schwarzen Frühlingserde hervor. Der alte Heinemann schaffte emsig an seinen Rosenstöcken, nahm ihnen die Winterhülle und band sie an die frisch gestrichenen grünen Pfähle. Die Sonne hatte über Mittag schon heiß auf die alten Grabsteine geschienen, und die jungen Blättchen regten und dehnten sich, sie sehnten sich nach Luft und Licht.

Der alte Mann war doppelt fleißig heute; er hatte um Urlaub gebeten für morgen; er wollte nach Altenstein hinunter, zur Hochzeit seiner Enkelin, die ihren alten Schatz heirathete.

Hinter den blitzblanken Fensterscheiben tauchte Fräulein Lindenmeyers freundliches Gesicht auf; zuweilen wandte sie redend den Kopf in das Zimmer zurück, dort stand die kleine runde Ida und legte Wäsche. Die Ida war wieder hier, auf Verlangen der jungen Frau von Gerold, weil diese doch über kurz oder lang nach Neuhaus übersiedeln wollte. Wann? Ja, das wußte niemand. Der Herr Baron war noch immer auf Reisen, und seine junge Gattin trug noch tiefe Trauer um die Herzogin.

Merkwürdig, was heute diese schmalen Frauenfüße für eine Unrast entwickelten. Die gnädige Frau war im ganzen Hause umhergestiegen mit dem klappernden Schlüsselbund, hatte in alle Schränke und Spinden geschaut, des Herrn Wäscheschrank inspicirt und die Garderobe des Kindes; sie hatte das Wirtschaftsbuch nachgerechnet und die kleine Haushaltungskasse. Nun schüttelte sie über sich selbst und ihre Unruhe den Kopf; sie begriff sich heute nicht; sie hatte weder die nöthige Sammlung, zu schreiben, noch konnte sie sich heute entschließen, ihr Feierstündchen am Klavier zu halten, worauf sie sich sonst den ganzen Tag schon freute. Sie meinte endlich, es sei am besten, wenn sie einen Spaziergang mache. Da sie ohnehin seit mehreren Tagen Beate und die Kleine in Neuhaus nicht gesehen, beschloß sie dorthin zu wandern; vielleicht wußte Beate auch Näheres über Lothars Reisepläne; seine letzten Nachrichten hatten sie aus Mailand empfangen.

Sie hatten sich nicht geschrieben, Claudine und er; die junge Frau wollte es nicht. „Wir können uns ja mündlich alles erzählen,“ hatte sie gebeten, „es ist das soviel schöner; ich erfahre ja von Beate, ob Du gesund bist und wo Du weilst.“

Sie band sich den Mantel um, schlug das Spitzentuch über den Kopf und ging hinauf, um Joachim „ Adieu!“ zu sagen.

„Wo willst Du hin?“ fragte er.

„Zu Beate, Joachim.“

Er war aufgestanden und sah sie liebevoll an. „Wie bald wird die Zeit kommen, wo Du ganz fort gehst!“ sagte er.

„Ich komme mir bei dem Gedanken, daß ich Dich eines Tages verlassen werde, schon ganz treulos vor.“

„O mein Liebling, Du ahnst nicht, wie froh ich bin, Dich glücklich zu wissen!“ Und er begleitete sie hinunter bis zur Gartenpforte. „Willst Du allein gehen?“

„Ich fürchte mich nicht, Joachim.“ Sie drängte ihn zurück und ging still davon. Es senkte sich schon die Dämmerung über die Bäume; die Wolken zogen rasch dort oben am Himmel; aber der Wind, der sie trieb, war lind und weich, und er wehte den Schleier zurück von der weißen Stirn der jungen Frau und beugte die knospenden Aeste zu einander; er fuhr über das junge Gras am Wegesrand und erzählte von kommender Herrlichkeit, von Blüthenpracht und Sonnenglanz. Mit eiligen Schritten kam sie daher, so schwebend und leicht, als habe sie Flügel. Sie sah bald in die Wellen des Baches, der ihr zur Seite rauschte, das letzte Schneewasser von den Bergen führend, bald in die Wolken hinauf, und Lächeln und Ernst gingen in beständigem Wechsel über ihr Gesicht. Es war ihr so eigen zu Muthe, und einmal sagte sie halblaut. „Wenn er schon da wäre?“

Am Eingang des Neuhäuser Parkes blieb sie stehen, in der Lindenallee rauschte der Wind durch die Aeste und das Schloß lag so still und so dunkel. Einen Augenblick wollte mädchenhafte Scheu ihre Füße lähmen; herzklopfend und erglühend lehnte sie an dem Sandsteinpfeiler und wagte nicht, den Fuß in den Garten zu setzen. Wieder kam es wie Ahnung über sie. „Wenn er schon hier wäre?“ Noch hatte niemand sie gesehen, das war gut! Sie meinte plötzlich, sie müsse umkehren.

Dann drückte sie sich ängstlich zur Seite; die Allee entlang kam ein Reiter in raschestem Trabe. Sie erkannte ihn trotz der tiefen Dämmerung, sie wußte, wohin er reiten würde – und ein unaussprechliches Glücksgefühl bemächtigte sich ihrer. Aber er durfte sie nicht sehen. Dann schrie sie leicht auf; der Jagdhund, der in tollen Sprüngen das Pferd umkreiste, hatte sie erkannt und stürmte auf sie zu. Im nämlichen Augenblick stand das Pferd; sein Reiter warf sich aus dem Sattel und hielt die junge Frau umfaßt.

„Endlich!“ sagte er. „Und Du bist hier – hab’ Dank!“

Sie konnte nicht antworten, sie weinte nur. Und als sie langsam dem Hause zuschritten, da sagte sie endlich: „Ich habe gefühlt, daß Du hier bist. Wann kamst Du, Lothar?“

„Vor einer Viertelstunde, mein Lieb.“

„Wo wolltest Du eben hin?“ fragte sie, und ein schelmisches Lächeln, das dem ernsten Antlitz wunderbar gut stand, flog um ihren Mund.

„Zu Dir, Claudine,“ erwiderte er einfach.

Sie lächelte ihm glückselig zu. „Und nun sollst Du auch wissen, Lothar, ich habe Dich schon immer geliebt. Gott sei Dank, daß Er Dein Herz mir zuwendete!“

„Dir zuwendete?“ fragte er bewegt. „Ich habe Dich geliebt seit dem Tage, wo ich Dich so unerwartet im Zimmer der Herzogin-Mutter traf. Weißt Du noch, Du sangst das ,Veilchen‘ von Mozart?“

„Und nachher: ,Willst Du Dein Herz mir schenken‘. O, ob ich es weiß! Aber, Lothar, wenn Du mich damals schon liebtest –“

„Frage nicht, Claudine,“ wehrte er, „es liegen so schwere düstere Zeiten dazwischen, Jahre, in denen ich mehr gelitten habe, als ich sagen kann.“

Sie schwieg und sah wieder zu den Wolken empor und drückte sich fester an seinen Arm. Ihr zur andern Seite ging der Hund, hinter ihnen folgte das Pferd, dessen Zügel Lothar um den Arm geschlungen hatte.

[424] „Nur noch Eins,“ flüsterte sie zaghaft und sah ihm bittend in das bewegte Antlitz. „Lothar, wenn Du mich liebtest, warum hast Du mit schneidenden Worten mir wehgethan, wo Du konntest, mich vor mir selber erniedrigt, daß ich fast verzweifeln wollte?“

Er blickte sie lächelnd an. „O Du Thörin, weil ich von Angst und Eifersucht gehetzt war, weil mein Herz krank war vor Sehnsucht nach Dir, und weil ich sah, was kommen mußte; weil ich die Welt kannte und ihre Schlechtigkeit und wußte, daß Du zu Boden geschmettert sein würdest, wenn sie heranbrächen über Dich, die Verleumdung, die Gemeinheit; weil Du trotziges Kind es mir so namenlos schwer machtest, über Dich zu wachen; endlich, weil Du mich nicht verstehen wolltest. – Laß, Claudine! Die Zeiten liegen hinter uns. Ich habe Dich, und ich darf Dein Wegweiser sein auf allen Pfaden von dieser Stunde an. Gottlob!“

„Gottlob!“ sprach sie ihm leise nach.

Das Pferd ging allein mit gesenktem Kopf zu den Stallungen hinüber; die beiden stiegen die Freitreppe empor, Baron Gerold öffnete die Thür.

„Tritt ein in Dein Haus, Claudine,“ sagte er bewegt, „es soll unsere Heimath bleiben, nicht die Welt da draußen – wenn Du es willst!“

Sie lachte unter Thränen: „Ob ich will? Vertraust Du mir noch immer nicht? Nichts will ich weiter auf der ganzen Welt!“




Drei Jahre sind vergangen. Im Studirzimmer Joachim von Gerolds sitzt Frau Beate, in der Dämmerung eines Winterabends und plaudert mit ihrem Gatten.

„Wo ist Elisabeth?“ fragte er.

„Aber, Schatz, Du wirst immer zerstreuter! Wo soll sie wohl sein? In Neuhaus natürlich. Sie kann doch nicht leben, ohne ihre Tante Claudine; sie bettelt so lange, bis ich sie hinunter schicke mit Heinemann. Es sei so schön in der Neuhäuser Kinderstube, und so etwas Süßes, wie Claudinens Baby, gäbe es nicht weiter. – Sie muß übrigens bald zurückkommen.“ –

„Hast Du die Zeitung heute gelesen?“ fragte sie dann. „Nein? – Nun, da hast Du viel versäumt. Höre zu, Joachim, ich will Dir erzählen: also, erstlich steht da, daß das Gerücht von der Verlobung unseres Herzogs mit Prinzeß Helene immer mehr Glaubwürdigkeit gewinne. Ich fände es übrigens ganz passend, Joachim, denn in der Kleinen steckt neben aller Launenhaftigkeit ein guter Kern. Sie hat damals in Cannes so rührend die Herzogin gepflegt, und gegen Claudine ist sie seitdem doch wahrhaft erfinderisch in Freundlichkeiten; sie möchte alles gutmachen. Ich bin überzeugt, daß es keine Passionsheirath sein würde, denn ich vermuthe, sie hat Lothar noch nicht vergessen; sie heirathet aber den Herzog, weil sie glaubt, eine Pflicht zu erfüllen.“

„Ich will es auch Sr. Hoheit wünschen,“ sagte Joachim behaglich, „es ist furchtbar öde, ein Leben ohne ein Paar freundliche Augen und eine weiche Frauenhand.“ Und er griff nach Beatens Rechten und küßte sie.

Frau Beate lacht; es ist das frische silberne Lachen, das ihn einst bethörte; jenes kurze harte Lachen hat sie verlernt. Er begreift überhaupt gar nicht, wie er sie mit ihrem kinderguten Herzen jemals als „barbarisch“ bezeichnen konnte. Er hat es ihr aber einmal gestanden, und da hat sie erst recht gelacht und gesagt. „Ich fühle mich zu weiter nichts gut als zur Wirthschaft, und Du sahst so geisteshochmüthig auf mich herunter – ich hatte Dich damals schon lieb, Dich und Deine Gedichte, hatte damals schon Durst nach allem Herrlichen, was das trockene Leben verschönt. Aber keiner wollte es mir glauben. Da ward ich ein richtiger Wirthschaftsteufel, rechthaberisch und allzustrenge.“

Ein Weilchen blickte sie wie träumend vor sich hin.

„Gottlob, das ist vorüber. Aber nun höre weiter.“ Und sie fuhr fort in ihren Neuigkeiten. „Dann steht auch noch darin, Joachim, daß Lothar Altenstein zurückgekauft hat. Der scharfsinnige Zeitungsschreiber sagt: ‚Vermuthlich wünscht Baron Gerold das alte Stammgut der Familie seinem zweiten, ihm vor einigen Monaten gebornen Sohne dereinst zu übergeben, wie wir hören, wird vor der Hand Baron Joachim von Gerold das einst ihm zugehörige Schloß bewohnen. ‘– Wie klug die Leute sind! Wir werden uns doch hüten, Joachim; – mich bringst Du nicht heraus aus dem Eulenhause, ich bin zu glücklich hier geworden.“

„Ja! Ja!“ sagte er rasch, „wir bleiben hier, Beate; wir haben ja völlig Platz, seitdem angebaut ist; und es ist so still und so friedlich. Hoffentlich denken die Neuhäuser nicht daran, das von uns zu verlangen.“

„O behüte, Joachim! Die denken an nichts als an sich selbst,“ lächelte Beate. „Aber das soll kein Vorwurf sein, wir machen es ja auch nicht besser. – Weißt Du auch, Schatz, daß heute unser Verlobungstag ist?“ plauderte sie. „Siehst Du, wie Du alles vergißt? Ja, heute sind’s zwei Jahre, da saßen wir am Bettchen Elisabeths und wußten, das schwerkranke Kind ist gerettet, es schläft den Schlummer der Genesung. Und da sprachen wir flüsternd vom Tode, vom Seelenleben und von der Unsterblichkeit. Du lasest mir das Gedicht vor, das Du auf den Tod Deiner Gattin gedichtet, und klagtest, wie einsam Du seist, nun auch Claudine gegangen, und wie verlassen das Kind, – und –“

„Und dann fragte ich Dich, Beate –“

„Und ich sagte ,ja‘.“

„Und da kam es dann auch zur Sprache, wer mir damals heimlich meine Bibliothek zurückgekauft.“

„Freilich!“ lachte sie, „ich hatte eben von jeher ein gefährliches Mitleiden mit dem Träumer, dem unpraktischsten, hilfsbedürftigsten Menschen auf Gottes weiter Welt.“ Und sie küßt ihn und nimmt ihr Schlüsselkörbchen. „Ich muß noch die alte Lindenmeyer besuchen“ entschuldigte sie ihr Fortgehen; „sie hat nach mir verlangt, und sie sitzt da so geduldig in ihrem Lehnstuhl, die gute Alte, und strickt Kinderstrümpfchen für Claudine. Diese muß wahrhaftig schon einen ganzen Scheffel voll haben.“

Und während sie hinuntergeht, fliegt die Hausthür auf und ein Kind, ein Mädchen, kommt an des alten Heinemann Hand über die Schwelle, um sich im nächsten Moment von ihm los zu reißen und jubelnd der stattlichen Frau entgegen zu fliegen. Die ist im Flur stehen geblieben und fängt das Kind lachend in ihren Armen auf.

„Wildfang!“ sagt sie mütterlich stolz und nimmt das rosige Kindergesicht zwischen ihre beiden Hände. „War’s schön bei Tante Claudine, Töchterchen? Was habt Ihr gespielt? Und war Onkel Lothar daheim?“

„Ja! Aber Onkel war böse, und Tante Claudine auch,“ sagt das Kind und sieht plötzlich ganz bekümmert zu Heinemann hinüber.

Der Alte hat seine Mütze, auf der die ersten Schneesterne des Winters leuchten, abgenommen und schwenkt sie hin und her.

„Nicht wahr, Heinemann?“ fragt die Kleine ängstlich.

Der alte Mann hatte einen ganz verschmitzten Ausdruck in den Augen.

„Grausam hat sie sich gezankt, die Herrschaft,“ bestätigt er ernsthaft und blinkt Frau Beaten zu, „und gar vor mir. Just als ich hinein kam, um unserem Kind das Mäntelchen umzuthun, weil der Schlitten vorgefahren war, sagte der Herr. ‚Du wirst das Kleid anziehen, Claudine, das ich Dir kürzlich geschenkt habe, und mit mir nach der Residenz fahren zur Hochzeit Sr. Hoheit. Ich möchte wirklich einmal probiren, ob ich noch immer eifersüchtig sein kann‘– hat er gesagt.“

„Und da,“ fiel die Kleine ein, „war Tante Claudine traurig und sagte. ‚Wie Du willst, Lothar.‘“

„Freilich!“ nickte schmunzelnd der Alte. „Und da ging’s los. – ‚Nein, wie Du willst!‘ rief der Herr Baron – ‚Nein, wie Du gesagt hast, Lothar.‘ – ‚Nein, bitte, Du hast recht, Dina, was sollen wir auch da, wir bleiben daheim.‘ – ,Wenn ich nun aber gern möchte, Lothar?‘ – ‚Das kenne ich schon, Dina, wir bleiben hier.‘“

„So haben sie sich gezankt, gnädige Frau, eine Viertelstunde lang, endlich – –“

„Nun?“ unterbrach Beate lächelnd, „und wer behielt recht?“

„Gnädige Frau, wer allemal recht behält, wenn sich ein Ehepaar zankt,“ erwiderte der Alte schelmisch. „Die Frau Baronin natürlich. Sie lassen einen schönen Gruß bestellen an die gnädige Frau, und an dem Tage, wo unser Herzog heirathet, wollten sie und der Herr Baron zu einem gemütlichen Theestündchen herüber kommen und von alten Zeiten plaudern.“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Prinzeß Margarethe, vgl. Kleiner Briefkasten (Die Gartenlaube 1888)#Heft 27