Die Gartenlaube (1892)/Heft 21
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Halbheft 21. | 1892. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.
Zwei Jahre waren die Kinder im Hause, da trat eine schlimme Wendung ein. Frieder und Fritz wurden zuerst kühler gegeneinander, dann offenbar feindlich, und eines Tages kam es zum hellen flammenden Streite, der das ganze Haus in Mitleidenschaft zog und einen so unheilbaren Riß in die Freundschaft machte, daß fortan „oben“ und „unten“ wie zwei feindliche Heerlager von einander geschieden waren, da bis auf die Dienstmädchen herab jede Partei für „ihren“ Buben eintrat.
Es war ein gewitterschwüler Tag, an dem dies geschah, ein rechter Unglückstag schon von vornherein. Fräulein Riekchen litt an Kopfschmerzen, als sie erwachte. Die alte Dora hatte ihr dann die Eröffnung gemacht, daß Mamsell Unnütz aus den vorjährigen Sommerkleidchen derartig herausgewachsen sei, daß durchaus neue angeschafft werden müßten, und Riekchen, der für Frieder nichts zu viel wurde, hatte tief geseufzt darob. Unten aber im Hausflur schalt die Räthin mit dem Gärtner, denn die Schnecken hatten auf den Gemüsebeeten die jungen Zuckerschoten zerstört, und da der Mann respektwidrig antwortete, er habe das Ungeziefer nicht erschaffen, so bekam er eine noch schärfere Gegenrede, die zur Folge hatte, daß er dieselbe noch übertrumpfte und schließlich von der erzürnten Frau mit seiner sofortigen Entlassung bedroht wurde.
Fräulein Riekchen kam ob dieses Streites erschreckt die Stiege
[646] herab; ihr war Unfriede fürchterlich. Die Räthin, die just nach oben wollte, traf mit ihr auf dem Absatz der breiten Treppe zusammen und begann höchst erregt auf sie einzusprechen, daß sie es nun nachgerade satt habe, sich mit dem alten groben – – da flog die Hausthür auf und die beiden Knaben stürmten herein. Der Frau Rath blieb das Wort auf den Lippen sitzen, denn die Thür schlug donnernd wieder zu, in der nächsten Sekunde waren die Schulranzen der Jungen je in eine Ecke geschleudert und die beiden aufeinander losgefahren wie die Kampfhähne.
So rasch geschah es, daß die beiden Frauen kaum wußten, wie die erbitterten Kämpfer, die sich auf der Diele balgten und in stummer Wuth aufeinander einhieben, dorthin gekommen waren. Es herrschte einige Sekunden lang eine athemlose Stille, dann ein dumpfer Fall und die heiseren Worte des Fritz. „So, Du römischer Hund, da hast Du Deinen Lohn!“ Und Frieder lag bleich auf dem Boden, das Gesicht entstellt vor Wuth und Scham. Der andere sprang in die Ecke, ergriff den Ranzen und wollte eben in den Garten, da stand Tante Riekchen vor ihm.
„Was fällt Dir ein, Du abscheulicher Junge!" stieß sie hervor, „wie kannst Du Deine groben Fäuste gegen den Schwächeren gebrauchen! Geh’ – ich will von Dir nichts mehr wissen – nie!“
Der kräftige Junge sah sie ruhig an; noch ging sein Athem schnell, noch war er erregt. aber er vergaß keinen Augenblick, mit wem er sprach. „Du weißt ja den Grund nicht, Tante,“ sagte er, machte eine Schwenkung um sie herum und verschwand durch die Hinierthür.
Frau Rath aber gebärdete sich schier wie eine Heldenmutter. „Na, ich gönn’s dem Buben, verdient hat er schon längst einen Rücken voll!“ erklärte sie gelassen.
„Wie?“ rief jetzt Riekchen zitternd, „Du nimmst Deinen unartigen Jungen noch in Schutz – schämst Du Dich denn nicht? Vergißt Du denn ganz, wie lieb ich den Fritz immer hatte, und daß ich doch etwas Rücksicht erwarten könnte für den armen vaterlosen Buben? Strafen sollst Du Deinen Sohn, empfindlich strafen – ich bitte Dich darum.“
„Fällt mir gar nicht ein!“ erwiderte die Schwester, „strafe Du doch den Deinigen, der Fritz hat sicher keine Schuld.“
„Komm!“ wandte sich Tante Riekchen an Frieder, der sich eben aufrichtete und seinen zerrissenen Jackenärmel betrachtete, „komm! Wenn sich andere Jungen gewöhnlich betragen, so hast Du noch nicht das Recht, es ebenfalls zu thun. Hinauf in Dein Zimmer; ich bin ernstlich bös!“
So stiegen die Zwei die Treppe hinauf, und Frau Rath holte sich ihren Jungen aus dem Garten, und unten und oben fanden Verhöre statt, aber an beiden Stellen erfolglos.
„Mutter,“ erklärte Fritz, „frage nicht weiter; er ist ein ganz schlechter Bursche, der Frieder.“
Frieder konnte eine gewisse Verlegenheit nur schlecht verstecken hinter falscher Großmuth. „Laß doch nur, Tante, er hat es ja nicht so bös gemeint.“
Und Tante Riekchen ging, äußerlich noch unversöhnt, innerlich ganz gerührt, in ihre Wohnstube. „Er ist doch von vornehmer Denkungsart,“ sagte sie, „und Jungens prügeln sich wohl mal. Er will den Grund nicht verrathen, das ist nobel.“ – Nichtsdestoweniger hatte sie ihm angekündigt, er werde heute zur Strafe allein auf seiner Stube speisen und dieselbe nicht früher verlassen, als bis er komme, um Verzeihung zu bitten. Sie fühlte, sie müsse einmal mit Strenge auftreten.
Die Grimasse ihres Pflegesohnes, als sie den Rücken wandte, sah sie nicht. Friedrich Adami ballte die Fäuste, nachdem sie sich entfernt hatte. War es nicht zu albern von ihr, ihn hier festzusetzen? Pah! Er brauchte ja nicht zu gehorchen, er ging einfach in den Garten; dem derben Bengel dort unten mit seinen groben Fäusten, dem würde er’s schon noch heimzahlen. Was ging den das an, wenn das weiße Kaninchen in seinen Verschlag lief, statt in dem des dummen Kerls zu bleiben, und wie kam der dazu, gleich nach diesem Zanke so handgreiflich Partei zu nehmen für seine Tante? Er, Friedrich Adami, konnte sie nennen, wie es ihm beliebte. Freilich – wenn der Fritz klatschte, daß er seine Pflegemutter ein „altes Gerümpel“ geheißen hatte, mit der er machen könne, was er wolle, die Alte habe nun einmal einen Narren an ihm gefressen – dann war’s doch höchst eklig.
Er war schon im Begriff, nach dem Garten zu entwischen, als sich die Thür aufthat und die alte Dora mit dem Essen erschien. „Aber Frieder,“ sagte sie, „was machst Du für Sachen? Aergerst Deine gute Tante! Bist gar nicht werth, daß sie Dich so lieb hat. Da, schau’ her, eigenhändig hat sie Dir das Quittenmus aus der Vorrathskammer geholt.“
Um den Mund des hübschen Buben zuckte ein spöttisches Lächeln. Zur Strafe schickte sie ihm seine Lieblingsnäscherei! Er hatte schon recht mit dem, was er gesagt. Er gab den Vorsatz, nach dem Garten zu gehen, auf und setzte sich mit dem größten Appetit zu Tisch.
„Bitt’ es ihr nachher ab,“ mahnte die Alte.
„Ich hab’ nichts abzubitten!“ antwortete er.
„Dann kannst Du aber nicht hinunter.“
„Werd’ schon können, wenn ich will – ich will aber gar nicht!“
So ward es Abend. Die Gewitterwolken hatten sich vertheilt, es war kühler geworden draußen. Friedrich Adami wartete auf seine Tante, die Tante wartete auf ihn, keiner wollte nachgeben. Der Knabe stand am Fenster; drunten ging der Fritz in den Kaninchenstall, er pfiff ganz vergnügt vor sich hin; der hatte es besser. Nun nahm er wahrscheinlich sein Eigenthum, das hübsche weiße Kaninchen, zurück und machte die Thür des Verschlages doppelt fest, damit es nicht wieder entwischen konnte. Ueber den Hof strich ein feuchter erfrischender Hauch, er kam wohl vom Rheine herauf; der Junge sog ihn mit vollem Athem ein. Just heute zog es ihn so mächtig wie nie an den Strom hinunter, um seine schmerzenden Glieder hineinzutauchen in die grünliche klare Fluth.
Je nun, warum sollte er der „Alten“ den Gefallen nicht thun und um Verzeihung bitten? Er nahm seinen Strohhut und schlich in die Wohnstube hinüber.
Die Tante war nicht dort, aber dafür stand mitten in dem rosigen Lichte der untergehenden Sonne, das die tiefe Fensternische magisch erfüllte, sein Schwesterchen auf einem Stuhl vor dem Nähtisch der Tante. Mit einem Knie stützte sich das zierliche Geschöpf in dem verwachsenen rosa Kattunkleidchen auf diesen Tisch; beide Aermchen hatte sie gegen die Wand gestemmt, so daß sie die kleine Konsole, welche die Gipsbüste ihres Vaters trug, fast umarmte. Das dunkle Köpfchen war vorgeneigt, und ihr zum Kuß gespitzter rother Mund berührte zärtlich die lockige Stirn des leblosen Gesichtes. Es war eine scheue süße Innigkeit in dem Gebahren der Kleinen, die wohl jeden gerührt hätte.
Von Brüdern verlangt man im allgemeinen nicht, noch dazu von Brüdern in den Flegeljahren, daß sie ihre Schwestern bewundern sollen; aber daß dieser brüderliche Held seine Hand dazu benutzte, das Gesicht des kleinen Mädchens so heftig gegen den Gipskopf zu stoßen, daß derselbe durch den Zusammenprall von der Konsole fiel und auf der Diele mit dumpfem Schlag in Trümmer sprang, das war denn doch nicht einmal mit brüderlicher Unempfindlichkeit zu entschuldigen.
„Dummes Ding!“ rief er, selbst erschreckt, „was hast Du da nun angerichtet!“
Und in diesem Augenblick kam Tante Riekchen. Die Kleine stand vor Schreck noch unbeweglich auf dem Stuhle, das tief erblaßte Kinderantlitz hatte etwas unheimlich Starres; und die Frau, welche die Güte selbst sein konnte, ward beim Anblick ihres zertrümmerten Kleinods hart bis zur Grausamkeit.
„Du entsetzliches, boshaftes Kind!“ rief sie, „bist Du nur gekommen, um mir Unglück zu bringen? Wollte Gott, ich hätte Dich nie gesehen!“ Sie riß die Zitternde vom Stuhle und schleuderte sie vorwärts, daß der kleine Körper an der Ausgangsthür wie ohnmächtig zusammenbrach.
Dora hob sie auf. Stumm, bebend lag das Mädchen in ihren Armen, und von der kleinen schön geschweiften Oberlippe rieselte ein Blutstropfen.
„Julchen, liebes Julchen!“ flehte die Alte unter Thränen, nachdem sie das Kind auf sein Bettchen gelegt und ihm das Blut abgewaschen hatte, „was hast Du denn gethan? Um Gotteswillen, sag mir’s doch!“
Aber kein Wort der Anklage kam über die schmerzverzogenen Lippen.
Tante Riekchen wollte Julchen nicht sehen, hatte sie gesagt, und hungrig zu Bett gehen sollte sie auch! Und so saß die kleine, während drunten im Garten unter dem Nußbaum der wieder zu Gnaden angenommene Bruder an der Seite der Tante speiste, oben in der tiefen Dämmerung am Fenster, die Augen auf den Strom geheftet, mit einem wehen, über ihre Jahre hinaus wehen Zug im Gesicht, und horchte auf die Nachtigall, die drunten [647] schlug, und auf das leise Rauschen des Stromes. Am jenseitigen Ufer zuckte von Zeit zu Zeit ein starkes Wetterleuchten auf und tauchte den Garten in rothes Licht. Ganz allein saß sie da, denn Dora war zu ihrer verheiratheten Stieftochter gegangen.
Ob sie hungerte oder fror? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt. Sie hatte nur Sehnsucht nach Güte, nach Liebe, nach einem kosenden Worte, so übergroße Sehnsucht. Aber niemand, niemand war für sie vorhanden.
Da klinkte leise die Thür, und leise schlich jemand herein. „Hier!“ sagte die flüsternde Stimme des Fritz, der sie bisher kaum eines Blickes gewürdigt hatte, „hier, kleiner Unnütz; das Luischen meint, Du hättest heut abend nichts zu essen bekommen –“ Und der große Junge bog sich hinunter und legte dem Kinde ein Butterbrot in den Schoß. „Weine nur nicht, Unnütz,“ stotterte er, „iß lieber!“
Sie weinte nicht, aber sie aß auch nicht; sie sah unverwandt die Thür an, durch die der Bursch’ verschwunden war, das kleine Herz klopfte ihr heftig, und ein warmer Schauer durchrieselte sie. Wie ein Sonnenstrahl die Knospe wohlthuend streift, die sich kaum hervorgewagt hat, so wohl war dem einsamen Kinderherzen durch diese paar ungeschickten Worte geschehen und ein Fünkchen erglomm in der verschüchterten Seele, das einst zur starken mächtigen Flamme wachsen sollte. Und als sich abends die kleinen Hände von Mamsell Unnütz falteten, da klang auch der Name „Fritz“ ins Gebet wie in alle ferneren Gebete, die das Kind sprach.
Die Tante ward fortan noch kühler gegen das „boshafte Kind“. „Unten“ und „Oben“ blieben auf gespanntem Fuße; „guten Tag und guten Weg“ boten sich die Schwestern zwar noch, aber die innerliche Trennung wurde vollständig. Die Jungen gingen getrennt zur Schule und kamen einzeln wieder heim – in derselben Klasse saßen sie so wie so nicht, denn Frieder nahm sich Zeit bei seinen Studien, während Fritz eifriger denn je beim Lernen war. Und so getheilt gingen die Alten in den Herbst ihres Lebens hinein, die Jungen ihrem Lenze entgegen, und dann waren sie plötzlich mitten drin in diesem Lenze, und aus den Kindern waren Leute geworden.
Es ist ein reizender Tag, an dem ein Mädchen achtzehn Jahre alt wird; ein ganz eigener Zauber liegt über ihm, besonders wenn der Tag zu Ende Mai fällt, wo alle Rosenknospen im Aufspringen sind, wenn an dem Rosengarten der Rhein vorüber rauscht und der Duft der Blüthen die Luft erfüllt. Man kann sich das Geburtstagskind so recht vergegenwärtigen, wie es mit strahlenden Augen und im weißen Kleide durch den Garten flattert und vor seliger Daseinsfreude die ganze Welt umarmen möchte.
So kann es wohl sein – aber bei Mamsell Unnütz war es nicht so an diesem Maitag, an dem sie achtzehn Jahre alt wurde. Sie wachte schon ganz früh auf, aber gar nicht anders wie sonst; nicht die Spur freudiger Erwartung prägte sich in dem Gesicht aus.
Das Zimmerchen gehörte ihr jetzt allein; Frau Dora war nicht mehr im Hause, sie lebte in ihrem Witwenstübchen irgendwo in der Stadt, man hatte ihre Dienste nicht mehr nöthig. Das „Julchen“ war groß geworden, der junge Herr nicht mehr daheim, da schickte die Tante die Alte fort und hielt nur noch ein Dienstmädchen, ein ganz junges von fünfzehn Jahren. Julia mußte ohnehin die Wirthschaft lernen.
Das junge Mädchen wunderte sich heute gar nicht, daß kein Myrtenstöckchen an ihrem Bette stand, kein Blumenstrauß, daß kein liebes freundliches Gesicht über das ihrige sich neigte, keine freundliche Stimme sprach: „Gott segne Dich, Liebling!“ Sie machte wie sonst ihre Toilette, stieß das Fenster auf, sog die Morgenluft ein, während sie das lange blauschwarze Haar flocht, zu dem sich die Ringellöckchen von einst ausgewachsen hatten und das sie nun in einfachem Knoten am Hinterkopf aufsteckte. Sie war hoch und schlank geworden, dabei doch von zierlichem Gliederbau und sah noch landfremder aus denn als Kind, jedenfalls war sie ihrer Mutter ähnlich. Die Nase ein ganz klein wenig gebogen, die Stirn niedrig, das Kinn rund und fest, und alles überstrahlt von zwei glänzenden dunklen Augen, in denen, wie die Frau Rath sich ausdrückte, „etwas flimmerte, etwas – na, man wird ja sehen, was, und wenn sie noch so sittsam die langen Wimpern darüber fallen läßt“.
Die Kleidung war sehr einfach. Tante Riekchen fand es angezeigt, die auffallende Erscheinung, so viel als irgend anging, zu mildern. Ein hellblaues Kattunkleid, darüber eine Schürze, die sich das Mädchen, so zierlich es gestattet wurde, genäht hatte, das war die Geburtstagstoilette. Wie sollte sie auch anders sein, wenn zur Feier dieses Tages große Wäsche angesetzt war? Die geliebten Ohrringe hatte man ihr längst fortgenommen, aber Julia griff noch heute mechanisch nach den kleinen Ohrläppchen, wenn sie verlegen wurde, wie sie es früher gethan, wo sie in solcher Lage die Ringe zu drehen pflegte, bis die Tante sie auf die Finger klopfte. Eine Weile länger als sonst blickte sie heute doch in den Spiegel, und als es nun sieben Uhr schlug, lief sie eilig in die Küche, um das Frühstück zu besorgen. Sie trat dann mit dem Präsentierbrett in der Hand in die Wohnstube, wo Tante Riekchen am offenen Fenster saß und ihr aus blassem, sehr gealtertem Gesicht entgegen sah.
„Guten Morgen, Tante!“ sagte das junge Mädchen.
„Guten Morgen, Julia!“ klang die gemessene Antwort.
Das Mädchen schenkte die Tassen voll und rückte den Stuhl zurecht. „Ist’s gefällig, Tante?“ –
Fräulein Riekchen kam herüber. „Ich gratulier’ Dir, mein Kind,“ sprach sie und berührte mit den Lippen die Stirn des Mädchens. „Und hier ist eine Kleinigkeit für Dich.“ Sie schob ihr ein Päckchen in die Hand. „Sei recht sparsam damit – Du weißt –“ Ein tiefer Seufzer beschloß diese Rede, und Riekchen sank in den Sessel und rührte in der Tasse.
Ueber des Mädchens Gesicht war ein freudiges Roth gehuscht. „Ich danke Dir, liebe Tante – und darf ich mit dem Gelde thun, was ich will?“ fragte sie, ohne den Blick zu heben.
„Ja, vorausgesetzt, daß es keine Thorheitett sind; das heißt – ich hatte die Hoffnung, Du würdest es aufsparen,“ war die Antwort.
Mamsell Unnütz schwieg, aber ihre Freude an dem Geschenk schien geschwunden.
„Heute, gegen Abend,“ fuhr die Tante fort, „wenn die Wäsche von den Leinen ist, magst Du zur Schneiderin gehen, sie soll Dir ein weißes Kleid passend machen. Ich habe es getragen als junges Mädchen. Die Doktorin will Dich zu der Pfingstpartie einladen; mit achtzehn Jahren hast Du ja wohl ein Anrecht auf die Lustbarkeiten der Jugend.“
„Ach, Tante,“ wandte das junge Mädchen ein, „laß mich daheim, ich kenne die Menschen alle nicht, und –“
„Wenn ich nur wüßt’, Julia, weshalb Du so hochmüthig und apart thust! Du wirst mitfahren! Ich wünsche es schon deshalb, damit es nicht noch einmal heißt, ich gönne Dir nichts und behandle Dich als Stiefkind.“
Das junge Mädchen erwiderte kein Wort mehr. Sie goß der alten Dame die zweite Tasse ein und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
„Ich bitte also, daß die Wäsche nicht wieder so himmelblau wird wie das letzte Mal!“ rief Fräulein Riekchen ihr nach, und dann zog sie einen noch uneröffneten Brief aus der Tasche ihres grauen Kleides; ehe sie ihn erbrach, holte sie tief Athem, und Röthe und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht. –
Drunten im Hausflur standen allerhand Möbel umher, und das Dienstmädchen der Frau Rath klopfte mit dieser um die Wette förmliche Staubwolken aus den braunen Ripspolstern. Die Thüren von zwei Stuben, den Zimmern des jungen Herrn, denen diese steifen birkenen Stühle und Sofas angehörten, standen weit auf, und die Scheuerfrau bürstete die Dielen mit einem Eifer, der darauf schließen ließ, daß sie Angst vor der Räthin hatte, die ihr Thun unausgesetzt beobachtete. Der „Guten Morgen!“ des jungen Mädchens verhallte in dem Getöse des Klopfens. Frau Rath hatte weder Auge noch Ohr für sie, und Mamsell Unnütz konnte unaufgehalten ihre Geburtstagsfeier beginnen.
„Wenn Sie die Tischtücher und Servietten gleich zuerst ins Wasser stecken möchten, Fräulein,“ wies die alte Waschfrau sie an – „so, ich helf’ den Korb tragen.“ Und in wenigen Minuten war der Strom erreicht.
Den Garten schied nur ein schmaler Fußsteig vom Ufer, das ziemlich steil abfiel. Andersheim gehörte nicht zu den Orten des herrlichen Rheins, an denen die leidige Eisenbahn zwischen Strom und Gärten dahinbraust; die nahm hier ihren Weg hinter dem Städtchen vorüber, und am Wasser, besonders vor Trautmanns Garten, war es noch ebenso idyllisch wie zu jener Zeit, als Schienen und Dampfwagen in das Reich [648] der unbekannten Dinge gehörten. Zum Strome hinunter führten Stufen, und vor diesen schaukelte der alte Nachen im Schatten der Nußbäume, die ihre Zweige hoch und üppig über die Gartenmauer reckten, als wollten sie durchaus ihr Spiegelbild sehen in der köstlichen, grünlich klaren Fluth.
Julia zog den Nachen heran, trat hinein, ließ sich den Korb mit der Wäsche reichen und stand dann, als die Alte verschwunden war, noch ein Weilchen müßig da und schaute über die breite glitzernde Wasserfläche nach der jenseits gelegenen großen Aue, über der ein zarter bläulicher Frühnebel hing. Wie wonnig war dieser Morgen! So feierlich rauschte der Strom, so lustig hüpften die Goldfunken der Sonne auf den tausend kleinen Wellen, so duftend kam der Wind – dem jungen Geschöpf ward das Herz weit und das Auge feucht, unwillkürlich falteten sich ihre Hände. „Wenn man nur nicht so allein wäre,“ flüsterte sie, und dann blitzten auch in ihren träumerischen Augen ein paar Goldfunken auf wie zwei selige Hoffnungssterne und sie lächelte, während sie im Buge des kleinen Nachens kniete und ein Tuch lässig in den Wellen schwenkte.
Dann hielt sie wieder inne und starrte wie in Gedanken verloren vor sich hin, einen trüben Zug um den Mund, sonderbar veränderte sich dabei das Gesicht; und nun schrie sie leicht auf – das Tuch war ihren Händen entglitten und schwamm eilig den Strom hinab.
„Großer Gott!“ sagte das erschrockene Kind, „und es ist die damastene Kaffeedecke mit den eingewebten Sprüchen!“
Sie bog sich vor, soweit es möglich war, und schlug mit einer Stange ins Wasser, als könne das helfen; dann stand sie wieder kerzengerade und blickte mit weit geöffneten Augen zu einem Nachen hinüber, den ein Schiffer am Ufer entlang stromaufwärts trieb, und auf die Gestalt eines Mannes, der mit dem Bootshaken soeben das Tuch auffischte.
„Hallo!“ rief eine tiefe Stimme, „es sollte mich doch wundern, wenn Mamsell Unnütz nicht das Heldenstück, ein armes, des Schutzes bedürftiges Gespinst sich selbst zu überlassen aufgeführt hätte. Natürlich! Ja, bist Du es denn wirklich, Unnütz?“
Der Nachen war jetzt ganz dicht herangekommen, ein großer breitschulteriger Mann stand darin. Er hielt den Hut grüßend über dem braunen Scheitel, während die andere Hand noch den Bootshaken mit dem nachschleppenden Tuch umfaßte. Seine Augen aber hingen mit unverhohlenem Erstaunen an dem Mädchen, das, die Blässe einer großen Erregung im Antlitz, wie ein fremdartiges reizendes Bild auf Goldgrund in dem leise schwankenden Nachen stand.
„Nun, grüß’ Gott!“ sagte er endlich, „ich muß es wohl glauben, daß Du es bist, Unnütz. Wer im ganzen Städtchen hätte wohl solch schwarzes Haar und solche Augen, und wer sonst könnte wohl so stolz und mit so klassischer Ruhe dastehen als die Julia Adami aus Rom? Wie? Und Wäsche spülst Du an Deinem achtzehnten Geburtstag? Aber auch das ist klassisch, Kind; in alten Zeiten war es, glaube ich, Lieblingsbeschäftigung der Fürstentöchter –“ und er schlug klatschend das Tuch auf den Bug des Nachens, in dem das Mädchen stand, und schwang sich selbst hinüber. „Grüß’ Gott, noch einmal, Julia, und frohen Geburtstagsgruß!“
Da gab sie ihm langsam eine kleine zitternde Hand, aber ihr Auge begegnete dem seinen nicht. Sie standen so noch, als der Mann, der den jungen Doktor Fritz Roettger hergerudert hatte, schon wieder stromabwärts fuhr; sie noch immer mit gesenkten Wimpern, er sie erstaunt betrachtend.
Aus ihrem stillen Versunkensein wurden sie erst emporgeschreckt, als jetzt drüben ein Dampfer vorbeirauschte und durch die heftige Bewegung des Wassers, die er verursachte, der Nachen [649] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
in bedenkliches Schwanken gerieth. Der Doktor lachte laut und herzlich. „Schau, Mamsell Unnütz, jetzt wär’s Dir selbst beinah’
ergangen wie dem armen Tuche, und ich hätt’ Dich fischen müssen. Aber sag’ mir um alles in der Welt, Kind, was hast Du mit Dir angefangen
in den zwei Jahren? Du bist ja eine halbe Elle gewachsen und wo ist Dein schmales Gesichtchen geblieben? Du bist ja – –“
Das Kompliment blieb ihm auf der Zunge, so rosig war sie erglüht.
„Zwei Jahre sind doch eine lange Zeit,“ sagte sie und begann wieder eifrig ihre Arbeit. „Aber wo kommst Du her?“
„Plantsche ein andermal weiter und setze Dich dahin – so! Ewig ist doch Wäsche bei Euch, ich kann mir Euch gar nicht anders vorstellen. Wo ich herkomme? Von Berlin, das heißt von Rüdesheim heute früh, gestern von Köln; und weil ich Euch überraschen wollte, fuhr ich mit dem Nachen, um ungesehen ins Haus zu gelangen.“
„Ich glaube, Deine Mutter denkt, daß Du erst am Pfingstheiligabend eintriffst,“ sagte sie.
„Ja, das mag sie wohl; aber mir wurde Berlin plötzlich zu eng. Ich hatte dort nichts mehr zu thun, reiste ab, und nun bin ich da, wie Du siehst.“
„Und bleibst immer hier?“ klang es stockend.
„Na, möglich ist’s; ich hab’s der Mutter verspochen. Vielleicht fassen die biederen Bürger von Andersheim Vertrauen zu mir und geben mir ihr sterbliches Theil bei Krankheiten anheim.“
„Willst Du nicht hineingehen und Deine Mutter begrüßen?“
„Nein! Es gefällt mir hier sehr gut, und Mutter bekommt noch früh genug den Schreck in alle Glieder, wie sie zu sagen pflegt. Erzähle mir lieber – wie geht’s hier bei Euch?“
Sie hatte doch wieder angefangen Wäsche zu spülen. „Immer so weiter,“ sagte sie, mährend ihr ein paar Tropfen auf das Haar flogen und dort wie blitzende Steine liegen blieben.
Er schwieg und sah ihr zu. Was war aus Mamsell Unnütz für ein eigenartiges Mädchen geworden, und welch trostloser Klang lag in den Worten: „Immer so weiter!“ Ihm ward ganz beklommen zu Muth; und an diesem „Immer so weiter“ sollte er theilnehmen, theilnehmen für sein ganzes Leben?
„Unnütz,“ bat er, seine Gedanken abschüttelnd, „laß die Plantscherei, das kann doch das Mädchen thun; es ist gräßlich! Freue Dich doch lieber Deines jungen Lebens!“ Und er hatte sie plötzlich auf das Bänkchen neben sich gezogen und den Arm um sie geschlungen. „Sonst gabst Du mir stets einen Kuß, wenn ich kam, weißt Du noch? Und beim Abschied auch. Heute zu Deinem Geburtstag muß ich Dir einen geben!“ Und ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er seinen hübschen braunen Schnurrbart auf ihre rothen Lippen gepreßt.
Sie entwand sich ihm blitzschnell und sah ihn an. Sonderbar leuchteten einen Augenblick die Goldfunken auf in den dunklen Sternen, dann senkten sich die Wimpern und ein sehr feindlicher Zug erschien auf ihrem Gesicht. „Bitte, laß das jetzt, ich bin kein Kind mehr,“ sagte sie.
„Nichts für ungut, Fräulein Unnütz!“ Er erhob sich und sprang behende aus dem Nachen, machte ihr vom Ufer aus noch eine tiefe Verbeugung und schritt die Stufen hinauf. „Es ist nur, damit Mutter noch rasch das bewußte Kalb schlachtet, Unnütz – auf Wiedersehen!“
Sie starrte ihm nach, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Wie kraftlos saß sie da, und auf einmal hielt sie die Hände vor die Augen, als blende sie die Sonne und das Spiel der Wellen und so saß sie noch, als die alte Frau den zweiten Korb mit Wäsche brachte. –
Der junge Doktor platzte gerade in die Wohnstube der Mutter zu einer Zeit, die er sich nicht gewählt haben würde, hätte er eine Ahnung gehabt von dem, was sich dort abspielte. Dort stand [650] nämlich in der Stellung einer Frierenden seine Mutter am sommerlich kalten Kachelofen mit dunkelrothem verärgerten Gesicht, und am Fenster saß Tante Riekchen, sehr bleich, einen Brief in der Hand.
„Du, Fritz?“ rief die Mutter, als sie des Sohnes ansichtig ward. „Na, das ist aber ein Glück, wie gerufen kommst Du!“ und nach einem flüchtigen Kusse zog ihn die erregte Frau vor den Stuhl der Tante. „Da sag’s ihr einmal, Fritz, sie glaubt mir’s nicht.“
„Grüß’ Gott, Tante! Was glaubst Du denn schon wieder nicht?“ begrüßte er sie gutmüthig.
„Daß der Frieder ein – ein – Bruder Leichtfuß ist – gelind ausgedrückt!“ rief Frau Rath.
Tante Riekchen sah ihren Neffen an wie ein verwundetes Reh. „Erbarmen, Fritz, Erbarmen!“ sprachen die verweinten Augen.
„Ich kann Dir leider gar nichts vom Frieder erzählen, Tante,“ sagte der junge Arzt freundlich ernst, „kaum daß ich ihn einmal flüchtig auf der Straße sah. Du vermagst Dir das nicht vorzustellen, aber in einer solchen Großstadt, wo jeder seinen eigenen Weg gehen muß, da – –“
„Es thut mir recht weh, Fritz, daß Ihr Euch noch immer vermeidet.“
„Tante, das ist so der Lauf der Dinge. Offiziere halten sich – müssen sich etwas exklusiv halten; Absicht ist das gar nicht von uns beiden,“ tröstete er herzlich.
„Thu’ nur nicht, als ob Du nicht wüßtest, daß der Herr Adami den Baron spielt!“ sagte Frau Rath mit ihrer liebenswürdigen Offenheit. „Damen, Diners, Soupers in den feinsten Lokalen; wenn er’s nicht weiß, ich kann Dir’s sagen, Riekchen, so ist’s! Verschließ Dich nicht länger der Thatsache und häng’ Deinem Goldsohn den Brotkorb höher, sonst trifft noch ein, was ich Dir vor acht Jahren prophezeit hab’, als der Bub’ die große Rechnung in der Konditorei hier gemacht hatte – Du gehst noch mit dem Bettelsack aus dem Haus hier, hab’ ich damals gesagt.“
„Ich bitte Dich,“ rief Tante Riekchen verletzt, „bring’ nicht immer die alte, längst vergessene Geschichte wieder aufs Tapet. Uebrigens will ich nicht länger stören, da wir uns doch nicht einigen. Ich hab’ mich gefreut, Fritz, Dich zu sehen, und wünsche Dir Gottes reichsten Segen,“ wandte sie sich an den jungen Arzt, und schnell verließ sie das Zimmer, damit ihre Verwandten nicht die Thränen sehen sollten, die ihr aus den Augen schossen.
Frau Rath sah ihr nach. „Halsstarrig bis zuletzt!“ rief sie.
„Was wollte denn die Tante, liebe Mutter?“ forschte er.
„Was sie wollte? Geld! Eine Hypothek aufs Haus!“
„Lieber Gott, so weit ist’s?“ fragte er, ehrlich betrübt.
„Schon lauge! Ich gab ihr ja vor zwei Jahren schon dreitausend Thaler auf das Haus. Sie hat eine wahre Angst, daß man im Publikum etwas merkt von ihrer Lage. Heute kommt sie plötzlich wieder zu mir um ein erneutes Darlehn. Es ist ein Elend! Sie besitzt nicht mehr soviel, um die Kosten des mehr als einfachen Haushalts zu decken; sie spart an allen Enden und Kanten, ja sie hungern beinahe. Das gute Dienstmädchen ist abgeschafft und Fräulein Julia muß die Hände rühren. Aber das ist’s eben, wenn sie die nicht hätt’, so könnte sie an meinem Tische essen, ich würd’s ja gern geben. Aber die ‚Unnütz‘ ist einmal da und muß gehalten werden wie eine Prinzeß’.“
Der junge Doktor lachte auf. „Spülen denn heutzutage Prinzessinnen die Wäsche am Rhein?“
„Nun, lach’ nur nicht zu früh. Eben hat mir Riekchen gesagt, daß das Fräulein von jetzt ab die Kasinofeste besuchen würd’.“
„Warum denn nicht?“
„Lieber Gott, was das kostet! Schon der Anzug –“
„Lassen wir das. – Kannst Du der Tante nicht helfen?“
„Freilich! Ich hab’ ihr gesagt, ich wolle das Haus kaufen; für einen mäßigen Preis natürlich. Doch was meinst Du, was sie haben will – rein lächerlich! Hab’ ihr vorgestellt, sie bekomme freie Wohnung, Gartenbenutzung – aber sie besteht auf der Summe. Dabei wär’s schrecklich, wenn’s in andere Hände käm’,“ fuhr die alte Dame seufzend fort, „es liegt so gut für Deine Zwecke – hier herum die neue Villenstadt mit vornehmem Publiknm. Es wär’ nur ein Fall erträglich, wenn nebenan der Herr Krautner es kaufte.“
Sie machte eine Pause. „Heirathen wirst Du müssen, Fritz; ein Unverheiratheter Arzt ist ein Unding. Also ’ne Frau wär’ vor der Hand das Nöthigste für Dich.“
Jetzt lachte der hübsche große Mann laut auf. „Mutter, weißt Du, was das Nöthigste ist?“ rief er, „ein Frühstück!“
Die alte Dame kam erst jetzt zu dem richtigen Bewußtseln, daß ihr Sohn, den sie seit zwei Jahren nicht gesehen hatte, sie überrascht habe und da sei, wirklich und wahrhaftig. Sie lief ganz behende hin und her und trug herbei, was sie in Küche und Keller hatte, und währenddem entschuldigte sie sich, daß leider Gottes seine Stuben noch nicht in Ordnung seien. Und als sie endlich dasaß und ihn mit bestem Appetit speisen sah, da sagte sie noch einmal. „S’ist wirklich nöthig, Fritz, daß Du Dich nach einer Frau umthust; welch anständiger Familienvater wird denn Dich jungen Luftikus zu seiner Frau oder gar zu seinen Töchtern rufen? Uebrigens, heut’ nachmittag könnten wir ja – –“
„Nun, was könnten wir denn da?“ fragte er belustigt.
„Besuche machen, bei Eisemanns und bei Krautners etwa –“
„I, hat denn das solche Eile?“
„Nun, wenn man Nachbarschaft ist und immer über den Zaun hinüber redet, so abends – und das Thereschen sitzt doch auch öfters ’mal bei uns in der Laub’ –“
„So? Das Thereschen? Wer ist denn das?“
„Herrn Krautners Tochter; sie halten da ein bißchen Freundschaft miteinander, Julchen und das Thereschen, sind auch in einem Alter. Ich würd’s nicht leiden an Riekchens Stell’, da guckt das Mädchen nur ab, wie’s die reichen Leute haben, aber – was geht’s mich an! Sag’ mal, weißt Du wirklich nichts vom Frieder?“
„Mutter,“ antwortete der junge Mann, „frage mich nicht nach ihm; durchs Reden wird’s nicht besser. Mich dauern nur die beiden da droben.“
„Erzähl’ doch! Erzähl’!“ rief die Mutter, aber er hörte es schon nicht mehr. Er wollte sorgen, daß sein Koffer käme, rief er zurück. –
Wenn der heimgekehrte Sohn geglaubt hatte, es werde ihm zu Ehren feierlich der übliche Kalbsbraten mittags aufgesetzt werden, so hatte er seine Mutter noch nicht ganz genau gekannt. Es gab weiter nichts als das an Scheuer- und Waschtagen übliche Gericht, „und damit holla!“ wie Frau Räthin sagte. Nun, er war kein Schlemmer und aß auch die süß-sauren Leberknödel. Aber machte es das Scheuerparfüm oder die Thatsache, daß er erst gegen Abend in seine noch nassen Zimmer konnte, um sie einzurichten – er befand sich im Zustand größter Ungemüthlichkeit.
In der Wohnstube nickte die Mutter im Nachmittagsschlummer, und von droben hörte man eine wie im Schlafe gedrehte Kaffeemühle. Er trat auf die Schwelle seines künftigen Wohnzimmers. Wie kahl das Ganze war! Nun, wenn nur erst seine Bücher und Instrumente ausgepackt sind, dann – aber, großer Gott, wo sollte er sie denn hinthun? Es war nicht einmal ein Schrank für sie vorhanden! Plötzlich fiel ihm ein, daß auf dem Boden noch die Regale aus des seligen Großvaters Amtsstube sein müßten und behaglich rauchend erstieg er die Treppen, schlich leise über den Flur, damit der Nachmittagsschlummer der bekümmerten Tante nicht gestört werde, und erklomm die steile Bodentreppe.
Solch heimliche, mit allerhand Gerümpel vollgestellte Dachböden, solch festes Balkenwerk und solch geheimnißvolles Dämmerlicht, in dem die Spinnen weben und alte feudale Mäusegenerationen ein Leben unter beständiger Angst vor der Hauskatze führen, giebt es gar nicht mehr in den neumodischen Häusern, wo jeder Winkel zum Aufenthalt für Menschen umgeschaffen ist. Der junge Arzt hatte immer eine Vorliebe für den Boden des Hauses gehabt von den Kinderspielen her, wo sie sich hier versteckten, im heimlichsten Winkel Karten spielten und die ersten Rauchversuche anstellten. Es wurde ihm erst hier oben heimathlich zu Muthe, und wahrhaftig, da hing noch das Seil, in dem er Mamsell Unnütz geschaukelt hatte, und dort stand das alte Spinnrad im Winkel der Esse, dessen zerbrochenes Rad zu drehen des kleinen Mädchens stilles Entzücken gewesen war.
Er machte sich eifrig daran, allerhand Kasten, Stühle und zerbrochenes Gerümpel aus dem Wege zu räumen, um an die gesuchten Regale zu gelangen, die dort hinten hervorsahen, und dabei sprach er leise vor sich hin. „Schön ist anders, aber für den Anfang – später, wenn ich heirathen muß, wie die Mutter sagt, werden wohl neue Sachen kommen –“
In diesem Augenblick stutzte er; die Thür der gegenüberliegenden Bodenkammer hatte einen leisen knarrenden Ton hören lassen, und sich rasch umwendend, sah er, wie sich diese Thür eben ganz langsam schloß.
„Nun, spukt’s hier denn wirklich?“ rief er und war mit zwei Sprüngen drüben und rüttelte an dem Schlosse – ein Ruck [651] und die kleine Hand, die von innen so kräftig zugehalten hatte, gab nach und Fritz stand vor Mamsell Unnütz.
„Also Du?“ sagte er verwundert. „Versteckst Du Dich hier immer noch?“
„O bitte, geh!“ flehte sie verlegen. Aber er ging nicht.
„Ich werde doch sehen, was Du hier oben treibst,“ sagte er, über die Schwelle tretend. Dann verstummte er –
In einer Ecke, just unter dem blinzelnden verschlafenen Dachfenster, dessen altersblindes Glas in allen Regenbogenfarben schillerte, stand ein invalider Lehnstuhl mit mottenzerfressenem Polster vor einem Tische, dessen Platte sämmtliche Geräthe der Aquarellmalerei trug. Eine Menge Lederkästchen höchst wahrscheinlich für Briefmarken bestimmt, lag in einem Körbchen, und ein halbes Dutzend derselben stand fertig gemalt zum Trocknen aufmarschiert wie ein Zug Soldaten. Er nahm eins der Kästchen in die Hand und betrachtete es. Die fliegende Taube, um den Hals am blauen Bändchen einen winzigen Brief tragend, schien soeben erst mit wenigen kecken Strichen hingemalt; recht gut der Natur abgelauscht war die Flügelbewegung des Thierchens und trotz des sehr verbrauchten Musters nett und originell, wenn sich auch eine noch ungeübte Hand verrieth.
Er sah von der Taube zu dem Mädchett hinüber. Sie stand ungeduldig und blaß vor ihm, und ihre Zähne bissen die Unterlippe.
„Hab’ keine Ahnung gehabt, Julia, daß Du malst,“ sprach er, „aber, um Gotteswillen, wie kamst Du auf diese einförmige Beschäftigung? Für wen? Weshalb brütest Du schockweise Tauben aus? Weiß es Tante Riekchen?“
„Niemand! Auch für Dich ist das nicht – bitte, vergiß es!“
„Aber Unnütz, sei doch nicht so unfreundlich,“ bat er. „Ich dächte, Du wüßtest von früher her, daß wir gute Kameraden sind. Habe ich Dich je verrathen? Im Grunde freue ich mich ja herzlich, daß Du auch etwas anderes treibst als Wäschespülen; nur diese“ – er deutete auf die Kästchen – „Massenfabrikation ist mir unverständlich. Sag’, Kind, treibst Du Schacher mit Deiner Liebhaberei? Taschengeld – wie? Und hast Du Unterricht gehabt? Du mußt doch auch anderes gemalt haben? Zeig’ es mir, bitte!“ Und er ergriff eine alte zerlederte Mappe, aus welcher Papier hervorlugte, Papier, wie man es zu Aquarellen benutzt.
„Laß das liegen!“ herrschte sie ihn an mit zornigem Blicke, und ihr Fuß trat den Boden. „Es ist nur Spielerei,“ setzte sie hinzu, „unnütz wie ich selbst. Ich hab’ einmal der Tante solch ein Bildchen zu Weihnacht geschenkt und – bittere Worte dafür bekommen. Unterricht? Wo sollte ich Unterricht nehmen? Ich würde doch nichts lernen. Das da“ – sie deutet verächtlich auf die Lederkästchen – „das, nun das thue ich – weil – für mein ganz besonderes Vergnügen,“ schloß sie, verschränkte die Arme ineinander und glich in diesem Augenblick einer der allerstolzesten Römerinnen, die ihren Sklaven zu entlassen gedenken, aber nicht eben in Gnaden.
„Ich will Dir etwas sagen, Julia,“ sprach er gelassen, „Du malst, um Geld zu verdienen. Aber für wen? Für wen?“
„Für wen sonst als für mich, angenommen Du hättest recht.“
„Ich fürchte, Du – –“
„O bitte, fürchte nichts!“ sagte sie mit funkelnden Augen. „Uebrigens muß ich jetzt der Waschfrau ihr Vesperbrot geben.“
„Schön! Ich gehe mit; verzeihe, daß ich Dich belästigte.“ Es mochte etwas in seiner Stimme liegen, das sie weich machte.
„Sei nicht böse, Fritz,“ bat sie plötzlich und hielt ihm die Rechte hin mit abgewandtem Gesicht.
Er nahm sie mitleidig in seine beiden Hände. „Arme kleine Mamsell Unnütz!“ Es war derselbe innige Ton, mit dem er einst vor Jahren zu dem Kinde gesprochen. „Weine nur nicht, Unnütz, iß lieber!“ Und sie legte die freie Hand über die Augen, um die glühende Röthe zu verbergen.
„Julia!“ sprach er leise und zog sie an sich. Und der schöne dunkle Mädchenkopf lag plötzlich an seiner Brust. „Kind, Du hast’s wohl nicht leicht gehabt all die Jahre her? Ader nun bin ich da, und Du mußt mir alles sagen, hörst Du, alles was Dich drückt. Ich will nicht, daß Du traurig bist in Deinen schönsten Frühlingstagen. Du hast nun wieder einen wie damals, eh’ ich nach Göttingen ging, einem dem Du alles sagen und klagen kannst.“
Sie antwortete nicht, sie litt es nur, daß er ihr das Haar streichelte. Da ward auch er stumm und ließ ihren Kopf ruhen an seiner Brust. Und es war so still hier oben, so totenstill, nur der Holzwurm tickte in dem alten Balkenwerk und Fritz Roettgers Herz klopfte so laut, daß er meinte, man müsse das Pochen hören. Langsam hob er dann das Gesicht des Mädchens und sah in die schönen, halb verschleierten heißen Augen. Und zum zweiten Male heute küßte er ihren Mund, aber leidenschaftlicher als vorhin und länger, und diesmal sträubte sie sich nicht. Ihre Arme legten sich weich und leise um seinen Hals, und ein Ton wie ein erstickter Jubelschrei zitterte durch den niedrigen Raum.
Im nächsten Augenblick schon war sie allein; sie kniete vor den alten Lehnstnhl, als sei er ein Dankaltar, die Hände gefaltet, das schöne stolze Gesicht in heller Entzückung nach oben gerichtet. ,O Gott,“ sagte sie leidenschaftlich, „ich danke Dir, nun ist kein Schatten mehr für mich in der Welt.“
Und druntett stand er und sah etwas niedergeschlagen aus. „Dummheiten!“ murmelte er, „alter Schafskopf, der ich bin! – Aber zum Henker, ich darf doch schließlich meine sogenannte Cousine küssen? Hm – wollte doch, es wär’ unterblieben. Na, er bildet sich hoffentlich nichts ein, der Unnütz – großer Gott, das fehlte noch!“
„Fritz!“ rief die schrille Stimme der Mutter, „ich wär’ soweit – wir wollen zu Krautners gehen.“
Er seufzte und nahm den Hut vom Nagel. „Armer kleiner Unnütz!“ murmelte er noch einmal. – –
Tante Riekchen kam von Doktors gegen Abend zurück. Sie schlich förmlich: der Sorgendruck, der auf ihr lag, lähmte auch ihren Gang. Dabei war die ganze Luft wie mit Goldstaub durchsetzt, und die alten Giebelhäuser des Städtchens, die Brunnen und die Bäume der Gärten erschienen purpurn überhaucht von der untergehenden Sonne. Sie sah es nicht, sie hatte für nichts mehr Sinn, als dafür, wie sie Geld herbeischaffen könnte. Plötzlich, dicht vor ihr, kam aus der kleinen rundbogigen Thür eines schmalen Häuschens eine Mädchengestalt und schritt rasch vor ihr her. Welch ein elastischer Gang und welch biegsam schlanke Figur, trotz des schlecht gearbeiteten Kleides! Was hatte sie nur, die Julia? Ihre Schritte tanzten förmlich und all die Leute sahen sich nach ihr um und gafften ihr unter den runden Strohhut.
„Julchen!“ rief die alte Dame, da wandte sich das Mädchen rasch um, und Fräulein Riekchen konnte in ein junges Menschenantlitz blicken, aus dessen schönen Zügen ein inneres großes Glück hervorleuchtete. Die bedrückte Frau verstand es nicht, sie sah nur diesen Schnuheitszauber, und der kränkte sie noch immer in der Erinnerung an vergangene Zeiten. „Geh doch anständig!“ tadelte sie. Das Mädchen richtete den Schritt nach ihr. „Wo warst Du, Julia?“
„Bei der Schneiderin, wie Du bestimmtest, Tante. Denk’ Dir, sie sagt, es könne ein ganz lieb’ Kleidchen werden, wenn ich noch ein paar rothe Schleifen dazu hätt’.“
Die Tante antwortete nicht. „Komm heute abend zu mir in die Schlafstube, Du sollst etwas berechnen!“ erwiderte sie endlich, und dann gingen sie zusammen weiter.
Vor der Hofthür trafen die von „unten“ und von „oben“ zusammen. „Nun,“ fragte Frau Rath ihre Schwester, „hast Du Geld bekommen? Ich wett’, der Doktor hat Dir’s noch einmal gegeben – gelt? Na, hast eben Glück, Riekchen.“
Oben saßen dann Tante und Nichte bis spät in den Maiabend hinein und rechneten. Vor den Augen des jungen Mädchens verwirrten sich die Zahlen, sie brachte alles falsch heraus, und Tante Riekchen ward ungeduldig und von Minute zu Minute blasser.
„Dreitausend Mark Zinsen zu bezahlen, und nur viertausend fünfhundert Einkommen,“ murmelte sie; „tausend davon bekommt Frieder als Zulage – –“ Und plötzlich löschte sie die Lampe aus und legte sich in den Sessel zurück.
Ein Weilchen schien es ganz dunkel, dann aber kam das Mondlicht zur Geltung, das durch die Fenster quoll, und von draußen klang das Schlagen der Nachtigallen und fernes Singen in das Stübchen. „Julia!“ Schrill schallte es in diesen Frieden.
„Tante?“
„Es wird mir schwer, Dir’s zu sagen, aber – ich kann Dich nicht behalten – Du mußt fort – Dir allein helfen. Es langt kaum noch für mich.“
Keine Antwort.
„Julia, hörst Du nicht? Komm her!“
Da kam sie herüber und die alte Dame sah in ein starres Antlitz. „Hast Du mich verstanden, Kind?“
„Nein!“ Es war wie ein Hauch.
„Nun, so will ich deutlicher sprechen. Frieder hat mehr verbraucht, als ich hätt’ geben können. – Es ist jetzt alles so anders in der Welt – ich kenne mich auch nicht aus in dem Offiziersstand [652] und wußt’ nicht, was es auf sich hatte, als er vor andert halb Jahren nach Berlin kommandiert wurde. Nur soviel weiß ich, daß ich kaum genug für mich zum Sattessen behalte und daß ich Dich nicht mithungern lassen darf. Du verstehst ja einiges von der Wirthschaft, und wenn Du auch nicht fertig bist, so lernst Du noch dies und das; Du mußt eben anfänglich vorlieb nehmen mit wenig Gehalt. Ich will in die Zeitung ein Stellengesuch setzen lassen, zu Johanni wird sich wohl etwas finden. Ich muß dann sehen, wie ich durchkomme.“ Noch immer kein Laut. „Nun, Julia?“
Da lag das Mädchen plötzlich vor ihr auf den Knien. „Laß mich mithungern, Tante!“ klang es halb erstickt. „O, ich bitte Dich! Ich bitte Dich, so sehr ich kann, schicke mich nicht fort, nur jetzt nicht fort! Ich will arbeiten Tag und Nacht, ich kann ja auch hier Geld verdienen – Du glaubst es nicht? O ja, ich hab’ es schon gethan, ich wollte dafür – – O Tante, Tante, laß mich hier, ich kann nicht fort!^
„Du machst mir die Last schwer,“ murmelte das alte Fräulein.
„Tante, wir könnten hier oben Zimmer vermiethen – ich will arbeiten wie eine Magd, ich will auch nicht mit zu Bällen und Vergnügung, ich will ganz still im Garten sitzen, ach, laß mich nur hier!“ Und als die alte Dame sich nicht rührte, fuhr sie fort, um ihre karge liebeleere Heimath zu kämpfen, in der sie alle Jahre ihres jungen Lebens nur Zurücksetzung und Härte kennengelernt hatte; fuhr fort zu flehen, weil es sie schlimmer als der Tod dünkte, seine Nähe zu meiden, die für sie die Sonne ihres Lebens war seit jenem Abend, an dem sie gestoßen und gescholten, hungernd und allein in ihrem Stübchen saß, und er sie tröstete. „Tante, liebe Tante!" Die schönen flammenden Augen sahen mit hinreißend bittendem Ausdruck zu der Frau empor, die das Schicksal ihres Lebens in der Hand hielt.
„Wir wollen sehen – steh’ auf!“
Das war alles, was ihr als Trost gewährt wurde, aber es dünkte dem Mädchen schon unendlich viel. Sie sprang empor. „Ich danke Dir, Tante, Du sollst es nie bereuen!“
Dann war sie verschwunden wie der Mondstrahl, der vorhin noch silberweiß auf der Diele lag.
Die Einsame am Fenster sah die dunkle Wolke an, die vor den Mond getreten war, und wieder wandte sich ihr Herz von dem Kinde, in Erinnerung an seine Mutter. So hatte sie wohl auch flehen können? Welch ein Mangel an weiblichem Stolz! Wenn ihr, dem Riekchen Trautmann, einer gesagt hätte „Geh!“ – nicht ein Wort hätte sie verloren. Aber woher sollte Edelsinn kommen bei der Tochter der Frau, die sich dem Gatten angeboten! –
Julia aber flog den Gartenweg hinunter. Was sie eigentlich wollte, wußte sie selbst nicht; ihre zitternden Nerven suchten Beruhigung. Sie schlüpfte aus dem Pförtchen zum Strome hinunter, und dort stand sie, die Hände auf das klopfende Herz gedrückt. An ihren Augen zogen die dunklen Jahre der Kindheit vorüber, in denen seine Freundlichkeit der einzige leuchtende Stern gewesen. Und nun war dieser Stern zur Sonne geworden, zur strahlenden goldenen Sonne, und die Nacht hatte sich in Tag verwandelt, in welch glückseligen Tag!
„Guten Abend, Julchen!“ rief eine helle Stimme hinter ihr.
Sie schrak empor und wandte sich um.
„Was stehst Du da und schaust ins Wasser wie eine, die sich das Leben nehmen will?"
„Guten Abend, Thereschen!“ erwiderte das Mädchen mit einem leisen Seufzer, und an die Mauer des Nachbargartens tretend, reichte sie die Hand hinauf zu der lichten Frauengestalt, die sich im Mondschein zierlich und leicht wie eine Elfe aus dem rebenumwachsenen Rahmen bog.
„Wie geht’s Dir, Kleine?“ fragte Therese weiter; „ich gratulier’ Dir auch schön zum Geburtstag! Wär’ gern hinübergekommen, aber früh sah ich Dich an der Wäsche schaffen, und nachmittags kam Deine Tante auf Besuch mit dem Herrn Doktor, und Du weißt ja wie der Vater ist – allemal glückselig, wenn er eine verständnißvolle Seele findet, die er in den Keller schleppen kann. Sie sind bei uns geblieben zum Abendessen und eben erst wieder heimgegangen.“ Das zarte Gesicht, von goldflimmerndem Haar umgeben, lächelte schelmisch zu der jungen Nachbarin hinunter
„Hör’, Julchen, ich glaub’ Euer Doktor singt da – das macht Vaters Rauenthaler.“
Und wirklich scholl des Doktors tiefe Stimme durch den Garten:
„Nur am Rheine will ich leben,
Nur am Rhein geboren sein,
Wo die Berge tragen Reben
Und die Reben goldnen Wein!"
Die Mädchen lauschten mäuschenstill. Der Sänger jenseit der Mauer kam näher, nun war er aus dem Garten getreten, die Treppe zum Wasser hinabgestiegen und nun koppelte er den Nachen los und ruderte sich hinaus in den breiten Silberstreifen, der auf dem Wasser zitterte, wie er es als Knabe unzählige Male gethan hatte.
„Gute Nacht!“ sagte Julia leise zu der Freundin und schlüpfte in den Garten. Diese aber achtete nicht darauf; sie winkte mit einem Tuche zum Strome hinüber und rief: „Weiter singen, weiter singen, Herr Doktor! Aber nehmen Sie sich in acht vor den Nixen!“
Und als Julia sich umwandte, da schien ihr das Thereschen selbst eine Nixe zu sein in ihrem schimmernden Blondhaar und dem weißen duftigen Gewand; aus dem Nachen aber kam keine Antwort, und das Mädchen lächelte selig vor sich hin. und wenn alle blondhaarigen Nixen des ganzen Stromes kämen, sie fürchtete sie nicht, sie glaubte und liebte.
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Erfinder-Lose.
William Lee – wer kennt noch den Namen dieses Mannes, der wie so viele Wohlthäter der Menschheit zeitlebens nach
Anerkennung rang und schließlich, des vergeblichen Kämpfens müde, in Armut und Dürftigkeit unterging und doch hat er der Welt
einen der wichtigsten Industriezweige geschenkt. Im Jahre 1589 war es, als er den Handwebstuhl erfand und damit der Begründer
einer der bedeutsamsten Erwerbsquellen wurde.
Seltsame Umstände waren es, die zur Erfindung des Wirkstuhles führten; die nächste Veranlassung hierzu war nicht das Bestreben, der mühsamen Handarbeit eine Erleichterung zu verschaffen, sondern einzig und allein die – Liebe. Und wunderbar! Der Mann, der dieses sinnreiche Geräth erdachte, zählte keineswegs zu der Zunft der Weber, trieb auch kein mit der Weberei verwandtes Handwerk; seine technische Bildung war überhaupt eine höchst mangelhafte; er gehörte dem gelehrten Stande an, hatte auf der Universität Cambridge Theologie studiert und war Kandidat des Predigtamtes.
Lee hatte sich – so lautet die Ueberlieferung – als Student in eine Bürgerstochter verliebt, die seine Bewerbung nicht ungünstig aufnahm. Aber sie war arm, und als ältestes Kind mußte sie nach dem Tode ihres Vaters der Mutter das tägliche Brot verdienen helfen; denn es galt, noch für eine ganze Reihe kleiner Geschwister zu sorgen. Mary war sehr geschickt in der Anfertigung von Strümpfen, welche zu jener Zeit noch einen Luxusartikel bildeten, den nur die Reichen zu erschwingen vermochten; trotzdem war der Verdienst der Strickerinnen kärglich, denn man kannte noch nicht die heute übliche leichte und einfache Art der Maschenbildung, welche die Herstellung von Strümpfen mit der Hand so wesentlich fördert. Von früh bis abends saß die Braut des Kandidaten über ihren Strickstruwpf gebeugt, emsig und mühsam die Fäden verschlingend, für den Geliebten aber hatte sie kaum einen flüchtigen Blick, die schwierige Arbeit erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit.
Da kam dem jungen Theologen der Gedanke, ob es nicht möglich wäre, eine Arbeitsmaschine zu erfinden, welche der Dame seines Herzens gestatten würde, auch ihm einen Theil ihrer Zeit zu widmen. Wenn das Sprichwort sagt, die Noth mache erfinderisch, so läßt sich das Gleiche wohl auch von der Liebe behaupten; auf gut Glück betrat Lee das ihm bisher wenig vertraute Feld der Mechanik, und schon nach wenigen Monaten hatte er die Freude, seine Bemühungen von Erfolg gekrönt zu sehen: der erste Handwebstuhl, auf dem er mit wenig Mühe und Zeit Strickwaren herzustellen vermochte, war fertig. Das war im Jahre 1589.
Inzwischen erhielt der junge Geistliche das Pfarramt zu Calverton bei Nottingham, und überglücklich führte er seine Mary als Frau in sein neues Heim. Aber bald stellten sich neue Sorgen ein; die Pfründe war so kärglich ausgestattet, daß der Mangel an die Thür des Pfarrherrn zu klopfen begann, Da [653] setzte sich die Frau Pastorin wieder an den von ihrem Gatten erfundenen Webstuhl und half mit arbeiten und verdienen; denn im Laufe der Jahre hatten sich auch verschiedene kleine Esser eingestellt, deren allezeit reger Appetit gestillt werden mußte.
Lee erkannte sehr bald, daß seine Erfindung eine große Zukunft habe, und beschäftigte sich daher unausgesetzt mit ihrer Vervollkommnung. Er gab seine ohnehin wenig einträgliche Pfarrstelle auf, um seine ganze Zeit und Kraft dem neuen Erwerbszweig zu widmen. Die von ihm hergestellte Wirkmaschine war ganz aus Holz gefertigt und ermöglichte es, zwölf Maschen zu schließen und reihenweise aneinander zu fügen, so daß das Gewebe ein einziges langes Stück bildete, welches zusammen genäht werden mußte, wenn es die Strumpfform erhalten sollte – eine freilich noch ziemlich unvollkommene Art der Herstellung, die aber unwiderleglich bewies, daß das Problem gelöst, das Prinzip gefunden war. Als es Lee gelungen war, die Leistungsfähigkeit seiner Maschine zu erhöhen, beschloß er, eine Werkstätte für Wirkwaren in Calverton zu errichten; er baute mehrere neue Stühle, weihte einzelne seiner nächsten Angehörigen in das Geheimniß der Herstellung ein und begann nunmehr die Fabrikation von Strümpfen in größerem Maßstab.
Aber es stellten sich dem strebsamen Manne fast unüberwindliche Hindernisse entgegen. Man belächelte und verspottete den ehemaligen Landpfarrer, weil er die Kanzel mit dem Webstuhl vertauscht hatte, man beschuldigte ihn des Betrugs, weil seine Ware gegenüber den mit der Hand gestrickten Erzeugnissen werthlos sei, und seine Widersacher brachten es endlich dahin, daß niemand gewirkte Strümpfe tragen mochte. Verstimmt und enttäuscht verließ er Calverton und wandte sich nach London, wo er die Unterstützung und Gönnerschaft der Königin Elisabeth zu erlangen hoffte.
Allein er hatte sich geirrt; Lord Leicester, der Günstling der Königin, empfahl ihn zwar derselben und Elisabeth nahm auch die Werkstätte, die Lee in Bunhill-Fields errichtet hatte, mit großem Interesse in Augenschein; als aber Lee die Königin um ein ausschließliches Privilegium für seine Erfindung bat, lehnte sie diese Bitte ab mit der Bemerkung, daß sie den vielen Armen, welche sich durch Strümpfestricken ernährten, ihr Brot nicht entziehen dürfe.
Lee wandte sich nun an Lord Hudson, welcher bei der Königin ebenfalls viel galt und für die Erfindung des ehemalige Geistlichen eine so hohe Theilnahme zeigte, daß er seinen eigenen Sohn die Kunst des Strumpfwirkens erlernen ließ. Indessen auch er erhielt von Elisabeth eine abschlägige Antwort, doch ließ sie durchblicken, daß sie eher geneigt sein werde, Lee ein Patent zu ertheilen, wenn er sich entschließen würde, anstatt der wollenen Strümpfe, die jeder ihrer bemittelteren Unterthanen tragen wolle, seidene zu verfertigen. Diesen Wink glaubte der Erfinder nicht unbeachtet lassen zu dürfen; er richtete einen seiner Stühle zur Seidenweberei ein und hatte die Freude, bald darauf der Monarchin als ein Erzeugniß seiner Werkstätte ein Paar feiner, seidener Strümpfe überreichen zu können. Wiederum empfing ihn Elisabeth sehr freundlich, lobte die schöne Arbeit und die große Weichheit und Elasticität der Gewebe und – entließ ihn mit herablassendem Kopfnicken. Nicht besser erging es ihm bei dem Nachfolger der „jungfräulichen Königin“, Jakob I., dem Sohne der unglücklichen Maria Stuart; denn obgleich dieser bei seiner Krönung nicht einmal im Besitz von einem Paar seidener Strümpfe war, sondern sich solche erst von einem seiner Hofherren, dem reichen Herzog von Buckingham, leihen mußte, damit er nicht, wie er sagte, vor den fremden Gesandten wie ein gemeiner Kerl zu erscheinen brauche, fand er sich doch nicht bewogen, das Unternehmen Lees irgendwie zu unterstützen.
Da schien es, als sollte dem Vielgeprüften von Frankreich her Erlösung kommen. Der große Staatsmann und Finanzminister Heinrichs IV., der Herzog von Sully, welcher schon die Seidenkultur und andere Erwerbszweige in seinem Vaterland eingeführt hatte, vernahm von der neuen im Entstehen begriffenen Industrie und forderte William Lee auf, nach Frankreich zu kommen und dieselbe dort einzuführen. Leichten Herzens kehrte der Verkannte dem undankbaren Heimathland den Rücken und siedelte mit seiner Familie und seinen Webstühlen nach Rouen über, wo er auf Vorschlag des Herzogs seine Werkstätte einrichtete. Die Sonne des Glücks schien dem schwergeprüften Manne endlich leuchten zu wollen; Heinrich IV. war ihm sehr gnädig gesinnt, und Sully verschaffte ihm eine Unterstützung aus Staatsmitteln, um ihn in stand zu setzen junge Leute anzulernen und sich fortgesetzt der Verbesserung seiner Wirkmaschinen zu widmen.
Allein kaum war eine heitere, hoffnungsfreudige Zukunft vor Lees Augen aufgestiegen, als sie auch schon wieder im Dunkel versank. Bald nachdem er den Boden Frankreichs betreten hatte, fiel König Heinrich IV. am 14. Mai 1610 durch Mörderhand, Lees Gönner Sully aber wurde als eifriger Calvinist durch Maria von Medici vom Hofe verbannt und dem Protestanten Lee selbst jede Unterstützung entzogen; ja man gab ihm sogar zu verstehen, er möge das Land sobald wie möglich wieder verlassen.
Das war zu viel für den gealterten, an Körper und Geist bereits gebrochenen Mann. Jeder Stütze, jeder Hoffnung beraubt, arm und lebensmüde, sank der geniale Schöpfer und Begründer eines Erwerbszweiges, der Millionen Menschen Arbeit und Verdienst zu gewähren berufen war, noch in demselben Jahre wie sein königlicher Beschützer ins Grab.
Aber sein Werk lebte fort, die Saat, welche er gesät hatte, ging auf und trug herrliche Früchte. In Rouen und später auch in Paris fanden sich Unternehmer, die nach Lees Modellen Wirkstühle bauten und Strumpfwaren herstellen ließen, welche bald ihren Weg ins Ausland fanden, und jetzt sah auch die englische Regierung ein, wie kurzsichtig sie gewesen war, als sie den Erfinder ziehen ließ. Die Anerkennung und der Lohn, welche dem Lebenden versagt geblieben waren, wurden wenigstens den Hinterlassenen zu theil, denen für Ueberlassung der Wirkmaschinen ansehnliche [654] Summen gezahlt wurden. In Nottingham wurde die erste Werkstätte für Wirkwaren errichtet, und von hier aus verbreitete sich dieser Erwerbszweig rasch über die Grafschaften Derbyshire und Leicestershire, wo heute Hunderttausende von Wirkstühlen in Betrieb sind. Auch in London begann die Strumpfwirkerei sehr bald festen Fuß zu fassen, und schon im Jahre 1657 gewährte Cromwell den dortigen Inhabern von Stühlen die Privilegien einer gesetzmäßigen Zunft.
In Deutschland wurde die neue Industrie erst nach 1685 bekannt, in welchem Jahre Ludwig XIV. von Frankreich das Edikt von Nantes aufhob und damit die Protestanten aus seinen Staaten vertrieb. Die meisten derselben wendeten sich nach Deutschland und brachten dorthin ein reiches Kapital an Kunstfertigkeit auf gewerblichem und künstlerischem Gebiet. Auch zahlreiche Strumpfwirker befanden sich unter ihnen, und von der Noth getrieben, begannen sie sofort ihre Thätigkeit, die für Deutschland um so bedeutungsvoller wurde, als um diese Zeit der Verkauf englischer Wirkstühle nach dem Ausland verboten wurde, da die dortigen Wirkwarenfabrikanten den reichen Gewinn, den der neue Erwerbszweig abwarf, ausschließlich in ihre Taschen einstreichen wollten.
Ein rascher und ungeahnter Aufschwung der deutschen Wirkerei erfolgte, und insbesondere war es das gewerbfleißige Sachsen, welches sich mit Eifer der Sache annahm. Die Großartigkeit und Mannigfaltigkeit des von Lee begründeten Fabrikationszweiges erhellt am besten daraus, das es mehr als fünftausend verschiedene Gegenstände sind, welche derselbe gegenwärtig umfaßt, und noch immer wird diese Industrie nicht müde, neue Luxus- und Bedarfsartikel in den Bereich ihres Herstellungsgebietes zu ziehen, so daß sie längst zu den entwickeltsten und bedeutungsvollsten aller, im großen betriebenen Erwerbszweige gehört.
Das Wappenschild, welches Cromwell der Londoner Strumpfwirkergilde zugleich mit den zünftigen Körperschaftsrechten verlieh, zeigt den Erfinder des Wirkstuhles, William Lee, im Priesterornate, mit der Hand auf einen fertigen Strumpf deutend; ihm zur Seite steht eine Frau, die Stricknadeln unthätig in der Hand haltend, zum Zeichen, daß dieselben jetzt überflüssig seien. Es ist das einzige Denkmal, welches die Erinnerung an den genialen Erfinder wach erhalten hat; die Nachwelt hat diesen Märtyrer der Industrie vergessen, wie sie so viele Förderer des Menschheitswohles vergaß. Und darum ist es eine Pflicht der Dankbarkeit, den Hunderttausenden, denen seine Erfindung Lohn und Brot gewährt, und den ungezählten Millionen, welche die Erzeugnisse des Wirkstuhles nicht entbehren mögen, den Namen William Lee wieder ins Gedächtniß zurückzurufen. Moritz Lilje.
Aus Deutschlands Industriewerkstätten.
Von Arthur Achleitner. Mit Abbildungen von Alois Eckardt.
Die Pforte zu dem Paradies bildet das reizend gelegene Dörfchen Schliersee oder Schliers, wo die Eisenbahn endet und das sauber gehaltene Sträßlein vorüber am schwach gekräuselten See bergeinwärts führt. Tausende und Abertausende pilgern den Weg zu Füßen des Hohenwaldeck, den Blick auf die herrlichen Bergspitzen des Jägerkamp und der Brecherspitze gerichtet. Was jenseit des Wassers liegt, kümmert die eiligen Wanderer weniger, kaum ein achtloser Blick fliegt hinüber, wo der Freudenberg tannenumfangen sein Haupt erhebt. Jetzt steht ein Hotel auf dem Hügel, in nichts daran erinnernd, daß der Ritter von Hohenwaldeck zum Gedächtniß an seine bewaffnete Pilgerfahrt nach Jerusalem und sein Verweilen auf „Neby Samuel“, von wo er die Heilige Stadt erblickte, den Hügel mit dem Thurme in der trauten Heimath „Freudenberg“ genannt hatte. Später freilich war der Berg für ihn kein Berg der Freude mehr, bösen Einflüsterungen folgend, glaubte der Ritter an die Untreue seiner Gemahlin, warf sie, mit dem Freunde in den Thurm, wo die Opfer seines Jähzornes elend verhungerten. Kein Stein von diesem Thurme ist mehr zu finden. Vorbei ist die Zeit des Ritterthumes! Dafür erstand auf altgeschichtlichem Boden eine Pflegstätte emsiger Arbeit, gewerblichen Fleißes. An der Buchtung des westlichen Seeufers, verdeckt durch den Freudenberg und den Rücken des Schwaigerötz, liegt idyllisch eingebettet eine Glashütte, deren Erzeugnisse sich einen guten Platz auf dem Weltmarkt erobert haben. Angelehnt an den saftgrünen Bergrücken, umrahmt von Fels und See, liegt die Hütte da, nachbarlich umgeben von den sauberen Arbeiterhäusern, überragt von des Besitzers Wohnhaus, aus dessen selbsterzeugten Fenstern man hinüberblickt auf die Stätte, wo einst die stolze Burg und Feste Hohenwaldeck die Grafschaft beherrschte. Dem Holzüberfluß und der Schwierigkeit, den Holzreichthum nutzbringend hinaus in das Flachland zu schaffen, verdankt die Glashütte am Schliersee ihre Gründung, während ihre Entwicklung zur ersten Hütte in Deutschland, welche Antikglas fabrizierte, in den Anfang der siebziger Jahre fällt.
Die Erzeugung des Antikglases, d. h. in verschiedenen Farben und Tönen schattierter Tafeln für die Glasmaler, gewann große Bedeutung, als in den glücklichen Zeiten Ludwigs I. von Bayern die Glasmalerei wieder zu herrlicher Blüthe erstand. Zu Benediktbeuern und Wolfratshausen gelang es zwar, zur Glasmalerei brauchbares Glas herzustellen, doch waren die Ksten zu groß; man mußte deshalb das nöthige Glas aus Frankreich und Belgien beziehen, bis sich die englischen Hütten den Weltmarkt eroberten. Als 1853 die Wolfratshausener Glashütte einging, bestand in Deutschland keine Fabrik mehr, welche Antikglas fertigte.
Aber der Aufschwung der Glasmalerei machte die Fabrikation eines brauchbaren deutschen [655] Glases immer nothwendiger, und so veranlaßte der Besitzer der Münchener königl. Glasmalerei, F. X. Zettler, die Glashütte in Schliersee, sich der Erzeugung des Antikglases nach englischer Art anzunehmen. Nach vielen Opfern und Mühen gelang es denn auch dort, ein Antikglas herzustellen, das in Bezug auf die Verschiedenartigkeit der Farben und der Textur, und namentlich in der Hauptsache, der Schattierung der Farben vom Hellen ins Dunkle bei jeder Tafel, dem englischen vollkommen die Wage hielt. Zettler sowohl als die Mayersche Kunstanstalt in München bedienen sich nur noch des Schlierseer Antikglases und haben das englische ganz aufgegeben.
Treten wir in die Hütte! Die Glasmacher sind, wie unser Vollbild zeigt, in vollster Thätigkeit, und wir erkennen alsbald, daß hier die verschiedensten Arten von Glaswaren hergestellt werden. In dreizehn Häfen brodelt, kunstgerecht gemischt, das flüssige Glas, grell beleuchtet der Feuerschein der Ofenluken den mächtigen Raum. Man sieht den flach kuppelförmig gewölbten Glasofen, der an seinem Umfang mit Arbeitsthüren versehen ist. Hinter diesen stehen die erwähnten Glashäfen – Schmelzgefäße von sehr feuerbeständigem Thone – deren Inhalt von einer rings um den Ofen laufenden Holzbühne aus mittels der Blasepfeifen leicht zu erreichen ist. Das wichtigste Werkzeug des Glasbläsers, die Pfeife, ist auf dem Bilde mehrfach in Anwendung zu sehen. Sie besteht aus einem Eisenrohr, das mit hölzerner Handhabe umkleidet ist. Wassertröge von ausgehöhlten Baumstämmen dienen zugleich zum Abkühlen des heißgewordenen Pfeifenendes und zum Absprengen des Glases von demselben.
Im Mittelgrund des Bildes nimmt einer der Glasbläser mit der Pfeife genau die vorgeschriebene Menge der flüssigen rothglühenden Masse aus dem Hafen, andere haben bereits begonnen, sie aufzublasen, der Eintragbube unten wartet mit langgestielter Gabel auf Arbeit. Vorn sind zwei Männer beschäftigt, einer bereits weit aufgeblasenen Hohlkugel die gewünschte Form zu geben. Handelt es sich um Antikglas, so wird die Kugel zur Walze gestaltet, hernach auf einer Seite der Länge nach aufgesprengt und im Streckofen zur Tafel gestreckt.
Antikglas wird in vielen Farben massiv in der Masse gefärbt; außerdem aber stellt man sogenannte Ueberfanggläser her in bestimmter Farbenzusammensetzung, so daß der Glasmaler nach Wunsch den Ueberfang durch Flußspathsäure wegätzen und diejenige Farbe im Glase hervortreten lassen kann, die er braucht.
Schreiten wir, der Hitze nicht achtend, weiter! Wir treffen zwei Arbeiter, welche mit der Anfertigung von Flaschen beschäftigt sind. Nachdem der auf der Bühne stehende Glasbläser die flüssige Masse bis zur passenden Größe aufgeblasen hat, hält sein Gehilfe eine aufklappbare, meistens metallene Form in Bereitschaft, welche eine Höhlung bildet, die der äußeren Form der herzustellenden Flasche entspricht. In diese Form wird die flüssige Glasmasse eingeführt und durch weiteres Blasen an die Wände der Form gepreßt, deren Gestalt sie nun annimmt. Ist das Glas hinreichend erstarrt, so wird die Form zurückgeklappt, und die Flasche steht der Hauptform nach fertig vor uns.
Interessant zu beobachten ist die Entstehung der farbigen Wasserkrüge. Wortlos erledigen die emsig arbeitenden Gesellen ihre vielen Handgriffe. Wie Irrlichter zucken die glühenden Glaskölbel im dunklen Raume auf, und ehe man nur recht Nachsehen kann, ist die glühende Masse schon ein fertiger Krug. Mit verblüffender Geschwindigkeit und Sicherheit geht das alles in wenigen Minuten vor sich: der Arbeiter bläst den fertigen Glasposten in die Holz- oder Eisenform, dann wird der Boden mit dem Hefteisen geheftet, der Hals knapp bei der Pfeife abgesprengt. Den frisch angewärmten, weichen Hals treibt der Glasmacher auf dem Stuhle mittels des Auftreibeisens auf und bringt das zierende Glasringel mit der Ringelschere an. Und nochmals wird der Hals erwärmt: ein Druck, und die rinnenförmige Ausgußmündung ist fertig. Unterdessen hat der Gehilfe an einem anderen Hefteisen eine genügende Menge Glas aufgenommen und an der Marbelplatte zu einem langen, massiven Stengel geformt, der für den Henkel bestimmt ist. Wenige Handgriffe, und von den beiden Enden des weichen Stengels ist das eine am Halsrand, das andere am Mittelkörper der Karaffe angedrückt und fest angeschmolzen, wobei der Meister dem so gebildeten Henkel die nöthige Schweifung giebt. Das ist alles viel schneller geschehen, als hier erzählt.
Es würde zu weit führen, wollten wir alle Fabrikationszweige des näheren schildern; doch müssen wir die Gefäße, welche wir in der Hütte haben entstehen sehen, noch etwas weiter auf ihrem Wege verfolgen.
Sind die einzelnen Stücke fertig geblasen, geformt und im Kühlofen abgekühlt, so wandern sie in die Schleiferei.
Der muntere Bergbach treibt in unermüdlichem Frondienst die Räder, die seine Kraft auf dünne Solnhofener Steinplatten von Scheibenform übertragen; sehr feiner Sand fließt aus einem Trichter auf die sich drehende Scheibe, die dem dagegen gehaltenen Glase den gewünschten Schliff geben muß. Da werden die Flaschenränder geglättet oder mannigfaltige Zierate angebracht. Unter der Scheibe befindet sich ein hölzerner Bottich, welcher den Sand auffängt und aus welchem der ausgelaufene Trichter wieder aufgefüllt wird.
Und nun sind wir am Ende. Bald wandern die fertigen Krüge, Flaschen und Gläser hinaus in die Welt, manch kühlenden Trunk den Durstigen zu spenden. Der undankbare Mensch freilich vergißt meist über dem, was er trinkt, des Gefäßes, aus dem er trinkt. Vielleicht regen aber diese Zeilen doch manchen an, dem zerbrechlichen Vermittler seiner Genüsse ein aufmerksames Auge zu schenken und einmal auch dort einzukehren, wo er ihn unter kunstverständigen fleißigen Händen aus formloser Masse entstehen sehen kann.
[656]
Für Claire war durch den Tod des alten Grafen ein Besuch der Rennen unmöglich gemacht, ihr Vater haßte den Sport und wäre so wie so nicht hinzubringen gewesen. So fuhr Frau Emilie allein auf den Rennplatz, um den Triumph ihres Sohnes mit anzusehen.
Auf dem Sattelplatz herrschte große Aufregung, als es bekannt wurde, daß Otto Berry für Maltiz reiten werde. Vergeblich machten die, welche auf Helios gewettet hatten, Einwendungen – der Stall und Helios gehörten beiden Herren zusammen, jeder von ihnen hatte somit die Berechtigung, zu reiten.
Am Totalisator rief die Nachricht einen völligen Umschwung der Stimmung hervor, das Vertrauen auf Helios sank bedeutend. Aber um so höher mußte der Gewinn sein, wenn sich das Mißtrauen, das man dem neuen Reiter entgegenbrachte, nicht bewahrheitete.
Otto selbst war voller Zuversicht. Noch tags zuvor hatte er das Pferd geritten, es war willig seiner Führung gefolgt; auch der Trainer hatte ihm Muth zugesprochen, das Pferd gehe ja von selber, er solle nur anfangs dessen Kräfte schonen. Jetzt saß er schon im Sattel und ritt mit seinen Rivalen dem Startplatz zu. In diesem Augenblick brachte ihm ein Diener des Rennvereins einen Expreßbrief mit dem Poststempel Kossan. Er steckte ihn uneröffnet in die Tasche. Er wußte ja, was darin stand: Verhaltungsmaßregeln, Befürchtungen, die ihn höchstens beunruhigen konnten. Nach dem Rennen war Zeit genug, ihn zu lesen.
Das Zeichen ertönte, das Summen der tausendköpfigen Menge erhob sich einen Augenblick zu einem tosenden Brausen, dann trat lautlose Stille ein. Die Reiter flogen dichtgedrängt die Bahn entlang, nun tauchten sie unter in der schwarzen wogenden Masse der Zuschauer, nun tanzten sie, farbige Punkte bildend, in weiter Ferne wieder auf der Oberfläche. In Zwischenräumen erscholl donnerndes Hurra von den Hindernissen her.
Nach dem ersten Umritt saß noch alles im Sattel; Helios lief an dritter Stelle – Otto zügelte sichtlich sein Feuer. Aber der Sprung des edlen Thieres war elastisch; tadellos, spielend nahm es eben das Hinderniß vor der Tribüne, von seinem Reiter vortrefflich unterstützt. Laute Zurufe belohnten die Leistung. Im Umsehen nahm Helios den zweiten Platz ein und behauptete ihn, so weit man blicken konnte.
Die Aufregung wuchs, der Name Helios ging von Mund zu Mund; die, welche ihrem Vertrauen auf das Pferd trotz des jugendlichen Reiters treu geblieben waren, jubelten. Der Totalisator verhieß fünfzigfachen Gewinn, im Falle Helios siegte. Die Gegner hofften noch immer auf einen Fehler des Reiters im entscheidenden Augenblick, Berry hatte ihrer Ansicht nach das Pferd ohnehin schon zu früh ausgelassen. Nun galt es den letzten Umritt, nachdem Helios beim zweiten bis um eine Kopflänge an das führende Pferd herangekommen war. Das erste Hinderniß, das jetzt passiert werden mußte, nahm Helios nicht mehr so leicht, der linke Hinterfuß stieß hörbar an die Schranke an; ein bedauerndes „O!“ ging durch die Menge. Dennoch hielt er seinen Platz, ja er rückte sogar unmerklich vor. Da erschien das zweite Hinderniß – Helios stutzte, sein Rivale flog in weitem Bogen voraus. Man sah Otto aufrecht in den Bügeln stehen, die Gerte schwingend, das Pferd sprang in kurzen Sätzen an – da, ein dumpfer Krach, ein wilder Aufschrei, wirres Drängen und Laufen – „Helios gestürzt!“ flog die Kunde bis zu den Tribünen.
Eine Dame in der ersten Reihe fiel in Ohnmacht – es war die Kommerzienräthin Berry. Ein junger Arzt, der sich in ihrer Gesellschaft befand, ließ ihren Wagen kommen und fuhr mit ihr durch die gaffende Menge, welche, den Zusammenhang nicht kennend, mit ihrer Aufmerksamkeit zwischen den beiden pikanten Schauspielen, der ohnmächtigen Frau und dem verunglückten Reiter, schwankte, nach der Villa Berry zurück. Ein Blick hatte ihn überzeugt, daß für den Gestürzten schon gesorgt wurde. Dieser lag, die Zügel noch in der Hand, den Tod im fahlen Antlitz, neben seinem Pferde, das den Hinterfuß gebrochen hatte und qualvoll stöhnte. Ein Arzt war um Otto beschäftigt, Offiziere umstanden ihn. Nun richtete sich der Arzt mit einer bezeichnenden Bewegung auf. „Vorbei!“, sagte er leise. „Das Genick gebrochen.“
Auf ein Zeichen von ihm näherten sich Leute mit einer Tragbahre und nahmen den regungslosen Körper auf.
In diesem Augenblick tönte die Glocke vorn am Sattelplatz. Donnerndes Hurra, Hüteschwenken von der Tribüne her! Das Rennen war beendet, man jauchzte dem Sieger zu, und die Menge drängte von der Unglücksstätte hinweg einem erfreulicheren Anblick zu.
Der traurige Zug mit dem Toten zog einsam über die öde Fläche dem Sattelplatz zu, begleitet von einigen Weibern und Kindern, die sich von dem aufregenden Schauspiel nicht trennen konnten.
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Als Frau Berry zu sich kam, sah sie Claire und den Gatten um sich bemüht. Erst allmählich dämmerte ihr das Bewußtsein des Geschehenen auf. Aber sie konnte sich nur noch des Rufes erinnern: „Helios gestürzt!“ – was war aus Otto geworden? Herr Berry tröstete sie, selbst nicht das Schlimmste fürchtend – jede Minute müsse Nachricht eintreffen. Diese blieb jedoch auffallend lange aus. Auch Claire wurde jetzt von tödlicher Angst erfaßt. Der Bruder hatte ihr nie besonders nahegestanden, zwischen ihren grundverschiedenen Naturen bestand eigentlich von jeher nur das Band der Gewohnheit, allein der Gedanke, daß er mitten aus dem üppigen Leben heraus seinen Tod gefunden haben könnte, erfüllte sie mit Grauen.
Endlich fuhr ein Wagen vor. Berry bestimmte die Damen, zu bleiben, dann eilte er die Treppe hinunter. Ein Kamerad Ottos kam ihm entgegen – die ernste, feierliche Miene desselben redete deutlich genug.
„Sie bringen meinen Sohn – tot?“
Der Offizier nickte stumm.
Die Hausthür ward weit geöffnet, Diener trugen die in einen schwarzen Mantel gehüllte Leiche herein. Mechanisch griff Berry nach dem Treppengeländer, um nicht zusammenzubrechen. Da lag sein einziger Sohn vor ihm, einem waghalsigen Spiele geopfert! Der Ernst des Todes in den jugendlichen Zügen verlöschte die Erinnerung an die Schmerzen, die ihm dies Kind bereitet, unter heißen Thränen küßte er das starre Antlitz.
In diesem Augenblick ertönte ein gellender Schrei – Frau Berry hatte sich aus den Armen ihrer Tochter losgerissen, war in furchtbarer Angst die Treppe hinuntergeeilt und fiel nun vor der Leiche in die Knie.
Zum ersten Male hielt der Tod Einzug in dieses glückliche Haus. Claire, die der Mutter gefolgt war, erschauerte vor seiner grauenvollen Majestät; blitzartig fühlte sie die ganze Armuth, die ganze Leere ihres Lebens in den letzten Monaten. Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, ob sie, wenn der Verlobte an des Bruders Platz wäre, dann wohl größeren Schmerz empfinden würde ... aber ihr Herz gab keine Antwort auf diese Frage. –
Die Leiche wurde in die oberen Räume gebracht. Als sich der Offizier verabschiedete, um nicht länger die Trauer der Familie zu stören, reichte er Herrn Berry einen verschlossenen Brief, den der Arzt gefunden hatte, als er Ottos Uniform öffnete. Berry erkannte die Handschrift des Grafen und glaubte sich berechtigt, das Schreiben zu öffnen. Vielleicht waren es wichtige Nachrichten, die rasch beantwortet werden mußten. Er las:
„Lieber Freund!
Meine Unruhe ist unerträglich! Wie nur mein Alter mir diesen Possen spielen konnte und gerade jetzt – verdammtes Pech! Du weißt, was morgen für uns beide auf dem Spiele steht – alles! Schone Helios bis zuletzt, ich kenne ihn; auf kurze Entfernung leistet er unglaubliches, in der Länge, wenn er zu früh angestrengt wird, nichts. Sollte es wirklich schief gehen, so beschwöre ich Dich, thue bei Deinem Alten alles, um die Hochzeit zu beschleunigen. Der Tod meines Vaters darf unter keinen Umständen ein Hinderniß sein, man kann die Feier ja in aller Stille halten. Wir sind verloren, wenn Dein Vater oder Claire zögern – der Wechsel von Lehner ist fällig und wird dem Regiment
[658] präsentiert, die Ehrenschuld an Graf C. muß bezahlt werden. Bin ich Claires Gatte, so kommt alles in Ordnung, auch Du kannst dann auf mich rechnen. Die Verhältnisse hier stehen sehr schlecht, Papa hat unverantwortlich gewirthschaftet. Ich verlasse mich in
jedem Falle auf Dich und komme in wenigen Tagen.Berry schüttelte verächtlich den Kopf. „Schurke!“ flüsterte er und ging hinaus in das Totenzimmer. Claire und die Mutter knieten vor der Leiche.
Trockenen Auges betrachtete Berry, den Brief in der Hand, die Züge des Geschiedenen, dann legte er sachte die Hand auf Claires Schulter.
„Komm’ einen Augenblick mit mir!“
Sie folgte ihm in das Nebenzimmer.
„Bist Du auf weitere schlimmere Botschaft gefaßt, die Dich vielleicht noch mehr erschüttern wird?“
„Auf alles!“ entgegnete Claire.
„So lies diesen Brief des Grafen – es muß sein!“
Claire nahm das Schreiben und las es; ruhig gab sie es zurück. „Sonderbar,“ sagte sie, zu Boden blickend, „eben als Du kamst, träumte ich so etwas mit offenen Augen. Es schien mir alles so lügenhaft, was ich in der letzten Zeit erlebte, diese ganze glänzende, ewig lachende, ewig glückliche Welt, ihre schönen Worte und Schmeicheleien, ihre Liebesbezeigungen – selbst dieses Totenantlitz draußen. O pfui der Heuchelei, in die man mich verstrickte!“ setzte sie mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit hinzu.
„. . . ‚in die ich mich selbst verstrickte‘ – mußt Du sagen. Meine Absichten waren ganz andere, und der Graf hatte von Anfang an nicht mein Vertrauen. Du weißt, Otto täuschte die Hoffnungen, die ich auf ihn setzte. Die Berryschen Werke, die Arbeit meines Lebens und mein Stolz, sie hatten keinen Erben. Da blickte ich auf Dich . . . wenn Du einem Manne meines Schlages die Hand reichtest, so war er ja gefunden, der Erbe!“
Claire fuhr überrascht auf, sie horchte gespannt auf jedes Wort.
„Und wenn der Erwählte ein einfacher Mann der Arbeit gewesen wäre, von niedrigster Geburt – ich hätte den thörichten Hochmuth, der auch mich erfüllte, bezwungen.“
„Aber hätte sich denn überhaupt in unserer Umgebung ein Mann gefunden, wie Du ihn schilderst?“
„Ich fand ihn,“ erwiderte Berry. „Allein eben in unserer Umgebung voll glänzender trügerischer Aeußerlichkeiten mußte er mit seinem natürlichen Wesen in den Hintergrund treten, vielleicht sogar abstoßend erscheinen; trotzdem hoffte ich einige Zeit – ich hatte Gründe, zu hoffen. Aber bald sah ich ein, daß ich mich getäuscht – Maltiz, der blendende Kavalier, mußte ihn ausstechen. So kam es denn, wie es kommen mußte.“
„Und wer . . . wer war der Mann Deiner Wahl?“ fragte Claire leise, ihrer Erregung nicht mehr Meister.
„Hans Davis, das Arbeiterkind, der Findling, der Gespiele Deiner Kindheit, den wir einst wie eine Puppe Dir zu Weihnachten schenkten, der sich wie von einer unbekannten Macht getrieben immer höher emporschwingt."
Claire hatte gewußt, daß dieser Name kommen mußte, aber sie wollte aus dem Munde des Vaters ausdrücklich bestätigt erhalten, wie nahe sie ihrem Glücke gewesen, wie viel sie verscherzt hatte. Der Brief in ihrer Hand brannte wie Feuer, er war der wohlverdiente Lohn für den Leichtsinn ihres Herzens. Und doch trug sie denn wirklich alle Schuld, kam nicht der größere Theil davon Hans zu, der nicht den Muth besaß, um sie zu werben, der sie am Ende gar nicht liebte mit der Kraft, die den Muth verleiht. Ja, das war’s! Er liebte sie nicht! In qualvollem Kampf der Gefühle warf sie sich an die Brust des Vaters.
„Vater!“ schrie sie auf, und der Strom ihrer Thränen brach sich endlich Bahn, „Vater, Hans liebt mich ja gar nicht!“
Sanft legte Berry die Hand auf den Scheitel seines unglücklichen Kindes, dessen innerste Seele sich ihm eben enthüllt hatte. „Beruhige Dich, Claire, es kann ja noch alles gut werden. Und nun komm’, es ist jetzt keine Zeit zu solchem Gespräch!“
Eng aneinandergeschmiegt kehrten sie zu dem Toten zurück. –
Die Nacht senkte sich herab auf die Werke, rothe Gluthen wallten auf und ab über den schwarzen Dächern und den schlanken Kaminen, die hohen Bogenfenster der Werkstätten schienen lichterloh zu brennen – da huschte eine Frauengestalt über den verlassenen, von schwankenden Strahlen durchkreuzten Hof – Claire!
Es duldete sie nicht im einsamen Gemach, unwiderstehlich trieb es sie hinaus, dahin, wo das Tosen der Arbeit erscholl; in dem donnernden Aufruhr der Kräfte, der diese Hallen erfüllte, wollte sie Ruhe suchen vor dem Aufruhr in der eigenen Seele – ja Ruhe bei ihm, nach dessen Anblick ihr Herz mit ganzer Macht verlangte, dem sie ihren Schmerz klagen wollte wie ein Kind der Mutter. Aber wenn sie ihn fand, was dann? Hatte sie noch ein Recht an ihn, nachdem sie ihn freigegeben? Mußte er sich nicht der Freiheit freuen, da er sie doch nicht liebte, nicht lieben durfte . . . sie, die Braut eines anderen! Aber das war sie ja nicht mehr, sie verachtete, sie haßte den Grafen. Und ein bißchen Liebe hatte Hans in seinem treuen Herzen gewiß noch übrig für die Jugendfreundin. Hatte er nicht einst gesagt: „Ich würde für Sie sterben“?
So zuckte es in ihr auf und ab wie der glühende Dampf über den Werken. Bald blieb sie zögernd stehen, bald eilte sie raschen Schrittes vorwärts.
Aus der Kupferschmiede drang der betäubende Lärm der Hämmer, eine rothe Feuerstraße lief zu dem weiten offenen Thore heraus über den Hof. Sie wollte darüber wegeilen, da fiel ein breiter Schatten aus der Schmiede heraus – eine große Gestalt, im grellen Lichte, das von hinten kam, schwarz erscheinend, näherte sich von dort. Claire wankten die Knie. Wenn er es wäre! Sie konnte, sie durfte ihn nicht sehen, jetzt nicht, mit einer jähen Bewegung wandte sie sich zur Flucht. Aber Hans hatte sie schon erkannt und rief besorgt ihren Namen. Sie stutzte und hielt inne in ihrem wilden Laufe – mit ein paar Sprüngen war er an ihrer Seite, gerade zeitig genug, um die Wankende in seinen Armen aufzufangen.
Wortlos hielt er die halb Ohnmächtige einen Augenblick in seinen Armen, dann rief er besorgt: „Fräulein Claire, Sie sind krank ... der Schmerz um Ihren armen Bruder . . . o, ich begreife! Glauben Sie mir, ich fühle mit Ihnen. Und der, der Sie am besten trösten könnte, Ihr Bräutigam, ist fern, steht selbst an einem offenen Grabe ... Doch Sie sollten nach Hause, Fräulein Claire, jeden Augenblick können die Arbeiter aus den Fabriken kommen. Sie wollten wohl zu einem Kranken drüben in den Arbeiterwohnungen?“
„Zu einem Kranken? Ich will zu keinem Kranken, ich will nur zu Ihnen – ja, zu Ihnen, ich will nicht mehr lügen! Zu Ihnen, Hans, um Sie anzuklagen als falsch, als undankbar, als, was weiß ich . . . Sie drangen ihn mir auf, diesen elenden Maltiz . . . ‚er wird Sie glücklich machen,‘ das waren Ihre Worte. Er aber wollte nicht mich, sondern nur das Geld meines Vaters, das häßliche abscheuliche Geld – ich war ihm nur eine lästige Beigabe, und mein eigener Bruder verhandelte mich an ihn; ein Brief, den man bei Otto fand, verrieth alles. O, es ist schändlich, schändlich . . . und Sie wußten vielleicht darum und sahen geduldig zu, wie Ihre Claire – ja, undankbar, falsch haben Sie gegen mich gehandelt!“
Unaufhaltsam, sich überhastend, mit leidenschaftlicher Gewalt strömten die Worte wie ein Wildbach aus verborgenen Tiefen und Hans erblickte bebend in seinen Wellen das kostbare Kleinod, das er schon für immer versunken glaubte. Sein gestählter Arm zitterte unter der theuren Last.
„Falsch, undankbar – ich? Blicke um Dich!“ flüsterte er. „Kennst Du den Platz? Es ist derselbe, wo wir vor Jahren Abschied nahmen. Hier schlang sich Dein Arm um meinen Hals, hier blieb ich zurück, berauscht von meinem Glücke, als Du mit einem Kusse verschwunden warst im Dunkel, und seit dieser Zeit hatte ich nur einen Gedanken, ein Verlangen, Dich, Claire! Seit der Zeit liebe ich Dich – nicht mehr wie ein Freund, der Dir alles zu danken hat, nein, als Mann!“
Claire hatte gierig seinen Betheuerungen gelauscht, bei dem letzten Worte schnellte sie wie von einem Schlage getroffen empor und entwand sich seinen Armen. „Als Mann?“ rief sie schneidend. „O, wenn dieser Mann nur auch den Muth gefunden hätte, seine Liebe zu bekennen, um sie zu ringen . . . O, über diesen herrlichen Mannesmuth!“
Der Hohn Claires entzündete in Hans einen dumpfen Zorn, eine blinde Rücksichtslosigkeit, die ihn alle Vorsätze vergessen ließ. „Sie sollen nicht länger das Recht haben, einen Feigling in mir zu sehen! So hören Sie denn!“ Er trat dicht an sie heran. „Mich kettet ein Verhängniß, das mich auf ewig von Ihnen [659] trennt; an jenem Abend, an dem wir hier Abschied nahmen, kroch es zum ersten Male heran. Und der es brachte, war . . . nein, nein, ich kann es Ihnen nicht sagen, jetzt nicht – haben Sie Mitleid!“
„Bei allem, was Ihnen theuer ist, sprechen Sie!“ drängte Claire. „Dieses Verhängniß – es kann nicht düsterer sein als das, dem ich eben entgangen. Und auch ich liebe Dich, Hans, habe Dich immer geliebt . . . das zu sagen, kam ich. Und nun sprich!“
Hans griff sich an die Stirn, rang nach Fassung. „Mein Vater lebt noch,“ flüsterte er.
„Er ist arm, ein Arbeiter, uns feindlich gesinnt – ist’s nur das?“
Hans rang nach dem furchtbaren Worte „Verbrecher“ – es blieb ihm in der Kehle stecken. Wenn ihre Liebe doch nicht stark genug war, das Gräßliche zu ertragen, wenn er dies Glück verlieren mußte, jetzt eben, wo es sich ihm erschloß! Der Gedanke drohte ihn wahnsinnig zu machen. „Laß mich schweigen, nur heute noch!“ flehte er. „Dein plötzliches Erscheinen, die Worte, die Du gesprochen – meine Gedanken verwirren sich . . . ich litt so sehr in der letzten Zeit. Und dort kommen Leute – wenn man uns bemerkt! Uebermorgen schenke mir eine Viertelstunde, um diese Zeit, im Parke, bei der Fontäne, wo wir so oft zusammen spielten – dann sollst Du alles hören.“
„Gut denn! Aber was es auch sein mag, Du kannst alle Schatten beschwören, wenn Du mich zugleich das eine hören läßt, das ich ewig von Dir hören möchte: ‚Ich liebe Dich!‘ Denn ich – ich habe nur einen Wunsch – Dich!“ flüsterte sie voll Innigkeit.
Er zog sie leidenschaftlich an seine Brust. Einen Augenblick hielten sie sich schweigend umschlungen – über ihren Häuptern loderten die Feuer gleich Opferflammen. Da näherten sich Schritte.
„Uebermorgen bei der Fontäne!“ flüsterte Claire, seinen Arm lösend, und verschwand im Dunkel.
Hans folgte ihr sinnlos, er hörte ihre Tritte auf dem Kies, er sah bald ihren Schatten, bald ihre Gestalt selbst vor sich hereilen, bis sie in der Thür der Villa verschwand.
Da hielt er inne. Im Innersten erschüttert, starrte er auf das Gebäude, das von Baugerüsten umgeben war, deren Stützen schwarz in den Nachthimmel hineinragten – die Villa Berry sollte das junge gräfliche Paar in einem neuen vornehmen Gewande empfangen.
Aus den Mittelfenstern des ersten Stocks drang ein stumpfes rothes Licht durch die Spitzenvorhänge; dahinter lag wohl der Sohn des Hauses, dahingerafft in voller Kraft. Wie schwer Herr Berry diesen Verlust empfinden, wie tief die Aufklärung über den wahren Charakter des Grafen den stolzen Mann niederbeugen mußte! Und nun sollte er selbst mit seinen Enthüllungen hervortreten, sollte zu dem allem das Verlangen fügen, dem Sohne des Verbrechers das Glück der Tochter anzuvertrauen! Das war nicht bloß unverantwortlich, das war auch thöricht gehandelt. Berry, der durch die Aufhebung der Verlobung mit dem Grafen jedenfalls seine Familie schon genug bloßgestellt wußte, würde sich hüten, eine neue größere Schmach heraufzubeschwören und einen Davis zum Schwiegersohn zu nehmen. War es da nicht für alle besser, auch für Claire, die der Last dieses Verhängnisses nicht gewachsen war, wenn er allein sein Geheimniß trug und schwieg. Vielleicht daß sich für immer ein Abkommen treffen ließ mit Holzmann, mit dem Vater, wenn auch mit Berryschem Gelde! Das war ja kein Betrug, was lag an dem Gelde, wenn es sich um das Glück zweier Menschen handelte! Und er wollte ja darum arbeiten Tag und Nacht. Das leuchtende Ziel, nach dem er so lange gerungen hatte, das, schon verloren, jetzt zum Greifen nahe vor ihm lag, blendete sein Gewissen. „Zu Holzmann!“ war die Losung.
Unzählige Pläne schmiedend und wieder verwerfend, wie dieser Mensch unschädlich gemacht werden könnte, erreichte er, ohne zu einem klaren Entschluß gekommen zu sein, das „Schwarze Rößl“. Holzmann war nicht da, doch der Wirth wußte seine Wohuung – „ganz in der Nähe“, und erbot sich sogar, einen Jungen mitzuschicken; „Herr Holzmann“ war ihm ein werther Gast, der etwas draufgehen ließ, wenn der Verdienst gut war.
Hans nahm das Anerbieten an.
Der Weg führte durch dunkle Gäßchen; die Atmosphäre war noch schlimmer als die in der Kleegasse, das Volk, das sich hier bewegte, stand auf einer noch tieferen Stufe als die Gäste der „Fackel“ und des „Prassers“. Lichtscheue Gestalten, düstere Schildwachen des Lasters, standen an allen Ecken; die trüben, übelriechenden Wasser einer übergelaufenen Gosse bespülten das hölzerne Pflaster. Nun ging es durch einen finsteren, von einer Lampe spärlich erhellten Durchgang, an dessen Seite eine steile ausgetretene Treppe, mit Stricken als Geländer, in die lichtlose Höhe führte. Hier wohnte der Gesuchte.
„Herr Holzmann ist zu Hause,“ sagte der Junge, auf ein erleuchtetes Fenster in der schwarzen feuchten Mauer deutend, einem Ueberbleibsel der alten Stadtbefestigung, welche den auf der anderen Seite liegenden Häusern als Rückwand dienen mußte. Jetzt bewegte sich oben das Licht, die willkürlich vertheilten Fenster bald beleuchtend, bald ins Dunkel versinken lassend; das häßliche Gezänk eines Weibes tönte herunter. Der ganze Bau schien zu leben, zu erwachen zu etwas Entsetzlichem. Ein Schatten fiel durch eines der Fenster – das war wohl Holzmann, sein Dämon! Wenn er hinaufspränge, ihn ermordete ... ein Teufel weniger auf der Welt! Er griff unwillkürlich in die Tasche nach dem Messer; ein heißer Strom stieg in ihm auf, vor die Augen senkte sich ein rother Schleier – er mußte an den „Anfall“ des Vaters denken.
Da floß der Schatten plötzlich auseinander, es waren jetzt zwei, der eines kleinen und eines großen Mannes, Holzmanns und – –
War es Zorn, Freude oder Entsetzen? Er wußte es selbst nicht, was ihm das Herz so schlagen machte – dort oben war sein Vater! Jetzt gab es kein Besinnen mehr. Er eilte die dunkle Treppe hinauf. Von der Höhe herab klang noch immer das Gezeter des Weibes. Ein schmaler Lichtstrahl glitt jetzt über die brüchigen leiterartigett Stufen herab. Hans ging dem Lichte nach, es kam aus einer Zimmerthür des ersten Stockwerkes, die offenbar die Holzmanns war, da sonst alles still und finster dalag.
Er horchte. Es wurde nur geflüstert, das war so Sitte bei Holzmann; dazwischen hinein klirrte ein Glas. Endlich klopfte er – man rief nicht „herein“. Ein schleichender Schritt näherte sich der Thür. Nach einer kleinen Pause ward sie vorsichtig geöffnet, Holzmanns mageres Vogelgesicht erschien in der hellen Spalte.
„Wer ist’s?“
„Hans Davis.“
Drinnen wurde hastig ein Stuhl zurückgestoßen, dazu klang es wie ein unterdrückter Fluch.
Holzmann wandte sich unschlüssig zurück nach dem Zimmer, es war, als ob er gegen jemand die Achseln zuckte. Da stieß Hans selbst die Thür auf, und vor ihm, mitten im Zimmer, stand der „Schwarze Jakob“, die Hände in den Taschen, die Blicke scheu abgewendet.
Holzmann stand zwischen beiden, schlug sich auf die Schenkel, kraute sich den kurzgeschorenen Kopf und kicherte. „Das ist doch dämlich – hihihi! So ein Zusammentreffen – das bedeutet was, Jakob! So küßt Euch doch nach Herzenslust, geniert Euch nicht!“
„Es freut mich, daß ich Dich treffe, Vater!“ sagte Hans, die Hand hinstreckend, die nicht ergriffen wurde. „Es ist eine gute Vorbedeutung für das Geschäft, das mich herführt.“
„Na, mit der Freud’! Aber um einen Tag später hättest vielleicht leichter gethan mit Deinem Geschäft ... wir haben kein Glück, wir Davis’.“ Er wühlte mit den Häunen in der Tasche. „Und doch hängst Du Dich allweil an uns!“ wandte er sich an Holzmann.
„Na, warum nicht? Ihr seid ja ganz brauchbare Leut’,“ kicherte der. „Ein Geschäft, sagen Sie, Herr Davis, führt Sie hierher? Ja, was denn für ein Geschäft, so unter der Zeit? Sehnsucht doch nicht nach Ihrem – Liebling?“
„Ich muß frei werden von Ihnen,“ sagte Hans in festem Tone. „Werde ich es jetzt nicht, kommen Sie mir jetzt nicht entgegen, dann mag das Schicksal seinen Lauf haben, mir liegt dann nichts mehr weder an meiner Ehre noch an meinem Leben!“
„Ah, pfeift’s aus dem Loche? Aber wegen dreißig Mark monatlich so in die Stange beißen, seinen eigenen Vater opfern! Sehen Sie ihn doch an, wie armselig er aussieht – erinnert Sie das nicht an Ihre – Ihre Pflicht?“
Das Gesicht des „Schwarzen Jakob“ war noch finsterer geworden, er nagte an seiner Unterlippe, die Fäuste drückten sich [660] an den Leib, als wenn er sich mit Aufwand aller Kräfte zurückhielte. „Pflicht ... in Deinem Munde!“ fuhr er höhnisch auf. „Aber er hat gar keine Pflicht gegen mich, der Hans. Für was denn? Wozu denn? Laß Dich nicht einschüchtern von dem Kerl,“ wandte er sich an den Sohn, „alles Humbug! Er wird sich hüten, mich anzuzeigen. Wie Du nur auf den groben Leim gehen konntest!“
„So! So!“ antwortete Holzmann. „Nun ja, Vater und Sohn müssen zusammenhalten, Respekt davor! Wenn ich Ihnen aber sage, daß der Herr Papa jetzt eben gekommen ist, um mir selbst einen Antrag zu –“
Jakob stieß den Fuß auf, daß der Kalk von der Decke fiel, und schleuderte Holzmann einen wüthenden Blick zu, der es diesem gerathen erscheinen ließ, mitten in seiner Rede abzubrechen.
„Laß den Wicht da doch seine Anzeige machen!“ donnerte der Alte. „Wegen meiner wirst Du ihm doch nicht den Narren machen. Und wegen Deiner – das ist auch nur Einbildung; was soll es Dir schaden, wenn die Geschichte bekannt wird? Es kann ja mehr Davis’ geben! Ja, wenn Du das Mädel herumgekriegt hättest, die Claire, die jetzt den Grafen heirathet, dann – dann wär’s was anderes!“
„Sie heirathet aber nicht den Grafen, sie liebt mich, und ich – ich kann, ich darf nicht um sie werben, ehe ich nicht frei bin von den Fesseln, die Du mir angelegt hast durch die unselige That. Darum bin ich hier.“
Jakob ließ sich schwer auf einen Sessel fallen. Auch Holzmann war verblüfft. „Gratuliere, gratuliere!“ rief er dann zu Hans gewendet. Ich sag’ es ja, ein Mensch wie Sie! Aber was machen Sie denn da lange Geschichten? Für den Mann des Fräulein Berry ist es doch nicht schwer, ein Abkommen zu treffen mit einem armen Teufel, wie ich einer bin! Glaubeu Sie aber nicht, mich mit einer Bettelsumme abfinden zu können, eine Gelegenheit wie diese kommt für mich nie wieder. Kurz und gut – Sie verschaffen mir im Geschäft Ihres Schwiegervaters ein einträgliches und nicht zu anstrengendes Pöstchen, eine Aufseherstelle oder so etwas, zur Sicherung für meine alten Tage –“
„Was sagen Sie da – ich soll Sie Herrn Berry ins Haus . . . das wagen Sie einem ehrlichen Manne zu bieten!“
„Ja wenn Sie so gar ehrlich sind, dann ist allerdings schwer handeln! Was wollen Sie denn dann eigentlich bei mir? Ihr Vater und ich, wir waren im besten Zuge, alles ohne Sie zu ordnen – dem Herrn Papa liegt ja auch alles daran, obgleich er nicht so thut. Wenn sich nur mit Ihnen reden ließe! Na, lassen wir’s ... Also übermorgen wird der leichtsinnige junge Berry begraben? Nachmittags? Natürlich großes Leichenbegängniß ... die Arbeiter, die Beamten, die ganze Familie? Und man hat wohl nicht einmal Zeit gehabt, die Villa ordentlich in Stand zu setzen und die Gerüste, die ich neulich gesehen habe, abzuschlagen?“
„Was hat denn das mit unserer Angelegenheit zu thun?“ fragte Hans überrascht.
„O nichts, nichts; es ging mir nur gerade so durch den Kopf.“
„So schweig’ mit dem Unsinn!“ mischte sich jetzt der Alte wieder ins Gespräch, in drohender Haltung an Holzmann herantretend. Und Du, Hans, hast ganz recht, Du kannst auf den Vorschlag von Holzmann nicht eingehen. Ueberlasse mir das ganze Geschäft, ich habe Dich hineingebracht, ich will Dich auch wieder herausbringen. Kümmere Dich nicht weiter darum; Holzmann wird so klug sein, sich mit meinem Vorschlag zufrieden zu geben, sonst könnt’s leicht sein, daß mich einmal die Wuth packt und ich ein anderes End’ mache. Trau’ mir nicht zu weit, Holzmann, es geht mir jetzt bis da ’rauf!“ Er machte mit dem Finger einen Strich unter dem Munde und in seinen Augen flammte es unheimlich.
„Narr!“ erwiderte Holzmann, „als ob die Sach’ nicht auch mein eigener Vorschlag wär’!“
„Welche Sache denn? Ich muß sie hören!“ forderte Hans mißtrauisch.
„Nein, Du hörst sie nicht,“ entgegnete der Alte. „Du hast gar nichts damit zu thun, und geht’s aus, wie es mag ... frei bist! Mehr braucht Dich nicht zu kümmern; zuviel Wissen macht Kopfweh! Jetzt geh’ und träume von Deinem Schatz!“
„Ich muß den Vorschlag erfahren, eher gehe ich nicht!“ rief Hans entschlossen.
Jetzt trat Holzmann vor, der im Hintergrunde lauerte und hinter dem Rücken von Hans dem Alten zugewinkt hatte. „Nun, warum thust denn so geheimnißvoll, daß Dein Sohn meinen muß, es stecke wieder eine Lumperei dahinter. Ein Geschäft wollen wir zusammen gründen, ein ganz einträgliches Geschäft, bei dem der Herr Papa für mich eine unentbehrliche Kraft ist; dafür streich’ ich Sie aus meinem Schuldbuch. Das ist alles.“
„Und warum verschweigen Sie die Art des Geschäftes?“ fragte Hans erregt.
„Die Art?“ Holzmann spuckte aus und schob den Cigarrenstummel in die andere Ecke des Mundes. „Nu, wissen Sie, die Art ist gerade keine sehr noble, ich möcht’ fast sagen, ein bißl schmutzig, aber einträglich, einträglich –“
„Und ehrlich, nicht wahr, Vater?“
Holzmann wandte sich auf dem Stiefelabsatz herum zu dem Alten, der im Hintergrund stand.
„Und ehrlich,“ tönte es dumpf von dort wie ein schwerer Seufzer.
„Und ich werde Dich unterstützen mit meinem eigenen Verdienst, das darf ich ja, auch insgeheim. Dann fängst Du etwas anderes an, ein richtiges Geschäft, und dann – wenn die alten Geschichten gebüßt und vergessen sind, dann kommst Du und lebst still Deine alten Tage in unserer Nähe. O, alles wird gut werden, alles wird vergeben und vergessen sein.“ In seiner blinden Freude, auf so unerwartete Weise von der erdrückenden Last befreit zu sein, ließ Hans jedes Mißtrauen fahren und sah die Zukunft im rosigsten Lichte.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte der „Schwarze Jakob“ auf seinen Sohn, der in diesem wüsten Raume verlockende, nie geschaute Bilder vor sein Auge zauberte – ein blühenbes Geschäft, in dem er nach Herzenslust schaffen konnte, er selbst umgeben von der Liebe seiner Kinder, alles vergeben, vergessen . . . und die gute arme Mutter versöhnt herabschauend auf all das Glück und den Segen! Plötzlich schnitt ein häßliches Lachen Holzmanns die schönen Bilder entzwei – er stöhnte auf wie ein [661] verwundetes Thier und lachte dann gezwungen mit, daß ihm die Thränen in die Augen traten.
„Na, so wird es gerade nicht kommen,“ sagte er rauh. „Aber ich bin auf dem Wege und der Holzmann auch, und darum handelt es sich. Willst Du mir dafür danken und vergessen, was Du meinetwegen hast erleiden müssen, soll’s mir recht sein. Ich bin halt so hineingekommen in das Fahrwasser, weiß der Teufel wie, und Dich hat’s ausgeworfen auf sicheren Boden, das ist der ganze Unterschied. Wirst nicht so herb urtheilen, wenn Du das bedenkst!“ Es lag eine Bitte in den letzten Worten.
Nun befiel Hans doch eine Bangigkeit, die dunkle Ahnung eines Unheils. „Vater, wäre es nicht besser, ich würde offen Herrn Berry und Claire Deine unglückliche Lage, Deine guten Vorsätze mittheilen? Claire liebt mich ja, sie wird bei ihrem Vater ein gutes Wort für Dich einlegen –“
Der Alte wandte sich mit einer ärgerlichen Bewegung ab. „Jetzt laß es aber gut sein – ich will nichts von Deinem Herrn Berry und Deiner Claire. Die Leut’ und vergessen! Und jetzt geh’ – Du hast nichts mehr zu thun mit uns zwei, das muß Dir genug sein!“
Traurig reichte Hans dem Vater die Hand. Dieser ergriff sie mit abgewandtem Gesicht und preßte sie krampfhaft.
Holzmann sah dem alten Davis mit komischer Gebärde ins Gesicht. „Thränen? Na, das ist rührend!“
Im gleichen Augenblick traf ihn ein Faustschlag auf den Kopf; er taumelte ächzend zurück und griff nach einem Messer auf dem Tische. Dieser Anblick schien Davis toll zu machen, die lange verhaltene Wuth gegen den Verhaßten brach sich Bahn, er sprang mit einem wilden Satze vor und schnürte die Kehle Holzmanns mit beiden Händen zusammen; sein Athem ging keuchend, die Augen waren blutunterlaufen.
Hans kannte die Wirkung dieses eisernen Griffes – ein Mord geschah, wenn er nicht einsprang. Schon wurde Holzmanns Blick gläsern und starr, seine ermatteten Glieder gaben den Widerstand auf – da löste Hans mit fester Hand die verkrampften Finger des Vaters, Holzmann sank keuchend zu Boden.
„Komm’ Vater, laß ihn!“ Er zerrte den Unschlüssigen am Arme gegen die Thür.
Jakob folgte einige Schritte, blickte dann auf den Mann am Boden, auf Hans, und plötzlich machte er sich gewaltsam frei. „Ich bleib’ – es muß sein, um Deinetwillen!“
Männerstimmen wurden draußen laut, sie kamen von der oberen Treppe.
„Mach’, daß Du fortkommst, man darf Dich hier nicht sehen!“ mahnte der Vater.
Betäubt, von einer instinktiven Angst vor neuen Verwicklungen getrieben, eilte Hans, ohne sich umzusehen, die Treppe hinab, über den Hof, ins Freie. Was hatte er erreicht? War er wirklich frei, so lange der Vater in der Hand dieses Schurken war? Was konnte das für ein Geschäft sein, von dem die Rede war? Ein ehrliches – im Bunde mit Holzmann? Unmöglich! Also zurück! Und doch – wozu? Der Vater folgte ihm ja doch nicht!
In rasendem Laufe war er bis zur Villa Berry gelangt, hier kam er zur Besinnung und schöpfte Athem im Schatten eines Baumes. Blutroth leuchteten die Fenster des Totengemachs, er konnte den Blick fast nicht davon wenden. Da flammte ein Licht auf der linken Seite des Baues auf, ein Fenster wurde hell. – Claires Zimmer! Ob sie wohl Schlaf fand nach solchem Tage? Ob sie je wieder so unbesorgt wie einst zur Ruhe gehen konnte, wenn sie erst mittrug an den Ketten, die ihn umschlangen? Denn alles bekennen – übermorgen bei der Fontäne – es gab doch keinen anderen Weg! Wie konnte er sein Glück auf das Schweigen eines Verbrechers gründen?
Das Schicksal Ottos erregte allgemeine Theilnahme in der „Gesellschaft“. Er war auf der Wahlstatt des Sports gefallen, die ganze vornehme Welt empfand es daher als eine Verpflichtung, ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Eine dichte Menschenmenge umlagerte die Villa Berry, angelockt von dem glänzenden Schauspiel, das hier zu erwarten war, begierig zu sehen, wie der sonst vom Geschick so begünstigte Mann, der Berry, dem Zeit seines Lebens alles so herrlich geglückt war, diesen harten Schicksalsschlag trage. Man sprach von „Helios“, dem vielen Gelde, das mit ihm verloren worden war, dem Pech des Grafen Maltiz, des Verlobten der jungen Berry.
„Was, des ‚Verlobtetn‘?“ ließ sich da eine Stimme hören. „Abgedankt ist er, bankerott, aus ist’s mit ihm!“
Von Mund zu Mund ging die Neuigkeit; man lachte darüber, man freute sich, diese Bevorzugten, oft Beneideten auch einmal tüchtig heimgesucht zu sehen, und fand einen Trost darin für den eigenen drückenden Kummer.
Der Sarg, blumenbedeckt, von acht Soldaten getragen, erschien unter dem Portal. Offiziere in glänzender Uniform gingen zur Seite, dahinter kam der Vater, Kommerzienrath Verry, festen Schrittes.
Alle Köpfe reckten sich nach ihm. „Der Berry!“ flüsterte es bis in die hintersten Reihen.
Die strengen festen Züge des Kommerzienrathes verriethen nichts von dem, was in ihm vorging – so wie jetzt blickte er auch bei seinem Rundgang durch die Fabrik oder wenn man zu ihm in sein Bureau gerufen wurde, zu Lob oder Tadel. Nur die festgepreßte Unterlippe zuckte manchmal schmerzlich und die Festigkeit des Schrittes schien nicht ganz ungezwungen zu sein.
Neben Berry, in gleicher Linie mit ihm, während alle übrigen Beamten der Fabrik erst in einem Abstand folgten, ging Hans Davis. Diese Anordnung gab reichlichen Gesprächsstoff für die Zuschauer, unter denen sich viele Arbeiter der Fabriken befanden. Was war dieser junge Mann, daß er bei solchem Anlaß zur Linken Berrys gehen durfte wie ein Angehöriger der Familie? „Ein Monteur der Fabrik“ – das reichte doch nicht zu. Des Kommerzienraths Liebling, der die neue Lokomotive erdacht hatte – aber das gab ihm doch noch nicht die Rechte eines Familiengliedes! „Der Nachfolger des Grafen – er bekommt das Mädel und den ganzen Mammon,“ lief es plötzlich durch die Reihen und niemand wußte, woher die Kunde stammte. Jetzt war Hans Davis der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – dieses unverschämte Glück!
Oben am Fenster standen zwei Damen in Schwarz, die Mutter und die Schwester des Toten. Ehe der Zug sich in Bewegung setzte, wandte sich Davis um und schaute hinauf. Dann [662] schweifte sein Auge über die Köpfe der Menge – eigentlich war dort sein Platz. Unfaßbare Laune des Schicksals, die ihn hierher, an diesen Platz gestellt! Da blieb sein Blick auf einer kleinen Gestalt haften, eine blaue Bluse, eine wohlbekannte braune Schirmmütze, jetzt ein Gesicht – Holzmann! Hans fühlte das unruhige, nie sich ganz öffnende Auge des Mannes höhnisch auf sich gerichtet, er glaubte, am Halse dieses Menschen noch die rothen Male zu erblicken, die seines Vaters Hände hinterlassen hatten. Was suchte Holzmann hier? Hatte ihn bloß die Neugierde hergeführt? Richtig – er hatte sich ja schon vorgestern nach dem Leichenbegängniß erkundigt. Aber hatte der Verbrecher, der immer seine dunklen Pläne verfolgte, nicht noch weiter gefragt – ob alle Beamten und Arbeiter mit zur Beerdigung gehen, ob das Gerüst noch da sei … Ein Verdacht blitzte in Hans auf. Und von einem gemeinsamen Geschäft hatte Holzmann und widerwillig auch der Vater gesprochen – wenn dieses gemeinsame Geschäft ein Einbruch wäre, wenn der Vater, um den Sohn loszukaufen, sich Holzmann zum Helfer angeboten hätte!
„Eine für mich unentbehrliche Kraft“ hatte Holzmann den Vater genannt, und der Vater kannte die Baulichkeiten, die Kassenräume bei Berry! Und doch, es konnte ja nicht sein, der Vater hatte ihn ausdrücklich versichert, daß das Geschäft ein „ehrliches“ sei.
Inzwischen war der Zug am Kirchhof angelangt, und Hans wurde gewaltsam aus seinen trüben Gedanken herausgerissen, als er sich mit einem Male vor dem offenen Grabe fand. Der Geistliche trat vor und hielt die Trauerrede, dann wurde der Sarg hinuntergelassen in die Erde – die bunten Uniformen, die Waffen der Soldaten glitzerten im vollen Sonnenlicht, auf den Grabhügeln rings umher stand die gaffende Menge, das bunte Schauspiel des Lebens an der Stätte des Todes. (Schluß folgt.)
Alle Rechte vorbehalten.
Die afrikanische Savanne.
In den gangbaren Schriften über Innerafrika ist von jeher die Schilderung des Urwaldes zu sehr hervorgehoben und weniger Nachdruck auf die Savanne gelegt worden. Dies entspricht nicht den wirklichen Verhältnissen, denn Afrika, das im Norden und Süden von Wüsten durchzogen wird, ist in seiner Mitte mehr Steppe und Savanne als Waldland. Die afrikanischen Steppen lassen sich aber keineswegs mit den allgemein bekannten nordamerikanischen Prairien vergleichen; eher könnte man sie den Llanos Südamerikas an die Seite stellen, obwohl auch diese sich von den afrikanischen Grasfluren vielfach unterscheiden.
Nähert man sich der Küste Mittelafrikas, so ist man zumeist enttäuscht, anstatt der erwarteten üppigen tropischen Vegetation nur weite öde Strandlinien zu sehen, auf denen sich vereinzelte Palmen erheben. Das „Grüne Vorgebirge“ verdient seinen Namen nur im Vergleich mit der öden Küstenstrecke der Sahara. Die ersten portugiesischen Entdecker, die ihm diesen Namen gaben, standen noch unter dem Einfluß der alten Lehre, daß der Süden der damals bekannten Erde wegen der großen Hitze unbewohnbar sei, daß in ihm auch keine Pflanzen mehr gedeihen, alles ausgedörrt, sonnverbrannt sei. Als sie nun die wenigen Palmen des Grünen Vorgebirges und später die grünende Mündung des Senegal erblickten, da war dies für sie eine Thatsache, welche die Weisheit von mehr als einem Jahrtausend zu Fall brachte. Augenblicklich ist die Wissenschaft in einer entgegengesetzten Richtung thätig; sie ist bemüht, die mit der Zeit üblich gewordene Anschauung von der unermeßlichen Fruchtbarkeit der Tropen auf ein richtiges Maß zurückzuführen.
Lassen wir uns von den Forschungsreisenden beispielsweise den vielgepriesenen Kongo schildern! Eintönig ist die Küste nördlich von seiner Mündung; der Fluß selbst ist nur mit einem etwa 10 Kilometer breiten Streifen Waldes eingerahmt; südlich beginnt wieder das einförmige Gestade, an dem ein Granitblock weithin sichtbar den Seefahrern als Landmarke dient. Landen wir hier, so sind wir mitten im Steppengebiet und sehen Wälder nur längs der Flüsse wie schmale grüne Streifen in dasselbe eingelagert.
Freilich ist in dieser Gegend die Steppe anders beschaffen als im Norden. Es giebt hier wohl Striche, in welchen nur Gras wächst, die reine Grassavanne oder „Campine“. Aber diese Grasflur ist nicht mit dem teppichgleich verstrickten, weichen und niederen Rasen unserer nordischen Wiesen geschmückt, sondern bringt ausschließlich harte und steife Halmgräser hervor, welche garbenähnlich aus scharf gesonderten, etwas erhabenen Wurzelstöcken aufsprießen. Zwischen ihnen bleibt der Boden nackt, während oben die Halme sich zusammenschließen. Oft erreichen die Gräser eine bedeutende Höhe; man hat Halme bis zu 6 Metern Länge gemessen, und in solchen Grasbeständen verschwinden buchstäblich Roß und Reiter. Es kostet daher eine ungeheure Anstrengung, wenn man sich den Weg durch eine solche Savanne bahnen will, und selbst wenn man auf vielbetretenem Negerpfad [663] wandert, ist der Marsch ein mühseliges Stück Arbeit. Oft muß man die Halme mit den Armen auseinanderbiegen, geknickte, die im Wege liegen, forträumen, und dann kommt man mit den schilfartigen, harten und scharfkantigen Blättern in Berührung[,] die einem empfindliche Schnittwunden beibringen. So wird man von den Seiten bedroht; andere lästige Ueberraschungen kommen von oben.
In den frühen Morgenstunden, der Zeit, in der man in Afrika am zweckmäßigsten marschiert, hängt der Thau an den Gräsern und seine Tropfen fallen auf die Dahinziehenden wie ein förmlicher Regen herab. Selbst wenn man die Vorsicht anwendet, die halbnackten Neger vorauszuschicken, damit sie den ersten Guß empfangen, und am Ende der Karawane marschiert, entgeht man dem Uebel nur theilweise; es hängen noch Tropfen genug, um die leichte Kleidung in der kurzen Zeit von einer halben Stunde gründlich zu durchnässen.
Ist aber trockenes Wetter, dann spenden die hohen Halme einen anderen Regen: bei jedem Anstoßen an die harten Halme fallen spitzige Grannen und stachlige Samen auf den Wanderer herab, dringen zwischen Wäsche und Haut, bohren sich in die letztere ein und erzeugen das lästigste Jucken, in schlimmeren Fällen selbst leichtere Hautentzündungen.
Auch am Boden sind dem Reisenden mitunter Schlingen gestellt; wie unsere Winden an Wegrainen und Getreidefeldern an den Halmen emporklettern, so streben auch hier Schlingpflanzen an den starren Gräsern in die Höhe. Die Ranken derselben sind fest wie Schnüre, und da sie sich auch am Boden des Pfades ausbreiten, so verwickeln sich darin oft Mensch und Thier.
So ist die hohe Grassavanne zur Zeit ihrer vollen Entwicklung beschaffen, und so zieht man durch sie dahin. Die Poesie, die über den Prairien webt, fehlt ihr, das Bild weidender Herden paßt nicht in ihren Rahmen, und undenkbar ist hier die Erscheinung des flotten Reiters, der auf feurigem Rosse dahinsprengt wie der Sohn der ungarischen Pußta oder der Indianer des amerikanischen Westens. Nicht immer erreicht jedoch der Graswuchs die geschilderte Höhe, häufiger bleibt er niedrig, etwa ein Meter hoch, und dann gleicht die Grassavanne dem wogenden Getreidefeld.
Sie erscheint aber überall, wo Klima und Boden ihr günstig sind – in Tiefebenen und auf Hochplateaus; sie klimmt Anhöhen und Berge hinan, die dann ein kahles Aussehen haben, wie beispielsweise die Berge am unteren Kongo, wo nur in tiefen Schluchten Busch- und Baumwaldungen vorhanden sind. Ein Blick auf die Abbildung des Pocockbeckens belehrt uns über den Charakter eines steppenartigen Gebirgslandes.
Selten hat die Savanne auf weitere Strecken das eintönige Aussehen der Steppe. Zu den Gräsern gesellen sich zunächst Büsche, in den meisten Fällen auch vereinzelte Bäume. – Unser Hauptbild zeigt uns die Savanne von Kinsembo, die mit Palmen der Hyphaeneart und kandelaberartigen Euphorbien durchsetzt ist. Zu ihnen tritt auch die Oelpalme, deren Samen von Thieren hierher verschleppt wird. Ein hervorragender Charakterbaum der offenen Landschaft ist ferner in vielen Theilen Afrikas der Affenbrotbaum, der Baobab, welcher sich zu ungeheurer Größe entwickeln kann und in der Grasflur wie die Eichen auf unseren Hutungen dasteht. In den wasserarmen Steppen Darfors wird sein Stamm während der Regenzeit mit Wasser gefüllt, das dann in der Trockenzeit zur Verwendung gelangt. Ein einziger solcher Riesenbaum kann bis zu 100 Kamelladungen Wasser halten, also 400 Centner, da in jenen Gegenden 4 Centner auf [664] eine Kamelladung kommen. Die Bäume werden zu diesem Zwecke ausgehöhlt und die Höhlung wird ausgepicht, wobei nach den Berichten Nachtigals das Wachsthum des Baumes keinen Schaden leidet.
Eine für die Naturforscher höchst interessante verkrüppelte Form des Affenbrotbaumes ist in dem Vorland von Kinsembo, südlich von der Kongomündung, gefunden worden. Unsere Abbildung giebt diesen Baum wieder. Er ist stammlos und breitet sein riesiges Geäst flach auf dem Boden aus.
Der Baumwuchs der Savanne ist bald schwächer, bald stärker und bildet einen Uebergang zum Walde. Sehr anschaulich schildert Dr. Buchner die westafrikanische Baumsavanne in Angola.
Nachdem er die Oberflächenform beschrieben hat, fährt er fort: „Will man nun dieses Modell in natürlicher Größe bis zur möglichst getreuen Nachbildung ausschmücken, so streue man zuerst, überall so weit die Oberfläche ziegelroth ist, einige Millionen gleichfalls ziegelrother Termitenhügel, unregelmäßige Pyramiden von zwei bis drei Meter Höhe, so dicht, daß auf jedes Hektar mindestens fünf kommen. Dann nehme man die vierfache Quantität Bäume und pflanze sie so auseinander, daß ihrer auf ein Hektar bald mehr, bald weniger als zwanzig kommen. Desgleichen verfahre man mit einer ähnlichen Anzahl Gebüschindividuen. Schließlich fülle man alle Zwischenräume mit hohem derbhalmigen Gras aus, doch so, daß rings um die mächtigen Büschel noch immer etwas nackte rothe Erde unbedeckt bleibt, und die Savanne Innerafrikas, jener ewige lichte Wald ohne Schatten, noch nicht allzusehr beeinflußt von der zerstörenden Thätigkeit des Menschen, ist fertig.“
An manchen Stellen treten die Bäume wohl zu dichteren Gruppen zusammen, und dann gleicht das Gefilde einer Parklandschaft, wie sie in den Berichten der Reisenden so oft erwähnt wird. Zu einem wirklichen Walde aber schließen sich die Bäume nur in Schluchten, längs den Ufern von Flüssen und Bächen zusammen. Hier kommt die Vegetation zu außerordentlicher Entfaltung; einen Urwald mit hochstämmigen Bäumen, Farrenkräutern und Lianengewirr zaubert sie hervor, hier entstehen grüne Hallen, haushohe Lauben, in die niemals ein Sonnenstrahl dringt und in denen stets ein Halbdunkel herrscht. Aber die Ausdehnung dieser Wälder ist nicht groß, oft sind sie kaum hundert Meter breit, oft noch schmäler; sie werden darum auch Galeriewälder genannt.
Forschen wir nach den Ursachen dieses für Innerafrika charakteristischen Landschaftsbildes, so finden wir sie in der Bodenbeschaffenheit und in der Vertheilung des Regens. Die Natur des afrikanischen Bodens, der zumeist aus verwittertem, stark durchlässigem Laterit (von later = Ziegel) besteht, bringt es mit sich, daß die Erde sehr rasch trocknet, wenn der Regen eine Zeitlang aussetzt; so verdorren die Pflanzen, und nur in Schluchten, wo sich die Grundwasser sammeln, ist genügende Feuchtigkeit vorhanden, um ihnen auch in regenloser Zeit ein Fortkommen zu ermöglichen. Und so ist die Savanne einem steten Wechsel unterworfen. In der Regenzeit grünt alles, in der Trockenzeit stirbt das Gras ab. In diesen natürlichen Gang der Dinge greift noch der Mensch ein, indem er alljährlich die trockenen Grasbestände abbrennt.
Savannen- und Prairienbrände sind sich in der Großartigkeit ihrer Erscheinung gleich, beider Gefährlichkeit aber ist in den Schilderungen vieler Schriftsteller übertrieben worden. In der Regel kann man das Feuer mit Laubzweigen ausschlagen, der Mensch kann es überspringen, um sich zu retten, nur Insekten, Schnecken und ähnliche kriechende Thiere fallen der Gluth unbedingt zum Opfer. Trotzalledem darf der Mensch auch mit diesem Feuer nicht leichtsinnig umgehen; das beweisen die vielen Stationen, die auch in Afrika bei Grasbränden aufgegangen sind. So brannte Böhms idyllisches Bollwerk „Waidmannsheil“ nieder, so wurde einmal Emins „Hauptstadt“ Wadelai eingeäschert.
Die niedergebrannte Savanne bietet einen traurigen Anblick. Die verkohlten Stengel der harten Gräser starren schwarz empor und brechen klirrend zusammen, wenn der Vorübergehende sie streift; der Fuß des Wanderers wirbelt Wolken von Asche auf, welche den Athem beengen, Aschenwolken treibt der Wind daher oder er erzeugt düstere Aschentromben, die gespenstisch über das schwarze Gefild dahinziehen, aus dem hier und dort der rothe Boden durchschaut. Auch an den Bäumen und Sträuchern der Savanne hat das Feuer seine vernichtende Wirkung zu äußern versucht. Die Palmen, die Büsche der Anona stehen halbversengt da. Aber eine wunderbare Lebenskraft wohnt in ihnen; denn wenn der erste Regen fällt, schlagen sie von neuem aus. Nur wenn es ein trockenes Jahr gegeben hat, wenn in den Regenmonaten die Niederschläge sehr gering gewesen sind, dann bewältigt das Feuer auch den ausgedörrten Busch und Baum, und tagelang nach dem Savannenbrande glimmt noch so mancher Stamm, bis er völlig zerfällt.
Alles thierische Leben wird von einem solchen Feuer vertrieben, Büffel und Antilopen fliehen in die benachbarten Galeriewälder. Nur ein Thier, eine Plage Afrikas, weiß siegreich den Flammen zu trotzen: es ist die Termite. Wo sie unterirdisch wohnt, wird sie von der Gluth nicht betroffen, und die sonderbar, oft geradezu pilzförmig gestalteten Bauten derselben über der Erde – sie sind feuerfest, eine flammensichere Burg. –
In der öden Winterszeit scheint der fallende Thau die Lebenskraft der Pflanzenwurzeln zu unterhalten, denn man beobachtet selbst dann ein langsames Sprießen, bis das volle Leben mit dem ersten Regenschauer erwacht und für [665] die kurzen Tage des Frühlings die Savanne saftigen Wiesen des Nordens gleicht. Auf ihren Weiden zeigen sich jetzt die in den Wäldern verborgen gebliebenen Thiere; der Büffel und die Antilope, das Nashorn und das Zebra beleben die Landschaft, und später dehnt auch der Affe seine Raubzüge in die Graswildniß aus, um Bäume zu plündern. Tausendfältig regt sich das Heer der Insekten, und in Scharen sind die Vögel wieder erschienen. Auch der Leopard, das schlimmste Raubthier Afrikas, folgt der Spur seiner Opfer in die Savanne.
Trotz alledem ist die afrikanische Savanne kein Jägerparadies wie einst die Prairien Nordamerikas; sie ist reich an Arten, aber arm an Individuen.
Ob sie jemals in fruchtbares Ackerland verwandelt werden wird? Die Aussagen der Fachleute lauten in dieser Beziehung nicht ermuthigend. Der Neger macht lieber das Waldland urbar als das Savannenland. Er rodet den Wald aus, bebaut den Boden, bis er ihn ausgesaugt hat, und läßt ihn dann brach liegen, um ein neues Stück Wald zu schlagen. Das verlassene Kulturland wird zur Savanne. Zum Waldwuchs kann es nicht wieder kommen, denn schon die alljährlichen Grasbrände halten den Baumwuchs in Schranken. So drückt die Thätigkeit des Menschen der Landschaft charakteristische Merkmale auf. Oft sind die Waldungen durch scharfe zackige Linien begrenzt, welche die Grenzen der einstigen Aecker bezeichnen.
Steinerne Ruinen, wie sie unsere Berge krönen, besitzt Innerafrika nicht; die leichten Holzbauten fallen rasch dem Untergang anheim, Käfer aller Art, Termiten, Bohrwürmer und anderes Gethier vernichten das Holzwerk in wenigen Jahren nach dem Aufbau der Hütte. Die verlassenen Ansiedlungen verschwinden jedoch keineswegs ganz spurlos in der Wildniß der Savanne. Der Mensch hat in der Nähe seiner Wohnung Schatten- und Obstbäume gepflanzt, und diese grünen weiter, wenn auch der Pflanzer fortgezogen ist. Sie vermehren sich auf dem durch allerlei Abfälle der Hauswirthschaft gedüngten Boden, und wo früher ein Dorf stand, erhebt sich nun ein Hain – Siedelhaine nennt man diese Baumgruppen – die grünenden Ruinen der afrikanischen Savanne.
Die Natur, die große Lehrmeisterin des Menschen, hat übrigens diesem auch hier Fingerzeige gegeben, wie er sich den Boden der Savanne nutzbar machen kann. An Bächen und Flüssen, im nassen Grunde gedeiht die Vegetation, durch künstliche Bewässerung wird also wohl manches Stück des Graslandes für den Ackerbau gewonnen werden können. Emin Pascha hatte zu diesem Zwecke in seinen Gärten eine Lokomobile aufgestellt – es war die erste im Herzen von Afrika. Sie steht längst still, aber an vielen anderen Orten regen sich fleißige Hände, um auf ähnlichem Wege Versuchspflanzungen zu gründen und zu pflegen. Hoffen wir, daß es ihnen gelingen wird, die richtige Lösung des schwierigen Problems zu finden! St. v. J.
Alle Rechte vorbehalten.
Rothe Nasen – eine Folge des Brillentragens.
Die Brillen unserer Vorfahren, wie wir sie aus den Abbildungen des 16. und 17. Jahrhunderts und aus einigen Originalen kennen, wie sie besonders im Germanischen Museum zu Nürnberg aufbewahrt sind, zeichneten sich keineswegs durch eine elegante Form aus. Sie waren vielmehr auf so plumpe Weise in Holz und Leder gefaßt und mit Riemen hinter dem Ohr zusammengebunden, daß sie, namentlich bei der malerischen Tracht der früheren Jahrhunderte, aus Schönheitsrücksichten nicht gut außerhalb des Hauses getragen werden konnten[;] auch die Klemmer, die gleich mit den Brillen in die Mode kamen, waren unbequem, da sie schwer federten und leicht fallen mußten. Erst die neuere Zeit hat den Brillen die leichte und bequeme Form verliehen, die nicht wenig dazu beigetragen hat, sie so allgemein in Gebrauch zu bringen.
Ist nun die gegenwärtig übliche Form der Brillen eine vollkommene? Viele Brillenträger dürften die Frage verneinend beantworten, und ihre Klagen richten sich vor allem gegen die Einrichtung des Nasensteges, der häufig einen unerträglichen Druck auf den Nasenrücken ausübt und in die Haut einschneidet. Der gewöhnliche Quersteg der Brillen kann aber noch eine andre unangenehme Wirkung hervorrufen, die bisher von den Aerzten und den Fabrikanten der Brillengestelle nicht genügend berücksichtigt wurde. Wenn man Leute mit Brillen mustert, so findet man, daß eine verhältnißmäßig große Zahl unter ihnen an einer mehr oder minder starken Röthe der Nasenhaut leidet. Das ist gewiß peinlich, denn das große Publikum bringt die rothe Nase stets mit dem übermäßigen Genuß von geistigen Getränken in Verbindung, obgleich unzählige Male darauf hingewiesen wurde, daß die Röthung der Nase auch bei den nüchternsten Menschen auftreten, daß sie durch verschiedene Erkrankungen der Nase verursacht werden kann. Mancher wird deshalb erleichtert aufathmen, wenn er hört, daß die bisher unerklärliche Röthe seiner Nase vom Brillentragen herrührt und weiter, daß sie vermieden werden kann. Einen überzeugenden Nachweis hierfür hat Fritz Lueddeckens durch einen Artikel im „Archiv für Augenheilkunde“ beigebracht. Er führt uns ein anatomisches Bildchen der Nase vor, das an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt.
Unsere Leser kennen gewiß die Art, wie das Blut im Körper kreist. Aus dem Herzen wird es in die Arterien getrieben, die immer feiner und feiner werden, und aus den feinsten Arterien ergießt es sich in die noch feineren Haargefäße, welche wie ein Netzwerk alle Körperorgane durchziehen. Von hier fließt es in die kleinsten Venen, die es den größeren zuführen, durch die es zum Herzen zurückgeleitet wird. Drücken wir nun eine Vene zusammen, so wird durch sie kein Blut zurückströmen können, es wird infolgedessen der betreffende Körpertheil mit Blut überfüllt: eine Hyperämie, eine Blutstauung, tritt ein.
Soweit ist die Sache ohne weiteres klar. Nun wollen wir einen Blick auf das untenstehende Bildchen (Fig. 1) werfen, welches die Vertheilung der Venen auf dem Nasenrücken darstellt. Wir sehen, daß die Venen wie ein Flußsystem von der Nasenspitze und den Nasenflügeln nach oben gehen und sich am Nasenrücken bei b in die Quervene c c₁ ergießen; von dieser erst wird das Blut, welches die Nase durchströmt hat, nach den Wangen weitergeführt.
Wenn wir nun die gewöhnliche Brille auf die Nase setzen, so geschieht es sehr oft, daß der Nasensteg gerade auf die Quervene drückt und hier in größerem oder geringerem Grade den Blutabfluß hemmt. Die Folge davon wird eine Blutstauung in der Nase sein, die sich durch eine entsprechende Röthung der Nasenhaut nach außen kenntlich macht. Diese Blutstauung läßt sich in der That, namentlich bei älteren Leuten, beim Tragen der Brille deutlich nachweisen; sie schwindet ganz oder theilweise, wenn die Brille abgenommen wird.
Aber, wird man wohl [666] einwenden, nicht alle Brillenträger haben rothe oder geröthete Nasen! Das erklärt sich ohne Schwierigkeit; die Lage der Blutgefäße ist nicht bei jedem Menschen genau die gleiche und ebenso ist der Bau der Nase ein verschiedener. Oft liegen die Venen so günstig zwischen den Nasenbeinen, daß sie von dem Brillensteg nicht gedrückt werden. oder es sind in dem Venensystem der Nase Seitenkanäle vorhanden, durch welche das Blut trotz des Druckes auf die Quervene ungehemmt seinen Abfluß nach den Wangen nehmen kann. In der Regel jedoch sind brillentragende Menschen dem Uebelstande ausgesetzt, daß ihre Nase mit Blut überfüllt ist.
Diese Blutstauung allein kann schon eine Röthung der Nase verursachen und zu dauernder Erweiterung der Blutgefäße führen, die dann als rothe Adern durch die Haut schimmern. Außerdem aber muß man noch in Erwägung ziehen, daß eine solche Nase gegen äußere, namentlich gegen entzündliche Reize empfindlicher ist als die, welche durch keine Brille belästigt ist und einen ungehemmten Blutabfluß hat. Die Brille begünstigt ferner die Blutstauung besonders bei kaltem Wetter. Die Kälte wirkt auf die Blutgefäße zusammenziehend; tragen wir nun bei Frostwetter eine Brille, so kühlt sich der metallene Brillensteg am meisten ab und entzieht der nächsten Umgebung von ihrer Wärme. Die Kälte dringt auf solche Weise unter die Haut des Nasenrückens ein und wirkt auf die Quervene zusammenziehend, diese wird eng und der Blutabfluß aus der Nase noch mehr erschwert. Das wissen viele aus eigener Erfahrung, und es giebt Leute auf dem Lande, welche beim Frostwetter den metallenen Nasensteg der Brille mit Watte oder Zwirn, also mit schlechten Wärmeleitern, umwickeln.
Das sind einige der unangenehmen Wechselbeziehungen zwischen der Nase und der Brille. Um sie zu verhüten, hat Fritz Lueddeckens einen neuen Brillensteg hergestellt, der den Nasenrücken entlastet, den sogenannten „Normalsteg“. Seine Anordnung ist aus den beiden nachstehenden Abbildungen zu entnehmen, von denen Fig. 2 die Ansicht von vorn, Fig. 3 die von der Seite wiedergiebt. Um die Quervene zu schonen, ist die Stützfläche fast ganz vor die Ebene der Gläser gelegt, sie verläuft schräg nach vorn und unten und, wie Fig. 2 zeigt, zugleich etwas nach außen. Die Stützen endlich, welche die Gläserfassung tragen, stehen schräg nach oben, wodurch der Steg außerordentlich tragfähig wird.
„Die Befreiung des Nasenrückens von jeglichem Druck wird allein schon von vielen angenehm empfunden werden,“ meint Lueddeckens. „Außerdem wirken aber bei diesem Normalsteg die drückenden Flächen dadurch, daß sie vor die Gläser und seitlich gestellt sind, in den meisten Fällen auf die hier bestehenden Erhöhungen der Nasenbeine, eine Stelle, wo sich wegen der steten Reibung bei mimischen Bewegungen nur selten Gefäße und Nerven von einiger Bedeutung entwickeln dürften.“
In der That wird der Normalsteg gute Dienste leisten und hoffentlich die Zahl der rothen Nasen verringern. F.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Freude.
Wohin? Nach dem Niederthor? Ja, natürlich, dahin fahren wir! Konnten Sie denn das nicht gleich sagen? Einsteigen! Donnerwetter, machen Sie ’n bißchen rasch, wir haben keine Zeit! So! Vorwärts!“
Mit diesen unwillig hervorgestoßenen Worten gab der Pferdebahnschaffner das Zeichen zum Weiterfahren und schob den soeben Eingestiegenen mit einem derben Ruck in den langen Wagen, der an jeder Seite zwölf Sitzplätze hatte.
„Links noch ein Platz frei! Bitte, zusammenrücken, meine Herrschaften!“
Unbehilflich blieb der neue Ankömmling stehen – als die Pferde anzogen, schwankte er bedenklich. Ein sehr alter Mann mit spärlichen weißen Haaren und einem braunen zusammengeschrumpften Gesicht, aus dem ein Paar kindlich ängstlicher Augen sahen. Sein aus „selbstgewebtem“ Stoff gemachter Anzug, die dicken Kniestiefel, der plumpe Stock und zwei große Bündel aus gewürfeltem Zeug, die zu seinen Füßen lagen, verriethen auf den ersten Blick den Landmann.
„O, du Gott!“ rief er jetzt erschrocken. Der Wagen bog um eine Straßenecke, es gab einen leichten Stoß und der Mann taumelte auf einen der Sitzenden, einen dicken Herrn, der ihn unwillig abwehrte.
„Aber so setzen Sie sich doch! Nicht hier! Drüben muß noch ein Platz für Sie sein!“
Ungern rückte man „drüben" um ein weniges zusammen.
Der Fremde kam zwischen einen jungen Herrn, der die Augen geschlossen hatte, und eine Dame zu sitzen, die mit einer beleidigten Gebärde ihr elegantes Kleid an sich zog, als die stark geschmierten Kniestiefel damit in Berührung kamen.
„Entschuldigen Sie man!“ wandte sich der Bauer jetzt an den dicken Herrn, gegen welchen er angeprallt war.
Dieser antwortete nicht.
Der Alte sah mit einem verschüchterten Lächeln nach rechts und links, nahm die Schirmmütze vom Kopf und wischte sich mit einem bunt karrierten Sacktuch die kahle Stirn.
„Ist das aber ’ne Hitz’ hier!“
Die Dame drehte empört das Gesicht fort und suchte mit der Fußspitze eines der schweren Bündel weiterzuschieben, das ihr im Wege lag.
„Das belästigt Ihnen wohl, was?“ fragte der Besitzer, bückte sich und wollte die beiden Ungeheuer näher zu sich ziehen. Dabei fiel ihm die Mütze und der Stock aus der Hand.
„O je! Bin ich aber auch – – Ja, ja, so die große Stadt – ja, ja!"
Allgemeines Schweigen.
Die scheuen Augen des alten Mannes gingen hilfesuchend rundum, zuletzt blieben sie an der hellbrennenden Petroleumlampe haften. Er seufzte beklommen. In einer Ecke führten ein paar junge Leute ein halblautes Gespräch; die grelle Glocke der Pferdebahn erscholl. Eine Haltestelle. Einige stiegen aus. Die elegante Dame beeilte sich, einen leergewordenen Platz auf der anderen Seite einzunehmen. Jeder der Ein- und Aussteigenden stieß an die beiden mächtigen Bündel, die am Boden lagen und die der alte Mann umsonst unter die Sitzbank zu zwängen bemüht war.
Laute und leise Scheltreden ertönten, der Bauer wischte immer häufiger Stirn und Hände an dem groben Sacktuch ab. Zwei, drei weitere Haltestellen. „Ist das noch weit – bis Niederthor?“ fragte er endlich bescheiden
Zuerst antwortete ihm wieder niemand. Endlich kam eine Stimme aus der Ecke neben der Thür. „Noch zwei Stationen. Ich werde Ihnen sagen, wann es Zeit ist!“
„Dank’ schön, lieber Herr!“ Der Bauer sah erfreut nach der Richtung, aus welcher die Stimme kam. Sie gehörte einem gut gekleideten Herrn mittleren Alters mit einem ruhigen, freundlichen Gesicht. Er nickte dem alten Landmann wohlwollend zu. Wie ihn dessen Erscheinung anheimelte und sogar die unschön breitgezogene Sprechweise! Die kannte er genau, die hatte er in seiner Kindheit täglich und stündlich gehört . . . es war seine Heimathsprache, und er mußte sie lieben, so wenig wohllautend sie klang! Sein Vater war ebenfalls ein Bauer gewesen, ein klein wenig ähnlich dem Mann, der dort drüben saß. Solch einen häßlichen, plumpen Stock hatte er auch gehabt und, wenn er einmal einen Ausflug unternahm, auch ein solch roth und weiß gewürfeltes Bündel. Der Fremde drückte die Augen ein und athmete tief. Im Geiste saß er jetzt in dem niedrigen Bauernstübchen mit dem säuerlichen herben Geruch – die Mutter webte – wie das kleine Schiffchen flog und wie der Webstuhl klapperte! Der Vater dampfte aus einer kurzen Pfeife, die Hauskatze lag spinnend im Sonnenschein, und die große Schwester brachte das frischgebackene Brot herein. Wie köstlich dies Landbrot duftete! Solches Brot hatte er nie wieder seither zu kosten bekommen!
„Niederthor!“
„Kommen Sie, guter Freund! Hier – halten Sie sich nur an den Lederriemen; das Fahren hat Sie schwindlig gemacht! Eins von den Bündeln nehm’ ich Ihnen ab. Ach, Unsinn – schämen? So! Wo soll denn jetzt die Reise hingehen?
„In die Akazienallee!“
„Sieh, sieh, da haben wir ja denselben Weg. Das trifft sich gut, denn sonst müßten Sie viel fragen, ’s ist noch ein hübsches Stück dorthin, und bis da hinaus giebt’s noch keine Pferdebahn, weil es eine neu angelegte Straße ist!“
Der Landmann schien immer noch vom Schwindel befallen zu sein. Er stand da und sah um sich mit erstaunten großen Augen, und halb unbewußt hielt er sich an einem stolzen Kandelaber fest, der seine vielen Flammen in die stille dunkle Nachtluft leuchten ließ. Es war ein sehr belebter Platz, die Haltestelle am Niederthor. Das Leben der Großstadt kam hier wie in einen Brennpunkt zusammen; von drüben strahlte elektrisches Licht, die [667] Omnibusse und Pferdebahnwagen klingelten und rasselten, Equipagen sausten vorbei, Schutzleute zu Pferde erschienen und riefen mit harter Stimme ihre Anordnungen in die Welt hinein; die Menschen, die vorüberkamen, eilten – eilten – hatten sie denn alle so unendlich viel zu thun? Es ging ja kein einziger von ihnen, so schien es dem Landmann, sie stürzten, sie jagten alle!
Der fremde Herr stand ganz geduldig, eines der Bündel in der Hand, neben seinem Schützling und wartete.
„Sie waren wohl lange nicht hier in der Hauptstadt?“ fragte er nach einer Weile.
Wie aus einem Traume fuhr der Alte auf.
„Lange? Ach Gott, ich bin überhaupt mit meinem Fuß noch nie drin gewesen! Was ich kenn’, das sind bloß so kleine Städte, und auch in die komm’ ich fast nie!“
Ein Viererzug mit Kutscher und Diener und hellbrennenden Laternen sauste vorüber.
„Saß da der König drin oder ein Herzog?“ fragte der Bauer flüsternd – die Ehrfurcht benahm ihm fast die Sprache.
„Nichts davon! Irgend ein reicher Bankier – ein Kaufmann meine ich! Viele halten sich hier solche Wagen!“
„Was Sie sagen!“
Wieder eine kleine Stille.
„Wollen wir jetzt gehen?“ fragte endlich der Fremde.
„Ja, jawohl – bitt’ um Verzeihung! Das ist mir doch – ist mir doch alles wie ein Traum!“
Sie kreuzten, nicht ohne Hindernisse, den belebten Platz und bogen in eine breite Seitenstraße ein. Ein lauer Märzwind ging, am Himmel schimmerten matt die Sterne durch einen leichten Wolkenflor.
„Wen wollen Sie denn aufsuchen heute abend, wenn es erlaubt ist, danach zu fragen?“
„Ei freilich – ich wollt’ schon alles erzählen, bloß – mein Gered’ – mit dem feinen Deutsch geht das man so so!“
„Sprechen Sie doch wie daheim – ich bin aus Ihrer Gegend, ich werde Sie gewiß verstehen.“
Der Landmann griff mit der freien Hand an seine Mütze.
„Das nicht, nein, das geht gegen die Ehr’, und ich weiß auch, was sich schickt für ’nen kleinen Mann. Mit Geduld wird’s auch immer werden! Von unserer Gegend haben Sie gesagt – ja, da werden Sie denn auch zu wissen bekommen haben, daß wir erst seit ein paar Monaten die Eisenbahn bis zu unserer nächsten kleinen Stadt haben. Hat das lang’ gedauert – o je! Mit der Bahn, mein’ ich! Die Gutsherrschaften rund herum und der Bürgermeister und was so sonst noch die Herren von Einsicht sind . . . rein die Finger haben die sich abgeschrieben, bis daß wir die Bahn bekamen. Und das Bauen nu erst! Aber wie wir einmal soweit sind, da hält mich auch kein Mensch mehr, und: ‚Mutter,‘ sag’ ich, ‚Mutter, keiner kann wissen, wie lang’ daß er noch zu leben bekommt von unserem Herrgott – jetzt reis’ ich zum Lenchen, weil Du nicht kannst, weil Du den kranken Fuß hast!‘“
„Lenchen – das ist wohl Ihre Tochter?“ schob der Zuhörer dazwischen und dirigierte seinen Begleiter um eine Ecke.
„Einz’ge Tochter! Sozusagen einz’ges Kind, weil nämlich vier Kinder uns gestorben sind – waren auch zwei Jungens ’bei! Na, das Lenchen, das blieb aber, Magdalene eigentlich von Namen, wollte auch immer so gerufen sein, ist aber zu lang. Sehr klug und bildhübsch ist die Ihnen gewesen, nichts dabei von uns Bauersleut’, wie ’ne Advokatentochter, und darum auch mit dem kleinen Fräulein vom Gut erzogen. Bei ’ner richtigen, gelernten Gouvernante alles ausstudiert, Französisch und Natur und Geographie – alles, auch sogar Musik! Und die Freundinnen lauter Damen, – kamen aber nie zu uns! Und dann, wie’s Lenchen groß war, so achtzehn neunzehn, ja, dann schreibt uns einer, mir und der Mutter, er hätt’ sie kennengelernt und möcht’ sie heirathen, in die Stadt natürlich. Er war Buchhalter damals, aber nicht hier, nein, ganz weit weg. Ja - nu aber was thun? Wir, die Mutter und ich, kennen ihn nicht, haben ihn nie gesehen, wissen nicht, ob er was zu leben hat und sein sicheres Brot, und ob er gut von Gemüth ist ... aber das Lenchen, das wollt’ ihn, wollt’ ihn mit Gewalt! Und die Gutsherrschaften schreiben und behorchen sich über ihn und lesen uns vor. Ja, er ist soweit ordentlich, und achthundert Thaler Geld das Jahr – achthundert Thaler Geld! Also in Gottesnamen! Aber keine Hochzeit bei uns – wie sollt’s auch? Eine Stub’, zwar groß, aber man bloß eine, und ’ne Küche! Und weggereist mit Thränen, und geschrieben, zu Anfang oft – schöne Briefe, wunderschöne Briefe! Aber denn nu Kinderchens – und meine Alte hingesetzt und Wickelzeug gemacht und kleine feine Strümpf’ gestrickt! Und er, meinem Lenchen ihr Mann, aufgerückt – tüchtig, sehr tüchtig bei seinem Geschäft! Und nach sechs, sieben Jahren hierher in die große Stadt als Kassierer, Kassierer im großen feinen Bankgeschäft!“ Der Alte warf einen triumphierenden Blick auf seinen Begleiter. Während er von seinem Schwiegersohn sprach, kam ein respektvoller Ton in seine Stimme.
„Das ist Ihnen ein hoher Posten, so was kann so leicht keiner!“ fuhr er dann eifrig fort. „All das viele Geld in Händen, Tausende und Hunderttausende, und nichts für sich nehmen, nicht rühr’ an! Er hat jetzt ’n hohes Gehalt, ich weiß schon gar nicht mehr, wie hoch!“
„Da schickt Ihnen die Tochter gewiß manches Hübsche aus der großen Stadt?“ fragte der Fremde.
„Das weniger, das nu weniger – aber wie soll sie auch? Drei Kinderchen, und zwei tot – und prachtvoll begraben – die andern fein angezogen immer, und der Tochtermann kränklich, muß Wein trinken! Aber wie nu das Gered’ ging wegen der Eisenbahn, gleich hab’ ich gesagt, wenn das wird, fahr’ ich zum Lenchen, denn elf Jahr’ nicht gesehen, Herrgott, elf Jahr’! Und wir beide sind oft krank, Mutter und ich! Sie immer mit dem Fuß – ich Reißung im ganzen Körper, aber so ’ne Reißung, sag’ ich Ihnen! Kommt von nassen Wänden, sagt der Dokter, aber viel Miethe können wir nicht geben, drum bleiben wir schon in unserer Stube. Heut um drei Uhr aus dem Bett aufgestanden – gewaschen, angezogen, vier Stunden marschiert, weil’s keine Gelegenheit gab, zu fahren, und denn in die Eisenbahn und bis um halb sechs abends durchgefahren. Aber die Freud’ von meinem Lenchen, die Freud’!“
„Haben Sie ihr denn geschrieben, daß Sie kommen?“
Der Alte hüstelte verlegen.
„Seh’n Sie, wir sind von der alten Schul’, die Mutter und ich; mit unserem Geschreib’, da ist das man schlecht – eigentlich ist es gar nicht damit! Und schreibeu lassen, das wollten wir auch nicht . . . und wozu auch? Ueberraschen ist schöner – das ist Ihnen das Schönste! Na, aber bloß die Freud’ von der Lene!“
„Wann hatten Sie denn zuletzt Nachricht von ihr?“
„Ja, warten Sie ’mal – das kann ich gar nicht recht sagen – elf Jahr’ ist sie fort – und geschrieben – auf letzte Weihnachten denk’ ich, hat sie nicht geschrieben ... es kann schon ein Jahr sein, vielleicht noch ’n bißchen mehr!“
„Hm!“ Der freundliche Herr sah seinen Reisekameraden mit einem nachdenklichen Blick von der Seite an. „Was meinen Sie, wär’ es nicht besser, Sie übernachteten heute in einem Gasthaus – ich weiß ein anständiges und billiges hier in der Nähe – und suchten erst morgen Ihre Frau Tochter auf? Ich könnte ihr Botschaft schicken – –“
„Aber nein! Aber nein! Das ist ja denn gar nicht die richtige Freud’ für die Lene! Grad’, daß ich hingeh’ – und da bin ich – und denn nimmt sie mich auf, und acht Tage kann ich wegbleiben, die Mutter weiß es, daß ich mir die Stadt anseh’ – und die Kinder, die Kinder! Ich hab’ auch ’was mitgebracht für die Lene und die Kinder von daheim! In dem Pack, den Sie tragen, sind meine Sonntagskleider und die guten Stiefeln – aber im andern, in dem, den ich hab’, da ist Landbrot drin und Fladen! Mutter hat beinah’ die ganze Nacht durch gebacken, denn so ’was giebt’s nicht in großen Städten, und der Fladen ist schön aufgegangen! Ich sollt’ auch unterwegs essen davon, aber glauben Sie denn, ich hätt’ können einen Happen ’runterbringen? Soviel zu sehen und denn immer die Gedanken an die Freud’ von meiner Lene! Haben Sie auch Kinder?“
„Nein!“
„Ach Gott, schad’! Dann können Sie sich auch meine Freud’ nicht vorstellen! Haben wir noch weit?“
„Nicht mehr weit! Die nächste Straße schon! Welche Hausnummer ist es denn?“
„Nummer fünfundachtzig!“
„Schön! Ich bringe Sie bis dorthin – ich selbst habe etwas in Nummer achtzig zu thun, das Haus liegt dem Ihrigen schräg gegenüber!“
[668] „Aber ist das ’mal geschickt! Sie hat mir der liebe Gott auf den Weg gegeben, wie wollte ich das sonst gefunden haben! Und auf ’nen Wagen reicht mein Geld nicht; und fragen – sie haben hier alle soviel zu thun, da steht einem keiner Red’ und Antwort! Bei Ihnen ist das auch bloß, weil Sie von zuhaus’ sind!“
Der Gepriesene lächelte ein wenig und machte zugleich vor einem stattlichen Hause Halt, dessen erste Fensterreihe hell erleuchtet war.
„Der Name Ihrer Frau Tochter?“ fragte er.
„Willdorf heißt der Herr Sohn!“
Der Fremde horchte bei Nennung des Namens betroffen auf und sah den Alten unschlüssig an – endlich sagte er: „Hier ist es – eine Treppe hoch!“
Der Alte trat bis in die Mitte der Straße zurück und besah sich kopfschüttelnd das Haus.
„So groß und so fein! Bei uns kann ich mit der Hand aufs Dach greifen! Ja, so die Stadt! Adieu, und ich dank’ auch vielmal!“
„Und Ihr Bündel?“
„O Gott – der Sonntagsrock und die guten Stiefel! Das macht, weil mir das Herz so klopft! Nein, bloß die Freud’, die Freud’ von meinem Kind!“
Der Fremde drückte auf die Glocke, die hohe Hausthür sprang auf. „Nun also, Gott befohlen, Landsmann! Und – – und“ – er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, unterdrückte es aber.
Der Alte antwortete nicht. Er stand schon in dem geräumigen, schön erleuchteten Treppenflur, staunte die Figuren in den Nischen an, die Treppenläufer, die auf jeder Stufe von einem blanken Messingstab festgehalten wurden, das zierliche Geländer, die großen Topfpflanzen auf den Treppenabsätzen. Langsam stieg er empor. Eine große Milchglasscheibe, die fast die ganze Breite der Thür einnahm, daneben ein Porzellanknopf und ein Schild. „A. Willdorf“. Wie verzaubert starrte der Bauer darauf hin. Mit dem Lesen ging es etwas besser als mit dem Schreiben – er buchstabierte sich das Wort zusammen. Zaghaft drückte er endlich auf den Knopf – ein heller, schriller Laut wurde hörbar. Hinter der großen Glasscheibe bewegten sich ein paar Schatten lebhaft hin und her. „Das wird der Konditorgehilfe mit den Torten sein, Karoline!“ hörte der Alte eine wohlklingende Stimme sagen, die ihm alles Blut im Herzen stocken ließ. „Schicken Sie ihn ja nicht eher fort, als bis ich die Torten gesehen habe! Vielleicht ist es auch der Gärtner mit den Cotillonsträußchen, der einmal wieder zu früh kommt – ich habe ihn erst auf Zehn bestellt! Haben Sie die Fruchtschalen herausgenommen, Frau Wegner? Lassen Sie nur, ich komme schon!“
Bei den letzten Worten wurde die Thür geöffnet, ein Dienstmädchen mit einer schneeweißen Schürze und hochgerötheten Wangen erschien und prallte beim Anblick des weißhaarigen alten Mannes erschrocken zurück. „Gott, ich dachte, der Konditor – zu wem wollen Sie denn?“
„Ich – ich – meine – Frau Willdorf –“ stammelte der alte Mann mühsam.
„Sie sind wohl fehlgegangen! Und dann – die gnädige Frau ist gar nicht zu sprechen, sie ist nicht zu Hause!“
„Was ist denn, Karoline? Eine Bettelei? Wie oft hab’ ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen sich auf keine Verhandlungen einlassen! Thür zu, und fertig!“
„Lenchen!“ rief der Bauer, ließ Stock und Bündel fallen und breitete weit die Arme aus.
„Ist das – das ist doch nicht –“
Die Dame, die jetzt in der offenen Thür sichtbar wurde, war schon in voller Gesellschaftstoilette, sie trug ein hellröthliches Seidenkleid, das vortrefflich zu ihren braunen krausen Haaren und ihrem feinen Gesicht paßte, und blasse Theerosen auf der Brust; die Schleppe des Kleides hatte sie einstweilen hoch aufgesteckt, um beim Gehen und Hantieren nicht gehindert zu sein. Alles in allem eine auffallend hübsche stolzgewachsene junge Frau, der man in keiner Miene, keiner Bewegung die Verwandtschaft mit dem unbeholfenen alten Mann ansah.
Jetzt starrten ihre großen hellen Augen erschrocken, beinahe entsetzt, in das Gesicht des unerwarteten Gastes; sie traf auch keinerlei Anstalt, in die ihr entgegengebreiteten Arme zu eilen. Einen raschen, forschenden Seitenblick warf sie auf das Mädchen und die Kochfrau, die beide unthätig, mit neugierigen Gesichtern, dastanden, dann murmelte sie halblaut: „Nicht hier! Jetzt nicht! Hier herein!“ Sie öffnete eine Thür zur Rechten und winkte mit einer ungeduldigen Gebärde dem Alten, ihr zu folgen. Er war gänzlich benommen, stolperte über seine Bündel, während er sie aufheben wollte, und stotterte unzusammenhängende Worte heraus. Die junge Frau ergriff zuletzt selbst eines der Bündel und schritt damit voraus in das Zimmer, dessen Thür sie geöffnet hatte.
Dieses war ein großes, schönes Gemach, glänzend erleuchtet, mit geschnitzten Möbeln undd einem prachtvollen Büffett aus Eichenholz. Eine mit blendend weißem Damast gedeckte Tafel in Hufeisenform wies einen Ueberfluß an spiegelndem Silber und Krystall, an Blumen und Weinflaschen auf. Frau Willdorf zog den Alten hastig an der Hand weiter.
„Wir haben Besuch heute abend, Gesellschaft – Du siehst – dreißig Couverts – es ist – ich habe alle Hände voll zu thun, weiß nicht, wo mir der Kopf steht – der Bankdirektor, die Herren vom Komite, der Aufsichtsrath! Tritt leise auf, dort ist Arthurs Zimmer, er darf nicht wissen, daß Du da bist!“
Sie waren in einen zweiten Raum gelangt, in den Salon, der ebenfalls hell erleuchtet und noch eleganter ausgestattet war; eine Nebenthür führte in das Zimmer des Hausherrn.
Leise, langsam schlich der alte Mann in seinen plumpen knarrenden Stiefeln über das spiegelnde Parkett, überallhin furchtsame Blicke werfend. Jetzt ein kleineres Gemach, mit weichen dunkeln Teppichen und Vorhängen, dann ein schmaler Gang und wieder eine Thür, hinter der lautes helles Lachen und Schwatzen erklang.
Die junge Frau athmete hoch auf, als sei sie hier vor irgend einem Feinde in Sicherheit. „Die Kinder!“ sagte sie halblaut. „Sie sollten schon zu Bett sein, allein ich kann mich nicht um sie bekümmern. Sie haben sollst ein anderes Zimmer, ich mußte das aber zur Damengarderobe nehmen!“
In dem kleinen Stübchen brannte eine Hängelampe, drei Kinderbetten standen an den Wänden. Ein etwa sechsjähriger Junge, halb entkleidet, hatte eine Schachtel Zinnsoldaten auf dem Tisch umgestürzt und begann, sie in Reih und Glied aufzustellen. Ein sehr hübsches zehnjähriges Mädchen in einem weißen gestickten Kleide, mit langen Locken, stand vor einem Querspiegel und zupfte emsig an seiner blauseidenen Schärpe. Beide Kinder ließen im höchsten Erstaunen die Hände sinken als sie die Mama in dieser sonderbaren Begleitung eintreten sahen.
„Nun – – so kommt her, gebt eine Hand – sagt guten Abend – das ist Euer Großpapa!“
Der Knabe sah betroffen auf, das Mädchen warf den Kopf zurück und rührte sich nicht.
„Habt Ihr nicht verstanden?“ fragte die Mutter mit verschärfter Betonung. „Herkommen sollt Ihr und eine Hand geben!“
Sie näherten sich nun beide, jedoch langsam und zögernd. Das Mädchen rührte kaum mit den zarten Fingerspitzen an die grobe rauhe Hand des Alten, der Junge reichte seine Rechte hin, rieb sie dann aber sofort sorgfältig an seinem Höschen ab.
„Wie – wie geht es Dir denn – Vater?“ Die junge Frau streifte flüchtig mit ihren Lippen die runzlige Wange des Alten. „Das ist ja schön, daß Du uns einmal besuchst – es ist nur, – heute paßt es gar zu schlecht – ein unglückseliges Zusammentreffen. Bist Du immer gesund gewesen? Und die Mutter auch?“
Der alte Mann blieb einstweilen stumm. Immer von neuem gingen seine hellen, kindlichen Augen in ungläubigem Erstaunen über die Dame im eleganten Seidenkleide hin. Das, das sollte sein Lenchen sein, das früher so zahllose Male auf seinen Knien eingeschlafen war, das in dem niederen Bauernhäuschen so lustig gespielt hatte, für das er jeden Abend betete? Und das waren ihre Kinder, die feinen zarten Püppchen mit dem gekräuselten Haar und den gestickten Kleidern – das sollten seine Enkel sein?
„Ihr seid immer gesund gewesen?“ wiederholte Frau Willdorf.
„Dank der Nachfrag’ – ja – nein – die Mutter liegt wohl fast immer – und ich – ich hab’ meine Reißungen – die Wohnung ist so naß –“
„Ja,“ unterbrach sie ihn hastig, „ja, ich weiß! Ihr werdet Euch gewundert haben, daß wir Euch nichts schicken, aber,
[669][670] wirklich – wir haben es recht knapp. Arthurs Gehalt reicht immer nicht – und unsere vielen Verpflichtungen – wir können uns wenig erlauben, wir müssen uns so manches versagen.“
Er erwiderte nichts. Sein Blick ging nur immer zwischen ihr und den Kindern hin und her.
Die Thür wurde vorsichtig geöffnet.
„Gnädige Frau, der Konditor!“
„Ich komme! Entschuldige, Vater! Ich werde hoffentlich noch einmal wiederkommen können. Elli, Woldemar – seid recht artig mit Großpapa!“ Damit war sie rasch zur Thür hinaus.
Eine lange Stille. Der kleine Junge stand breitspurig, die Hände auf dem Rücken verschränkt, vor dem Alten und starrte ihm unverwandt ins Gesicht. Das Mädchen, das schon bessere Lebensart hatte, warf nur zuweilen unter den langen Wimpern hervor einen scheuen Seitenblick auf ihn.
„Das ist doch nicht wahr, daß Du unser Großpapa bist!“ unterbrach endlich der Knabe das Schweigen. „Papa sagt immer, unsere Großeltern, die sind tot!“
„Sei doch nicht dumm, Woldemar!“ belehrte die Schwester. „Das sind ja Papas Eltern, und der Großpapa war Justizrath! Aber dies ist Mamas Vater, und von dem weiß ich schon lange“ – sie zog den Bruder an sich und flüsterte ihm, freilich hörbar genug, ins Ohr – „daß er bloß ein Bauer ist!“
In dem Gesicht des Alten zuckte es. Er rechnete nicht damit, daß Kinder einen kleinen Gesichtskreis haben und in ihrer Neugier und Unbefangenheit oft grausam sind. Das waren Lenchens Kinder, die er mit Entzücken an sein Herz hatte drücken wollen!
Er war müde zum Umsinken, und seine Tochter hatte nicht einmal daran gedacht, ihn nur zu fragen, ob er sich nicht ausruhen wolle, ihm nur einen Stuhl anzubieten! Er war auch seit langen, langen Stunden ganz nüchtern! Und hier im Hause hielten sie ein Gastmahl – ob es ihnen wohl einfallen würde, dem alten Vater ein Glas Wein zu geben?
Ihm ging das nur ganz flüchtig durch den Sinn, wie traumhaft .. er war zu wirr, um einen Gedanken festhalten zu können.
„Du bleibst doch aber nicht hier?“ fragte der Junge weiter. Die Schwester stieß ihn von der Seite an und machte ein unwilliges Gesicht; wie konnte man nur so dumm fragen!
„Ich – ich – weiß nicht, nein – ich kann wieder gehen!“ stotterte der Gefragte.
Das Mädchen suchte den Bruder an der Hand fortzuziehen, allein er widerstrebte. Der seltsame Besuch interessierte ihn doch! „Was ist da drin?“ fragte er nach einer Pause und stieß mit dem Fuß an eines der Bündel. „Hast Du uns etwas mitgebracht?“
Der alte Mann bückte sich wortlos, löste die derben Knoten und ließ das große Schwarzbrot, von dem ein tüchtiges Stück abgeschnitten daneben lag, sowie den braunglänzenden, drei Finger dicken „Fladen“ sehen.
„Ach!“ machten beide Kinder enttäuscht.
Der Großvater hielt ihnen ein Stück von dem Kuchen hin.
„Das essen wir nicht!“ sagte das Mädchen hochmüthig, und Woldemar fügte hinzu: „Wir bekommen morgen von allem Schönen, was es heute giebt, Torte, auch Fasan, und Nachtisch – Bonbons, Chokolade und alles!“
Die Lippen des Alten fingen an zu zittern. Mit bebenden Händen nahm er das Backwerk, das seine kranke Frau in der Nacht für die Tochter und die Enkelkinder bereitet hatte, und legte es in das Bündel zurück.
„Ja, und ich darf für eine halbe Stunde in den Salon kommen und ‚Guten Abend‘ sagen, bis die Gäste alle versammelt sind!“ betonte das Mädchen und zupfte von neuem an seiner Schärpe. „Woldemar darf das noch nicht und Nora erst recht nicht – die ist noch viel zu klein! Die schläft schon!“
Erst jetzt gewahrte der Bauer, daß in einem der Bettchen ein Kind lag – ein kleines Geschöpf von kaum zwei Jahren, den blonden Kopf tief in die Kissen gewühlt, die dicken geballten Händchen gegen die Brust gedrückt. Der Alte ging auf den Zehen näher und neigte sich tief über das unschuldige, schlafende Gesichtchen. Er konnte es nicht hindern – eine helle Thräne fiel auf das weiße Kissen. Und das Kind, als fühlte es seinen Blick, schlug langsam die Augen auf, große lichtblaue Augen, die ohne jedes Erstaunen und ohne Furcht in das faltige Antlitz sahen. Dann verklärte ein freundlicher Schimmer das kleine schlummermüde Gesicht, die geballten Händchen lösten sich, winzige sammetweiche Fingerchen hoben sich empor und betasteten die welken Wangen des alten Mannes, und ein sonniges Lächeln lag um Augen und Lippen. So, genau so, hatte das Lenchen geblickt und gelächelt und den Vater gestreichelt, als es noch klein war.
„Du Kind, Du Engel, Du!“ sagte er mit gebrochener Stimme und küßte die zarten Händchen. „Mein Lenchen!“
„Sie heißt aber nicht Lenchen, sie heißt Nora!“ belehrte wiederum das Mädchen. „Wenn sie jetzt nur nicht weint!“
Nein, sie weinte nicht. Und nun that sich auch die Thür auf, und Frau Magdalene Willdorf kam wieder ins Zimmer. Sie hatte die Schleppe losgemacht und das schwere Seidenkleid rauschte und raschelte majestätisch hinter ihr her.
„Der Konditor war da – auch der Wein – der Gärtner mit den Sträußen!“ rief sie aufgeregt. „Und ich muß mich um alles selbst bekümmern! Die ersten Gäste müssen jeden Augenblick kommen – mir war eben, als hörte ich schon einen Wagen vorfahren! Gottlob“ – sie seufzte tief auf – „Arthur wenigstens hat nichts gemerkt!“
Ihr Vater sah sie fragend an.
„Siehst Du,“ fuhr sie hastig, die Stimme dämpfend, fort, „es ist ja schlimm, aber ich muß es doch sagen – Arthur ist zu sonderbar, und darin eben, in dem einen Punkt, unerbittlich streng. Er hat es mir zur Bedingung gemacht – geht einmal dort ans Fenster, Kinder, Ihr braucht nicht jedes Wort zu hbren – ja, also er hat es mir zur Bedingung gemacht, daß ihm niemand von meinen Angehörigen vor Augen kommt!“
„Ich will das gar nicht!“ Der Alte hob den Kopf. „Ich hab’ nichts zu bitten von meinem Herrn Sohn!“
„Still, still, Vater! Die Kinder! Natürlich nicht – gewiß willst Du um nichts bitten, aber – ich konnte ja nicht ahnen, daß Du so plötzlich hierherkommen würdest, sonst – sonst hätte ich Dir geschrieben –“ Sie vollendete nicht.
„Wo wohnst Du hier?“ fing sie dann wieder an. „Ich meine, wo bist Du abgestiegen? Ist es ein anständiger Gasthof hier in der Nähe? Kann man Dich da einmal besuchen? Du wirst Dir natürlich gründlich die große Stadt ansehen wollen –“
„Ich – ich hatte noch kein –“ begann der Alte stotternd, dann mit einem Male ermannte er sich. „Ich geh’, Magdalene!“ sagte er, und in seine schwankende Stimme war ein fremder, harter Ton gekommen. „Ich bin Dir zuviel hier, das seh’ ich ja! Ich hab’ mir das anders gedacht, aber ich bin vom Dorf, solch’ ein einfältiger alter Bauer – wie kann der wissen, wie’s in der großen Stadt zugeht!“
Er bückte sich und raffte die beiden Bündel vom Boden auf.
Seine Tochter war dunkelroth geworden. Augenscheinlich kämpfte sie mit sich. „Aber Du kommst wieder, Vater, nicht wahr, Du kommst wieder? Vielleicht morgen gegen zwölf Uhr, obgleich ich dann alles aufzuräumen habe! Allein um die Zeit ist gerade mein Mann –“
„Nein!“ unterbrach er sie herb. „Ich komm’ nicht wieder, nicht morgen, nicht übermorgen! Ich gehör’ hier nicht her!“
Sie wollte einlenken, ihn beschwichtigen, vielleicht schwebte ihr ein erstes herzliches Wort auf der Lippe ... da öffnete sich die Thür von neuem.
„Gnädige Frau – Herr und Frau Bankdirektor sind da, und unser Herr fragt, wo gnädige Frau bleiben!“
„Sofort, ich bin sofort da! Arthurs Vorgesetzter! Adieu, Vater, bleib’ gesund, grüß’ die Mutter! Vielleicht, wenn Du ein andermal kommst und ich weiß es vorher –“
Wieder streifte ihr Mund sein Gesicht. Er erwiderte kein Wort, seine Augen hingen mit einem eigenthümlichen Ausdruck an ihren aufgeregten Mienen – es war ein Blick, welcher der eleganten Dame das Blut ungestüm in die Wangen trieb.
„Mama, ich geh’ mit Dir!“ rief Elli und hing sich der Mutter an den Arm.
„Führe Großpapa hinaus, Woldemar, über die Hintertreppe, hörst Du? Ihr geht durch Karolinens Zimmer! Zieh’ Dir rasch die Bluse an –“ Die letzten Worte rief Frau Willdorf schon von der Schwelle, den Kopf halb über die Schulter zurückgewendet, ihr Töchterchen an der Hand.
[671] „Sei recht vergnügt heut’ abend!“ sagte der Alte und nickte still vor sich hin, als sei er sich des Doppelsinns seiner Worte recht wohl bewußt.
Im Rahmen der Thür drehte sie sich noch einmal um; das Licht der Hängelampe fiel hell auf die gebeugte Greisengestalt, auf das spärliche weiße Haar – sie hat die Erscheinung später oft, oft im Wachen und im Traum so vor sich gesehen!
„Vielleicht bist Du müde und ruhst hier noch aus!“ warf sie zaghaft hin, doch er schüttelte nur stumm den Kopf. Dann fiel die Thür hinter ihr ins Schloß, und sie war gegangen.
Der freundliche Herr, der sich unterwegs des alten Bauern angenommen hatte, trat aus dem Hause Nummer achtzig und sah nachdenklich zum Himmel auf, während er seinen Handschuh zuknöpfte. Die Sterne schimmertem nicht mehr, eine gleichmäßige Wolkenschicht überzog den Himmel, dann und wann fiel ein vereinzelter Regentropfen herab, und der Wind ging mit einem schwachen Klageton. Der Herr stand zögernd und überlegte, ob er zurückgehen und sich einen Schirm ausbitten sollte.
Da sah er quer über den Straßendamm eine gebückte Gestalt daherkommen, die ihm sofort bekannt erschien. War das nicht – wahrhaftig, ja, das war der Alte, mit dem er vor kaum einer halben Stunde hier in der Akazienallee angekommen war! Ohne zu zaudern, ging er ihm rasch entgegen.
„Nun, guter Freund, da sind wir ja wieder! Und so schnell? Haben Sie die Frau Tochter nicht daheim gefunden? Aber oben in ihrer Wohnung sind doch alle Fenster hell!“
Der alte Mann antwortete eine ganze Weile kein Wort, sondern ging nur still neben dem Fremden her.
„Lieber Herr,“ sagte er zuletzt, und die Stimme wollte ihm nicht so ganz gehorchen, „Sie sind so sehr gut zu mir gewesen, und ich bin ganz glücklich, daß Sie wieder da sind – der liebe Gott hat Sie geschickt, und dafür dank’ ich ihm! Nun hätt’ ich noch was zu bitten, es ist aber sehr was Großes, und so gut wie Sie auch sind – ich weiß doch nicht, ob Sie mir das auch noch thun werden!“
„Nur zu! Wenn ich irgend kann, thu’ ich es gewiß, und thu’ es auch gern!“
„Dank’ vielmal! Es ist schon spät, und Sie haben vielleicht zu thun – aber wenn Sie mich möchten zum Bahnhof bringen, zu demjenigen mein’ ich, der für unsere Gegend ist, und sagten mir, wann der nächste Zug nach Haus’ geht –“
„Wie?“ rief der andere im äußersten Erstaunen. „Sie haben eine solche Reise hinter sich, und es war Ihr Vorhaben acht Tage hier zu bleiben – und nun wollen Sie heute mit dem Nachtzug schon wieder fort? Das halten Sie ja gar nicht aus!“
„Ach ja, lieber Herr, das halt’ ich Ihnen schon aus! Ich hab’ mehr durchgemacht wie das, und was der Körper vom Menschen auszuhalten hat, das ist oft nicht sein Schlimmstes!“
„Ja – aber Ihre Frau Tochter – weiß die es denn auch, daß Sie gleich wieder gehen wollen, und was sagt sie dazu?“
Es kam keine Entgegnung. Der Alte wiegte nur langsam den Kopf hin und her und athmete tief und mühsam, beinahe klang es wie ein unterdrücktes Schluchzen. Endlich fragte er kleinlaut: „Wollen Sie mir die große Gefälligkeit anthun?“
„Aber natürlich, von Herzen gern. Nein, nein, keinen Dank – ich habe Zeit genug dazu. Kommt da nicht eine Droschke? Kutscher, he! Zum Ostbahnhof, und rasch! Ich glaube, der Zug, den Sie brauchen, geht in einer guten halben Stunde!“
Er half dem alten Mann die Bündel ia den Wagen legen, bezahlte den Kutscher schon jetzt und stieg nach seinem Schützling ein. Er fragte nicht weiter, er ahnte ungefähr den Zusammenhang der Dinge.
Schweigend fuhren sie dahin. Die Pferdehufe klapperten taktmäßig auf dem Asphalt; zu dem offenen Wagenfenster schlug eine feuchte dunstige Luft herein. – Jetzt verstärkte sich der Lärm, und in einiger Entfernung tauchten die Lichtermassen des Bahnhofsgebäudes vor ihnen auf.
Ein Stoßen, Drängen und Treiben im Wartesaal, an den Schaltern – ein Durcheinanderrennen, Rufen und Fragen. Mitten drin der alte Mann mit verwirrter eingeschüchterter Miene, mit feuchten gerötheten Augen. Er hatte geweint – es war kein Zweifel!
Sein freundlicher Beschützer hatte ihm bald einen möglichst guten Platz in einem Wagen dritter Klasse verschafft, drückte ihm die Hand und nahm freundlich seine unbeholfenen Dankesworte entgegen. Wie er in das gute alte Gesicht sah, sagte er leise und herzlich: „Mein guter Freund, es thut mir leid um Sie – aber wer kann wissen, wozu es gedient hat, daß Sie hier die große Freude, die Sie erhofften, nicht gefunden haben!“
Da zuckte es um Augen und Lippen des alten Mannes, und leise wiederholte er. „Meine Freud’, meine große Freud’!“
Dröhnend fällt Thür um Thür ins Schloß, langsam setzt sich der Zug in Bewegung.
Der Fremde sieht ihm nach, bis die rothen Lichter in der Ferne verschwinden, dann macht er sich auf den Heimweg. Er ist tief in Gedanken. Sie sind mit dem alten Mann beschäftigt, aber auch mit der seltsamen Fügung, die ihm diese Begegnung gerade jetzt, gerade heute vermittelt hat. Ist das nun blinder Zufall, ist es ein höherer Fingerzeig? In seiner weichen mitleidsvollen Stimmung ist er sehr, sehr geneigt, das letztere zu glauben. Während seiner langjährigen Juristenlaufbahn hat er häufig genug Gelegenheit gehabt, das wunderbare Ineinandergreifen menschlicher Geschicke, das Walten einer höheren Macht, die Unlösbares entwirrte, Dunkles erhellte, zu beobachten. So auch heute. Willdorf, Kassier Willdorf – den Namen kannte er ja, die „Sache“ war ihm übergeben worden, der „Fall“ war reif! Wie nun – wenn die Tochter sich ihrer kindlichen Pflichten erinnert, wenn sie den alten Vater gastlich aufgenommen, ihn für einige Tage in ihrem Hause beherbergt hätte? Viel, viel vernichtender noch als die Herzlosigkeit seines Kindes hätte den harmlosen Alten die Erkenntniß getroffen, daß der Schwiegersohn, auf dessen Geschicklichkeit und unantastbare Ehrlichkeit er so unsäglich stolz war, ein gemeiner Dieb und Betrüger, daß sein „Lenchen“ dabei die Mitwisserin, wahrscheinlich sogar die Helfershelferin war, daß aller Glanz und Reichthum, der ihn so verblüfft und geblendet, unrechtes Gut und die Anklage gegen den samt dem Vorstand der Bank des Unterschleifs verdächtigen Kassier Willdorf bereits aufgesetzt war! So aber – in sein abgelegenes Dorf verirrte sich kaum eine Zeitung, und wenn es geschah – das Lesen war seine Sache nicht, er würde wohl kein Wort erfahren. Die Tochter hatte lange Zeit nicht geschrieben, sie würde weiter schweigen, und nach ihrem heutigen Benehmen gegen den Vater würde dieser sicher keine Nachricht von ihr erwarten.
Staatsanwalt Martin, so hieß der freundliche Beschützer des alten Mannes, hatte während all dieser Betrachtungen sein Haus erreicht und öffnete die Thür mit einem Drücker. In seinem Arbeitszimmer brannte Licht, Schlafrock und Pantoffeln waren bereit, auf einem Seitentischchen brodelte Waser im Theekessel über einer bläulichen Flamme. Wein und kalte Küche war daneben aufgetragen.
Der Staatsanwalt machte sich’s behaglich, aber er that es mit einem Seufzer. Der alte Mann, der jetzt traurig und enttäuscht durch Nacht und Nebel nach seinem heimathlichen Dorf zurückfuhr, wollte ihm nicht aus dem Sinn. Das Essen mundete ihm nicht, der Wein war ihm herb auf der Zunge. Er fand wieder einmal, daß er für einen Juristen um fünfzig Prozent zuviel Gemüthsmensch sei. Endlich zog er am Glockenzug. Ein hagerer grauhaariger Mann, sein „Faktotum“, erschien.
„Die Akten ‚Willdorf‘ möchte ich haben. Im zweiten Fach rechts im Aktenschrank!“
„Sehr wohl!“
Er kannte den Fall genau – dennoch prüfte er noch einmal alles sorgfältig. Ihm war, als sehe ihm ein greises Haupt mit hellen schüchternen Kinderaugen über die Schulter, und diese Augen forschten ängstlich in seinem Gesicht, ob nicht ein mildernder Umstand – –
Nein! Weder Krankheit noch Mangel an Einkommen, weder schrankenloser Wohlthätigkeitssinn noch Unterstützung bedürftiger Freunde – die nackte Verschwendungssucht, das Bestreben, es anderen zuvorzuthun, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen! Da war nichts zu retten!
„Mein armer Alter! Das Schicksal, das Dir so grausam scheinen muß, hat es noch gnädig genug mit Dir gemeint! Eine herbe Enttäuschung hast Du erfahren, um vor einer noch herberen bewahrt zu bleiben. Wärst Du auf Deinem stillen Dorf geblieben, hättest Du Dich nie in die große Welt gewagt! Denn diese große Welt gönnt selten uns armen Menschenkindern eine echte Freude!“
[672]
[673] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [674]
Die Astronomie auf der Straße.[1]
Dem Leser dürfte bekannt sein, daß die meisten größeren Tageszeitungen regelmäßig etwa zu Anfang eines Monats den Stand der Hauptplaneten mitzutheilen pflegen. Dies ist deshalb nothwendig, weil die Planeten in einer gewissen komplizierten Weise ihren Ort unter den übrigen Sternen fortwährend wechseln. Die Mittheilung ihres jeweiligen Orts geschieht durch Angabe ihrer „Rektascension“ (gerade Aufsteigung) und „Deklination“ (Abweichung); es handelt sich also nur darum, erstens die Bedeutung der Rektascension und Deklination zu erklären und zweitens zu erläutern, weshalb die Mittheilung gerade dieser beiden Größen zur Sternbestimmung nothwendig ist und ausreicht.
Betrachten wir zur Nachtzeit irgend einen Stern, z. B. den „Arktur“, und fragen uns, wie seine Lage am Himmel am einfachsten bestimmt werden kann, so liegt bei oberflächlicher Ueberlegung der Gedanke am nächsten: durch seine Höhe über dem Horizont und den auf seinem Höhenkreis gemessenen Abstand von einem festen Anfangspunkt, z. B. vom Meridianpunkt. Aber bald leuchtet ein, daß diese Angabe nur für eine bestimmte Zeit der Nacht und für einen bestimmten Ort des Beobachters Geltung hätte; sie wäre – wenigstens aus dem zweiten Grunde – für eine allgemeine Mittheilung ebenso ungeeignet wie die folgende: Frankfurt a. M. liegt fünfzig Kilometer nordöstlich. Wir haben also zwei die Sternorte bestimmende Größen aufzusuchen, welche für jede Zeit und für jeden Standort auf der Erdoberfläche dieselben bleiben.
Nun wird auf der Erdoberfläche ein Punkt bekanntlich durch seine geographischen „Koordinaten“, seine geographische Länge und Breite festgelegt; die Länge wird von einem vereinbarten ersten Meridian aus in einer ebenfalls vereinbarten Richtung, nämlich von Westen nach Osten, gezählt; die Breite vom Aequator aus nach Norden oder Süden abgemessen. Als Einheit für die Längen wird entweder der Grad oder die Stunde gewählt, also der Aequator entweder nach 360 Graden oder nach 24 Stunden eingetheilt; die geographische Breite wird nach Graden gemessen, indem man vom Aequator aus südlich und nördlich vom nullten bis zum neunzigsten Grade fortschreitet.
Analog ist für die Himmelskugel, das scheinbare Himmelsgewölbe, die Rektascension und Deklination genau dasselbe, was für die Erdkugel geographische Länge und Breite ist.
Die Erdachse, die Verbindungslinie des Nordpols und Südpols, schneidet verlängert die Himmelskugel in deren Polen; der eine, der Nordpol des Himmels, fällt nahezu mit dem Polarstern zusammen. Denkt man sich ebenso die Ebene des Erdäquators erweitert, so schneidet sie die Himmelskugel in einem größten Kreise, dem Himmelsäquator. Wie jeder Punkt der Erdoberfläche so beschreibt auch jeder Stern der Himmelskugel täglich einen Kreis um die Himmelsachse; einen um so kleineren, je näher der Stern dem Polarstern liegt (z. B. die Sterne des Großen Bären, die für uns niemals untergehen), einen um so größeren, je näher er dem Aequator liegt. Entsprechend der geographischen Länge wird die Rektascension auf dem Himmelsäquator gemessen, entsprechend der geographischen Breite die Deklination vom Aequator aus nördlich oder südlich nach den Himmelspolen zu.
Um uns also am Himmelsgewölbe den Himmelsäquator vorstellen zu können, haben wir uns an demselben einen Kreis zu denken, der vom Polarstern überall um einen Viertelskreisbogen absteht; folglich wird für einen Beobachter am Nordpol, wo der Polarstern im Zenith steht, der Himmelsäquator mit dem Horizont zusammenfallen, während in unseren Breiten der Himmelsäquator ein Kreis sein wird, der zur Hälfte schief über dem Horizont aufsteigt, zur Hälfte unter dem Horizont liegt. Nur für einen Beobachter auf dem Erdäquator selbst ist der Himmelsäquator ein senkrechter Kreis, also die Rektascension in Wahrheit eine „gerade“ Aufsteigung. Ein sehr bequemes Mittel kommt der Vorstellung des Aequators am Himmel zu Hilfe: der Himmelsäquator geht durch den Gürtel des Orion, den „Jakobsstab“, dessen Lage aus dem beigegebenen Sternkärtchen wie aus dem früheren in Halbheft 24 des Jahrgangs 1891 zu ersehen ist.
Jetzt haben wir nur noch einen Anfangspunkt für die Bemessung der Rektascension (entsprechend dem Anfangspunkt auf dem Erdäquator mittels des ersten Meridians durch Ferro oder Greenwich) zu gewinnen. Als solcher ist der sogenannte Frühlingspunkt vereinbart. Aus guten Gründen möge derselbe nicht weiter astronomisch definiert, sondern nur seine ungefähre Lage am Himmel angegeben werden. Am zweckmäßigsten findet man ihn, wenn man in Gedanken den Stern 4 des Großen Bären mit dem Polarstern durch eine gerade Linie, oder besser gesagt durch einen größten Kreisbogen, verbindet und diese Linie bis zum Himmelsäquator fortsetzt; sie geht ziemlich genau durch den äußersten Stern in dem W der Cassiopeia. Der Schnittpunkt dieser Linie mit dem Aequator stellt gegenwärtig den Frühlingspunkt dar, und von hier aus werden also die Rektascensionen in einer vereinbarten Richtung, nämlich in der Richtung von West über Süd nach Ost, gezählt, nach Einheiten von 0 bis zu 360 Graden auch von 0 bis 24 Stunden. Als „gegenwärtiger“ Frühlingspunkt muß jener Punkt des Aequators deshalb bezeichnet werden, weil der Frühlingspunkt im Laufe der Zeit stetig wandert; in dem Zeitraum eines sogenannten „platonischen“ Jahres, d. h. während beiläufig 26000 Jahren, vollendet er einen ganzen Umlauf am Himmel. – Für ein Beispiel zur Auffindung eines Sternes durch Rektascension und Deklination wurde in dem Kärtchen der Stern Algol gewählt; die dort angegebenen Bezeichnungen machen weitere Bemerkungen unnöthig. –
Wenn diese Aufsätze, die wir nun schließen, dazu beigetragen haben,
dem einen oder anderen unserer Leser die doch uns allen gemeinschaftliche
Liebe zur Betrachtung des gestirnten Himmels zu erhöhen, wenn sie dem
einen oder anderen zum Hilfsmittel geworden sind, sich einigermaßen am
Sternenhimmel zurechtzufinden, so haben sie ihren Zweck erreicht. Was
könnte es auch Erhebenderes geben, als in einer klaren Herbst- oder
Winternacht aufzublicken zu den Wundern des in fleckenloser Reinheit erstrahlenden
Firmaments und in seiner Anschauung einige Augenblicke alles Kleine und
Enge im Menschendasein zu vergessen! Und wenn dann unter den Legionen
von Himmelslichtern dies oder jenes wie ein guter Bekannter herabgrüßt,
dann ergreift auch den bescheidenen Betrachter ein Gefühl der Befriedigung,
das die Schauer der Unendlichkeit mildert. Dr. C. Cranz.
Blätter und Blüthen.
Zur Goldenen Hochzeit eines fürstlichen Paares. (Mit Bildnissen S. 645.) Vor nicht allzulanger Zeit konnten wir der Goldenen Hochzeit gedenken, welche Herzog Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha mit seiner Gemahlin, der badischen Prinzessin Alexandrine, gefeiert hat, und heute begrüßen wir ein gleich freudiges Ereigniß an einem anderen thüringischen Fürstenhof. Wie 1888 in der Feier des siebzigsten Geburtstags sich Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach unmittelbar anschloß an den Nachbarfürsten, so ist es ihm nun auch vergönnt, wenige Monate nach Herzog Ernst den Tag seines fünfzigjährigen Ehejubiläums festlich zu begehen. Am 8. Oktober ist ein halbes Jahrhundert verflossen, seitdem der damalige Erbgroßherzog den ehelichen Bund mit der jugendlichen achtzehnjährigen Prinzessin Sophie Luise der Niederlande geschlossen hat, und mit aufrichtiger Liebe nehmen die weimarischen Lande theil an dem Ehrentag des hochverehrten Herrscherpaares, das nun schon 39 Jahre den Thron inne hat. Viel Segen ist ja auch in diesem langen Zeitraum von ihm ausgegangen!
Man weiß, wie Großherzog Carl Alexander die verantwortungsvolle Aufgabe zu lösen verstanden hat, der Fürst eines Landes zu sein, das im Glorienschein einer so ruhmvollen Vergangenheit durch die Geschichte geht wie Weimar. Man weiß, wie er sich in seiner treu deutschen Politik als ein wahrer Erbe seines Großvaters Karl August und als verdienstvoller Mitarbeiter seines Schwagers, des unvergeßlichen Kaisers Wilhelm I., erwies. Man weiß, wie er als Schutzherr jener klassischen Stätten, um die sich die Erinnerungen an die höchste Blüthezeit unserer Litteratur wie unverwelklicher Epheu ranken, alles dafür that, die Ueberlieferungen jener schönen Zeit zu pflegen, indem er nicht bloß die Schiller- und Goethevereine unter seine besondere Obhut nahm, sondern auch der Dichtung und der Kunst der Gegenwart stets die wärmste Förderung widerfahren ließ. Unter ihm erwuchs zu Weimar eine blühende Kunstschule, die Wartburg erstand in altem Glanze, das Theater feierte unter Dingelstedts Leitung Triumphe, an denen das ganze gebildete Deutschland Antheil nahm, und originale schöpferische Geister der Musik wie Liszt und Wagner fanden in Weimar einen festen Boden.
Gleich gesinnt steht ihm seine Gemahlin zur Seite, ein vorleuchtendes Muster echter Weiblichkeit, die auch auf dem Throne alle Tugenden des häuslichen Herdes pflegt, die ein warmes Herz hat für ihr Volk, seine Freuden und Leiden und mit fast schrankenloser Wohlthätigkeit in aller Stille den Bedrängten zu Hilfe kommt. Auch sie ist allen ernsten literarischen Bestrebungen stets eine wohlwollende Gönnerin gewesen.
Aus der Ehe des großherzoglichen Paares sind drei Kinder entsprossen: Erbgroßherzog Carl August und die Prinzessinnen Marie und Elisabeth. Aus der Ehe des Erbgroßherzogs mit der Prinzessin Pauline von Sachsen- Weimar-Eisenach stammen zwei Söhne. So umgiebt das hohe Paar am Goldenen Hochzeitstag ein Kreis von Kindern und Enkeln, der ihnen ein schönes Familienglück gewährt und noch für lange gewähren möge!
[675] Die Kolumbusfeier in Genua. (Zu dem Bilde S. 648 u. 649.) Zehn Städte Italiens haben sich um die Ehre gestritten, die Wiege des kühnen Entdeckers einer neuen Welt beherbergt zu haben, die geschichtliche Forschung hat, soweit sie entscheiden konnte, Genua den Sieg zugewiesen – Kolumbus trägt den Beinamen der „große Genuese“. Dort in Genua nun hat man in den Tagen vom 8. bis 14. September durch glänzende Feste das Andenken gefeiert jener ersten entscheidenden Entdeckungsfahrt von 1492, die nicht nur für Amerika selbst, sondern auch für die Völker Europas den Anbruch einer neuen Zeit darstellt. Die internationale Bedeutung des Kolumbus, die darin liegt, ist denn auch in Genua zum machtvollen Ausdruck gekommen – von den Schiffen, die im Hafen der herrlichen Rivierastadt sich sammelten, wehten die Flaggen fast aller europäischen, der hauptsächlichsten amerikanischen Staaten. Unser Bild hebt aus der Reihe jener Festlichkeiten die Vorgänge vom 8. September heraus: die Einfahrt des Königs von Italien an Bord der „Savoia“ und dessen Begrüßung durch die festlich beflaggte Flotte – links außen ist das von Deutschland entsendete Kriegsschiff, die „Prinzeß Wilhelm“, sichtbar – ferner die glänzende Beleuchtung von Stadt und Hafen am Abend desselben Tages.
„Schiff in Noth!“ Vor etwas mehr als Jahresfrist hat die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ die Feier ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens zu Berlin festlich begangen. Es ist bei diesem Anlaß dem deutschen Volke aufs neue eindringlich zum Bewußtsein gebracht worden, welch’ einen Schatz es in dieser Gesellschaft besitzt, und wie stolz es sein darf auf eine so herrliche Schöpfung des Gemeinsinns. Man hätte erwarten dürfen, daß diese Feier mit all den begeisterten Aeußerungen der Anerkennung, welche sie im Gefolge hatte, auch in einem Zuwachs an neuen Mitgliedern und in gesteigerter Opferwilligkeit ihre Wirkung äußern werde. Leider ist dem aber nicht so – zu unserer Beschämung muß es gesagt werden! Wie der neueste Jahresbericht der Gesellschaft ausweist, ist die Zahl der Mitglieder in dem Geschäftsjahr 1891/92 von 49 885 auf 49 446 zurückgegangen, während sich die Einnahmen gleichzeitig um mehr als 10000 Mark verminderten. Wohl wissen wir, daß eine Reihe äußerer Umstände angeführt werden kann, welche diese Erscheinung erklären und entschuldigen sollen. Wohl wächst der Wettbewerb der örtlichen Vereine wohlthätiger Art, wohl muß der allgemeine Druck, welcher auf dem Erwerbsleben der Gegenwart lastet, auch in den Summen sich aussprechen, die für gemeinnützige Zwecke erübrigt werden können. Wir meinen aber, wenn gespart werden muß – hier, bei einer so edlen, im höchsten Sinne des Wortes humanen Sache ist nicht der Platz dafür. Wir meinen, dem Rettungsdienst an unseren deutschen Seeküsten, dem nunmehr beinahe 2000 Personen die Erhaltung ihres Lebens verdanken, bei dem Hunderte von wackeren Landsleuten ihr eignes Leben todesmuthig in die Schanze schlagen, darf niemand seine Beihilfe entziehen; im Gegentheil, es sollten immer mehr die Hand aufthun, um nach ihren Kräften beizusteuern für die Forterhaltuug und Weiterführnng des großartigen Liebeswerkes. Wir haben zu unserem deutschen Volke das Vertrauen, daß der Ruf, der hier an seine Hochherzigkeit ergeht, nicht ungehört verhalle, daß seine werkthätige Theilnahme aufs neue und in stetig steigendem Maße dem Verein sich zuwende, der so edle Ziele verfolgt.
Burg Schwaneck. (Zu dem Bilde S. 660.) Uuweit der Station Großhesselohe, wenige Kilometer südlich von München, erhebt sich auf luftigem Hügel über dem malerischen Jsarthal das reizende Schlößchen Schwaneck. Es ist keine alte Ritterburg, so sehr es die Formen einer solchen nachahmt; es stammt erst aus neuerer Zeit, und kein geringerer als Schwanthaler, der Schöpfer der „Bavaria“ in München und so vieler anderer herrlicher Werke der Plastik, hat es einst für sich erbaut. Leider konnte der kränkliche Meister nur selten auf seinem schönen Besitz verweilen und sich an dem entzückenden Ausblick auf das breit hingelagerte München, auf das Jsarthal und auf die fernen Kämme der Alpen erquicken. Ein schweres Gichtleiden fesselte ihn monatelang ans Bett und in den letzten Jahren seines Lebens ganz an den Rollsessel.
Schwaneck ist neuerdings in andere Hände übergegangen und dem Fremden nicht mehr geöffnet. Unten zieht die neu eröffnete Jsarthalbahn vorüber, die den Strom der Reisenden an so manchem anderen hübschen Punkte vorbei nach Wolfratshausen führt. Von dort noch eine kurze Wanderung und wir stehen am villenbesäten Gestade des Starnberger Sees!
Fahrbahre Desinfektionsanlagen. (Zu dem Bilde S. 661.) Die Frage der Desinfektion ist durch den heimtückischen Einbruch der Cholera für ganz Deutschland von zwingendstem Interesse geworden; es hat sich dabei, abgesehen von dem, was der einzelne in seinem Hause unmittelbar zur Desinfektion beitragen kann und muß und was weiterhin die festen öffentlichen Desinfektionsanstalten zu leisten vermögen, als äußerst wünschenswerth herausgestellt, gute fahrbare Desinfektionsanlagen zu besitzen; denn auf diese Weise kann man die verseuchten Gegenstände an den betreffenden Häusern selbst desinfizieren und in vielen Fällen den umständlicheren, eine Verschleppung der Ansteckung nicht in gleichem Maße ausschließenden Transport zu den Desinfektionsanstalten umgehen. Unsere Abbildung zeigt nun als Beispiel derartiger fahrbarer Anlagen einen Desinfektionswagen, wie ihn die Firma Oskar Schimmel u. Co. in Chemnitz herstellt. Der cylinderförmige Desinfektionsapparat ist mit dem Dampfentwickler und allem Zubehör auf einem kräftigen Fahrgestell befestigt, das von zwei Pferden gezogen wird; in seinem Inneren befindet sich ein bewegliches Gerippe, an dem die verseuchten Gegenstände befestigt werden und das ein bequemes Einschieben und Herausnehmen derselben gestattet.
Der Apparat ermöglicht neben einer gründlichen Desinfektion durch strömende Wasserdämpfe eine Vorwärmung und Nachtrocknung der Desinfektionsgegenstände, sowie deren Lüftung nach der Desinfektion, so daß sie vollständig trocken und geruchlos und ohne durch die Wasserdämpfe gelitten zu haben wieder zum Vorschein kommen. Dabei ist die Ventilation der Anlage so eingerichtet, daß die aus dem Innern abziehenden Dünste unter dem Feuer des Dampfentwicklers durchmüssen, und hier verzehrt werden. Die Bedienung der ganzen Anlage ist eine höchst einfache und könnte in den Städten einer besonders zu diesem Zwecke gebildeten Desinfektionskolonne entnommen werden, die an den bedrohten Punkten, ähnlich wie die Feuerwehr mit ihren Spritzen, mit ihren Wagen rasch zur Stelle sein würde. Besonders empfehlenswerth aber ist die Anschaffung derartiger Desinfektionswagen in ländlichen Verhältnissen, wo es an einer ständigen Desinfektionsanstalt fehlt; denn wenn auf irgend einem Gebiet so rächt sich gerade auf dem der ansteckenden Krankheiten und vor allem der Cholera jede Versäumniß in der öffentlichen Gesundheitspflege.
Chlodwigs Uebergang über den Main. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) In den ältesten Ueberlieferungen der Völker spielen die sogenannten „ätiologischen Legenden“ eine große Rolle. Ein Name, ein Brauch fordert Erläuterung – flugs ist die schaffende Phantasie bei der Hand, sie in irgend einem Ereigniß aus altersgrauer Zeit zu geben. So hat auch der Name „Frankfurt“ – Frankfurt a. M. ist gemeint – früh zu mannigfaltigen Versuchen einer geschichtlichen Deutung geführt, da man an der einfachsten Lösung „Furt im Frankenlande“ sich nicht ohne weiteres genügen lassen wollte.
Eine dieser Deutungen hat dem Maler A. Zick den Stoff zu seinem kraftvollen Bilde „Chlodwigs Uebergang über den Main“ geliefert. Nach dem großen Siege über die Alemannen im Jahre 496 verfolgte Chlodwig die Geschlagenen über den Rhein und Main. Als er an den letzteren Strom kam, da soll ihm eine Hirschkuh die Furth über den Main gezeigt haben – und daher habe die „Frankenfurt“ ihren Namen erhalten.
Marienfest. (Zu unserer Kunstbeilage.) Es ist etwa vier Jahre her, seit der Name „Benlliure“ in Deutschland plötzlich Berühmtheit erlangte. Damals, im Jahre 1888, erregte auf der Münchener Jubiläumskunstausstellung ein Bild großes Aufsehen, welches die Bezeichnung trug „Eine Vision im Kolosseum“; es wirkte nicht bloß durch seine riesigen Maße, seinen phantastischen Stoff, sondern auch durch eine ganz eigenartige, effektvolle Farbengebung und verrieth mit zwingender Deutlichkeit, daß man es hier mit einem Meister ersten Ranges zu thun habe. Der Maler war ein in Rom lebender Spanier, José Benlliure y Gil, in Valencia 1855 geboren, also ein verhältnißmäßig noch junger Mann. Man erfuhr über ihn weiter, daß er ein frühreifes Wunderkind war, das schon in zartester Jugend unter des Vaters Leitung sich im Zeichnen übte und im neunten Lebensjahr Bilder zu malen begann. Mit vierzehn Jahren war er zu seiner weiteren Ausbildung nach Madrid und 1878 nach Rom übergesiedelt.
Jenes phantastische Bild, auf dem sich die Opfer der Arena in der Nacht von Allerseelen ein Stelldichein in den Ruinen des römischen Amphitheaters geben, bezeichnet nur eine Seite von Benlliures künstlerischer Thätigkeit. Fast mehr noch zog ihn die Darstellung der farbenschimmernden Kirchenfeste seiner Heimath Valencia an. Die Pracht der Gewänder, die seltsam gebrochenen und gefärbten Lichter, welche durch die gemalten Fenster der Kirche hereinfallen, der leise Dunst des Weihrauchs, die lieblichen Kindergesichter, die Abstufung der religiösen Stimmung auf den Gesichtern der Theilnehmer, das alles bot einem Koloristen wie Benlliure die reizvollsten Aufgaben. In die Reihe der Schöpfungen aus diesem Stoffkreis gehört auch das Gemälde, welches unsere heutige Kunstbeilage wiedergiebt. Auch dieses Bild hat auf deutschen Ausstellungen allgemeine Bewunderung gefunden, weshalb wir unseren Lesern einen Dienst zu erweisen glauben, wenn wir ihnen in der Reproduktion desselben eine Probe vorlegen von dem Schaffen des spanischen Malers.
KLEINER BRIEFKASTEN.
Richard K. in Hamburg. „Ein Pfund Sterling“ ist allerdings ein merkwürdiger Ausdruck, in welchem, wie in so manchem anderen, ein ganzes Stück Geschichte steckt. Das Wort „Sterling“ erzählt uns von uralten Handelsbeziehungen zwischen den Völkern im Mittelaiter, denn es heißt ursprünglich „Easterling“, das heißt östliche Münze, Geld der Hansestädte, welche schon im 11. und 12. Jahrhundert einen starken Handelsverkehr mit England unterhielten. Ein Pfund solcher Easterlinge wurde dann als Münzeinheit zwischen beiden Völkern angenommen und wandelte sich nach und nach zum national englischen Begriff. Die Goldkrone, der Sovereign, hat genau den Betrag eines Pfundes Sterling, aber neben der neuen Münze blieb der alte Name im Gebrauch und ist so zum geschichtlichen Denkmal geworden.
Fr. B. in Wismar. Wenden Sie sich an einen Augenarzt! Die künstlichen Augen aus Celluloid, welche der Zahnarzt Hamecher in Plauen i. V. anfertigt, werden von dem unseren Lesern wohlbekannten Gewährsmann auf dem Felde der Augenheilkunde, von Professor Dr. Hermann Cohn in Breslau, sehr empfohlen. Sie sind leicht, unzerbrechlich und lassen sich genau der Form der Augenhöhle anpassen, da man sie beliebig beschneiden kann. Doch unternehmen Sie nichts ohne den Rath Ihres Arztes!
Olifand. Leider nicht geeignet!
M. in Elbing. Die Unterschrift Ihrer Postkarte ist unleserlich. Geben Sie uns eine genaue, deutlich geschriebene Adresse, dann werden wir Ihnen brieflich antworten.
R. S. in H. Ihren Zwecken und Wünschen dürfte ein Werk entgegenkommen, das gegenwärtig im Verlag von Friedrich Wolfrum in Düsseldorf erscheint. Es führt den Titel „Möbel-Neuheiten“ und giebt neben den üblichen Ansichten der Einrichtungsgegenstände Detailzeichnungen in vollständiger natürlicher Größe zur unmittelbaren Verwendung in der Werkstätte und außerdem eine genaue Preisberechnung als Anhalt für den Tischler. Gerade diese beiden Eigenschaften entsprechen ja Ihren Forderungen.
H. H. in B. Der Schillerpreis kommt das nächste Mal im Jahre 1893 zur Verleihung. Eine Kommission von neun durch den preußischen Kultusminister ernannten Mitgliedern besorgt die Auswahl geeigneter Werke, ein Ausschuß von drei Mitgliedern prüft diese und berichtet darüber. Mitte September jedes Preisjahrs erfolgt die Entscheidung.
Ph. R. in Offenburg. Das ist leider nur zu wahr. Unter den „Schleichwegen“, auf welchen die ansteckenden Krankheiten verschleppt werden, erwähnt man nicht mit Unrecht auch die Leihbibliotheken und Lesezirkel. Sie lassen sich aber ebenso wenig abschaffen wie z. B. das Geld und tausend andere Dinge, an denen gleichfalls Ansteckungsstoffe hängen bleiben. Unser Bestreben kann nur darauf gerichtet sein, die Gefahr zu mindern und Vorsichtsmaßregeln anzuwenden. Neuerdings wurden solche von dem „British Medical Journal“ in Vorschlag gebracht. Dieselben gehen von der Voraussetzung aus, daß, wie dies bereits vielfach der Fall ist, eine Anzeigepflicht für ansteckende Krankheiten besteht und darüber Listen geführt werden. Diese Listen sollten nun den Leihbibliothekbesitzern zugestellt werden und diese müßten alsdann den betreffenden Abonnenten mittheilen, daß sie die Bücher nicht zurückgeben sollen, so lange das Haus nicht frei von ansteckender Krankheit ist. Die dann zurückkommenden Bücher sollten in einem eigens dafür gebauten Apparate desinfiziert werden.
[676]
Von Victor Hardung.
Buchstabenräthsel.
Tod und Verderben speit mein Wort,
Doch nicht zu allen Tagen,
Nimmst du ein einzig Zeichen fort,
Kann mich ein Hund verjagen;
Weit schwerer weiche ich vom Ort
Hingegen nach Gelagen.
Oscar Leede.
Kombinationsaufgabe.
Reiber, Armida, Tresse, Spaten, Alboin, Rescht, Iseran, Morena, Nestor, Leguan, Riesen.
Aus jedem der obigen Wörter ist durch Umstellen der Buchstaben und Hinzufügen eines je siebenten Buchstabens ein neues Wort zu bilden. Es bedeutet: 1. ein Gebetbuch, 2. eine Insel bei Afrika, 3. eine Person aus Goethes „Iphigenie auf Tauris“, 4. einen König von Ungarn, 5. ein Gebirge im Westen Asiens, 6. eine Stadt in England, 7. ein vorchristliches Volk Italiens, 8. ein Gedicht, 9. einen Fluß in Syrien, 10. eine Küstenbildung in Südeuropa, 11. ein Land in Asien.
Sind alle Wörter richtig gefunden, so nennen ihre Mittelbuchstaben einen friedliebenden und kunstsinnigen römischen Kaiser. A. St.
Räthseldistichon.
Groß ist mein Anseh’n unter den lieblichen Kindern des Waldes;
Raubst du mir aber den Fuß, nennt der Verlass’ne mich Freund.
Entzifferungsaufgabe.
Gatuku Bedukogubadibo bikedete
Tatobido giki titobi Dedidobeguti,
Kagide bakiketoko kigubitokite,
Tekegiko’ todu Kobitibeguti!
Tedo. Detetukeku.
A, B, C und D nehmen je sechs Steine auf. Vier Steine mit zusammen 13 Augen bleiben verdeckt im Talon. Die Augensummen auf den Steinen von B, C und D verhalten sich zu einander wie 9 zu 13 zu 15. D hat keinen Doppelstein.
A setzt Vier-Sechs aus und gewinnt dadurch, daß er seine Steine zuerst los wird. Er setzt zuletzt Blank-Drei an Blank. B kann nur bei der ersten Runde ansetzen. C muß stets passen. A und D können immer ansetzen, D behält einen Stein mit acht Augen übrig.
Die 12 Steine der Partie haben 93 Augen.
Welche Steine lagen im Talon? Welchen Stein setzte B? Welche Steine hatte C? Welchen Stein behielt D übrig? Wie war der Gang der Partie?
Aus jedem der folgenden Citate, die alle aus Goethes „Faust“ stammen, ist ein Wort zu wählen, so daß man ein Citat aus E. v. Wildenbruchs Drama „Die Quitzows“ erhält.
1. Dein Sinn ist zu, dein Herz ist todt.
2. Nur der ist froh, der geben mag.
3. Wer Gutes will, der sei erst gut.
4. Was heute nicht geschieht, wird morgen nicht gethan.
5. Man kann auf gar nichts mehr vertrauen.
6. Das ist nicht recht, man muß dran glauben.
7. Ich hatte nichts und doch genug.
8. Ich darf nicht fort, für mich ist nichts zu hoffen.
Die übrigen Karten waren so vertheilt: Skat: gW, r9. Vorhand: eD, eK, eO, eZ, gK, gO, gZ, rO, rZ, s7.
Das Spiel nimmt folgenden Verlauf:
1. rZ! r8, rD,
2. gD! gK, g9,
3. rU! rO, r7,
4. eD, eU, sD,
5. eK, e9, sK,
6. eO, e8, sO,
7. eZ, e7, sU,
8. gO, g8, sZ,
9. gZ, g7, s9,
10.s7, s8, + rK.
[ Verlagswerbung für W. Heimburg's Romane und Novellen. Hier nicht dargestellt. ]
- ↑ Vergl. Halbheft 17 dieses Jahrgangs.