Die Gartenlaube (1892)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[677]

Halbheft 22.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Mamsell Unnütz.
Roman von W. Heimburg.
(2. Fortsetzung.)


In der Nacht nach der Ankunft Fritz Roettgers wurden in dem alten Hause an den Frieder zwei Briefe geschrieben. Tante Riekchens Brief lautete:

 „Mein Herzensbub’!

Anbei schicke ich Dir das gewünschte Geld. Es thut mir leid, daß Du so viele Ausgaben hast; es ist ein kostspielig Ding mit dem bunten Rocke, und gar in Berlin. Aber die Zeit dort wird herumgehen, und in Deiner Garnison kannst Du dann wieder einfacher leben, nicht wahr, Frieder? – Ich hatte einen kleinen Streit mit Tante Minna dieses Geldes wegen; sie meint, Du gäbest mehr aus, als Du müßtest. Sie weiß nichts von den Ansprüchen, die an einen Offizier gemacht werden; wir hatten nie einen Militär in der Familie. Ich traue Dir und glaube, daß Du, Deiner alten Tante zu lieb, keine Luxusausgaben machst.


Feierabend.
Nach einem Gemälde von Michael Ancher.

[678] Du weißt, wie das Geld im Werthe gesunken ist, und weißt auch, daß ich für Deine Schwester mit sorgen muß.

Glückselig bin ich, daß Du zu Pfingsten kommst, es wird für mich der Sonnenschein der Festtage werden. Fritz ist hier; er sagt, er habe Dich selten oder gar nicht gesehen in Berlin. Ich bitte Dich innig, sei verträglich mit ihm, Ihr seid doch jetzt keine Kinder mehr. Behüte Dich Gott, Herzensliebling! Immer Deine Dich wie eine Mutter liebenbe Tante
Friederike Trautmann.“ 

Und Julia schrieb auch:

„Lieber Frieder! Ich schicke Dir acht Thaler, die ich mir erspart habe. Bitte, bitte, schreibe nun aber Tante nicht so bald wieder um Geld; sie hat, glaube ich, ernstliche Sorgen. Es that mir recht weh, in Deinem heutigen Briefe an mich zu lesen, daß Du gar nicht auskommst. Wärst Du doch. nach Tantes Wunsch, lieber Ingenieur oder Beamter geworden als Offizier! – Aber da ist nun nichts zu ändern. Die Tante sieht recht elend aus. Sag’ ihr nicht, daß ich Dir Geld schickte, ich habe es mir heimlich verdient! Ich wollte so gern Malstunden nehmen dafür, aber so ist’s auch gut verwendet. Ich danke Dir auch für Deinen Glückwunsch und bin wie immer
Deine treue Schwester Julia.“ 

Und diese beiden Schreiben brachte in Berlin ein Offiziersbursche seinem Herrn eines Sonntagsmorgens gegen zehn Uhr ans Bett, nebst einer Geldanweisung. Das verdrießliche Gesicht des hübschen jungen Lieutenants ward ein wenig heiterer, als er die Goldstücke klimpern hörte, die der Briefträger im Nebenzimmer, einem eleganten kleinen Salon, auf den Tisch zählte, der noch die Reste eines feinen Abendessens trug.

„Na, Gott sei Dank! Wenig genug ist’s freilich!“ murmelte er. Die Briefe ließ er vorläufig liegen, sie interessierten ihn beide nicht. Er haßte überhaupt sogenannte Familienbriefe. Die Zärtlichkeiten der alten Tante waren ihm ungemüthlich, und seine Schwester – – großer Gott, dieser dicke Brief! Was mochte sie wollen? Er gedachte dieser Schwester immer mit einem Gemisch von Mitleid und Furcht. Mitleid, weil sie eine so freudlose Jugend verlebt hatte, und Furcht, weil sie ihm, wenn sich nicht zufällig ein Mann für sie fand, eines schönen Tages zur Last fallen konnte. Wozu dieses Mädel überhaupt in die Welt kam? So unnütz wie möglich war ihre Existenz von vorn herein!

Er erinnerte sich ganz deutlich an den Tag, an dem die Kleine geboren wurde, und daß es an eben diesem Tage noch knapper als gewöhnlich im Vaterhaus zuging. Und jetzt, jetzt war die „Alte“ daheim doch auch nur so verdammt geizig, weil eben diese Schwester versorgt sein wollte! Na, zu Pfingsten mußte er also heim, es half nichts, ewig konnte er sich um den Besuch nicht drücken. Uebrigens besaß der Gedanke nichts Allzuschreckliches für ihn, denn ein Pfingsten am Rhein hat seine Reize, und die Weiber konnten doch schließlich nicht verlangen, daß er den ganzen Tag bei ihnen im Garten sitzen sollte. Bis zur Dampferstation waren es vom Hause aus nur wenige hundert Schritte, und wenn man erst da oben auf dem Verdeck stand, dann adieu Langeweile!

so überlegend, verzehrte er sein Frühstück; dann schrieb er an einen Kameraden, daß er die Einladung zu dem fidelen kleinen Souper heute abend nach dem Theater anzunehmen gedenke; beauftragte ferner den Burschen, eine bestimmte Sorte Chokoladebonbons, die Lieblingsnäscherei einer bekannten Dame, sowie einen Strauß rosa Rosen mit Maiglöckchen vermischt, die Lieblingsblumen einer anderen bekannten Dame, zu besorgen, zog sich eine eben vom Schneider gekommene moderne Civilkleidung an und begab sich in ein vornehmes Restaurant zum Diner, um ebenso vorzüglich als theuer zu speisen.

Tante Riekchen aber schloß am Pfingstheiligabend unter Thränen der Freude ihren „lieben Bub’“ in die Arme und schob seine matten Augen und seine blasse Gesichtsfarbe auf die viele Arbeit, die sein Kommando mit sich brachte, und auf die ungesunde Berliner Luft. Sie hatte seine Lieblingsgerichte bereitet und die letzten Flaschen Markobrunner aus dem Keller heraufgeholt, und Julia hatte den Tisch im Garten drunten gedeckt und einen duftenden Pfingstfliederstrauß darauf gestellt.

Sie war so glücklich! Der Bruder hatte sie erstaunt angesehen, als sie ihm entgegenkam mit leicht gerötheten Wangen und den seltsamen Augen, die so glänzend und so sammetbraun unter den Wimpern hervorblickten; mit den Purpurlippen hinter denen die prächtigen Zähne schimmerten. Er hatte nie gewußt, daß sie solche Perlenzähne besaß, er hatte sie aber früher auch nie lächeln sehen, und sie lächelte jetzt, wie glückliche Menschen thun in Erinnerung an etwas Süßes, Schönes, Wundervolles.

„Grüß Gott, Frieder!“ Es klang so frisch; er begriff nicht, daß dieses Mädchen die kleine scheue vielgescholtene Mamsell Unnütz sei, die er heimlich gestoßen und gepufft und der er kein gutes Wort gegönnt hatte all sein Lebtag.

Sie trng es ihm jedenfalls nicht nach, sie war wie eine echte treue Schwester für seine Behaglichkeit besorgt – war sie doch so glücklich, und glückliche Menschen können nicht anders als gut sein. Und mit wie wenigem war sie glücklich! Wie arm waren doch eigentlich ihre Freuden! Es glaubt gar keiner, welch ein genügsames Ding eine Mädchenliebe ist. Wenn sie in aller Morgenfrühe aufstand, um die Zimmer zu ordnen, war es so köstlich, über das Treppengeländer zu lauschen, ob er schon durch den hallenden Flur nach dem Garten schritt, zum Rhein hinunter. Es war so schön, ihm ein paar Stunden später im Garten zu begegnen und einen freundlich ernsten Gruß von ihm zu erhalten. Nicht eiumal die Hand reichten sie sich, wozu auch? Julia verstand ihn; er war noch ein armer Doktor ohne Praxis, wie hätt’ er da um sie werben können? Er hatte ja einmal ganz richtig zu seiner Mutter gesagt, als die beiden in der Laube saßen und sie, die Julia, vorbeiging, um nach den Gemüsebeeten zu sehen: „Du wirst doch wohl einsehen, Mutter, daß ich vor allen Dingen hier erst festen Fuß fassen muß in meinem Beruf. Laß mich vorläufig mit allem anderen in Ruh’; es kommt jedes zu seiner Zeit, auch das Heirathen.“

Und nun gar die Tante! In ihrem ganzen Leben war die gestrenge Frau noch nicht so gnädig gegen Mamsell Unnütz gewesen als in diesem herrlichen Frühjahr. Sie rief abends unter dem Fenster nach dem Julchen, damit sie in die Laube komme; und wie flog dann das Mädchen die Treppe hinunter mit ihrem Arbeitskorb. Es war sogar einmal geschehen, daß die Frau Rath dem vielgeplagten Kinde den Berg zu stopfender Strümpfe abgenommen hatte, damit die Jugend nach der Au hinüberrudern konnte, der Doktor, Therese und Julia. Und wie wundervoll war die Fahrt gewesen! Der Doktor hatte gesungen – Thereschen ließ nicht nach, ihn zu bitten – allerhand Trauriges und Uebermüthiges durcheinander, und schließlich ein Lied, darin es hieß:

„Wo ein Röschen steht,
Wo ein Vorhang weht,
Wo am Ufer Schiffe liegen,
Wo zwei Augen braun
Uebern Strom hinschau’n,
O, da möcht’ ich fliegen, fliegen!"

Und vor ihrem Fenster drüben stand ein Rosenstöckchen, und der leichte Vorhang pflegte lustig hinauszuflattern in die Lenzluft, und waren nicht ihre Augen braun? Sie sann vor sich hin und ließ die Wellen durch ihre Finger gleiten und sah die leuchtenden blauen Mädchenaugen nicht, die den Sänger anblickten, lange und lächelnd.

Thereschen Krautner war eine hübsche und sehr elegante junge Dame. Man merkte den gediegenen Reichthum ihres Vaters an jedem Fältchen ihrer Kleidung. Sie war voll und doch zierlich gewachsen, einen halben Kopf kleiner als Julia, hatte kleine, sehr reizend beschuhte Füße und rosige runde Händchen, die in Handschuhen mit zahllosen Knöpfen steckten. Ihre Toilette fertigte ein „erster“ Schneider in Frankfurt; sie besaß ein „Boudoir“ mit seidenbezogenen Wänden und den zierlichsten Möbeln, einen Papagei und einen Lieblingshund und schaltete in dem schönen Landhaus ihres Papas als unumschränkte Herrin. Kurz und gut, Therese war ein verwöhntes Kind, deren einziger Kummer darin bestand, daß sich Papa noch gar nicht die Manieren des ehemaligen Maurergesellen abgewöhnen konnte, der vor vierzig Jahren barfuß und mit dem Ränzel auf dem verstaubten Kittel in ein thüringer Städtchen eingewandert und dort mit der Zeit Meister und als solcher Bauunternehmer geworden war, und zwar mit so großem Glücke, daß ihm die Goldstücke nur so ins Haus regneten. „Das Gold liegt an der Straße, das ist bei mir wahr geworden,“ pflegte er zu sagen, „ich hab’s dem Nest auch nicht angesehen, als ich einzog dort, daß es sich nachmals zu einem großartigen Badeort auswachsen würde. Und dort ist kein Häuschen und kein Haus, das ich nicht gebaut hätt’.“

[679] Nun hatte er sich in der alten Heimath seinen Ruhesitz hergerichtet in Gestalt einer herrlicheu Villa und saß abends in der „Traube“ am braunen Stammtisch, an der nämlichen Stelle, wo er als Lehrbub’ die gröblichste Ohrfeige seines Meisters bekommen hatte beim Steinezureichen, denn diese Gaststube wurde damals angebaut. Und wo er einst Zeter geschrien, da ertönte jetzt seine gewichtige Stimme als Stadtrath und Ehrenbürger. Er war sehr mit sich selbst zufrieden, der Herr Krautner, und konnte es ja schließlich auch sein, und daneben war er rund und gemüthlich, that gern Gutes und verzog seit dem Tode der Frau die einzige Tochter über die Maßen. Er pflegte auch zu erzählen, daß sein „Reschen“ heirathen dürfe, wen sie wolle, und wenn’s der Aermste sei – nur keinen Offizier, nimmermehr! „Eher hing’ ich das Mädchen auf,“ schloß er gewöhnlich.

Das junge Mädchen hatte nun vorläufig gar keine Gelegenheit, sich in zweierlei Tuch zu verlieben, denn in Andersheim gab es nichts Militärisches außer dem alten Steuerrath, der sich Lieutenant a. D. auf seiner Visitenkarte nannte und zu Königs Geburtstag in einer vorsintfluthlichen Uniform und einem Helme erschien, der so hoch und spitz war wie ein Kirchthurm. Thereschen wurde zwar in Ermanglung dieser Gefahr umworben von Assessoren, Lehrern, Kaufleuten, verhielt sich aber vor der Hand sehr zurückhaltend und meinte, es habe durchaus keine Eile mit dem „unter die Haube kommen“, sie wolle erst noch ihre Jugend genießen.

„Und das machst Du recht!“ pflegte der Papa mit schallendem Lachen zu bekräftigen.

Nun war also der Abend vor Pfingsten ins Land gekommen und unter dem Nußbaum hatte Julia den Tisch gedeckt. Es war ihr in ihrer Glückseligkeit gelungen, die Tanten zusammenzuschmeicheln, so daß nach langen Jahren die Bewohner des Hauses wieder an einem Tische vereinigt saßen. Die jungen Männer waren soviel als möglich auseinander gerückt – sehr gemüthlich schien es sich überhaupt vor der Hand nicht anzulassen, dies Beisammensein. Der elegante Offizier im hellgrauen Frühjahrscivil, mit tadellos gepflegtem Haupt- und Barthaar und den unglaublich langen Nägeln an den seinen weißen Händen, stach gewaltig ab gegen den breitschulterigen jungen Arzt, der eine nette leichte Hausjoppe trug und den alten Strohhut, den die Frau Rath noch von früheren Ferien her aufgehoben, der Hitze wegen recht weit auf den Hinterkopf geschoben hatte. Der Fritze war so recht der lustige Rheinländer, obgleich diese fröhliche Art, das Leben zu nehmen und zu genießen, nur wie ein Schleier über dem Ernste lag, der doch den Kern seines Charakters ausmachte. Die Abneigung der beiden Männer aber war die alte geblieben.

Das Gespräch kam auf Politik. Die Räthin hörte sich gern darin und prophezeite von Jahr zu Jahr den unvermeidlichen großen Krieg. „Heuer kommt’s, paßt auf, und dann wird’s schrecklich!“

Frieder lächelte geringschätzig und drehte den Schnurrbart über eine Bemerkung des Doktors, und ehe man sich’s versah, war zwischen den beiden jungen Leuten eine höchst gereizte Unterhaltung im Gange. Der Doktor schwieg endlich und verlangte scherzend noch einmal von dem ausgezeichneten Maifisch, mit dessen Gräten er sich anscheinend so sehr beschäftigen mußte, daß er nicht mehr in der Lage war, zu reden. Dafür nahm die Frau Rath die eben beiseite gelegte Streitaxt auf, und der nervös auf seinem Teller herumstochernde Lieutenant setzte mit ihr das Gefecht fort, nur noch spitziger, denn ihn ärgerte der behaglich essende Doktor, dem die Meinung des alten Schulkameraden außerordentlich gleichgültig schien.

„Ich glaube, meine Gnädige,“ schnarrte er eben – er nannte die Räthin, seitdem er Offizier war, mit Vorliebe so – „ich glaube, Gnädige wagen sich da auf ein Gebiet, das so ganz zu beherrschen Sie doch nicht – –“

„Na! Jetzt schlägt’s dreizehn!“ rief die geärgerte Frau. „Will mir der Kiekindiewelt etwa sagen, daß ich nicht mitsprechen kann? Deine neugebackene Weisheit imponiert mir noch lange nicht, mein Sohn und die Geschichte vom Ei, das klüger sein will als die Henne, gilt nicht bei uns – hast’s verstanden?“

„Mutter!“. rief der Sohn beschwichtigend, als sie noch weiter reden wollte. Aber da verstummte sie auch schon und ihr zornrothes Antlitz lächelte zuckersüß; durch den Weg daher kam nachbarlicher Besuch, der Herr Stadtrath Krautner und hinter ihm sein Töchterchen. Im Nu waren die Gemüther beruhigt unter dem behaglichen Lachen des alten Herrn und dem glockenreinen „Guten Abend!“ des hübschen Mädchens. Man räumte die Teller ab und trug den Nachtisch auf. Die Räthin aber hakte das Schlüsselbund vom Gürtel und schickte ihren Sohn in den Weinkeller, damit der Herr Nachbar die Extrasorte, von der sie geredet – „Sie wissen schon, Herr Stadtrath“ – proben könne; es sei der Lieblingswein ihres seligen Mannes gewesen.

Julia kam eben mit ein paar Windlichtern die Treppe im Hause herab, als Fritz wieder aus dem Keller emporstieg. Einen Augenblick stockte ihr Fuß; sie sah sich nach ihm um, aber er nickte ihr nur flüchtig zu und öffnete die Thür zur Küche. In dem röthlichen Scheine des Lichtes meinte sie, er sehe verdrießlich aus. Ob er sich geärgert hatte über den Frieder? Es war ihr ein unerträglicher Gedanke. Sie wartete, bis er mit den Flaschen wieder aus der Küche zurückkam.

„Fritz,“ forschte sie stockend, „bist Du bös auf den Frieder?“

Er sah zerstreut empor und seine Hand berührte leicht ihre Schulter. „Nein, mein lieb Kind!“ Dann verschwand er auch schon in der Gartenthür.

Gedankenvoll und enttäuscht ging sie ihm nach. Wenn er doch einen Augenblick für sie übrig gehabt hätte; er war ja freundlich gewesen aber so – so flüchtig, so zerstreut. Sie kam zum Tische und stellte die Lichter darauf; ihr Stuhl war von Thereschen besetzt. Sie blickte nach dem anderen Ende des Tisches, wo vorhin der junge Arzt gesessen – dort hatte sich der Herr Stadtrath niedergelassen. Fritz saß oben neben Thereschen und auf ihrer anderen Seite der Frieder. Es dachte niemand daran, ihr einen Stuhl zu holen, sie mußte es selbst thun. Als sie aber zu dem entfernten Gartenplatz kam, von wo sie ihn herbeitragen wollte, setzte sie sich dorthin und blickte zu der Gruppe unter der Kastanie hinüber. unverwandt, mit sehnsüchtigen Augen. „Ob er Dich nicht vermissen wird?“ fragte sie sich, und ihre brennenden Augen hingen an ihm, der den Rauch einer Cigarre in diskreten kleinen Wölkchen vor sich hinblies, ohne sich an dem sehr belebten Gespräch zu betheiligen, das seine Nachbarin mit dem Lieutenant führte.

Er müsse es fühlen, wie sie ihn anschaue, sagte sie sich, aber ihre Blicke schienen die geheimnißvolle Macht nicht zu haben. Das laute Lachen des alten Herrn scholl in regelmäßigen Pausen zu ihr herüber. Dann stand Tante Riekchen auf und ging langsam dem Hause zu. Der Platz neben ihm ward frei, doch Julia rührte sich nicht; sie fühlte sich so müde, sie hätte weinen können. Dann klopfte ihr Herz stürmisch – er erhob sich und kam den Weg unter den Weinlauben daher, just auf ihren Platz zu. Athemlos wartete sie. „Ein Wort nur, ein gutes Wort!“ flüsterten ihre Lippen; aber kurz vor ihr wandte er sich um, ohne sie erblickt zu haben, und schritt dem Rheine zu. Da blieb er an der Mauer stehen und sah auf den dunklen Fluß; gegen die Strömung arbeitete sich eben ein Schleppdampfer, dessen Gefolge von Lastkähnen nach der Zahl der hellen Laternchen zu berechnen war. Der Doktor ging nicht wieder zurück an den Tisch; erst als die Räthin ihre Stimme erschallen ließ: „Fritz, Fritz, die Herrschaften wollen heim!“ wandte er sich um, und just in der Nähe von Julias Platz trafen sich er und Thereschen Krautner.

„Wo steckten Sie denn?“ rief das junge Mädchen.

„Haben Sie mich vermißt?“ fragte er leise und bog sich zu ihr hinunter.

Sie schwieg wie verlegen.

„Gute Nacht, Fräulein Therese,“ sagte er nur, und ihre Hände ruhten einen Augenblick ineinander; als dann der Lieutenant hinzutrat, zog er förmlich den Hut und wandte sich aufs neue schweigend in die dunklen Gänge.

Und Julia that ihre Pflicht; sie setzte dse Teller zusammen und die Gläser und faltete das Tischtuch. Sie hörte, wie die Räthin, die von dem Geleit der Gäste zurückkehrte, ärgerlich nach ihrem Sohne rief.

„Wenn Du nicht schon so ein alter Mensch wärst, müßt’ ich Dich wirklich schelten! Was hast Du davonzulaufen? Wahr ist’s doch, daß die Soldaten Euch Gelehrten über sind in so Sachen!“

„In was für Sachen?“

„Na, verstelle Du Dich und noch einer!“ sprach sie leiser. „Uebrigens brauchst Du keine Bang’ zu haben, so ein –“

[680]

Der Vierseenplatz in Boppard am Rhein.
Nach einer Skizze von Th. Geh gezeichnet von R. Püttner.

[681] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [682] Julia wandte sich weg, so hörte sie die schmeichelhafte Bezeichnung nicht mehr, welche Frau Rath ihrem Bruder spendete.

Und sie schlief doch ein, die kleine Mamsell Unnnütz, trotzdem ihr das Herz schwer war von einem bangen Gefühl. Aber sie holte ihr altes Beruhigungsmittel hervor – sie drückte das dunkle Köpfchen in das Kissen und durchlebte mit geschlossenen Augen noch einmal die seligen Minuten dort oben in ihrem Dachkämmerchen. Ach, Fritz war ja sicher nur in den Garten hineingewandert, weil sie nicht mehr am Tische saß – sicher – ganz bestimmt! und mit dieser seligen Ueberzeugung schlief sie den tiefen traumlosen Schlummer arbeitsmüder junger Menschen.


Der Herr Lieutenant dachte gar nicht daran, den Pfingstausflug zu unternehmen, von dem er gesprochen hatte, und Mamsell Unnütz, die eigentlich mit Genehmigung der Tante am ersten Feiertag nur ein ganz einfaches Gericht bereiten wollte, mußte nun ihren Kirchgang aufgeben und am Kochherd stehen, denn nach Tante Riekchens Begriffen war ein auf Pfingsturlaub gekommener königlich preußischer Lieutenant unmöglich mit einem Eierkuchen abzuspeisen.

Julia fügte sich ohne Seufzen, es konnten nicht alle Leute feiern. Der Fritz war ja auch auf Berufswegen fort, er hatte schon vier Patienten! Wie eifrig horchte das junge Mädchen auf die neue Klingel im Hausflur, die extra für den jungen Arzt angebracht war und, so recht eine Unheilsbotin, einen grellen schrillen Ton hatte. Auch heute war er schon früh weggegangen, und Julia hatte erfahren, daß der Onkel Doktor ihn zu einer Konsultation in seinem Wagen über Land mitgenommen habe.

Der Bruder zog sich gegen Mittag die Uniform an und ging säbelklappernd die Treppe hinunter durch den Flur, um einen Besuch bei Krautners zu machen. Er kam freilich sehr bald zurück, denn Papa Krautner saß bereits bei Tisch, obgleich die Glocke eben erst Zwölf schlug; und daß der beim Essen nicht gestört werden dürfe, hatte das Stubenmädchen bestimmt versichert. Der Herr Lieutenant war nun drauf und dran, Julias Kalbsbraten im Stich zu lassen und das nächste beste Schiff nach Rüdesheim zu besteigen, damit er die hiesige Langweiligkeit besser überstehe. Da kam er von ungefähr auf eine andere Idee. Er trat in die kleine saubere Küche, wo die Schwester herumhantierte, und fragte, was sie nun den ganzen heutigen Tag anfangen wolle.

„Ich sitze im Garten mit meinen Büchern,“ war die Antwort.

„Mit Deinen Büchern?“

„Ja, ich lese so gern.“

„Aber das ist ja schrecklich langweilig! Giebt es denn kein einziges junges Mädchen, mit dem Du verkehren kannst?“ fragte er.

„Doch, Thereschen kommt mitunter; es kann sogar sein, daß sie mich heute besucht. Sie liebt den Pfingsttrubel auch nicht, und Sonntags ist sie fast immer hier.“

„Da hat sie recht, ich mach’ mich auch nicht gern populär,“ gab er zu. „Wie wär’s denn, Julchen, wenn wir uns ganz in die Einsamkeit flüchteten und ich ruderte Euch hinüber auf die Au?“

„Das wäre schön von Dir!“ sagte die Schwester, „drüben ist sicher niemand!“

„Wir machen uns gegen Abend eine Bowle, und Du sorgst für das Essen,“ schlug er vor.

Sie nickte. „Vergiß nicht, den Fritz aufzufordern, Frieder,“ bat sie und sah nach der anderen Seite, denn sie fühlte, sie war roth geworden.

Er schien es nicht zu hören und beeilte sich, aus der dunstigen Küche zu kommen; in seiner Stube warf er sich auf das Sofa und spann goldene Zukunftsfäden.

Am Nachmittag ruderte er die beiden jungen Mädchen nach der Au hinüber. Die ganze Luft war voll Fliederduft, die Schiffe trugen bunte Wimpel und der Strom war belebt von Nachen mit festlich gekleideten Menschen. Auf der Au war es desto einsamer, da stand kein Wirthshaus.

Der junge Offizier kettete das Boot an einen überhängenden Baum, und die drei schlugen einen grasbewachsenen Pfad ein, der an die westliche Spitze der Insel führte, wo, wie der Lieutenant behauptete, der herrlichste Platz für die Hängematte des Fräulein Therese und die schönste Aussicht sei. Julia folgte; ihr ernstes blasses Gesicht trug einen Anflug von Enttäuschung – Fritz war nicht mitgefahren, war überhaupt noch gar nicht heimgekommen. Sie achtete weder auf die ungewohnte Redseligkeit ihres Bruders, der einen wilden Apfelbaum seiner Blüthen beraubte zu einem Strauße für Fräulein Therese, noch verstand sie, was er ihr sagte.

Das Plätzchen, welches er ausgesucht hatte, war aber in der That wunderschön, und als Thereschen in der niedrigen Hängematte schaukelte und ihr weißes Kleid wie eine Wolke um sie schwebte, als sich der Lieutenant auf ein Tuch zu ihrer Seite gelagert hatte, nahm Julia ihr Buch und vertiefte sich mit soviel Eifer darein, daß sie bald von der Außenwelt nichts mehr sah. Das Plaudern und Lachen der beiden, das leise Rauschen des Wassers, das in ihr Ohr drang, stimmte gar so gut mit der Erzählung von der schönen blonden Frau auf ihrer Burg Schwarz Wasserstolz inmitten des Rheins und mit der heimlichen Liebe zu dem Sänger Hadlaub in Gottfried Kellers reizender Novelle, daß sie gar nicht bemerkte, wie die Zeit verflog und das Gespräch der beiden jungen Leute leiser, immer leiser wurde, wie endlich Pausen entstanden, lange Pausen, nur unterbrochen durch fernen Gesang oder einen nahen Seufzer und das Plätschern des Wassers gegen den Uferrand.

Und die Sonnenstrahlen streuten Funken durch das Geäst der alten Rüstern, tiefgoldene Funken, denn es wollte Abend werden. Dann flammte das Abendroth da drüben empor, der herrliche stolze Strom färbte sich purpurn, und plötzlich glühte dieser Purpurschein auch auf den Wangen des blonden Mädchens, das sich in der Hängematte aufgerichtet hatte und den Kopf halb abgewendet von dem Manne zu ihren Füßen, doch die Hand in der seinen ließ, die er wieder und wieder küßte.

„Aber so rasch – – ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll –“ sagte sie stockend; und dennoch zuckte um den hübschen Mund ein Lächeln beglückten Stolzes.

„Wenn man so mächtig empfindet wie ich, giebt es kein Zögern. Ich liebe rasche Entschlüsse und weiß auch sofort ganz, was ich will, was ich muß. Ich weiß, daß ich Sie liebe, Therese, wußte es in der ersten Sekunde, als unsere Blicke sich trafen.“

Sie riß erschreckt die Hand aus der seinen, Julia war aufgestanden und an ihnen vorüber dem Ufer zugegangen. „Dort kommt er!“ sagte sie wie für sich und schaute dem Nachen entgegen, der über das leuchtende Wasser daherschoß.

Die beiden jungen Leute hinter ihrem Rücken sahen sich an; Therese legte den schlanken Finger auf die Lippen, und noch einmal haschte er nach ihrer Hand und fühlte einen leisen Druck derselben, dann war auch er aufgesprungen.

„Guten Abend!“ tönte es gleichmüthig dem jungen Arzte entgegen, „kommst grad’ recht, um die Bowle zu mischen. Julia, packe doch den Eßkorb aus!“

„Endlich!“ rief der Doktor fröhlich. „Just als ich vor einer Stunde fort wollte – die Mntter sagte mir, daß die Herrschaften hier seien – kam noch so ein Unglücksrabe mit blutig verhauenem Kopf, und ich mußte flicken. Grüß’ Gott, Fräulein Therese!“ Und er lagerte sich neben dem Mädchen und warf den Hut auf den nächsten blühenden Strauch. „Ist es nicht ein wahrer Prachtsabend?“ setzte er hinzu.

Und dann sah er zu Therese empor, die in der rosigen Beleuchtung so frisch erschien wie die Apfelblüthe, die sie im Gürtel trug.

„Haare haben Sie wie die Lurley selbst,“ sagte er in aufrichtiger Bewunderung, „fehlt nur noch der goldene Kamm. – Julia, Du braust doch die Bowle? So ist’s recht; ich bin auch zu müde und hatte nicht Feiertag wie Ihr.“

Sie waren alle sehr fröhlich bei dem kleinen Picknick, fröhlich, wie es zumal am Rheine junge Menschen sein können, die goldenen Wein in den Gläsern haben und heimliche Liebe im Herzen. Theresens silbernes Lachen flog alle Augenblicke mit dem warmen Westwind über den Strom hinweg, und der Doktor sekundierte ihr. Der Lieutenant lachte nur hie und da, dann that er wieder einen Seufzer und ließ die blonde Lurley leben und citierte Verse: „An den Rhein, an den Rhein, zieh’ nicht an den Rhein, mein Sohn, ich rathe Dir gut!“ und seufzte abermals. [683] Nur Julia war still. Sie kauerte auf einem Baumstamm und schaute in das verglimmende Roth des Himmels. sie hatte die Hände um ein Knie geschlungen, ihr schönes Profil hob sich scharf ab von dem hellen Hintergrund. Aber obgleich sie nicht theilnahm an der lauten Fröhlichkeit der andern, war sie doch vielleicht die Glücklichste von allen, denn ihr Vertrauen war so unerschütterlich wie ihre Liebe.

Am anderen Morgen vor Thau und Tag kam der junge Offizier schon aus dem Garten. Julia traute ihren Augen nicht. Und gleich darauf pfif er so lustig in seiner Stube, daß über ihr ernstes Gesicht ein Zug der Verwunderung glitt. Und abermals verzichtete er auf die Rheinfahrt, abermals steckte er sich in die Uniform und schritt mit demselben Säbelrasseln über den Hof wie gestern. Frau Rath, die just aus der Kirche kam, blieb in der Gasse stehen und sah ihm nach, bis er hinter der schmiedeeisernen Thür des Krautnerschen Grundstücks verschwand.

Der resoluten Frau wurde auf einmal bänglich zu Muthe. Herr Gott, wenn der etwa gar – – Aber nein, so mit Sturm konnte er doch die Burg da drüben nicht nehmen! Zuzutrauen war’s ihm zwar, eine gewisse edle Dreistigkeit hatte er stets besessen – allein das Thereschen wird doch nicht? Freilich, die Mädchen heutzutage! Ein hübscher Mensch war er doch, obwohl nach ihrer Meinung gar nicht zu vergleichen mit Fritz. „Herr des Himmels, nun da wär’ ich doch neugierig!“ Mit diesen Worten setzte sich die Räthin an ihr Fenster und wartete auf die Rückkehr des Offiziers. Sie mußte lange warten, und als er endlich kam, da wurde sie nicht recht klug aus seinem Gehaben. Er klirrte womöglich noch toller als vorher mit dem Säbel, und sein sooft bleiches Gesicht war geröthet – aber ob vor Glück oder Enttäuschung, das konnte sie nicht ergründen.

Es dauerte nicht lange, da erscholl droben seine Kommandostimme: „Julia! Julia!“

Das junge Mädchen, das bei der verdrießlichen Tante gewesen war, um mit ihr die betrübende Thatsache festzustellen, daß für die jetzige opulente Wirthschaft das Monatsgeld nicht reichen werde, und dabei manchen kleinen Hieb geduldig aufgefangen hatte, stürzte erschreckt in die Stube des Bruders.

„Hier bin ich, Frieder – um Gotteswillen, was giebt’s?“

Er hatte die Uniform aufgerissen und lief im Zimmer umher. „Kannst Du reinen Mund halten?“ fragte er endlich.

„Ich verstehe Dich nicht. Wenn Du mir etwas anvertrauen willst, so rede ich selbstverständlich nicht davon.“

„Du mußt mir helfen!“ forderte er, „hörst Du?“

„Immer, wenn’s in meiner Macht steht, Frieder.“

„Es hat eine ganz verdammte Geschichte gegeben,“ fuhr er leiser sprechend fort. „Therese und ich – –“

„Thereschen und – Du?“

„Ja, Therese und ich haben uns heute früh verlobt. Reiß’ doch die Augen nicht so auf – Du glaubst nicht, wie thöricht Du dann aussiehst. Ist’s denn etwas nie Dagewesenes, daß sich ein junger Lieutenant und ein hübsches Mädchen verloben?“

„O Gott!“ stammelte das Mädchen, „wie mich das freut!“

„Ja, hat sich was! Als ich vorhin zu dem alten Philister komme und ihn um seine Einwilligung bitte, da bedankt er sich für die Ehre, und – und – nun, kurz und gut – einen Korb, aber keinen feinen! So einen!“ Und er fuhr mit der Hand in der Luft umher, damit den Umfang dieses Korbes andeutend.

„Und Thereschen?“ fragte sie.

„Habe ich gar nicht erblickt. Ich versicherte dem alten“ – er gebrauchte eine ziemlich respektwidrige Bezeichnung, die einem Thiere mit langen Ohren zukommt – „daß Therese nicht von mir lassen würde; da erklärte er gemüthlich lächelnd und immer die Hände mit dem Siegelring am rechten Zeigefinger auf dem Magen, daß ich mich nicht ängstigen solle, die habe ‚Ordre parieren‘ gelernt und werde ‚Raison‘ annehmen. Ein furchtbarer Mensch, und sein Deutsch! Da muß sich unsereins – es ist zum Radschlagen!“

„Arme Therese! Und sie hat Dich lieb?“

„Solche Frage! Und ob! Jetzt aber will ich ihr Nachricht schicken, einen Trost, verstehst Du? Du mußt hinüber; der Alte schläft nach Tisch. Sag’, ich müsse sie noch einmal sprechen und ich bliebe ihr treu bis in alle Ewigkeit, und ihr Vater müsse sich erweichen lassen, sie sei ja doch sein Liebling, sein einziges Kind.“

Der junge Offizier setzte sich wie erschöpft in eine Sofaecke, alle Qualen der Enttäuschung zuckten in seinem bleichen Gesicht. Er schlug plötzlich hart mit der Faust auf den Tisch. „Und alles wäre gnt gewesen, alles!“ mnrmelte er.

„Ich will es Therese bestellen; Ihr thut mir leid,“ sprach Julia mitleidig. „Ich denke auch, wenn Ihr so recht zusammenhaltet, muß der Väter endlich nachgeben, er hat doch das Reschen sehr lieb – –“

Das war ein recht böser Tag. Bei Tische begann Tante Riekchen plötzlich, ohne sich vor Julia zu scheuen, die sie sonst allen Unterredungen mit dem Bruder fernhielt, mit fast heiserer Stimme dem Pflegesohn mitzutheilen, daß sie leider nicht mehr in der Lage sei, ihm ganz soviel Zulage zu geben wie bisher. Sie brachte es mit gesenkten Augen hervor, als schäme sie sich, ihre gedrückte Lage einzugestehen.

Er lachte laut und hart auf und trank sein Weinglas mit einem Zuge leer. „Gesegnete Mahlzeit!“ rief er dann, warf die geballte Serviette auf den Tisch und die Thür hinter sich zu.

Riekchen Trautmann wischte sich eine Thräne aus den Augen.

„Tante!“ sagte Mamsell Unnütz, die Hand leise und scheu auf die durchsichtige zitternde Rechte des alten Fräuleins legend, „Tante, sei nicht traurig, wir werden es schon machen, daß alles in die Reihe kommt – wir verkaufen das Haus, gelt? Und dann bist Du ganz reich, und wir miethen ein kleines neues Quartier mit der Aussicht auf den Rhein, und da mache ich es Dir so traut, so traut, daß Du dies alte große Haus, das Dir nur eine Last ist, gar nimmer vermißt.“

Aber ihre Hand wurde jäh fortgeschleudert. „Wie kannst Du auch wissen, was eigene Scholle bedeutet? Keine Spur von Pietät ist in Dir, sonst würdest Du nicht reden, als sei ein Hausverkauf dasselbe wie ein Butterbrot streichen!“

Julia sah sie traurig an. „Ach, wenn Du eine Ahnung hättest, wie ich dies alte Haus liebe“ – wollte sie sagen. Aber sie schwieg, sie schwiegen beide.

Als das junge Mädchen mit den Tellern hinausgegangen war, schlug die Zurückbleibende die Hände vor die Augen, und die Thränen quollen ihr durch die Finger. Sie hätte hinter dem Kinde herlaufen und ihrer Härte wegen um Verzeihung bitten mögen und brachte es doch nicht über sich. Julia aber schlüpfte bald danach durch die Gartenpforte vom Rhein aus in das Krautnersche Grundstück. Ungesehen kam sie in das Haus und durch den Gartensaal, der mit fast allzugroßem Reichthum an ostindischen Matten, Bambusmöbelm und japanischen Fächern ausgestattet war, in das Boudoir der Freundin. Die Jalousien der breiten Fenster waren heruntergelassen; es herrschte ein gedämpftes Licht in dem Raume und ein ganz betäubender Duft von Eau de Cologne und irgend einem süßen exotischen Parfüm, welches das junge Mädchen für ihren Toilettetisch liebte.

Die hellblauen rosageblümten Möbel mit den verschnörkelten Goldgestellchen waren unordentlich durcheinander geschoben; vor dem Kamin lagen die Scherben einer Porzellanstatuette und auf einem Ruhebett kauerte, einen zerbrochenen Fächer bewegend, im reizenden aber ganz zerknitterten weißen Anzug, mit trockenen trotzigen Augen, das Opfer ihres grausamen Vaters, Therese Krautner. Als sie der Freundin ansichtig wurde, die fast feierlich ernst an ihr Lager trat, warf sie den Kopf nach der anderen Seite und begann zu weinen.

„Armes Reschen!“ Und das blasse Mädchenantlitz bog sich über die Verzweifelte, „ach, muß das herb sein! Aber fasse Muth, Frieder läßt Dich grüßen und er bleibt Dir treu. Er schickt mich eben zu Dir, Du solltest nicht verzagen. Treue Liebe kann alles bezwingen, und der hartherzigen Väter hat es mehr gegeben, Reschen.“

„Ei – ei – ei!“ scholl es hinter ihr, „hartherzig sagen Sie, kleines Fräuleinchen?“ Und Herr Stadtrath Krautner, der unbemerkt eingetreten war, stand, die Hände auf dem rundlichen Bäuchlein gekreuzt, das rothe Vollmondgesicht zum behaglichen Lachen verzogen, hinter dem erschreckten Mädchen. „Bin durchaus kein hartherziger Rabenvater,“ sprach er weiter und strich Julia mit dem Rücken der Hand über die Wange, „bin man bloß ein erfahrener Mann, der sein verblendetes Kibd nicht mit gleichen Füßen ins Unglück springen läßt. Ja, ja ins Unglück, [684] lieb Herzchen! Aber das versteht Ihr nicht, weil Ihr allesammt grad im allerthörichtsten Lebensalter steht.“

„Lieber Herr Krautners“ – Julia hatte beide Hände erhoben – „wenn sie sich aber doch so lieben, so sehr lieben –“

„J – glauben die beiden ja selbst nicht,“ lachte er, „und der stirbt nicht dran, und die stirbt nicht dran, ich kenn’ sie besser. Und nun, Reschen, bitt’ ich mir aus, daß das Geflenn’ aufhört – hast’s verstanden!“

Das junge Mädchen hatte sich emporgerichtet. „Daß Du es nur weißt, Papa,“ rief sie mit zornigen Augen, „ich lasse nicht von ihm – nie, nie!“

„Nun, darüber reden wir schon noch,“ war die Erwiderung.

„Und wenn Du denkst, ich werd’ ihn mit der Zeit vergessen, so – –“

„Ja, das denk’ ich, Töchterchen!“

„So irrst Du Dich, und hier, in Gegenwart von Julia, sag’ ich’s Dir, hast Du nicht von heut’ ab in einem Jahre diese Verlobung zugegeben, so – –“

„Nehme ich einen andern!“ vollendete er.

„Wollen sehen,“ sagte sie.

„Ja, wollen sehen, hast recht. Und nun kannst Du Dir alles wünschen, was Dein Herz begehrt, bloß nicht zweierlei Tuch; ich spaße nicht, hab’s mal geschworen – warume? kann Dir gleich sein. Also, kein zweierlei Tuch im allgemeinen und dieses da im besonderen nicht! Nichts für ungut, kleines Fräuleinchen,“ wandte er sich an Julia, „aber sagen Sie selber – kommt mir da ein wildfremder Mensch hereingeschneit und will nicht mehr als alles, und das heißt viel, verstehen Sie? Es könnt’ manchem passen, o ja, aber wenn die da eine so Dumme ist, die sich in einer Viertelstund’ verblenden läßt – ich bin’s nicht. Klaren Kopf! heißt’s bei mir. Alois Krautner hat immer ’nen klaren Kopf, sonst hätt’ er’s nie soweit gebracht. Gehorsamster Diener!“

„Du hast eben nie geliebt,“ sagte sein Töchterlein mit verächtlich zuckender Lippe.

„Ich? Alle Wetter! Und ob! Aber mit Verstand, Du Naseweis! Und sauer hab’ ich mir’s werden lassen, ehe ich vor ihren Vater getreten bin und gesagt habe: „Gieb’ mir Deine Hanne und Deinen Segen, ich kann einen Hausstand gründen, ich kann ein Weib ernähren und noch mehr dazu.“ Da liegt der Hase im Pfeffer, merkst was? Und nun ist’s das letzte Wort gewesen, damit basta und nix für ungut!“

Er ging, machte die Thür zu, und von draußen herein erklang sein Pfeifen. Es war der Alte Dessauer, den er immer nur pfiff, wenn ihn etwas schwer erregte. Sogar als sein vergöttertes liebes Hannchen starb, war er mit herabrollenden dicken Thränen im Zimmer auf- und abgegangen und hatte sein: „So leben wir“ gepfiffen.

„Da siehst Du es, wie traurig mein Leben ist,“ sagte das hübsche Mädchen bitter und strich die wirren Blondhaare aus dem heißen Gesicht. „Verständniß, ein feineres Empfinden ist gar nicht vorhanden. Und weißt Du, Julia, als ich versuchte, ihn zu rühren, ihm erzählte, wir hätten uns unser künftiges Leben schon so schön ausgemalt, wir wollten uns in die Nähe versetzen lassen; seine herrliche Heimath, sein Rom, hätte er mir zeigen wollen auf der Hochzeitsreise, da lachte er, als hätt’ ich den köstlichsten Witz gemacht, und meinte, das sei für zwei Tage der Bekanntschaft alles mögliche! Und ob wir uns auch schon einen Bädeker gekauft hätten? Und er und Mama hätten vor Zeiten in einem Ding von Hotel gewohnt in Rom, wo sie sich äußerst wohl befunden haben würden, wenn sie einen Ofen und recht viel Insektenpulver gehabt hätten. O Gott, wie kann man das Heiligste so herabziehen! Aber Du, Julchen, Du mußt uns helfen!“ rief sie aufspringend. „Bleibt Vater so halsstarrig, dann laufen wir davon – ja bei Gott! Sag’s dem – dem Lieutenant Adami – ich –“ Sie stockte plötzlich, es kam ihr wohl etwas stark vor, dem Lieutenant den Vorschlag machen zu wollen. „Wenigstens,“ fuhr sie kleinlaut fort und zupfte an ihrem Taschentuch, „wenigstens mußt Du unsere Briefe vermitteln, uns helfen, daß wir uns sehen können, lieb Julchen!“

Julia antwortete nicht; sie sah starr vor sich hin, eine kleine düstere Falte zwischen den schön geschwungenen Brauen.

„Hörst Du?“ rief Therese ungeduldig, „Du sollst uns helfen! Heut’ abend noch will ich ihn sprechen! Du hast Dein Bodenstübchen, Dein Atelier, niemand wird uns dort suchen und Du mußt zu Deiner Tante sagen, es sei – –“

„Nein!“ kam es kurz und hart von Julias Lippen.

„Deinen eigenen Bruder willst Du nicht unterstützen? Mich nicht, Deine einzige Freundin?“ rief Therese, die sich vor dem Spiegel die Stirnhärchen ordnete und ein Tuch, in kaltes Wasser getaucht, gegen die Augen drückte.

„Nein, Therese, eben weil er mein Bruder ist. Ich will nicht dazu helfen, daß es aussieht, als wolle er Dich aus reinem Eigennutz, und – ich denke, Ihr helft Euch allein. Echte Liebe kommt schon zum Ziele.“

„Bist Du ein albernes Ding!“ fuhr das blonde Mädchen zornig heraus. „Wie soll ich mir allein helfen? Kennst Du meinen Vater noch nicht? Kein Brief kommt anders in das Haus als in verschlossener Postmappe, und bewachen wird er mich von Stunde an auf Schritt und Tritt, und –“

„Mit dem Heimlichthun und dem Schreiben hinter seinem Rücken werdet Ihr Euch allerdings nicht helfen. So meinte ich es nicht,“ antwortete Julia. „Zeig’s dem Vater, daß Deine Liebe stark und treu ist, er wird sich dann doch erweichen lassen; und am Ende, wenn Dich der Frieder gerade so stark und ehrlich liebt, wird er Dir zulieb auch etwas anderes werden als Offizier, er ist doch noch jung – wenn’s eben nur das ist, daß Dich Dein Vater keinem Offizier geben will. Darin würde ich meinem Bruder zureden.“

„Sehr gütig!“ klang es gereizt und enttäuscht zurück. „Aber ich meine, er ist just zum Offizier geschaffen, und meinetwegen soll er nicht umsatteln.“

„Auf den Stand kommt’s doch nicht an, wenn Ihr Euch so gern haben wollt!“ rief Julia entrüstet. „Liebst Du den Rock oder den Menschen?“

Therese antwortete nicht.

„Wenn er nun, zum Beispiel, Landwirth werden könnte?“ drängte Julia.

„Bitte,“ stieß Therese ärgerlich hervor, „spar’ Deine Rathschläge, die von sehr großem Mangel an Lebensklugheit zeugen. Geh’ lieber zu ihm und sage, daß ich ihn noch einmal sprechen will, das kann kein Mensch mir verwehren. Oder nein, laß es – Du machst ja ein Gesicht, als ob ich Dich zum Stehlen verführen wollte. Nicht einmal dazu bist Du zu gebrauchen! – – Gott im Himmel, ich verlange jetzt nur noch eins von Dir, bekümmere Dich nicht um die ganze Geschichte, gieb mir die Hand darauf, ich werde mir allein helfen – so. Sag’ dreimal ‚Wahrhaftig‘ darauf, daß Du keiner Seele gegenüber mich verrathen willst.“

Julia hatte die Hand gegeben, aber sie blieb stumm. Und Therese achtete nicht mehr auf das ernste Gesicht der Freundin. Sie saß am Tische und schrieb mit fliegender Eile ein paar Worte auf einen blaßlila Bogen mit goldenem Monogramm. „Leb’ wohl!“ murmelte Julia und ging betrübt durch den Garten zurück nach dem heimathlichen Grundstück.

Unter den Nußbäumen stand der Bruder; er sah noch blasser und nervöser aus als sonst. „Nun?“ fragte er ungeduldig, „Du bist eine Ewigkeit geblieben, wie auf der Folter ist mir’s vorgekommen. Was sagte sie?“

„Sie will Dir treu bleiben, Frieder – aber –“

„Aber?“

„Aber der Vater will’s nie zugeben.“

Er athmete auf. „Wenn sie nur will –“ sagte er leise.

Er dankte der Schwester nicht einmal; eilig schritt er nach seiner Stube hinauf und schrieb an Moses Aronsohn in Berlin, daß besagter Herr sich noch ein Weilchen gedulden möge; er habe eine reiche Partie so gut wie sicher, es sei nur noch der Widerstand des Vaters zu überwinden. Wenn aber Herr Aronsohn die Klage beim Regiment einreiche, so sei diese Heirath in Frage gestellt und er bekomme dann nichts, da seine Tante ihr Vermögen verloren habe. Ergebenst u. s. w. Er trug den Brief selbst zur Post und kehrte mit leichterem Herzen zurück, als er es seit Monaten gehabt. Und in der Nähe des Hauses ging langsam ein hübsches Dienstmädchen an ihm vorüber und schob ihm ein kleines blaßlila Couvert in die Hand. Seine Augen leuchteten auf, und kaum war er in seinem Zimmer angelangt, als er hastig den Umschlag erbrach. Therese bat ihn in das

[685]

Photographie im Verlag von E. Lecadre u. Co., Paris.
Die Musikanten.
Nach einem Gemälde von Ch. Meisonnier.

[686] alte Gartenhäuschen ihres Grundstücks zu kommen „in der neunten Stunde, wenn Papa in der ‚Traube‘ sitzt.“

Als Julia schon am Einschlafen war, so gegen elf Uhr, wurde sie durch ein Klirren an ihrem Fenster emporgeschreckt. Sie kannte des Bruders Gewohnheit von früher her, Kies an die Scheiben zu werfen, wenn er das Haus verschlossen fand. Sie kleidete sich rasch an und huschte die Treppe hinunter, um die Hausthür zu öffnen, in der stets der Schlüssel von innen stecken blieb – die Räthin wollte es so, weil dann die Dietriche der Diebe machtlos seien. Ueber die Schwelle trat Frieder.

„Ihr geht wahrhaftig mit den Hühnern zu Bett,“ scherzte er und schritt ganz leise, eine lustige Melodie summend, die Treppe hinan. „Gute Nacht!“ flüsterte er vergnügt droben im finsteren Flur und hielt die Schwester am Aermel fest. „Die Therese ist ein süßer Schatz, sag ich Dir; und Mädel, wenn die Hochzeit ist, schenke ich Dir ein Staatskleid, verstehst Du? Und nun sei gut und lieb zu meiner kleinen Braut und spiele Dich nicht als moralischen Richter über uns auf. Wenn Du erst einmal selbst einen liebst, wird Dir’s einleuchten, daß man vor solch altem Philister nicht gleich ‚kusch‘! macht und daß so was Heimliches auch sein Schönes hat. Aber ich glaube, Du Eiszapfen kannst Dir gar keine Vorstellung machen vom ‚Gernchaben‘. Gute Nacht und – Verschwiegenheit! Verstanden? Sonst geht die Sache in die Brüche.“

„Gute Nacht!“ sagte sie, und in ihrem Abendgebet hatte sie noch etwas mehr vom lieben Gott zu verlangen als sonst; daß er helfen möge, die beiden zusammenzuführen, daß er ihnen Kraft gebe, alle die Schwierigkeiten zu überwinden, und den Sinn des Vaters zur Nachgiebigkeit lenke.


Das Gesicht der Räthin hatte nie so von innerer Befriedigung geleuchtet wie in diesem unfreundlichen Spätherbst; während sie sonst dem Winter seufzend entgegenblickte, freute sie sich heuer über jedes welke Blatt, das der Sturm von den Bäumen nahm. Denn diesen ewigen Regengüssen und Stürmen verdankte sie theilweise den Sonnenschein in ihrem Gemüth.

Die ältesten Leute im Städtchen konnten sich kaum auf einen so unfreundlichen Herbst besinnen, Grippe und Gicht standen in Blüthe, und Kinderkrankheiten traten epidemisch auf; die Schelle des jungen Herrn Doktors ward den ganzen Tag gezogen, und mit wichtiger Miene notierte Frau Minna die Namen der Hilfesuchenden auf der Schiefertafel an der Stubenthür des Sohnes.

Als hätte sie die größte Glückseligkeit zu verkünden, so strahlend trat sie dann ihrem Fritz entgegen, der naßgeregnet und müde heimkam, um ihm zu verkünden, daß er sich beeilen müsse, denn Fabrikbesitzer Lindemann habe wahrscheinlich einen Schlaganfall, und die Kinder des Gymnasiallehrers seien nun glücklich auch samt und sonders mit allen Zeichen des Scharlachs ins Bett gesteckt worden, und Schuster Märtes alte Mutter stöhne unter ihrem Herzkrampf.

„Es geht nicht mehr so,“ erklärte der junge Arzt eines Tages, als infolge der Erkrankung des Doktor Kortum die Anforderungen wuchsen und wuchsen. „Es geht nicht mehr, ich kann’s nicht schaffen, die ganze Praxis des Onkels Kortum mit zu versehen, wenn ich um jedes geschwollene Gesicht, um jeden Bonbonhusten elne Krankenvisite machen muß. Ich will mir Sprechstunden einrichten, die Leichtkranken müssen zu mir kommen.“

„Das wird gut sein,“ gab die Mutter zu. „Ja, Fritz, das hättest Du selbst nicht gedacht, daß Du in solcher Schnelligkeit der beliebteste Arzt hier werden würdest!“

„Nun, das ist der Reiz des Neuen,“ antwortete er ausweichend und ging in sein Zimmer, um eine Anzeige für das Wochenblatt zu verfassen„ die den Bewohnern von Andersheim mittheilen sollte, daß Doktor Roettgers Sprechstunden von acht bis neun früh und von drei bis vier nachmittags stattfinden, Sonntags und Mittwochs neun bis zehn Uhr unentgeltlich für mittellose Kranke.

Nun saß die Räthin jeden Morgen und jeden Nachmittag hinter den Gardinen ihrer Wohnstube am Fenster und zählte die, die „mühselig und beladen“ zu ihrem Fritz kamen.

Und wahrhaftig, eine noble Kundschaft schritt über den alten Hof in die geöffnete Hausthür, um sich Rath zu holen, sogar aus den allerersten Familien, Mütter mit ihren jungen Töchtern und die jungen reichen Fabrikantenfrauen mit ihren Kindern, denn Fritz hatte den Ruf eines tüchtigen Kinderarztes im Umsehen errungen; und selbst die schöne räthselhafte Witwe, die aus Rußland sein sollte und in ihren schwarzen Kreppschleier förmlich eingewickelt schien, kam eines Tages, und die Räthin erschrak beinahe vor der Schönheit dieses marmorblassen Gesichtes. „Gott behüte ihn,“ sagte sie für sich, „daß er sich nicht in so etwas verliebt, das nichts hat und nichts ist!“

Am liebsten hätte sie sich drüben ins Wartezimmer gesetzt und ein wenig geschwatzt mit all den Kranken, allein das wagte sie nicht, selbst dann nicht, als ihre beste Freundin, die Frau Bürgermeister, erschien in Begleitung ihrer Köchin, die einen schlimmen Finger mitbrachte. Eines Tages aber kam der Sohn ihrem Herzenswunsch entgegen.

„Mutter,“ sagte er, „mach’ Dir doch zuweilen ’mal während der Sprechstunde etwas im Wartezimmer zu schaffen; erstlich werden sich dann die Leute genieren und sich nicht gegenseitig zum Fürchten bringen mit den haarsträubendsten Krankengeschichten, und fürs zweite unternehmen auch die lieben Sprößlinge in Deiner Gegenwart nicht wieder Attacken auf mein Mikroskop und sonstige Apparate.“

Die Räthin holte sich am andern Morgen ihre Staatshaube aus dem Kasten und zog ihr „gutes Schwarzwollenes“ an, band die seidene Schürze vor und präsidierte mit stolz geröthetem Gesicht im Vorzimmer ihres Sohnes. Leider erfaßte sie die Aufgabe mit ihrer vielgerühmten Offenheit und Energie. Die junge Frau Amtmann, die auf Befragen der Räthin stockend erklärte, daß sie gar so viel huste, bekam den Trost, daß ja ihre beiden älteren Schwestern auch in ihrem Alter angefangen hätten zu husten und danach so bald an der Schwindsucht gestorben seien. „Und wenn ich Ihre Mutter gewesen wäre, junges Frauchen,“ schloß die würdige Dame, „ich hätt’ Ihnen nie das Heirathen erlaubt, sondern hätt’ Sie aufgeladen und wär’ mit Ihnen nach dem Süden gegangen.“

Der armen kleinen Frau schossen die Thränen in die Augen. Sie liebte das Leben, sie liebte ihren Mann und ihren dicken Säugling so sehr, und als sie nachher vor dem jungen Arzte saß, schüttelte den zarten Körper ein Weinkrampf, und unschwer holte Fritz heraus, was für einen Trost seine Mutter da draußen gespendet habe. Und kaum war er im Begriff, die einigermaßen beruhigte Kranke zu untersuchen, so gellte im Vorzimmer ein so fürchterliches Kindergeschrei, daß er erschrocken hinausstürzte.

Da hatte seine Mutter den fünfjährigen Knaben eines Bahnbeamten auf dem Schoße, der mit blassem furchtverzerrten Gesicht hinunterstrebte und dabei ein Angstgebrüll ausstieß.

„Allmächtiger Gott, was ist denn los, Mutter?“ fragte er.

„Der dumme Bub’ hat mir sein bös Fingerchen zeigen müssen, und da hab’ ich aus Scherz gesagt, Du thätest ihm nachher mit so einem langen Messer das Nägelchen ausschneiden, weil es doch nur vom zuvielen Birnenessen gekommen sei,“ berichtete sie ärgerlich.

Der Doktor schüttelte den Kopf und hatte Mühe, den kleinen Burschen zu besänftigen. Frau Minna aber machte ob des Kopfschüttelns eine beleidigte Miene, sagte noch einmal etwas von einem „dummen Bub’“ und verschwand; es war ohnehin heute nichts Interessantes mehr da.

Gegen Abend hatte sie ihr verunglücktes Debüt schon vergessen; sie hantierte in des Sohnes Zimmer umher, wo sie ihm ein besonders fein gesticktes Faltenhemd zurechtlegte neben den eigenhändig gebürsteten Frack; sie wollte heute Staat machen mit ihm, denn der erste Kasinoball fand statt. Die alte Dame selbst trug zu dem Morgenrock bereits die Gesellschaftshaube, die mit großen goldenen Nadeln auf dem grauen Haare befestigt war.

„Hoffentlich ruft Dich niemand heute ab,“ sagte sie; „es sieht zwar nach etwas aus, wenn Du so recht eilig vom Tische fortgeholt wirst, aber es wär’ mir doch schade um die Lackstiefel in dem Regenwetter.“

Er schielt nicht in rosigster Laune und antwortete ganz obenhin, während er sich erschöpft aufs Sofa warf. Die Mutter aber nahm die Zeit wahr, die ihr bis zum Beginn der Toilette noch blieb, und indem sie ihrem Fritz eine Tasse Kaffee eingoß, versuchte sie noch einmal, sich wegen heute früh zu rechtfertigen.

[687] „Ich hab’ die kleine Frau Amtmann immer für ein Gänschen gehalten,“ zog sie herzhaft los, „aber für ein so extra dummes doch nicht; gleich so ein Geflenne, als ob’s die größte Neuigkeit für sie wär’, daß ihre Schwestern an der Schwindsucht gestorben sind.“

„Man erinnert aber doch nicht die Kranken an dergleichen!“

„Erst recht!“ rief sie und blieb, die Arme in die Seiten gestemmt, vor dem Doktor stehen. „Du willst sie doch nicht etwa glauben machen, daß sie noch hundert Jahre zu leben hätt’?“

„Aber, Mutter, es liegt doch auf der Hand, daß man die Patienten weder ängstigen noch mit derartigen Erzählungen aufregen darf!“

„Doch! Da bin ich anderer Meinung – grad’ recht angst machen, damit sie sich in acht nehmen! Paß nur auf, die quält ihren Mann heuer nicht, daß er mit ihr auf die Bälle geht, und –“

„Wärst ein ausgezeichneter Arzt, Mutter,“ rief er, in etwas gezwungenem Scherz. „Aber nun wird’s Zeit, Du mußt Dich fein machen. Bitte, geh’ dann voraus – es kann sein, daß ich ein Viertelstübdchen später im Ballsaal erscheine; ich habe noch einen Brief zu schreiben.“

Die Räthin verschwand, und er blieb noch ein Weilchen sitzen. Dann stieg er die Treppe empor und pochte an Tante Riekchens Thür. „Ist Mamsell Unnütz da?“ fragte er in die Dunkelheit hinein.

„Nein!“ klang es zurück.

„Wo ist sie denn?“

„Ja, das mag Gott wissen,“ seufzte Tante Riekchen, „ich sah sie schon seit Dunkelwerden nicht mehr. Sie ist ja so sonderbar; vielleicht grämt sie sich, daß sie nicht auf den Ball gehen darf, aber ich hab’s nicht dazu, nicht einen Dreier kann ich ausgeben für solche Geschichten.“

Und so ein klein wenig hatte Fräulein Riekchen diesmal recht. Julias Gesicht war während des Mittagessens um einen Schein bleicher geworden, gerade als das Dienstmädchen der Frau Räthin kam, um das Fräulein Julchen im Namen ihrer Herrin zu bitten, an dem schwarzseidenen Gesellschaftskleid besagter Dame die Spitzen etwas moderner zu ordnen, und als das Mädchen hinzusetzte. „Sonst war das der Frau Räthin ganz egal, aber weil sie heut’ mit unserem Herrn Doktor geht, will sie besonders fein sein.“

Mamsell Unnütz hatte aufs gewissenhafteste das Gewünschte besorgt und dabei die Schilderung solcher Andersheimer Kasinofeste in den herrlichsten Farben vorgemalt erhalten. Der redseligen Frau kam es gar nicht in den Sinn, daß einem jungen Menschenkind das Herz davon schwer werden könne. Mamsell Unnütz war ihr gar nicht denkbar auf einem Balle; aber dem schlanken Mädchen, das dort so eifrig das alte Spitzenwerk auf der raschelnden Seide befestigte, trieb die Sehnsucht ein paar funkelnde Thränen in die Augen. Ach, es war ihr ja nicht um all den Glanz dort, nur darum, daß er hinging – ohne sie. Ein peinigendes Gefühl überkam sie plötzlich, sie kannte es nicht, sie empfand nur seinen Schmerz und wußte nicht, daß es – Eifersucht hieß.

Mit zitternden Händen beendete sie die Näherei, warf das Kleid hastig über einen Stuhl und lief hinaus. Im Flur blieb sie stehen. Wohin nur gleich mit ihrem Weh? Sie öffnete die Thür, die nach dem Garten führte, und trat unter das kleine Vordach. Der Regen plätscherte hernieder, der Wind bog die Aeste und durch die graue Dämmerung leuchteten ein paar helle Fenster herüber. Ja dort, in der eleganten Villa bei Krautners, da saß auch eine, die nicht glücklich war, die einsam bleiben würde heute abend, während alle anderen sich freuten – einsam und mit der nämlichen Sehnsucht im Herzen wie sie. Und da trieb es sie auf einmal durch den Regen und Sturm zu der Freundin hinüber, die sie mehr und mehr vermieden hatte, seitdem sie des Bruders Braut geworden war. Sie wollte in ein Paar Augen sehen, das auch nicht heiter blickte, sie wollte Therese einmal wieder die Hand drücken.

Sie hatte ihr wollenes Tuch über den Kopf gezogen und war durch die nassen Wege der Gärten geeilt; nun stand sie auf den Mosaikfliesen des erhellten Flurs vor Theresens Thür und pochte.

„Herein!“ klang es fröhlich.

Mamsell Unnütz drückte die Klinke und stand dann auf der Schwelle mit dem Ausdruck eines Kindes, das wahr und wahrhaftig ein Märchen schaut. Strahlend hell war das kleine heimliche Nest erleuchtet, die Flammen der Gaskrone glänzten in den seidenen Falten der Wanddraperien und funkelten wie Hunderte blitzender Sternchen aus dem duftigen blaßblauen silberdurchwirkten Kleide des schönen Mädchens, das sich in heller Lust vor dem großen Spiegel wandte und drehte.

„So tritt doch herein!“ rief Therese, „das Zimmer wird kalt. Aber es ist lieb von Dir, Julchen, Du kannst mir ’mal helfen, das Ding hier ins Haar zu thun.“ Und sie hielt dem Mädchen einen kleinen Brillantstern entgegen, der in allen Farben des Regenbogens strahlte und sprühte. „Gelt, das Ding ist hübsch, Julchen? Denk’ Dir, der Papa hat’s mir heut’ geschenkt.“ Und sie probierte nun selbst, wo das blitzende Schmuckstück sich am besten ausnehmen würde, und steckte es geschickt über der Stirne fest, die von goldenen hochfrisierten Haarwellen umgeben war.

„Gefalle ich Dir?“ fragte sie dann und goß eine Fluth Eau de Cologne über die Hände.

Mamsell Unnütz war an dem kleinen Kamin stehen geblieben und hatte unwillkürlich ihr regenfeuchtes dunkles Kleid an sich gezogen. „O sehr, o sehr!“ antwortete sie, „aber – –“

„Nun – aber?“ fragte Thereschen und begann ihre ellenlangen Handschuhe anzuziehen, während sie die Jungfer hinausschickte, um den Papa zu holen.

„Aber ich dachte – Du – würdest nicht auf den Ball gehen, Therese?“

„Da hast Du eben etwas Falsches gedacht. Warum soll ich nicht gehen? Man lebt nur einmal, und vom Trübsalblasen wird es nicht anders in der Welt.“

„Gewiß nicht; ich bildete mir nur ein, es mache Dir kein Vergnügen.“

Therese wurde einer Antwort überhoben denn Herr Alois Krautner erschien in seiner lebhaften Art und begrüßte sein schönes Töchterlein mit einem lauten „Bravo, bravo, Reschen!“

„Und sieh, Papa, wie herzig das Sternchen da oben flimmert!“ rief sie und wandte ihm das Köpfchen zu.

„Ja, ja! Dafür flimmert’s etwas weniger in meinem Geldbeutel,“ lachte er, und Julia auf die Schulter klopfend, setzte er hinzu. „Einsperren müßt’ man den Alois Krautner wegen seiner Verschwendungssucht, aber was soll man denn machen? Sie will eben alles haben, was Mod’ ist, alles was Mod’ ist – bloß . . . sie bekommt nicht alles, heut’ ist’s mal geglückt, aber immer geht’s nicht so, gell, mein Mäuschen?“

„Ei freilich, Deinen Willen setzt Du durch“ nickte sie, scheinbar schmollend, und als sich der alte Herr umwandte, machte sie eine kleine unartige Geste hinter ihm und lachte wie ein Kobold.

„Dafür bin ich auch der Herr im Hause!“ rief er gut gelaunt. „Aber weißt Du, was ich wollte?“ – und er blieb ganz andächtig vor seiner schönen Tochter stehen – „daß Dich die Mutter sehen könnt’ heut’ abend.“ Und dann zog er das rothseidene riesige Taschentuch, schnaubte sich, daß es wie ein Trompetenstoß in die Ohren der Mädchen dröhnte, steckte das Tuch hastig wieder ein und ging der Thüre zu, indem er pfiff: „So leben wir, so leben wir – –“

„Er ist ganz gerührt,“ sagte Therese und drehte sich vor dem Spiegel; „sitzt eigentlich die Taille gut?“

„Ich glaube ja – gute Nacht, Therese, und viel Vergnügen!“

„Bleib’ doch, der Wagen ist noch nicht da.“

„Ich muß heim; gute Nacht!“

In diesem Augenblick kam die Jungfer und hielt etwas versteckt unter der Schürze. Julia hörte, wie sie leise sagte: „Heut’ sind’s gar zwei Stück auf der Post gewesen, Fräulein Therese,“ und sah, wie die feine behandschuhte Rechte des schönen blonden Mädchens zwei gelbliche Briefe hastig ergriff und sie in ein Kästchen von japanischer Lackarbeit warf, das auf einem kleinen Tischchen aus Bambusstäbchen und Seidenplüsch stand. Julia kannte sie genau, diese Briefe, sie waren von Frieder; er schrieb stets auf dieses theure parfümierte Luxuspapier. Therese hatte ihr den Rücken zugekehrt und wandte sich auch nicht um, als die Freundin das Zimmer verließ; aber Julia sah im Spiegel, daß auf dem schönen Gesicht ein entstellender Ausdruck von Unmuth lag. (Fortsetzung folgt.) 


[688]

Ein Gruß an die Deutschen in Nordamerika.

Zur deutschen Gedenkfeier in Louisville am 21. October 1892.[1]

Schon zwei Jahrhundert’ floß die Fluth
Des Völkerstroms gen Westen,
Eh’ sich in ihn germanisch Blut
Ergoß in tausend Aesten. –
Verrauscht aufs neu zweihundert Jahr’,
Seitdem in Schmerzenstagen
Mußt’ um die erste Flüchtlingsschar
Die deutsche Heimath klagen.

Heut’ klagt sie nimmer, schaut mit Fug
Stolz auf die tapfern Sprossen,
Die furchtlos einst mit Axt und Pflug
Den Urwald sich erschlossen,
Die mühsam durch der Steppe Grund
Den Weg gewußt zu bahnen – –
Die Söhne will durch Sängers Mund
Die alte Heimath mahnen.

Verrostet lang hing Deutschlands Wehr –
Das Reich zerstückt, zerschlagen!
Von deutscher Freiheit, Macht und Ehr’
Ging’s nur noch um in Sagen.
Getrennt durchs Weltmeer, saht ihr kaum
Noch Deutschlands Sterne scheinen –
Nur manchmal hörtet ihr im Traum
Die alte Heimath weinen.

Da kam der Tag, wo erz’ner Klang
Aufrüttelte die Stämme;
Da brach des Volkes Einheitsdrang
Wie Sturmfluth alle Dämme;
Da reckt’ des Reiches Riesenbau
Sich auf mit Thurm und Zinken –
Hoch saht ihr über Meeresblau
Die alte Heimath winken!

Ihr Brüder in der neuen Welt,
Seid eins auch ihr im Ringen!
Wenn Deutsch mit Deutsch zusammenhält,
Wer wollt’ es da bezwingen?
Dem Staat, den ihr euch wähltet, treu
Doch treu auch ohne Wanken
Euch selbst – dann wird euch immer neu
Die alte Heimath danken!

Habt drüben auch in freiem Land
Ihr neues Heim erstritten –
Wahrt deutsch das Herz und deutsch die Hand,
Bleibt deutsch in Sein und Sitten!
Sterbt ihr dereinst in solchem Bund –
Mit Mutterlaut, dem süßen,
Wird segnend noch in letzter Stund’
Die alte Heimath grüßen!
  Ernst Scherenberg.


Der Schreibkrampf.

Wie der Mensch den Verstand als das Vermögen aller Vermögen vor allen Thieren erhalten hat, so ist ihm auch die Hand als das Werkzeug aller Werkzeuge verliehen worden. Sieh einmal hin auf alle die Körper, die ein Mensch zu ergreifen vermag, vom größten, wozu er beide Hände braucht, bis zum kleinsten, einem Hirsekorn, einem feinen Dorne oder einem Haare, und sieh die Hand jeden dieser Körper für sich fassen, jedesmal wirst Du finden, daß die Hand so genau zum Gegenstand paßt, als ob sie gebaut wäre, nur ihn zu fassen.“ Mit diesen Worten rühmt der altrömische Arzt Claudius Galenus die menschliche Hand, welche neuere Forscher sogar höher als ein Werkzeug stellen und einem Sinnesorgan gleich erachten. Und wie groß ist in der That die Kunstfertigkeit der Hand! Wie rasch können sich ihre Finger bewegen! Ein geübter Klavierspieler kann die Hand sechsmal in der Sekunde beugen und strecken und ein Violinspieler den Mittelfinger zehnmal in der Sekunde bewegen, und jede dieser feinen Bewegungen ist genau einem bestimmten Zwecke angepaßt! Wie rasch fliegt die Hand eines geübten Schreibers über das Papier! Wie viel feine, genau abgegrenzte Bewegungen müssen nicht die einzelnen Muskeln der Finger, der Hand und des Vorderarms ausführen, um die Buchstaben eines Wortes hervorzuzaubern! Ist es ein Wunder, daß die Hand bei dieser Arbeit ermüdet, daß sie unter Umständen die Anstrengung auf die Dauer nicht ertragen kann und schließlich den Dienst versagt? Wer hat nicht von einem gefürchteten Leiden der Hand, von dem Schreibkrampf, gehört?

Oft stellt sich dieses Uebel ganz unmerklich ein, es wird durch die Ermüdung eines oder mehrerer Finger oder auch der ganzen Hand, durch ein leichtes Stechen, Zucken, manchmal auch durch zeitweiliges Zittern angekündigt, wobei man Unsicherheit beim Schreiben und Lahmheit im ganzen Arme verspürt. Oft aber bricht es auch ohne Vorboten über den fleißigen Arbeiter herein.

„Man schreibt, scheinbar noch ganz gesund und seiner Federführung sicher,“ berichtet Julius Wolff, der ausgezeichnete Kenner des Schreibkrampfes, „da plötzlich macht sich ein heftiges Zucken in einem Schreibfinger oder ein Ziehen durch die ganze Hand fühlbar, stechend und krampfartig, die Feder entfällt der Hand, sie wird weggeschleudert, es schmerzt im Unter- oder Oberarm bis zur Schultergegend, die Hand dreht sich bald rechts, bald links, es hebt sich der Unterarm, die Finger versagen den Dienst, sie gehorchen dem Willen nicht mehr; bald beugen, bald strecken sie sich krampfhaft, und kein noch so scharfer Befehl, den das Gehirn durch die Nerven ihnen zukommen läßt, findet Beachtung. Wie heftig dies auf den seelischen Zustand des Kranken einwirkt, läßt sich nicht in Worte kleiden.“

Dieser peinlichen Erkrankung sind aber nicht allein Leute ausgesetzt, die viel schreiben. Der Krampf bedroht alle, welche durch Handfertigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Nähen und Stricken, Klavier- und Violinspielen, Telegraphieren, Malen und Zeichnen, ja selbst Melken kann plötzlich durch den Eintritt des Krampfes unmöglich gemacht werden. Alle diese verschiedenen Erkrankungen der Funktionen der Hand, die „Handneurosen“, beruhen mit dem Schreibkrampf auf einer und derselben Ursache.

Wohl ist der Schreibkrampf keine gefährliche Krankheit im ärztlichen Sinne des Wortes, er bedroht nicht das Leben; aber er ist eine schwere in sozialer Hinsicht, denn er macht vielfach dem Menschen die Ausübung seines bisherigen Berufes unmöglich, er macht ihn arbeitsunfähig. Manche versuchen wohl, da ihre Rechte erlahmt ist, mit der Linken zu arbeiten, aber der Schreibkrampf ist tückisch; nach kurzer Zeit stellt er sich auch in der linken Hand ein.

Und was die Krankheit bis vor wenigen Jahren noch schwerer erscheinen ließ, war die Thatsache, daß die Wissenschaft ihr machtlos gegenüber stand. Eine große Zahl von Heilmitteln wurde gegen sie versucht: Wechsel des Federhalters in Bezug auf Schwere und Umfang, Einnehmen von Arzneien wie Belladonna oder Arsen, Schreiben mit Gänsefedern, Waschen der Hand mit verschiedenen Wassern, Sehnenschnitt, Elektricität, hohe Bergluft, See-, Moor- und andere Bäder, Kaltwasserkur, Armbänder u. a. mehr. Man beobachtete dabei wohl hier und dort eine vorübergehende Besserung, wirkliche Heilungen nur in Ausnahmen.

Ein Fortschritt war es, als man verschiedene Arten des Schreibkrampfes zu unterscheiden anfing. Man erkannte, daß derselbe durch organische Störungen in den Centralorganen, im Gehirn und Rückenmark, verursacht werden kann, und fand, daß gegen diese Art des Leidens eine allgemeine stärkende Behandlung, durch Elektricität u. dgl., sich heilsam zu erweisen vermag. Man gelangte aber auch zu der Ueberzeugung, daß weitaus die meisten Fälle auf Uebermüdung und Ueberreizung der Muskeln der Hand und des Armes zurückgehen. Zu Anfang der siebziger Jahre, als die Massage und die Heilgymnastik mehr und mehr in Aufnahme kamen, da tauchte in ärztlichen Kreisen die Vermuthung auf, daß diese Kuren sich auch zur Heilung dieser zweiten Art des Schreibkrampfes geeignet erweisen dürften.

Um diese Zeit wirkte Julius Wolff als Schreiblehrer in

[689]

Idylle des Alters.
Nach einem Gemälde von A. Hengeler.

[690] Frankfurt a. M. Unter den Schülern mit fehlerhafter Handschrift, die ihm zugewiesen wurden, befanden sich auch solche, die, ohne es zu wissen, mit den Anfängen des Schreibkrampfes behaftet waren. Diesen Bedauernswerthen war auf dem gewöhnlichen Wege des Schreibunterrichts nicht zu helfen, und der Lehrer sah sich darum nach anderen Hilfswitteln um. Er begann den Schreibkrampf zu studieren und fand sich durch den Gegenstand bald derart gefesselt, das er ihn zu seinem besonderen Studium erhob. Durch Rücksprache mit Aerzten, durch den Besuch von anatomischen und physiologischen Vorlesungen wußte er sich die nöthigen Kenntnisse über den Bau der Hand und ihre Funktionen zu erwerben. Bald war ihm die Bedeutung eines jeden Bandes, Muskels und Gelenkes klar; er vermochte mit Bestimmtheit zu erkennen, welche Muskelgruppen und in welcher Art sie bei verschiedenen Formen des Schreibkrampfes erkrankt waren, und auf dieser umfassenden wissenschaftlichen Grundlage baute er seine Behandlung des Schreibkrampfes vermittelst Massage und Gymnastik auf, mit der er denn auch bald in rascher Folge zahlreiche Heilungen erzielte.

Das Verfahren Wolffs bildet kein Geheimniß. Es beruht auf aktiver und passiver Gymnastik der Beuge- und Streckmuskeln der Hand, des Unterarmes, sowie der ganzen Muskulatur des Oberarmes, und auf Massage der gleichen Körpertheile. Nach einiger Zeit werden eigenthümliche elementare Schreibübungen angestellt. Während der Kur, die etwa zwei bis drei Wochen dauert, werden täglich drei Sitzungen zur Ausübung der Massage und Gymnastik abgehalten.

Wenn somit die Grundlagen der Wolffschen Behandlungsart jeder Arzt leicht erfassen kann, so verhält es sich mit der Ausübung derselben ganz anders. Diese muß jedem Krankheitsfall genau angepaßt werden; vor allem müssen die wirklich erkrankten Muskeln erkannt und in besonderer Weise der Massage und Gymnastik unterworfen werden. Dazu gehören aber reiche Erfahrung, genaue Kenntniß der vielseitigen Erscheinungen des Schreibkrampfes und ein gewisses natürliches Geschick. Wie viele Nachfolger Julius Wolff auch gefunden hat, er ist auf diesem Gebiet der Meister geblieben. Treffend und offen äußerte sich darüber Prosessor Nußbaum: „Obwohl Herr Wolff aus seiner Methode kein Geheimniß macht und selbe jedem wißbegierigen Arzte erklärt, so hat sie ihm doch niemand noch mit gleichem Erfolg nachgemacht. Man kann wirklich sagen, die guten Heilresultate des Herrn Wolff beruhen auf seiner persönlichen Uebung und Geschicklichkeit. Er weiß jene Muskelgruppen, die der stärkenden Gymnastik bedürfen, genauer zu fixieren als unsere minutiösesten Elektrotherapeuten.“

Die Heilerfolge Wolffs beziehen sich, wie wir bereits angedeutet haben, nur auf diejenigen Fälle von Schreibkrampf, bei welchen keine Störungen in den Centralorganen vorliegen. Wie erfreulich die Errungenschaften Wolffs an und für sich waren, ein Umstand war doch betrübend: nur verhältnißmäßig wenige Kranke konnten der Wohlthat der neuen Behandlungsart theilhaftig werden.

Um diesem Uebelstand abzuhelfen, hat Wolff beschlossen, zu Frankfurt a. M. eine Anstalt zu errichten, in welcher Unbemittelten, die von Aerzten empfohlen sind, unentgeltliche Behandlung zu theil wird. In kurzer Zeit hofft er es mit Hilfe edeldenkender wohlthätiger Menschen dahin zu bringen, daß Unbemittelten, die mit der Nadel, der Feder, dem Pinsel oder musikalischen Instrumenten etc. ihr Brot verdienen müssen, neben kostenfreier Behandlung auch freier Aufenthalt in der Anstalt, wenn möglich auch freie Reise zu theil wird. Man kann dieses Vorhaben nur mit Freuden begrüßen; denn abgesehen von der unmittelbaren Hilfe, die eine solche Anstalt den Kranken bringt, würde sie auch Aerzten, die sich in der heilgymnastischen Behandlung des Schreibkrampfes unterrichten möchten, reiche Gelegenheit hierzu bieten. –

Giebt es denn nun nicht auch Mittel, die Entstehung des peinlichen Leidens von vornherein zu verhüten?

Man behauptet, daß in früheren Zeiten nur wenige Menschen am Schreibkrampf erkrankt seien, und führt dessen Ausbreitung auf verschiedene Gründe zurück. Die einen meinen, er werde erst seit der Einführung der Stahlfeder in grÖßerem Maße beobachtet, andere wieder glauben, daß er eine Theilerscheinung der allgemeinen, unter den Menschen immer häufiger auftretenden Nervosität sei.

Ohne Zweifel dürften Uebermüdung und eine besondere nervöse Veranlagung des Körpers bei der Entstehung des Schreibkrampfes eine wichtige Rolle spielen. Der einseitige übermäßige Gebrauch einzelner Muskelgruppen muß schließlich die Harmonie in der Gesammtmuskulatur der Hand und des Armes stören. Namentlich hat sich oft eine fehlerhafte Federhaltung, unzweckmäßige Schreibart als die Quelle des Uebels herausgestellt. Andererseits lehrt uns die Erfahrung, daß in vielen Fällen bei der Entstehung des Krampfes noch etwas anderes mitwirkt, eine besondere persönliche Anlage. Das Ueberspringen des Krampfes von der rechten auf die linke Hand und viele andere Erscheinungen weisen darauf hin, daß die Kranken oft an einer nervösen Ueberempfindlichkeit des ganzen Organismus leiden. Julius Wolff selbst betont, daß er seine Heilerfolge außer der Gymnastik auch der seelischen Beeinflussung des Patienten verdanke; indem er dessen Aufmerksamkeit von dem kranken Punkte ablenkt, setzt er die Uebungen so lange fort, bis der Kranke, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, sich an die zweckmäßigen Bewegungen gewöhnt hat. Schließlich betont er, daß eine bleibende Heilung von der Fortsetzung der auch nach der Kur noch nothwendigen gymnastischen Uebungen abhängt. –

Diese Erfahrungen geben uns wichtige Fingerzeige für die Verhütung des Schreibkrampfes oder wenigstens der häufigsten Form desselben. Die Bekämpfung der Nervosität in ihrer allgemeinen Anlage ist schon aus hygieinischen Gründen geboten. In unserem Falle ist aber der schwache Punkt, die Hand, besonders zu schützen

Trotz aller Lobreden, die auf die Hand, das Werkzeug aller Werkzeuge, gehalten werden, geschieht verhältnißmäßig wenig zu ihrem gesundheitsgemäßen Schutze, und die Lehre von einer derartigen Pflege steckt noch in den Anfängen. Wenn über die Hygieine der Hand geschrieben wird, so beschränken sich die Verfasser zumeist auf kosmetische Rathschläge, während es doch unsere Aufgabe sein sollte, die Hand nicht nur schön, sondern auch leistungsfähig zu erhalten. Als in Deutschland die steigende Zunahme der Kurzsichtigkeit bemerkt wurde, ging man daran, Maßregeln für den Schutz der Augen unserer Jugend zu treffen; sicher wird auch für die Hygieine der Hand mit dem fortschreitenden Wissen mehr gethan werden. Beim Schreib-, Näh- und Musikunterricht verdient die Haltung der Hand eine besondere Berücksichtigung. Und namentlich wo diese Thätigkeiten berufsmäßig ausgeübt werden, wird immer eine einseitige Ueberanstrengung hervorgerufen werden; sobald man nun eine solche Uebermüdung spürt, sollte man für Stärkung und gleichmäßige Ausbildung seiner Ernährerin besondere Sorge tragen.

Wie die Gymnastik sich als ein Mittel gegen den ausgebrochenen Krampf erweist, so ist sie auch geeignet zur Verhütung desselben. In der trefflichen „Haus-Gymnastik für Gesunde und Kranke“ von E. Angerstein und G. Eckler (Berlin, Th. Chr. Fr. Enslin) heißt es in betreff einiger Fingerübungen:

„Sie werden theils durch die am Unterarm liegenden Beuge- und Streckmuskeln der Finger, theils durch die Muskeln der Hand hervorgebracht. Sie üben diese Muskeln und sind besonders nützlich beim Schreibkrampf, aber auch bei veitstanzartigen Zuckungen anzuwenden. Nach ermüdender Thätigkeit der Hände (durch Schreiben Zeichnen Nähen u. dergl.) sind sie sehr geeignet, die Muskeln der Hände schnell zu erfrischen und zu beleben.“[2]

Wir haben aber im Vorhergehenden erfahren, daß die Erscheinungen der krampfartigen Erkrankung sich auch über andere Muskelgruppen erstrecken, daß auch die Muskeln des Oberarmes und der Schulter in Mitleidenschaft gezogen werden und so sind zur harmonischen Ausbildung und Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Hand überhaupt alle jene hausgymnastischen Uebungen am Platze, welche die Armmuskulatur stärken. Näheres darüber findet der Leser in dem Abschnitt „Arm- und Handübungen“ des genannten Buches.

Krankheiten verhüten ist leichter als Krankheiten heilen. Möchten doch alle diejenigen, welche ihre Handfertigkeit zum Lebensunterhalt brauchen, diese Wahrheit beachten! C. Falkenhorst.     


  1. Die Deutschen Kentuckys begehen an diesem Tage in Anknüpfung an die vierhundertjährige Jubelfeier der Entdeckung Amerikas das Andenken an das Eintreffen der ersten deutschen Auswanderer in den Vereinigten Staaten vor zweihundert Jahren.
  2. Ein nützliches Büchlein auf diesem Gebiet ist auch die kleine Schrift von Therese Focking „Fingerspiele und Handgymnastik“ (Berlin, L. Oehmigke).

[691]

Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]

Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.
8.0 Kavaliere oder Patrizier.

Kavaliere! Patrizier! – Mancher unserer Leser mag uns wohl schon beim Anblick der in unseren Ueberschriften gewählten Benennungen im stillen den Vorwurf gemacht haben, daß wir mit solchen Ausdrücken allzusehr vermenschlichten. Aber man betrachte sich einmal einen Distelfinkenhahn im Mai, wenn er sich wiegt auf dem schwanken Zweige eines blühenden Obstbaums! Man beobachte sein zierliches, so offenbar selbstgefälliges Schwenken, Wenden und Drehen, begleitet von jenem wohllautenden hellen Minneton, mit dem er um die Gattin wirbt! Man schaue ihm zu, wie er, echt finkenhaft stets zum Kampfe bereit, mit dem Nebenbuhler anbindet und unter schmetterndem Geschrei, unter streitbaren Schnabel- und Krallenhieben mit dem Gegner rauft – man betrachte dieses ganze Gebahren im Verein mit seiner so außerordentlich schmucken Außenseite, und man wird unsere Taufe gerechtfertigt finden.

Fürwahr, ein feiner stolzer Vogel, dieser Distelfink! Niemals läßt er sich ein mit dem „süßen Pöbel“ der Gassen oder gar der Miststätten. Und wenn er auch mit den Scharen anderer Vögel im Herbste in die Hanf- oder Mohnfluren geräth; wenn ihn auch der strenge Winter zeitweise mit seinem Vetter Hänfling zusammen zu den Stauden und Gräsern an den Wegen und auf der Steppe treibt – er ist und bleibt dabei doch immer der vornehme Herr, der sich fernhält von dem übrigen Vogelgemenge.

Der Distelfink – so benannt nach seiner Lieblingsnahrung, dem Distelsamen – oder Stieglitz – nach seinem Lockruf „Stieglit“ – ist vermöge seiner allgemeinen Verbreitung in Europa ein in Stadt und Land so bekannter Bewohner der Vorhölzer, Baumreihen, Hage und Lustgärten, daß wir ihn nicht nach trockener Schablone zu beschreiben brauchen. Unsere Abbildung giebt ihn ja auch so deutlich und natürlich wieder, daß es nur noch der Uebersetzung der Zeichnung in die Farbe bedarf, um uns seine schöne geschmackvolle Erscheinung vor Augen zu rücken. Der degenspitze feste Schnabel ist beim alten Männchen elfenbeinweiß, am Grunde mattfleischfarben durchscheinend, mit einem schmalen schwärzlichen Striche über der oberen Spitze. Der Vorderkopf erscheint um Schnabel und Augen schwarz umsäumt, sonst bis über die feurigen braunen Augen hochkarminroth; das den Scheitel deckende helmförmige schwarze Feld zieht sich am Hinterkopf auf beiden Seiten wie ein Sturmband hinter den Wangen herunter, daselbst spitz verlaufend und mit dem Roth des Vorderkopfes die weißen Wangen einfassend. Die Hauptfarbe des Oberkörpers ist hellbraun, im Genick bis ins Weißliche übergehend. Die Unterseite ist weiß, mit zwei lichtbraunen, ins Gelbe spielenden nierenförmigen Flecken auf der Brust. Die Schwingen und den leicht gehaltenen Schwanz – beide beim Fliegen des Vogels einem schönen Husarenmäntelchen nicht unähnlich – ziert das gleiche Sammetschwarz wie den Scheitel, mit weißlichen Punkten an den Spitzen, die Schwingen zeigen außerdem auf ihrem Mittelfeld einen prachtvollen, lebhaft citronengelben Spiegel. Ist in diesem Kleide der Kavalier nicht fix und fertig? –

Und in der That, wie fein säuberlich hält er sein Gefieder durch fleißiges Baden, durch emsiges Putzen und Ordnen, wie glatt liegt es an seiner schlanken Figur!

Aber damit soll nicht etwa gesagt sein, daß der Distelfink nur ein schöner Vogel sei. Im Gegentheil, in ihm leben, der glänzenden Außenseite entsprechend, vorzügliche innere Eigenschaften, von denen uns hier nur eine beschäftigen soll, sein Gesang.

In der Gefangenschaft, im Zusammenleben mit Kanarienvögeln nimmt der Distelfink zuweilen deren Weisen an; im Freien aber behauptet er entschieden seine Eigenthümlichkeit. Die Freiheit ist sein Element.

„Flüchtig und flink,
Frei wie der Fink
Auf Sträuchern und Bäumen
In Himmelsräumen!“

Dieser Wahlspruch des Rekruten in „Wallensteins Lager“ paßt vortrefflich auf unseren prächtigen Gesellen. Wie er sich in kühnen scharfabgesetzten Bögen, in galoppartiger Bewegung elegant durch die Luft schwingt, so ist auch sein Lied eine wahre Reitermelodie. Es lassen sich zwei Abtheilungen heraushören, welche oft jede für sich allein erschallen, ebenso oft aber auch in kleinen Zwischenpausen hintereinander ausgeführt werden. Die erste Abtheilung ist eigentlich eine Einleitung zur zweiten, etwas längeren, dem Hauptgesang. Sie setzt sich zusammen aus des Vogels Locktönen oder aus ähnlichen, hüpfend-pfeifenden Lauten und einem geschlossenen, trompetenschmetternden Schlußsatz. Man fühlt sich an eine angaloppierende Reiterschar erinnert, welche mit dem Schlußsatz plötzlich pariert und hält. Feurig, kriegerisch klingen die raschen Rhythmen, die an Schwung noch gewinnen, wenn sie der Vogel bei seinem Niederschwingen auf einen Baumwipfel in der Luft schmettert. Der Hauptgesang ist im Grundton dem Vorgesang ähnlich, setzt aber in der Mitte eine abändernde rhythmische Partie ein, die bei guten Sängern die Silbe „Fink“ gewöhnlich dreimal hintereinander wiederholt, dann in einige etwas gehaltene hohe Noten übergeht und hierauf gewöhnlich mit dem schmetternden Schlußsatz des Vorgesanges endigt.

Im Mai heftet das Weibchen des Stieglitzpaares sein zierliches Nest – gleichsam ein lustiges Dachstubenkämmerchen – in die Gabelzweige der äußersten Wipfel von Obstbäumen, auch wohl auf die niederen Stämmchen der Baumschulen, ja auf Rosenbäumchen oder aber auf die höchsten Fichten, Pappeln, Eschen und Ahorne. Die luftige Wiege der Kleinen ist ein wahres Kunstwerk, dessen nette, zierliche Gestalt und feines Filzgewebe mit den schönsten Gebilden der Nestbaukunst unserer heimischen Vögel sich messen kann. Die jungen Distelfinkchen sind allerliebste niedliche Geschöpfe, denen es bald nach echter Kadettenart zu eng im Hause wird. Ein Ruck von Menschenhand am Aste scheucht oft das ganze lose Völkchen aus dem Neste. Man hat von namhafter Seite in Abrede gestellt, daß man das Geschlecht der flüggen Nestlinge unterscheiden könne. Wir behaupten entschieden, daß ein helleres Braungelb mit spärlicherer Punktierung die Männchen von den dunkleren, graueren und dichter punktierten Weibchen unterscheidet, und daß wir uns von unserer Jugendzeit an niemals bei diesen Kennzeichen getäuscht haben. Frischer Muth und Selbstvertrauen regt sich früh bei den Jungen. Wohl fehlt ihnen noch das Prachtkleid der Alten; aber schon hat die Natur ihrem gemeinen sperlingsgrau punktierten Kleide gleichsam ein Portepeeabzeichen aufgedrückt: die gelben Aufschläge auf den schwarzbraunen Flügelchen. Schnell wachsen die aus dem Kropfe gefütterten Kleinen heran, ihre Kindersprache „Zibit“ geht bald, gegen den Nachsommer, in den echten Stieglitzenton „Stieglit“ über, und nun sind dem hoffnungsvollen Junker die ersten glänzenden Federsprossen – sagen wir die „Lieutenantsepauletten“ – verliehen worden. Der Karmin wächst mit allen Prachtfarben an unserem jungen Vogel, bis dieser als vollkommener Distelfink in herrlicher Gala den Winter antritt.

Haben wir den Distelfinken als kriegerischen Kavalier kennengelernt, so findet sich diese Neigung zu Streit und Kampf vollends ausgeprägt bei dem Edel- oder Buchfinken. „Da giebt es,“ wie wir in unserem Buche „Charakterzeichnungen der Singvögel“ ausgeführt haben, „lustige schallende Turnei, daß die vom Winter noch gestählten weißlichen Schnäbel unserer Kämpen hell aneinander knappen, wenn sie sich an dem gewölbten Harnisch ihrer Brüste oder am Helme ihrer Scheitel versuchen, daß der Schlag der Flügel mit ihrem glänzenden Wappenfeld bei dem wirbelnden, echt finkenmäßigen Luftkampf laut erschallt wie einst die dröhnenden Schilder der vergangenen Geschlechter in Stahl und Eisen. Und über allem diesem schmettert der süße, stürmische Minnesang der Heinriche von Osterdingen und der Wolframe von Eschenbach zum Lobe der holden Frauen. Beglückt, wer sich die Gattin erobert im heißen Kampfe!“

Auf unserem Bilde S. 693 schauen wir im Vordergrund den Anfang eines solchen Minnestreites, der sich bei einem hitzigen Paare im Hintergrund schon in den heißesten Luftkampf verwandelt. Aber [692] es wäre ungerecht, wollte man bloß diese Seite des edeln Vogels hervorheben. Wer den Edelfinken in der Noth des Winters beobachtet, erkennt in ihm das Noble seines eigentlichen Wesens. „Während der süße Pöbel der Miststätten in buntem Durcheinander mit hängenden Flügeln und Köpfen kleinmüthig und hastig Futter sucht, rückt der Finke abseits in fester Haltung voran und senkt nur das Haupt, wenn er Nahrung aufnimmt. Er fällt nie mit ungestümer Gier philisterhaft über irgend einen Brocken oder ein Korn her, noch weniger balgt er sich um einen Bissen pueril und niedrig wie der Spatz ... Unwillkürlich werden wir bei solchem Anblick an die Haltung eines Mannes von Charakter erinnert, der sich vom Schicksal nicht entmuthigen läßt, die durch Entbehrungen erregten Begierden zu beherrschen vermag und seinen Werth durch die Art und Weise zu erkennen giebt, wie er das Seinige genießt.“ Sein Aeußeres entspricht seiner ritterlichen Natur. Das prangende Frühlingskleid des Hahnes – leuchtet es nicht vom bläulichen gesträubten Scheitel her wie eine Sturmhaube? Kriegerisches Feuer spricht aus den Augen unter dem schwarzen Sturmbande der Stirn, Liedes- und Kampfeslust aus dem lebhaften Weinroth der Kehle und Brust. Vom schneeweißen Spiegel der dunklen Flügel und dem grünbraunen Hauche seines Oberkleides glänzt die helle Zierde der Noblesse wie ein Wappenschild. Und unter diesem äußeren Schmucke schlägt ein urkräftiges Herz voll schallenden Sanges. –

Gruppe von Distelfinken.
Zeichnung von Adolf Müller.

Noch haben wir eines Vetters, des Hänflings, zu gedenken. Freilich steht er hinter dem Stieglitz und Edelfink in vielem zurück, aber dennoch ist auch er ein so schmucker, schlanker und feiner Vogel, eine vollkommene Patriziergestalt in seinem Frühlingskleid und ein so herrlicher Sänger, daß ihm an der Seite seiner Verwandten in der Familie der Finken ein lobendes Wort wohl gebührt.

Das Volk hält den Hänfling sehr gern im Käfig, denn der aufgeweckte, nach kurzer Zeit sehr zutrauliche Vogel lernt leicht die Liedchen, die man ihm vorpfeift oder auf der Vogelorgel vorspielt, sowie die Weisen anderer Vögel. In der freien Natur prangt der Hänflingshahn auf der Stirn und an den Seiten der Brust prachtvoll blutroth, an Hals und Kehle frisch gelbweiß, auf dem Kopf und im Nacken röthlich-aschgrau; sein schwarzer, schlanker Fischschwanz ist weiß berandet. Indessen wechselt sein Kleid je nach Jahreszeit und Alter. Nach der Federung im Herbste erscheint das Roth der Brustseiten nur matt und spärlich, während gegen das Frühjahr hin besonders beim alten Männchen ein entschiedeneres Bluthroth auf den Federspitzen an Brust und Stirn hervortritt, ein Schmuck, der dem Hänfling vorzugsweise zu seinem Namen „Bluthänfling“ verholfen hat. Am jungen Männchen ist das Roth in dem Aschgrau des Scheitels und Nackens nur angedeutet, weil die äußeren Ränder der rothen Federn in diesem Alter noch grau gefärbt sind; erst der zweite und dritte Frühling giebt dem Hahne den purpurnen Hochzeitsschmuck. In der Stube geht dies Prachtkleid zu dem unscheinbaren gestrichelten Rostbraun des Weibchens und der Jungen zurück. Man erblickt dann außer der netten Gestalt, dem allerliebsten niedlichen Köpfchen und Schnäbelchen und dem munteren Wesen nichts besonders Hervorragendes an dem Aeußeren des Vogels, ein Beweis, daß er hauptsächlich durch seine inneren Vorzüge so beliebt geworden ist. Und in der That ist sein echter [693] Originalgesang nicht zu unterschätzen. Wie herrlich belebt er damit die jungen Fichten- und Kiefernbestände, die kleinen Gehölze und buschreichen Raine! Beim ersten Frühroth schon erklingt die frische weckende Weise.

Wie auf Bäumen und Büschen, so läßt er auch hoch in den Lüften sein schwungvolles Jodeln und Jubeln emsig erschallen. Namentlich im einsamen Gebirge fesselte uns dieser Gesang, der neben einem ziehenden, oft wie von einem Ueberschnappen der Stimme begleiteten Krähen tief melodische Klangpartien enthält und von einer Reinheit und einem Wohlklang durchdrungen ist, wie er selten oder nie in der Ebene gehört wird.

Aus Moos und Halmen baut das Hänflingsweibchen die Wandungen des Nestes und füttert sie im Innern mit Pferdehaaren und Thierwolle nett und sauber, wenn auch nicht mit der vollendeten Kunst des Edel- und des Distelfinken aus. Die Alten nahen sehr heimlich dem Nistplatz mit der Brut und zögern lange, bis sie ihn besuchen. Die so versteckt gehaltenen Jungen empfangen die Atzung aus dem Kropfe der Eltern, verlassen aber wie die Stieglitze bald die Wohnung, um Vater und Mutter in das Schlaraffenland der Rüb- und Mohnsamenfelder oder der Hanfäcker des Spätsommers zu folgen.

Buchfinken im Minnestreit.
Zeichnung von Adolf Müller.

Der Hänfling bleibt als Strichvogel das ganze Jahr über bei uns. In kleineren Flügen wandert er von Flur zu Flur, manchmal, wie öfters im Spätjahr und auch im Winter, Stieglitzen und Edelfinken zugesellt. Der rüstige Vogel weiß sich durch die Dürftigkeit der unwirthlichen Jahreszeit mit Erfolg durchzuschlagen, denn immer findet er trotz Schnee und Eis an Wegen, Rainen und auf Grashalden in den Rispen, Kölbchen und Knöpfen von Gräsern, Wegerich, Kletten und anderen Stauden seine Winterkost.

In Vogelhäusern, in welchen Luft und Sonnenschein einen großen Theil des Jahres wirken, behält der Hänflingshahn hin und wieder einen Anflug seines rothen Brustkleides. Den frischen Purpurschmuck kann ihm aber hier keine noch so überzuckerte Pflege ersetzen. „Wo hätte er auch“ – um mit einer Stelle aus unseren „Charakterzeichnungen der Singvögel“ zu schließen – „den weiten sonnigen Himmelsraum, um seine Flügel im kühnen Bogenschwung zu versuchen; wo die grünen Haine, die freundlichen Raine mit den lachenden Auen, um auf Baum und Strauch sein schmetterndes Lied der Freude und des Jubels erschallen und in den Samenfeldern sich’s wohl sein zu lassen? Das arme blaßgrüne Fichtenstämmchen in der Vogelhecke ist ein nur zu dürftiges Abbild der grünen Waldhege, und die schönsten Kanarienhuldinnen im hochgelben Putz und den weißen Staatsfüßen vermögen dem Hähnchen dennoch nimmer die treue schlichte Gattin in ihrem häuslich grauen Kleide, die liebevolle Hänflingsmutter zu ersetzen. Darum glücklich, ihr Hänflinge, die ihr noch das klare Wasser der Wiesen und Haine, den Hanf- und Rübsamen der Fluren kostet, glücklich ihr, denen noch das duftende Reis der Tanne und Fichte rauscht, oder der Blüthenschnee der Raine entgegennickt, denen noch das holde Sonnenlicht leuchtet und die noch die frische Luft des Himmels umweht! Dreimal glücklich, denn ihr seid Kinder der Freiheit!“


Ketten.

Roman von Anton v. Perfall.

 (Schluß.)


Das Begräbniß war zu Ende. Der Kommerzienrath trat noch einmal an die Gruft und warf dem Sohne eine Handvoll Erde ins Grab – seine Kräfte waren erschöpft. Er verlangte nach seinem Wagen und lud zum neuen Staunen seiner Umgebung Davis ein, an seiner Seite Platz zu nehmen. Hans selbst war überrascht: soweit war Herr Berry in seiner Vertraulichkeit noch nie gegangen. Sah er in ihm den Ersatz für das, was er von seinem Sohne erhofft hatte?

Berry lehnte ermattet in der Ecke, mit geschlossenen Augen. Hans fühlte sich tief bewegt von dem Anblick. Was hatte der Mann gelitten diese letzten Tage über, und was wartete seiner noch, wenn er selbst vor ihn hintrat mit seiner Enthüllung!

„Die Verlobung Claires mit dem Grafen ist gelöst,“ begann Berry unerwartet. „Es war dem Manne um mein Geld, nicht um mein Kind zu thun. Claire ist schwer getroffen. Nicht daß sie den Grafen liebte – ich weiß nun, daß ganz andere Beweggründe sie zur Einwilligung in die Verlobung bestimmten. Aber sie hat mit Entsetzen in den Abgrund der Lüge und Heuchelei gesehen, an dessen Rand sie sich begeben – ein Abscheu hat sie erfaßt vor dem schalen Getriebe der vornehmen Welt, eine Scham vor sich selbst; sie könnte leicht verbittert werden für ihr ganzes Leben. Sie kann jetzt doppelt einen Freund brauchen, an dem sie sich wieder aufrichtet, der ihr beweist, daß nicht alles Lüge ist auf dieser Welt. [694] Und Sie sind dieser Freund, Hans, sind es von jeher gewesen. Sie haben sich aus falscher Bescheidenheit zurückgezogen von Claire, seit sie die Verlobte des Grafen war. Ich wunderte mich bei Ihrer sonstigen Energie, Ihrem Selbstbewußtsein, daß Sie so willig in den Schatten traten.“ Sein Blick ruhte forschend auf Hans. „Oder hatten Sie einen anderen zwingenden Grund?“

„Ja, ich hatte einen solchen Grund,“ erwiderte Hans fest.

„Und welchen? Ich verlange Offenheit, verlange Wahrheit nach so vieler Lüge, die ich erfahren.“

Hans fühlte, jetzt war die Zeit gekommen, die Last abzuwerfen, jetzt oder nie! Entschlossen begann er: „Ich liebe Claire –“

„Und fanden den Muth nicht, diese Liebe zu gestehen?“

„Ich hatte den traurigen Muth, dies zu thun, gestern hatte ich ihn. Aber ich fand nicht die Kraft, zugleich zu gestehen, warum ich so lange zögerte, warum dieser Muth eine Feigheit, ein Verbrechen ist, selbst jetzt noch, wo ich weiß, daß Claire mich liebt.“

Berry machte eine hastige Bewegung, die höchste Erregung malte sich in seinen Zügen.

„Aber jetzt will ich alles gestehen, rückhaltlos. Mein Vater – er ist nicht bloß ein armseliger Arbeiter, er ist … ein Verbrecher, ein Dieb, auf den die Polizei fahndet, der Sklave eines Genossen im Verbrechen, dessen Schweigen ich bezahle, der jede Stunde meinen Namen öffentlich brandmarken kann. Ich war zu feig, offen zu bekennen, und zu schwach, zu verzichten, so war ich nahe daran, den Frieden Ihrer Tochter, Ihrer Familie nicht weniger aufs Spiel zu setzen als dieser Graf. Ich wollte schweigen, mein Glück heimtückisch rauben, das Stillschweigen dieses Schurken weiter erkaufen. Jetzt wissen Sie alles, auch daß ich nicht der Mann bin, den Sie suchen.“

Berry schwieg, als Hans geendet hatte. Der Wagen fuhr schon durch die Allee, die zur Villa führte, an der Stelle vorbei, wo einst Marie Davis den Tod gefunden hatte.

„Und Claire liebt Sie also? Sie gestand Ihnen, daß Sie ihr Herz besitzen?“ fragte Berry nach einer Weile.

Hans nickte stumm.

„Wo, wann that sie das?“

„Gestern Abend. Sie wollte einen Krankenbesuch machen, da traf ich sie auf dem Fabrikhof.“

Berrys Gesicht verrieth keine Ueberraschung. „Sie haben ihr keinerlei Andeutungen über den wahren Sachverhalt gemacht?“

„Ich wollte ihr alles sagen, allein ich konnte es nicht. Nur von einem Verhängniß sprach ich, das zwischen uns liege. Heute noch aber wollte ich reden.“

„Das ist schlimm, daß Sie so gesprochen haben,“ entgegnete Berry, in dem ein Plan zu reifen schien. „Jedenfalls darf Claire nicht mehr erfahren, ich mache Ihnen das zur Pflicht. Verzichten Sie darauf, meine Tochter heute noch zu sehen, Ihr Geständniß abzulegen; ich werde Claire darüber verständigen. Wozu einen düsteren Schatten werfen auf ihr ganzes künftiges Leben und sie unnütz beschweren?“

„Unnütz beschweren, jetzt unnütz, das sehe ich ein,“ wiederholte Hans tonlos. „Seien Sie außer Sorge, ich werde Fräulein Claire nicht sprechen. Ich verlasse heute noch Ihr Haus, die Stadt –“

„Sie bleiben!“

„Unter Claires Augen, ohne Hoffnung – unmöglich, für mich und Claire unmöglich!“

„Sie bleiben!“ klang es noch befehlender.

In Hans regte sich ein Gefühl der Empörung über diesen kurzen Befehl, die einzige Antwort, die ihm auf die Enthüllung seiner Qualen geworden. Das war wieder der alte harte Berry! Schon lag ein herbes Wort auf den Lippen des jungen Mannes, da hielt der Wagen vor der Villa, Berry öffnete den Schlag. „Glauben Sie denn, ich opfere zum zweiten Male das Glück meines Kindes?“ sagte er beim Aussteigen. „Kommen Sie morgen früh acht Uhr auf mein Bureau, ich will doch sehen, ob ich mit Ihrem ‚Verhängniß‘ nicht fertig werde!“ Mit herzlichem Drucke reichte er Hans die Hand und eilte die Treppe hinauf.

Sprachlos, fassungslos blieb Hans zurück. Er wiederholte die letzten Worte Berrys, zerlegte sie, forschte nach einem verborgenen räthselhaften Sinne – aber wie er sie auch wendete, sie waren nicht mißzuverstehen, sie bedeuteten die Erfüllung seiner Wünsche! Die Fesseln, an denen er vergeblich seit Jahren gezerrt, sie sollten fallen wie durch ein Wunder. Frei sollte er sein und frei werben dürfen um Claire! Wie betäubt von all den Eindrücken eilte er in seine Wohnung – er mußte allein sein mit seinem Glücke!

Es waren selige Stunden, die er in der Stille seines Zimmers verträumte, indem er sich mit glänzenden Farben seine Zukunft ausmalte, und doch konnte er nicht recht froh werden dabei. Was war es nur, was im tiefsten Grunde seiner Seele sich regte und eine reine Freude nicht aufkommen lassen wollte? Er hatte doch nun nichts mehr zu fürchten, weder den Vater noch diesen Holzmann … Ein Schauer überlief seinen Körper. Daß er das hatte vergessen können, dieses verdächtige „Geschäft“! Warum hatte er dem Kommerzienrath nicht wenigstens ein Wort der Warnung gesagt! Wenn es schon begonnen hätte, das Verbrechen, wenn es eben jetzt beginnen würde!

Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Er lachte sich aus, schalt sich einen Träumer, einen Grillenfänger, der das alles zu seiner eigenen Qual erfinde – er arbeitete nicht mehr, wie es sein Körper früher gewohnt war, das viele Studieren, das ständige Sitzen und Grübeln machte das Blut schwer, das war es! Aber die Unruhe wollte nicht weichen. Endlich ertrug er es nicht länger, er eilte hinaus in die Nacht, fort in den Park, sich wie ein Dieb in den Schatten der Hallen drückend.

Leise schlich er um die Villa herum. Kein Licht brannte mehr, auch bei Claire nicht.

Die Nacht war finster, nur schwach hoben sich die Umrisse des Hauses gegen den Himmel ab. Er horchte gespannt – kein Laut! Erleichtert athmete er auf und wollte sich schon entfernen – da zuckte ein schmaler Lichtstreif blitzartig über das Gerüst, nur einen Augenblick, dann war wieder alles dunkel wie zuvor. Er wartete – nichts regte sich. Also Einbildung seiner erregten Phantasie! Da – wieder zuckte es auf! Es kam vom ersten Stockwerk von rechts; auf der linken Seite lagen die Zimmer der Berryschen Familie, rechts waren gegenwärtig die Bureaus und die Kassenräume untergebracht, da das Erdgeschoß umgebaut wurde. So leise als möglich schlich er sich an das Gerüst, ein schwaches Geräusch drang von oben herunter. Mochte es sein, was es wollte, er durfte nicht länger zögern! Entschlossen stieg er die Leiter empor. Da knarrte ein Brett – einige Schritte vor ihm, dicht neben den Fenstern des Kassenraums, schien sich etwas zu bewegen.

„Wer da?“ flüsterte Hans.

Keine Antwort, der dunkle Punkt stand regungslos still und verschwand dann plötzlich in der Nacht. Mit einem Sprung stürzte Hans nach vorwärts. Ein leises Zischen ertönte, eine dunkle zusammengekauerte Gestalt erhob sich vor ihm und huschte gegen die nächste Leiter. Mit einem Griffe hatte er sie erfaßt. Der Fremde rang lautlos mit seinem Angreifer, umfaßte ihn schlangengewandt und suchte ihn gegen den Rand des Gerüsts zu drängen. In diesem Augenblick zuckte wieder der Lichtstrahl aus, er traf gerade die Kämpfenden. Ein unterdrückter Aufschrei ertönte aus zwei Kehlen – Hans hatte Holzmann erkannt, dieser ihn.

„Laß’ los!“ keuchte der Verbrecher unter der Umklammerung des Gegners. „Er ist ja bei der Arbeit da drinnen – Narr!“

„Wer – der Vater?“ Ein betäubender Schreck durchzuckte Hans, unwillkürlich erlahmte der eiserne Griff seiner Hände.

Holzmann ersah blitzschnell den Vortheil und rückwärts geneigt riß er sich mit der Kraft der Verzweiflung los. Aber die Wucht war zu groß, er verlor das Gleichgewicht, taumelnd griff er nach einer Stange des Gerüsts, doch ohne sie zu erhaschen … ein Schrei, und er stürzte in die Tiefe.

Athemlos lauschte Hans. Da flüsterte eine wohlbekannte Stimme hinter ihm: „Für Dich, Hans, für Dich wollte ich’s thun – verzeih’, wenn Du kannst! Und nun leb’ wohl, ich geh’ übers Wasser!“

Hans wandte sich um – ein dunkler Körper sprang zurück und schwang sich an einem Stützbalken des Gerüstes hinab … der Vater!

Im linken Flügel wurde es hell, ein Fenster öffnete sich, es war das Claires. Sie beugte sich heraus und horchte ängstlich.

Hans bewegte sich nicht, sein Gehirn versagte den Dienst, er wußte nicht mehr, was thun.

Da tönte vom Hofe her ein lautes Stöhnen – Claire rief entsetzt um Hilfe.

Nun eilte Hans am Haus entlang, auf Claire zu. „Um unserer Liebe willen, sei still, Claire! Es ist keine Gefahr mehr … ich hörte Verdächtiges … ein Einbrecher … wir rangen und er stürzte hinab!“ brachte er athemlos hervor.

„Hilfe, Hilfe … haltet den anderen, den alten Davis . . . er hat’s nicht besser verdient als ich!“ klang es in diesem [695] Augenblick deutlich von unten herauf, von Schmerzensrufen unterbrochen.

Hans sank in die Knie. „Mein Verhängniß! Hörst Du es, Claire? Er spricht die volle Wahrheit!“

„Sein Vater – sein Vater – ein alter Dieb, ein Schuft!“ tönte es aus der Nacht herauf.

Leute mit Lichtern kamen, durch den Lärm geweckt. Herr Berry selbst trat halb angekleidet aus dem Hause. Hinter Claire erschien die Gestalt der Mutter im Zimmer, das ganze Haus war wach.

„Hörst Du es, Claire? Er spricht die volle Wahrheit!“ wiederholte Hans, auf nichts achtend.

„Und das soll uns trennen – ein blindes Verhängniß? Nein, Hans, ich lasse Dich nicht, allen Dämonen zum Trotz, die sich zwischen uns drängen!“ Sie klammerte sich fest an ihn.

Aus dem Zimmer rief es entsetzt: „Claire! Claire!“ Zitternd am ganzen Körper sah die Mutter ihr Kind aus dem Fenster gebeugt, von den Armen eines Unbekannten umschlungen.

„Frei! Frei!“ jubelte Hans und stürzte ungestüm davon.

Die Leute, die sich unten versammelt hatten, wußten sich den ganzen Auftritt nicht zu deuten. Der sterbende Mann, der offenbar vom Gerüst gefallen war, war schon still geworden, als sie kamen und Berry hatte ihn ins Haus schaffen lassen. Die Scene mit Claire war ihnen durch das Gerüst verdeckt, sie hatten nur unverständliche Stimmen gehört, die bei dem allgemeinen Lärme nicht auffielen. Und jetzt erschien zu alledem noch Hans Davis unter ihnen, verstört, die Kleider beschmutzt und zerrissen, und fragte athemlos nach Berry. Man stellte von allen Seiten Fragen an ihn, er beantwortete sie nicht und verschwand eilig im Hauseingang, nachdem man ihm gesagt hatte, der Kommerzienrath sei in einem kleinen Raume zu ebener Erde, wohin man den Sterbenden gebracht habe.

Hans folgte dem Lichte, das aus einer halb geschlossenen Thür fiel, und trat in das Zimmer, wo Holzmann lag, den Stempel des Todes im Gesicht; Berry stand vor ihm. Ein wildes Lächeln zuckte um die Lippen des Verbrechers, als er Hans erblickte.

„s’ hat doch nicht gelangt zum Vertuschen ... er weiß alles, der Herr Berry ... Gesegnete Mahlzeit zu der Suppe, Herr Davis!“

Hans blickte auf den Kommerzienrath, dessen finsteres Antlitz ihn das Schlimmste befürchten ließ. „Herr Berry,“ sagte er düster, „man entrinnt seinem Schicksal nicht. Ich werde Ihnen die Räthsel dieser Nacht morgen erklären, soweit es der freche Mund dieses Gesellen nicht schon gethan hat.“

Berry machte eine abwehrende Bewegung. „Es sind mir keine Räthsel. Es handelt sich jetzt nur um eines. Ich habe Licht im Zimmer meiner Tochter gesehen. War sie Zeugin dieser Scene?“

„Ja ... und ich sprach – sie weiß alles!“

„Und sie war gebrochen?“

„Sie schwor, auszuharren bei mir, allen Dämonen zum Trotz.“

„Wohl ihr! Sie hat die Feuerprobe bestanden, der ich sie nicht auszusetzen wagte. Komm’, Hans, auch uns soll diese Nacht nicht trennen.“ Er breitete die Arme aus, und Hans warf sich ihm wortlos an die Brust. Da ertönte vom Bette her ein wilder Aufschrei – Holzmann hatte geendet.

„Komm’, mein Sohn,“ sagte Berry, „Dein Verhängniß ist tot. Morgen beginnt ein neues Leben, über das die Vergangenheit keine Macht haben soll.“

*  *  *

Das Gericht hatte die Untersuchung über den Einbruch bei Berry bald wieder eingestellt. Hans hatte den Hergang wahrheitsgetreu zu Protokoll gegeben, nur den Namen des zweiten entflohenen Einbrechers hatte er verschwiegen. Trotz aller Nachforschungen war über dessen Person und Verbleib kein Anhalt zu gewinnen. Viel hatte zur raschen Erledigung der Sache auch der Einfluß des Kommerzienraths beigetragen, der dringend gebeten hatte, ihn und die Seinigen, die von dem vorhergegangenen Familienunglück schwer genug getroffen seien, mit allen Weiterungen zu verschonen, die ja diesem Thatbestand gegenüber doch eigentlich zwecklos seien.

In der Stadt liefen eine Zeitlang die verschiedensten Lesarten um über die Ereignisse jener Nacht, dann verschwand der willkommene Gesprächsstoff, der alle Kreise beherrscht hatte, spurlos in dem rastlosen, aus unergründlicher Tiefe immer Neues zur Oberfläche tragenden Lebensstrom der Großstadt.

Erst nach einem Jahre wurde man wieder nachhaltiger an die alte Geschichte erinnert, als im Berryschen Hause die Hochzeit Claires mit Hans Davis stattfand. Man hatte viel Wichtiges und Unwichtiges darüber zu reden. „Eine rührende Illustration zu den Leitartikeln, die gegenwärtig die Presse des ganzen Landes füllen – die Einigung des Kapitals mit der Arbeit!“ spottete man in den Kreisen, welche nachgerade dem Kommerzienrath die Schuld beimaßen, daß eines der angesehensten Glieder der Gesellschaft, Graf Maltiz, ruiniert und mit Hinterlassung einer ungemein standesgemäßen Schuldenlast nach Amerika geflohen war. „Wieder einmal ein Beweis, diese Hochzeit, daß das Kapital doch nicht so hartherzig ist, wie man täglich hören muß, daß der richtige Mann den Weg zur Anerkennung und sogar zu glänzendem Lose noch immer sich bahnen kann!“ so hieß es bei anderen.

Die beiden aber, um die sich alle diese Gespräche drehten, Hans und seine Gattin, bekümmerten sich nicht um die Welt und ihre Meinung; still, ganz der Arbeit und sich selbst gewidmet, lebten sie in dem einfachen Hause, das der Kommerzienrath für den neuen Direktor seiner Werke, Hans Davis, seiner Villa gegenüber hatte bauen lassen. Die Ketten eines dunklen Verhängnisses – sie waren zerrissen, aus ihnen hatten die beiden Glücklichen mit starker Hand eine neue ewige Fessel geschmiedet – die Fessel inniger Liebe und Treue.


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Verbrannte Papiere.

Handschriften, Urkunden, Geschäftsbücher können gegen Feuersgefahr nicht versichert werden, man muß sie darum ebenso wie das Geld besonders schützen. Man thut dies, indem man sie in die bekannten feuerfesten Schränke einschließt. Sind aber diese lange Zeit der Gluth ausgesetzt gewesen, so werden die Papiere in ihrem Innern durch die gewaltige Hitze verändert, und wenn sie auch nicht verbrennen, so verkohlen sie doch zum Theil. Sie befinden sich alsdann in einem eigenartigen Zustand, der für ihre Erhaltung gefährlich werden kann.

Man hat diese Gefahren erst nach und nach kennengelernt. Zu ihnen gehört vor allem ein zu frühzeitiges Oeffnen der Schränke nach stattgehabtem Brande. In den siebziger Jahren hat man in Berlin bei dem großen Brande einer Wollwarenfabrik eine trübe Erfahrung in dieser Beziehung gemacht. Man grub einen Geldschrank aus dem rauchenden Schutt hervor und fand ihn stark erhitzt, durch kräftiges Bespritzen mit Wasser wurde er zwar, wie man glaubte, in kurzer Zeit gehörig abgekühlt, und man schritt zur Oeffnung, die jedoch nur mit Anwendung großer Gewalt möglich war, kaum aber hatte man die Thür aufgebracht, so schlug aus dem Innern des Schrankes eine Flamme hervor, welche alle darin befindlichen Bücher und Papiere verzehrte.

Die Erklärung dieser Erscheinung ist ganz leicht. Die Doppelwände solcher Schränke sind mit schlechten Wärmeleitern ausgefüllt, welche die Gluth von dem Innern abhalten sollen. Ist nun der Brand ein bedeutender und steht der Schrank lange im Feuer, so wird trotz der schlechten Wärmeleiter das Innere des Schrankes stark erhitzt. Wird dieser schließlich aus dem Schutt hervorgezogen, so kühlen sich die äußeren eisernen Theile leichter ab, während das Innere noch lange heiß bleiben muß, da die schlechten Wärmeleiter in den Zwischenräumen der Wände die Wärme nicht herauslassen. Die Papiere im Inneren befinden sich aber in einem mehr oder weniger angesengten Zustande. Sind sie im Augenblick der Oeffnung noch heiß, so genügt schon ein frischer Luftzug, ein reichlicherer Zutritt sauerstoffhaltiger Luft, um sie zu entflammen. Darum ist die Regel aufgestellt worden, daß man Geldschränke, die im Feuer gestanden haben, erst nach gehöriger Abkühlung und nach einer geraumen Zeit öffnen soll.

Außer Verbrennungsgefahr ist freilich das Papier dann noch keineswegs. Das beweist ein anderer Vorfall, der in Amerika sich ereignete. Dort wurden Papiere und Bücher nach gehöriger Abkühlung der Schränke aus denselben herausgenommen, sie waren zwar, namentlich an den Rändern, angekohlt, befanden sich aber sonst in einem ganz leidlichen Zustande, so daß man die Schrift gut lesen und die einzelnen Blätter auseinanderfalten konnte. Froh, die Geschäftsbücher und -papiere gerettet zu haben, legte sie der Besitzer in seiner Privatwohnung auf einen Marmortisch. Als er aber am andern Morgen das Zimmer betrat, fand er anstatt der Bücher und Papiere nur einen Haufen Kohle und Asche, der zwar genau die Form der Bücher beibehalten hatte, jedoch bei der leisesten Berührung in Staub zerfiel. Die eingeleitete Untersuchung erwies, daß eine nachträgliche Brandstiftung ausgeschlossen war.

Dieser sonderbare Vorgang läßt sich ebenfalls auf Grund der physikalischen und chemischen Gesetze erklären.

Wir müssen dabei an die Selbstentzündungsprozesse in der Natur denken. Die Holzkohle z. B. besitzt die Eigenschaft, in ihren Poren gas- und dampfförmige Körper zu verdichten. Frische Buchsbaumkohle saugt das 35- bis 40-fache ihres Raumgehalts an Kohlensäure auf. Wo aber Gase verdichtet werden, da wird Wärme frei, und so kann sich auch frische Holzkohle an der Luft erhitzen, ja sich selbst entzünden. In Fabriken, die viel Holzkohle brauchen, sind derartige Selbstentzündungen schon öfters vorgekommen.

[696] Es ist nun anzunehmen, daß die Ränder der angekohlten Bücher in dem geheimnißvollen amerikanischen Fall wie frische Holzkohle gewirkt und eine Selbstentzündung herbeigeführt haben.

Uebrigens sind verbrannte Papiere, verkohlte Urkunden u. dgl. nicht immer verloren, denn man kann auch auf dem verkohlten Blatt die Schrift noch lesen. Eine Massenentzifferung solcher Schriften wurde seinerzeit in Paris vorgenommen. Während des Kommuneaufstandes war nämlich eine große Anzahl wichtiger Akten des Pariser Gerichtshofes verbrannt, und zwar waren sie so lange der Einwirkung der Hitze ausgesetzt gewesen, daß die einzelnen Bände verkohlten Holzblöcken glichen; die Blätter waren fest aneinander geklebt, wollte man sie aber selbst mit der größten Vorsicht voneinander trennen, so zerfielen sie in Staub und Asche. Einem Beamten des Pariser Gerichtshofes Namens Rathelot gelang es jedoch, diese Schriftstücke zum großen Theil zu retten. Er nahm einen solchen Band und schnitt zunächst den Rücken durch, so daß die Bogen nunmehr einzelne Blätter ohne Zusammenhang bildeten; dann tauchte er den ganzen verkohlten Band ins Wasser und nahm ihn, nachdem er sich vollgesogen, wieder heraus. Hierauf wurde die Masse an der Oeffnung eines Luftheizungsofens der Einwirkung einer starken Hitze ausgesetzt. Das Wasser in den Poren verdampfte rasch und der Dampfdruck löste die einzelnen Blätter voneinander, sodaß sie unter Anwendung der nöthigen Vorsicht getrennt werden konnten. Das Lesen der Schrift war durchaus nicht schwierig, denn das verbrannte Papier sah glänzend schwarz, die Schrift aber matt aus, und das Ganze hatte das Aussehen von Sammetverzierungen auf schwarzem Atlasgrunde. Selbstverständlich wurden die einzelnen Blätter sofort abgeschrieben, die Abschriften von anwesenden Beamten beglaubigt und auf diese Weise gegen 70 000 Schriftstücke gerettet.

Uebrigens ist es nicht gleichgültig, mit welcher Tinte solche Papiere beschrieben sind. An verkohlten Schriften, die aus tagelang durchglühten Kassenschränken herausgenommen wurden, hat man die Erfahrung gemacht, daß die alte Galläpfeltinte sich im Nothfall durch verschiedene chemische Lösungen wieder sichtbar machen ließ, während dies bei den Anilintinten weniger oder gar nicht gelingen wollte. Diese Wahrnehmungen haben zur Herstellung sogenannter feuerfester Tinten geführt. Eine derselben besteht aus folgender Mischung: 82 g fein gemahlenem und fein gesiebtem Graphit, 0,75 g Kopallack, 7,5 g Eisenvitriol, 30 g Galläpfeltinktur und Indigokarmin.

Man fertigt auch „feuersicheres“ Papier aus einer Mischung von vegetabilischen Fasern, Asbest, Borax und Alaun; es ist aber nicht feuerfest, sondern nur sehr schwer entzündlich. Wirklich unverbrennbar ist nur Asbestpapier, allein dieses eignet sich nicht zur Einführung im großen, und es ist uns auch nicht bekannt, ob es im Handel zu beziehen ist. In Amerika hat man viel darüber geschrieben, jetzt ist es aber still geworden davon. Vermuthlich haben sich die Versuche nicht bewährt, und der wir[k]samste Schutz für den Geschäftsmann, der seine Bücher und Papiere vor dem Brande sichern will, ist immer noch ein guter feuerfester Schrank. St. J.     


Altamerikanische Kulturbilder.

Von Paul Schellhas.
I.

Wenn sich gegenwärtig, eben in den Tagen, da der kühne Genuese zum ersten Male seinen Fuß auf den Boden der Insel Guanahani setzte, die Gedanken des alten Europa mehr als sonst mit der Neuen Welt beschäftigen, so hat das seinen guten Grund. Denn ein solcher Augenblick bietet einen ganz besonderen Anlaß, der eigenartigen Entwicklung zu gedenken, welche die amerikanischen Verhältnisse seit der Einwanderung der Europäer genommen haben, und unzweifelhaft gewährt es ein hohes kulturgeschichtliches Interesse, dem Gange dieser Entwicklung zu folgen. Merkwürdiger aber und reizvoller noch ist für den Forscher diejenige Entwicklung, welche die einheimische Kultur Amerikas vor seiner Entdeckung durch Kolumbus genommen hat, diejenige geistige und materielle Arbeit, die der amerikanische Mensch in seiner Absonderung aus eigenen Mitteln und mit seinen eigenen Kräften geleistet hat. Und auch die Leser der „Gartenlaube“ werden gerne einmal einen Blick werfen in jene fernen Zeiten vor der Ankunft des weißen Mannes, als noch untergegangene und verschollene Völker, deren Namen vielleicht nicht einmal erhalten sind, sich mühten, in friedlicher Arbeit „den Menschen zum Menschen zu gesellen“.

Von den neueren Forschungen auf diesem Gebiet ist in weiteren Kreisen wenig bekannt. Sie sind zu entlegen und fremdartig. Man meint, so fernliegende Dinge wie die Vorzeit Amerikas könnten für die Allgemeinheit nichts Anziehendes haben, weil zwischen ihnen und unserer Gegenwart gar keine Verbindungen bestehen und gar keine gemeinsamen Gesichtspunkte erkennbar seien. Und doch liegt eben gerade darin das allgemein und menschlich Bedeutsame der altamerikanischen Zustände! Denn sämmtliche Kulturgebiete der alten Erdtheile (Australien besitzt Spuren alter Kultur von einiger Bedeutung überhaupt nicht) stehen in näherer oder fernerer Beziehung zu einander, entweder unmittelbar oder durch Zwischenglieder; nur Amerika stand allein. Die ganze Alte Welt umschlingt ein gemeinsames Band, die wechselseitigen Einflüsse sind zum größten Theile geschichtlich bekannt; ganz anders ist es mit dem alten Amerika. Zur Zeit der Entdeckung der Neuen Welt hat in Centralamerika, in Mexiko[,] Yucatan, Guatemala etc., eine hohe Civilisation bestanden, die eine viele Jahrhunderte lange Entwicklung voraussetzt. Und diese Kultur ist entsprossen, diese Entwicklung ist vor sich gegangen auf einem Gebiet, das, so viel wir wissen, von allen uns bekannten Einflüssen abgeschlossen war. Wenn wir uns denken, es würde heute am Nordpol ein Erdtheil mit gemäßigtem Klima entdeckt und man fände dort Völker mit einer hohen Gesittung, so wäre das gewiß ein Gegenstand von größter allgemein menschlicher Bedeutung. Und eine ähnliche Bedeutung besitzt das alte Amerika. Es gestattet uns, Beobachtungen zu machen zu der hochwichtigen Frage: welche Errungenschaften der Gesittung sind ein gemeinsames Erbtheil der Menschheit? Kommt der Menschengeist auch unabhängig von den uns bekannten Einflüssen und unter ganz eigenartigen Bedingungen zu denselben oder ähnlichen Ergebnissen wie anderswo? –

Als die Spanier nach Mittelamerika kamen, fanden sie dort Völker, die wohlgeordnete Staaten bildeten, von Königen regiert wurden, in großen Städten mit gewaltigen Tempel- und Palastgebäuden wohnten, eine kunstvolle Zeitrechnung, eine gute Kenntniß der Astronomie, eine hoch entwickelte Technik und eine einheimische, nationale Kunst besaßen. Einer der mächtigsten dieser Staaten, das Reich des Aztekenkaisers Montezuma, ist aus der Geschichte der Eroberung durch Cortez bekannt. Aber noch weiter nach dem schmalen Centralamerika zu, südlich und östlich von Mexiko, hat die amerikanische Kultur ihre höchste Blüthe entwickelt, und von dort scheint sie auch ihren Ausgang genommen zu haben. Es sind dies die Halbinsel Yucatan und die Gegenden, die südlich und südwestlich daran angrenzen, Theile des heutigen Mexiko und von Guatemala. In diesen Ländern sitzen Völker des Mayastammes, der, obgleich heute wie alle eingeborenen Völker Amerikas durch die jahrhundertelange Unterdrückung und Mißhandlung verkommen und entartet, einstmals geistig besonders begabt und der Träger der alten Gesittung gewesen ist, ein amerikanisches Seitenstück zu den entarteten Nachkommen der Urbevölkerung des heutigen Aegypten.

Aus dem Leben dieser Völker sei hier einiges geschildert, was die neueste Forschung enthüllt hat. Denn die Kenntniß des alten Amerika hat fast vierhundert Jahre geschlafen, alles, was damit zusammenhing, galt höchstens als eine Kuriosität. Erst seit wenigen Jahrzehnten, seitdem wir eine wissenschaftliche Völkerkunde haben und seitdem die Kulturgeschichte ihren Gesichtskreis erweitert hat, fängt man an, auch diesen fernen Gebieten die verdiente Aufmerksamkeit zu widmen, und wo es hier gelungen ist, den dunklen Schleier ein wenig zu lüften, da sind das alles die Ergebnisse neuerer und neuester Forschungen und Entdeckungen.

Francisco Hernandez de Cordova war es, der zuerst, im Jahre 1517, die Küste von Yucatan besuchte. Eine zweite Expedition unter Juan de Grijalva ging ein Jahr später dorthin, und seitdem kamen auch die ersten Nachrichten über die hohe Kultur in jenen Gegenden nach Europa. Aber damit war auch zugleich das Schicksal dieser Kultur entschieden: sie mußte zu Grunde gehen unter den Tritten der spanischen Eroberer, ein vielleicht Jahrtausende altes Stück menschlicher Entwicklungsgeschichte war abgeschlossen. Man erfuhr, daß dort wie in Mexiko keine „Wilden“ wohnten, sondern gesittete Völker in zahlreichen großen Städten, daß dort Staatswesen bestanden, in denen Handel und Industrie, Technik und Kunst gepflegt wurden. Die Tempel- und Palastbauten in Yucatan waren nach der Ansicht der Spanier das Großartigste, was die Neue Welt aufzuweisen hatte. Ja,

[697]

Im Sturm.
Von Ludwig Ganghofer.


In wilden Stößen rauscht der Föhn
Die hohen Wellen rollen,
Sturmwolken wirbeln um die Höh’n
Und dumpfe Donner grollen.

Die weiße Brandung schäumt und dröhnt
Rings um die grauen Schroffen,
Und eine Menschenseele stöhnt,
Von jähem Weh getroffen.

Die Wogen kehren leer zurück,
Die euch hinweg getragen:
Du altes Schiff, du junges Glück...
Wohin seid ihr verschlagen?

[698] Yucatan stand noch um eine Stufe höher als das Reich der Azteken. Denn die Mayas, die Bewohner Yucatans, besaßen eine eigentliche Schrift, die nicht bloß wie die Malereien, welche bei den Azteken die Stelle einer solchen vertraten, aus bildlichen Darstellungen der Gegenstände bestand, sondern buchstabenförmige Hieroglyphenzeichen aufwies, also mit der ägyptischen Hieroglyphenschrift Aehnlichkeit hatte. Die Mayavölker waren die einzigen in ganz Amerika, die es bis zu einer Schrift im eigentlichen Sinne gebracht hatten; weder die Azteken noch die alten Peruaner des Inkareiches hatten diese Höhe erreicht, sie waren entweder bei bloßen Hilfsmitteln für das Gedächtniß – wie den Quippos, der Knotenschrift der Peruaner – oder bei symbolischen Darstellungen und einfachen Abbildungen der zu beschreibenden Dinge stehen geblieben. Einen Schritt näher zu dem Endziele hatten die Azteken in Mexiko allerdings schon insofern gethan, als sie Eigennamen ganz in der Weise unserer Bilderräthsel durch Abbildungen von Dingen darstellten, die zusammengesetzt den Namen ergaben, so wie wir etwa den Namen der Stadt „Hirschberg“ im Rebus durch einen Hirsch und einen Berg wiedergeben können.

Wenn nun auch die Kenntniß der Schrift bei den Mayas nicht so allgemein verbreitet gewesen zu sein scheint wie im alten Aegypten, wo jedermann lesen und schreiben konnte, so besaßen sie doch eine vollständige Litteratur, und die Anzahl der Bücher in ihrer Hieroglyphenschrift war zu der Zeit, als die Spanier ins Land kamen, erstaunlich groß. Es wurde offenbar im alten Yucatan viel geschrieben. Man verfertigte ein Papier aus Agavefasern, das mit den chinesischen und japanischen Papiersorten einige Aehnlichkeit hat, und glättete die Oberfläche durch einen Ueberzug mit einer kal[k]artigen Masse, auf der sich mit Hilfe eines feinen Pinsels sehr gut schreiben ließ. Die wenigen erhaltenen Schriftreste, von denen noch die Rede sein wird, weisen manchmal so feine Linien auf, daß man mit einer guten Stahlfeder nicht zierlicher schreiben kann. Die Bücher wurden fächerartig zusammengelegt in der Weise wie bei uns Albums mit Ansichten von Städten, Badeorten u. dergl., oben und unten bildete ein fester Deckel den Abschluß. Ferner wurden auch Inschriften auf Stein gemeißelt, und namentlich die mit Reliefdarstellungen verzierten Wände der Tempel wurden mit Hieroglyphenschrift bedeckt. Hier verwendete man allem Anschein nach andere, ornamentalere Formen der Schriftzeichen als in den Büchern, ganz wie wir dies thun. Die Geschichte des Volkes, die mythologischen Ueberlieferungen, die religiösen Vorschriften des Kultus, der Kalender und andere Dinge wurden so aufgezeichnet und in Buchform verbreitet, denkwürdige Ereignisse in Steininschriften verewigt.

Eine Seite aus der Dresdener Mayahandschrift.

Obgleich nun schon zur Zeit der Entdeckung in Europa vereinzelt gelehrte Männer mit etwas weiterem Gesichtskreis diesen Dingen ihre Aufmerksamkeit zuwandten und die Beobachtungen über jene alte Civilisation in Yucatan in wissenschaftlichen Werken sammelten und verarbeiteten, so hatte leider die große Menge der Abenteurer, die beutegierig nach Amerika kamen, nicht das mindeste Verständniß für die Erzeugnisse der einheimischen Kultur. Ja, man glaubte eine gottgefällige That zu vollbringen und die Bekehrung der „Heiden“ zu befördern, wenn man alle diese „Werke des Teufels“ gründlich vernichtete. Ganz besonders waren es rohe und unwissende Mönche, die sich aus religiösem Fanatismus mit Eifer diesem Zerstörungswerk unterzogen, da ihnen die Schriften der Eingeborenen natürlich als die gefährlichste Waffe des Heidenthums erscheinen mußten. Die Bücher in Hieroglyphenschrift wurden zu großen Scheiterhaufen aufgeschichtet und verbrannt. Lehrreich ist, was der Bischof Diego de Landa, der von 1549 bis 1579 in Yucatan lebte und sogar selbst ein Buch über die alten Mayas geschrieben hat, in eben diesem Buche „Relacion de las cosas de Yucatan“ („Bericht über die Angelegenheiten Yucatans“), das man erst im Jahre 1864 in Madrid neu aufgefunden und veröffentlicht hat, über die Schriften der Eingeborenen sagt:

„Dieses Volk benutzte auch gewisse Charaktere oder Buchstaben, mit denen sie in ihren Büchern ihre Angelegenheiten und ihre Wissenschaften von alters her aufzeichneten und mit Hilfe deren sie dieselben erläutern und lehren konnten. Wir fanden eine große Menge dieser Schriften, aber da sie nichts enthielten als Aberglauben und Lügen des Teufels, so verbrannten wir sie alle, was die Eingeborenen sehr betrübte und ihnen sehr schmerzlich war.“

Der fromme Bischof hat gewiß keine Ahnung gehabt, daß er sich durch diese That für die Nachwelt aller Zeiten an den Pranger stellte!

Bei all ihrem Abscheu vor dergleichen Teufelszeug sahen sich aber die Mönche doch eine Zeitlang gezwungen, selbst die Hieroglyphenschrift der Heiden zu benutzen! Wie uns der päpstliche Generalkommissar von Neuspanien, Pater Fray Alonso Ponce, gegen Ende des 16. Jahrhunderts berichtet, wandten die christlichen Missionare in Yucatan die einheimische Schrift an, um die Eingeborenen in den christlichen Glaubenslehren zu unterrichten[.] Aber das konnte die alte Bildung nicht retten, das Zerstörungswerk nicht aufhalten; die Hieroglyphenschrift gerieth immer mehr in Vergessenheit, und bald war ihre Kenntniß auch unter den Eingeborenen gänzlich verschollen.

Seit der Zeit ging nun überhaupt die Kunde von der untergegangenen einheimischen Civilisation Yucatans fast gänzlich verloren. Schon aus spanische[r] Zeit sind die Berichte darüber spärlicher als die über Mexiko, weil in Yucatan keine mächtigen kriegerischen Staaten bestanden, die den europäischen Eindringlingen heftigen Widerstand entgegensetzten. Die Völker, die hier lebten, waren weniger kriegerisch als die Mexikaner, sie fielen leicht in die Hände der Spanier. Und zudem scheint es, als ob ihre Kultur sich damals schon im Niedergang befunden habe, ähnlich wie die der Griechen, als sie eine Beute der Römer wurden. Erst in unserem Jahrhundert hat man das Alterthum Yucatans neu aufgefunden. Man entdeckte, daß dort und in den angrenzenden Gegenden große Trümmerstädte im Urwald begraben lagen, großartige Tempel und Paläste, Spuren einer zahlreichen hochentwickelten Bevölkerung. Erst im Jahre 1840 unternahm der amerikanische Reisende Stephens eine gründliche Forschungsreise durch diese Gegenden, und es wurden bald die Ruinen von über fünfzig Städten aufgefunden! Auf den Gebäuden fand man zahlreiche Inschriften in der alten Hieroglyphenschrift, die längst niemand mehr verstand. Jetzt entdeckte man auch, daß sich in europäischen Bibliotheken einige Handschriften befanden, die in derselben Hieroglyphenschrift verfaßt waren. Man hatte sie früher kaum beachtet und für aztekische gehalten. Es waren [699] in der That die letzten Bücher des Mayavolkes, die dem spanischen Autodafé entgangen waren; nur drei sind im ganzen erhalten, davon eines in Deutschland, auf der königlichen Bibliothek zu Dresden, die sogenannte Dresdener Mayahandschrift.

Seitdem hat die Erforschung dieser Alterthümer bedeutende Fortschritte gemacht. Das Land ist nach allen Richtungen hin durchsucht, die großen Gebäude sind photographisch aufgenommen, die Bildsäulen, Reliefs und Inschriften in Gipsabgüssen vervielfältigt. Daß sich die architektonischen Reste den antiken Baudenkmälern der Alten Welt wohl an die Seite stellen können, mögen einige Maßangaben zeigen. Der große Palast in der Trümmerstadt Uxmal ist 98 m lang, der zu Palenque steht auf einer künstlichen Terrasse von 12 m Höhe, 95 m Länge und 79 m Breite, seine Front selbst mißt 70 m. Die mächtigen Gebäude sind leider dem sicheren Untergang geweiht. Während Aegyptens trockenes Klima der Erhaltung der dortigen Baudenkmäler außerordentlich günstig ist, wirken in Centralamerika die heiße feuchte Luft, die gewaltigen Regengüsse und die üppige Vegetation als unwiderstehliche Zerstörungsmittel.

Ueber das Alter dieser Reste läßt sich nichts Bestimmtes sagen. Daß zu den Zeiten der Eroberung, also am Anfang des 16. Jahrhunderts, schon manche der Städte verschollen im Urwald gelegen haben, scheint sicher, andere waren aber auch damals noch bewohnt. Ebenso unbekannt ist der Ursprung und die frühere Geschichte dieser Kultur. Ueber dem allem liegt ein undurchdringliches Dunkel.

Ganz besondere Aufschlüsse hat nun die Wissenschaft in neuester Zeit dadurch gewonnen, daß man angefangen hat, die Hieroglyphenschrift, in der die oben erwähnten drei Handschriften und die Steininschriften verfaßt sind, zu entziffern. Es ist erklärlich, daß man hier die wichtigsten Enthüllungen erwartet. Betheiligt haben sich an diesen Forschungen, die in den letzten Jahren gerade in Deutschland besonders gefördert worden sind, Professor Förstemann in Dresden, der berühmte Germanist und Verfasser des „Altdeutschen Namenbuches“, der als Leiter der Dresdener Bibliothek die dortige Mayahandschrift zum ersten Male in zuverlässiger Wiedergabe veröffentlichte, ein Werk, das trotz seiner Kostbarkeit kürzlich sogar die zweite Auflage erlebt hat – ferner Dr. Seler und der Verfasser dieser Zeilen in Berlin. Freilich rückt die Arbeit nur langsam vor, sie ist bei dem geringen Material unendlich schwieriger, als es seiner Zeit die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen war, bei der eine doppelsprachige Inschrift und überreiches Material zu Gebote stand. Die „Mayaforschung“ hat keine solchen Hilfsmittel, und dennoch hat sie auf ihrem mühsamen und fast hoffnungslos schwierigen Wege schon manches erreicht.

Die Zahlen von 1 bis 15 nach dem Zahlensystem der Mayas.

Es ist ein Blick in eine fremde, ferne Geisteswelt, der sich damit eröffnet, eine Geisteswelt, so wunderbar wie keine zweite auf der Erde. Nur ihre letzten kärglichen Reste werden jetzt dem jahrhundertelangen Schlummer durch die Wissenschaft entrissen, und dennoch erstaunen wir über manches Bekannte und uns ganz Geläufige, wir sehen, daß dem Menschengeist auf der ganzen Erde etwas Gemeinsames innewohnt; Dinge und Vorstellungen kehren hier wieder, die wir bei fernen, durch große Meere getrennten Völkern kennen, gemeinsame „Völkergedanken“, wie der große Ethnologe Bastian sie genannt hat, und mehr als das: Menschheitsgedanken. Früher galten solche Uebereinstimmungen als Beweise für phantastische Theorien über die Beziehungen weit voneinander entfernter Völker der Erde, und noch heute scheint es fast ein wissenschaftliches Dogma zu sein, daß eine Kultur im Lande selbst nicht entstehen kann, sie muß stets von irgendwo anders hergekommen sein. Wenn solche Vorstellungen früher ihren Grund hauptsächlich in dem Bestreben hatten, den Ursprung der Menschheit der biblischen Ueberlieferung entsprechend möglichst auf eine Stätte zurückzuführen, so wird man jetzt, nachdem dieser Grund nicht mehr maßgebend ist, allmählich auch wohl die Uebertreibungen jener Vorstellung aufgeben müssen. Es liegt gar keine Veranlassung vor, anzunehmen, daß die alte Kultur Amerikas von anderswoher eingewandert sei, und alle Versuche, sie von den Chinesen, Japanern, Indiern, Chaldäern etc. herzuleiten, sind nichts als phantastische Hypothesen.

Die Mayas, die Träger jener alten Kultur der Halbinsel Yucatan, waren nun – und das haben besonders die Entzifferungen des Professors Förstemann erwiesen – ein Volk von außerordentlicher mathematischer Begabung. Sie besaßen ein kunstvolles Zahlensystem, das in ihrer sehr verwickelten und scharfsinnigen Zeitrechnung eine große Rolle spielte. Während unser Zahlensystem sich auf der 10 aufbaut, als der Anzahl der Finger, gingen die Mayas wie viele andere Völker von der Anzahl der Finger und der Zehen aus und legten die Zahl 20 ihrem System zu Grunde. Spuren solcher Zählung sind im Französischen noch zu finden: quatre-vingt ist 4 mal 20 = 80. Bis 5 drückten die Mayas die Zahlen durch Punkte aus, Vielfache von 5 durch Striche, so bedeutet z. B. ... die Zahl 13. Zahlen über 20 wurden durch mehrstellige Zahlzeichen gebildet, ganz wie wir dies thun, aber nicht durch Nebeneinander-, sondern durch senkrechte Uebereinanderstellung der Zeichen. Wie in unserem Zahlensystem die Zahlen von links nach rechts Vielfache von 10 darstellen, so bedeuteten bei den Mayas (von einer mit der Zeitrechnung zusammenhängenden Ausnahme in der 3. Stelle abgesehen) übereinandergestellte Zahlen Vielfache von 20; es wurde z. B. 149 geschrieben durch eine 9 und darüber eine 7, d. h. 7 Zwanziger = 140 und 9 Einer = 9. Dieses System, das mit unserem viel Aehnlichkeit hat, erforderte natürlich auch ein Zeichen für die Null. Und in der That besaßen die Mayas, wie Professor Förstemann vor einigen Jahren entdeckte, ein solches! Man vergleiche damit die ungeschickten und zum Rechnen ganz unbrauchbaren Zahlzeichen der alten Römer! Zudem fehlte den Römern ein Zeichen für die Null gänzlich, ein Beweis, daß ihnen die alten Mayas an mathematischer Begabung entschieden überlegen waren. Ja selbst die von uns angenommenen arabischen Zahlzeichen stehen in Bezug auf Anschaulichkeit und praktische Brauchbarkeit hinter denen der Mayas zurück.

So konnten die alten Bewohner Yucatans ganz leicht hohe Zahlen ausdrücken, und in den drei Mayahandschriften, die sich sämmtlich auf die Zeitrechnung und auf den Kalender beziehen, spielen solche hohe Zahlen eine große Rolle. Auf manchen Seiten stehen nur Zahlen von mehreren Millionen! Man kann sie alle lesen und, da sie nach bestimmten, erkennbaren Gesetzen aufeinander folgen, sogar nachweisen, wo sich der Schreiber bei seinen schwierigen Berechnungen geirrt hat! An vielen Stellen sind solche Fehler mit rother Farbe korrigiert; offenbar hat ein Vorgesetzter des Schreibers, vielleicht ein Oberpriester, die Arbeit desselben geprüft.

Was bedeuten nun aber diese räthselhaften Reihen von hohen Zahlen? Welches Geheimniß birgt sich hinter ihnen? Man hat astronomische Angaben und Berechnungen darin vermuthet, und in der That zeigen einige derselben eine auffallende Uebereinstimmung mit gewissen Zahlenwerthen, die sich auf den scheinbaren Umlauf der Venus, das Venusjahr in seinem Verhältniß zum Erdjahr, beziehen. Sind das nicht im höchsten Grade wunderbare Ueberbleibsel jener alten fremdartigen Kultur einer fernen Welt, jener verschollenen Geistesarbeit eines merkwürdigen Volkes, dessen Geschichte sich in Dunkel hüllt und dessen Entdeckung durch die Europäer zugleich sein Untergang für immer wurde?!

So bemüht sich jetzt, nach vierhundert Jahren, die wissenschaftliche Forschung, den Schleier zu heben von der uralten Entwicklungsgeschichte des amerikanischen Menschen, und während seine entarteten Nachkommen im heutigen Yucatan mit abergläubischer Scheu, aber ohne jede Spur einer Erinnerung, an den Baudenkmälern ihrer Vorfahren vorübergehen, sammeln die Nachkommen des weißen Mannes, der einst diese Denkmäler zerstörte, sorgfältig die letzten spärlichen Reste, um aus ihnen mühsam das amerikanische Alterthum wieder aufzubauen.


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’s Wisperl.

Von Arthur Achleitner.0 Mit Zeichnungen von Hugo Engl.

Den „Isarwinkel“ nennt man den Landstrich im Isarthale flußaufwärts von Tölz bis Vorderriß, wo die wilde bergfrische Riß sich in die junge Isar ergießt und die Berge immer stolzer in die Höhe streben, wo Fluß und Gebirge sich zu einem der herrlichsten Landschaftsbilder des bayerischen Hochlandes vereinen. In der Tölzer Gegend noch den Charakter des Vorlandes bewahrend, verändert sich das Bild, je weiter isaraufwärts der Wanderer dringt, links auf dem Sträßlein über Lenggries, Hohenburg nach der Vorderriß oder rechts über Wackersberg, Arzbach zu den Felskolossen der Benediktenwand mit dem Kirchstein, der seit dem Jahre 1888 das höchstgelegene Denkmal für Kaiser Wilhelm I., 1686 Meter über dem Meere, trägt. Auf einer Syenitplatte, über welcher der Reichsadler die Kaiserkrone hält, ist in schlichten Versen, aber zum Zeugniß um so besserer Gesinnung mit Goldbuchstaben eingegraben:

0„Zum ewigen Gedächtnisse an Kaiser
 Wilhelm I.,
geb. 22. März 1797, gest. 9. März 1888.

Weil er das Deutsche Reich gebaut,
Wurd’ ihm sein’ Nam’ in Fels gehaut,
Hier auf Kirchsteins hoher Alpenwelt,
Schlafe wohl, Du Kaiser–Held.“

Zwei mächtige bayerische Löwen bewachen des Kirchsteins Schatz. Drüben aber schauen trotzig die Häupter der Karwendelgruppe, der Wetterstein und viele andere Zacken aus der starren Hochlandswildniß hervor, als wollten sie dem Wanderer das Eindringen wehren.

Ein herrlicher Fleck Erde ist dieser Isarwinkel und seine Bewohnerschaft ein urkräftig biederes Volk. Seine Söhne haben immer kraftvolle Flößer, fleißige Bauern und kernige Soldaten geliefert, sauber und nett sind die Dirndln, und sie besitzen noch immer ihre alte rührende Naivität wie die Jachenauerinnen, für die in guter alter Zeit am Thalschluß die Welt aufgehört hat.

Außerm Dorf steht von altersher eine Schmiede, bequem am Sträßlein gelegen, so daß der Fuhrmann den Meister rasch zur Seite hat, wenn der Gaul frischen Beschlag braucht oder der Wagen der Ausbesserung bedarf. Der Bergbach speist das Wasserwerk, welches den Blasebalg treibt, und munter arbeitet der Bergschmied an der glühenden Esse, mit ihm der wackere Geselle, genau so schwarz und fleißig wie der Meister selbst. Der Schmiedflori (Florian) ist trotz seiner Jugend ein achtbarer Mensch, der großes Ansehen genießt rechts und links der Isar. Die Fuhrleute kehren am liebsten bei ihm ein, weil er nicht bloß das Beschlagen so gut los hat, sondern überhaupt viel vom Roß versteht, und das erweckt bei den Fuhrleuten immer starkes Vertrauen. Denn ein einziger Nagel, zu tief in den Huf eingetrieben, macht den Gaul lahm, und zu wenig ist auch vom Uebel. Aber der Flori, der junge Meister, weiß den Nagel auf den Kopf zu treffen und gerade recht in den Huf zu treiben, so daß das Eisen nicht locker sitzt. ’s ist überhaupt ein halber Doktor, der Flori, der sich auch aufs Menschenkurieren versteht, wenn’s nicht schon gar zu weit gekommen und mit der „Sympathie“ und mit dem Wasser noch was zu machen ist. Der Flori hält gar viel auch auf andere Einwirkungen; zuerst macht die Einbildung beim Menschen sehr viel aus, dann das Wasser und die Luft und die Kost, und endlich die guten und bösen Geister. Der Flori sagt’s, also muß es wahr sein, daß grad’ der Isarwinkel genug Geister habe in seinen Bergen. Man darf bloß das richtige Ohr haben, dann kann man beispielsweise an windstillen Tagen ganz deutlich hören, wie es von der Benediktenwand her leise rollt und kugelt, als wenn man Steine abladen wollte. Das sind die Klosterherren von Benediktbeuren, die zum ewigen Kegelschieben verdammt sind, weil sie selbst die besten Almen in Besitz genommen und den armen Leuten den Viehauftrieb und die Weide verweigert haben. Und sogar an heiligen Sonn- und Festtagen sind die geistlichen Herren auf die Wand gestiegen und haben oben ohne Rücksicht auf Gott und die Welt Kegel geschoben. Deshalb sind sie verwünscht worden und müssen ihr Kegelspiel fortsetzen bis zum jüngsten Tag.

Auf der Höhe des Kirchsteins haben nach der Sage die Benediktbeurer Herren ihre Namen an die Wand geschrieben und dort, wo jetzt des großen Kaisers Gedenktafel angebracht ist, dort soll die älteste Schrift aus dem Jahre 1548 gestanden haben. – Der Schmiedflori ist ein „Wissender“, der genau Bescheid geben kann über die Sagen und Geistergeschichten seiner bergumrahmten Heimath, die Ueberbleibsel aus einer Zeit, wo noch mehr Wunder geschahen, weil die Menschen sich nicht wie heutzutage selber helfen konnten. Er weiß, daß man zu gewissen Zeiten auf den Klang der Benediktenglocke horchen muß, damit einem die Hexen nicht ankönnen. Das ist eine gar bedeutsame Glocke, bei deren Guß der Prälat und die Klosterherren ganze Hände voll geweihter Silberthaler hineinwarfen. Beim Klostersturm sollte diese Glocke eingeschmolzen werden, aber das wollten die Einwohner nicht, sie sammelten Geld, selbst der ärmste Dienstbote mußte 24 Kreuzer geben, und so brachte man die nöthigen 2000 Gulden zusammen, um die Glocke, die man zu rechter Zeit drei Stunden weit hört, frei zu kaufen.

Die Hohenburger und Lenggrieser Burschen lachen freilich oft den glaubensstarken Flori aus. „’s waar z’dumm,“ meinen sie, „die alten Weiberg’schichten baumfest z’ glauben.“ Aber nachts um zwölf Uhr ginge doch keiner auf den Lenggrieser Friedhof, wo im Jahre 1742 die Panduren unter Oberst Trenck von [701] den Geistern der Verstorbenen in die Flucht geschlagen wurden.

Der Flori weiß jene Geschichte haarklein vom Urgroßvater her – wie die Räuberschar vor dem Dorfe lag und in der Umgegend alles niederbrannte; da kam der Geistliche heraus und lud sie ein, nur vorwärts zu reiten, sie würden Mannschaft so viel finden, wie Körner in eine Metze gingen. An der Kirchhofmauer angelangt, fanden die Panduren den ganzen Friedhof voll Leute, alle weiß. Es waren die Geister der verstorbenen Brüder, die Eltern, Ahnen und Urahnen, die aus den Gräbern gestiegen waren und sich mit Sensen und Hauen zur Wehr setzten. Die Panduren erschraken darob nicht wenig und flohen voll Entsetzen von dannen. Und von seinem Vater selig her kennt der Flori auch die geheimnißvolle Sage vom „Wisperl“, dem seltsamen Geist, der nur an heiligen Zeiten, so an Allerseelen, sich hören läßt, am Wege zwischen Lenggries und Hohenburg wie eine Grille zirpt und bald nah, bald fern scheint. Kommt ein guter Mensch vorbei, so hört er das „Wisperl“, und dessen wundersames Zirpen bringt ihm Glück. Bösewichte aber hören das „Pfeiferl“, scharfe Töne, wie wenn jemand mit aller Kraft durch die Finger pfeift. Manchem Nichtsnutz ist das „Pfeiferl“ als schwarze Riesengestalt von drei Mannslängen erschienen, hat ihm einen heillosen Schrecken eingejagt und böses Unheil verkündigt. –

Der Winter steht wieder vor der Thür; aus den Wellen der Isar steigen die dicken schweren Nebel auf, grau lagern die Wolken auf den Bergen, leise raschelt das welke Laub auf der erstarrenden Erde. Das Fest Allerheiligen ist gekommen, an dem die Lebenden unter Gebet die Gräber ihrer Toten schmücken. Auch Flori ist mit einem Kranz von späten Bergblumen zum Kirchhof gewandert und hat ihn auf seiner Eltern Grab gelegt, ihrer in inniger Dankbarkeit gedenkend. Die Schwermuth dieses düsteren Novembertages in der Natur erfaßt auch ihn, und wie er so an dem schlichten Hügel steht, überkommt ihn ein banges Gefühl der Verlassenheit. Aber wie er dann still über den Rain wandert, seiner Schmiede zu, wo heute das Wasserrad still steht und der Bergbach ohne Frondienst geschwätzig zur Isar schießt, da wird ihm so eigen ums Herz, es klingt ihm in den Ohren wie geheimnißvolles Flüstern, und ein seliges Ahnen durchzieht seine Brust. Und wie sein Blick sich erhebt, dorthin, wo des wuchtigen Karwendels starre Felsriesen sich aufthürmen, da öffnet sich das Nebelmeer, es blaut verheißend herab aus lichter Himmelshöhe und wie vergoldet erstrahlen die Zinnen und Zacken.

Wenige Tage nach Allerheiligen findet im benachbarten Tölz die „Leonhardsfahrt“ statt, ein kirchliches, mit dem üblichen naiv derben Pomp gefeiertes Fest. Die Berge tragen den ersten Neuschnee, der Hochwald ist in die schimmernden Tinten des Spätherbstes getaucht, auf Flur und Feld die Arbeit vollendet, von den Tennen ertönt der gleichmäßige Takt der Drescher: das ist die Zeit der Leonhardsfahrt, wo man sich einen „Guten Lienhard“ wünscht, auf daß des Freundes und Nachbars Viehstand gesund bleibe bis übers Jahr.

Von jeher ist das germanische Volk zäh gewesen im Festhalten am Alten, und seine uralten heidnischen Bräuche sind, in ein christliches Gewand gekleidet, vielfach bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben. Jahrhunderte hindurch hat es im Allvater den Beschützer muthiger Rosse verehrt und seine Behausungen mit Pferdeköpfen am Giebel geschmückt. Im Christenthum ist dann St. Leonhard an Wotans Stelle getreten und hat die Obhut über die Rosse und über das Vieh im allgemeinen übernommen, wie er auch Patron der Hammerleute geworden ist. Im Lande, wo viel Viehzucht getrieben wird, mußte dieser Heilige naturgemäß ein großer Herr werden; er ist der erste, den man zu Hilfe ruft, wenn Seuchen auftreten und Schaden für die Viehzucht droht. Man opfert St. Leonhard gläubigen Sinnes die Hufeisen der kranken Pferde, die er heilen soll; an die Gitter der Gnadenkapellen hängt der Altbayer eiserne und wächserne Rosse zum Dank für rechtzeitig eingetretene Hilfe und an seinem um den Leib geschnürten Ledergurt trägt er mit Vorliebe ein beinernes oder gesticktes weißes Roß. Viele Kapellen sind auch mit Pferdeketten umspannt „aus Dankbarkeit“.

Kaum daß der Leonhardstag graut, herrscht in den Gehöften bewegtes Leben, die Pferde werden zierlich geschmückt mit farbigen Bändern und Blumensträußchen in Mähne und Schweif, aus der Scheune wird der das Jahr über sorgsam verwahrte Lienhardswagen hervorgezogen, eine oft namentlich mit Landschaften bemalte große vierräderige Truhe für zehn bis vierzehn Personen, und mit Tannengrün, Moos und Flitter geziert; die Dirndln tragen den höchsten Feiertagsstaat, das reichverschnürte Mieder, große silberne Halsketten, farbige Seidentücher auf der Brust, und auf den reichen Flechten thront keck das zierliche goldverschnürte Hütchen mit dem weißen Adlerflaum. Die Burschen erscheinen trotz der oft schon recht empfindlichen Kälte in dem kleidsamen „Berglerg’wandl“ mit nackten Knien und haben sich wie die Mädchen Sträußlein an Rock und Hut gesteckt. Die Pferde werden mit dem nur für den Lienhardstag bestimmten reichen und sauber geputzten Geschirr angespannt, immer vier prächtige Gäule vor jeden Wagen.

[702] Die ganze Bewohnerschaft des Gehöftes, vom kleinsten fingerlutschenden Bübchen oder Mädchen bis zur Ahne und dem Großvater, der nur noch zitternd die „Beterln“, den Rosenkranz, zu halten vermag, alles nimmt im Festwagen Platz; nur die jungen Burschen geben ihm zu Pferde das Geleit. So geht es unter lautem Hallo in raschem Trabe vom Hause weg, der Leonhardskapelle zu, oft auf stundenweitem Weg. In einer langen Straße zu Tölz nimmt der Zug seine Aufstellung. Dutzende von Wagen, unter deren Besatzung bei großer Kälte die Enzianflasche zur Erwärmung des Magens kreist, reihen sich mit ihrer Geleitsmannschaft aneinander, voran der Vorreiter mit einem, was das Alter anlangt, hochinteressanten Cylinderhute, dann ein sinnig geschmückter Wagen mit der Geistlichkeit, dem Meßner und den Ministranten. Es folgt ein mit Tannenreisig geputzter Leiterwagen mit den Musikanten, die aus Leibeskräften lustige Märsche blasen, während die Theilnehmer des Zuges laute Gebete in den frischen Morgen schreien. Der Einfluß der Schnitzerkunst zeigt sich unverkennbar in den mitgeführten Dekorationen. Da wird das Modell der Leonhardskapelle bei Tölz mitgeführt, aus Holz und Pappe künstlerisch hergestellt, oft thront auf einem farbenprächtigen Wagen eine vorzügliche Leonha[rd]sstatue, vor der ein Jubelpaar in der Tracht des vorigen [Jah]rhunderts seine Andacht verrichtet, unbekümmert um den auf d en Dorfstraßen herrschenden Lärm. In gutem Glauben treibt man aus manchen Orten auch das Vieh herbei, damit es durch die Betheiligung an der Lienhardsfahrt gefeit werde gegen alle Krankheiten. So reihen sich oft an fünfzig Wagen aneinander, und langsam geht die Fahrt den Berg hinan zur Kapelle.

In vollem Ornat steht die Priesterschaft an der Eingangspforte der St. Leonhard geweihten, mit langer Eisenkette umspannten Kapelle, der greise Pfarrer segnet jeden einzelnen Lienhardswagen, und wenn alle fertig sind, dann beginnt die feierliche Messe. Das kleine Kirchlein kann die Menge nicht fassen, die Gläubigen stehen draußen im Kreise entblößten Hauptes ungeachtet des scharfen Nordostes, der den Berg umtost. – Helle Kinderstimmen, brausende Orgeltöne erschallen. Jetzt ist die Messe aus, rasch werden der hungrigen Jugend heiße Würstel und Schwarzbrot in den Wagen geworfen, welche Atzung die Bauern den fliegenden Kaufbuden und Schänken entnommen haben, dann ertönt eine Fanfare, die Musikkapelle setzt mit einem markerschütternden Marschlied ein, der Zug setzt sich in Bewegung, es beginnt in raschem Tempo die Rundfahrt um die Leonhardskapelle. Hier zeigt sich, wer ein Meisterfahrer ist; wer es nicht ist, der wirft wohl an der äußerst scharfen Krümmung den Wagen mit seinem Menscheninhalt die steile Böschung in den Föhrenstand hinab, eine Gefahr, die dem Städter den Angstschweiß auf die Stirn treibt.

Aber diese Banern kennen Pferd und Fahrkunst, haarscharf nehmen sie die Kurve, und unter lustigem Peitschellgeknall geht es die Straße wieder hinab. Wohl beten die Wageninsassen auch jetzt noch, aber an Stelle der Andacht ist eigentlich doch die Neugier getreten, zu sehen, ob „der Vater“ auch heuer seine Fahrkunst beweisen oder umwerfen wird, was eine unauslöschliche Schande für die Familie und den Bauernhof bedeuten würde. Es flattern die Bänder und Fähnlein, die Laubgewinde schwanken unter der Erschütterung des ungefederten Wagens, die muthigen Rosse wiehern in die scharfe Morgenluft, als ahnten sie, welche Rolle sie am Leonhardstage spielen. Gruß und Witzwort fliegt hin und her, die Bauernburschen sprengen auf ungesatteltem Pferde vorbei, und wenn einer recht keck ist, dann stößt er dem Gaul wohl die schwergenagelten Bergschuhe kraftvoll in die Weichen, daß das erschrockene Thier kerzengerade in die Luft steigt. Den Pferderücken darf der Bursche freilich in solchem Augenblick nicht verlassen, er wäre blamiert sein Leben lang.

Immer flotter wird die Fahrt, bis an der Kirche zu Mühlfeld bei Tölz der dortige Geistliche nochmals Mann und Roß segnet. Dann wird gewendet, die „Brettelhupfer“, welche auf einem am Ende jedes Wagens befeftigten Brette stehen, beginnen mit ungeheuer langen Lederriemen an kurzen Stielen ein nervenerschütterndes Peitschengeknall, das regelrecht im Takt durchgeführt wird, bis der Zug vor den Gasthäusern angelangt ist; hier springt der „Brettelhupfer“ ab und reicht mit ländlicher Galanterie den mit einem Satz über Bord springenden Mädchen die hilfreiche Hand. Nun folgt des Festes zweiter, weltlicher Theil bei Mahl und Tanz. –

Einer der schönsten Lienhardswagen war der des reichen Huberbauern von Wackersberg. Für den Lienhardstag war dem alten Bauern nichts zu kostspielig, er wollte seinen Reichthum zeigen auf jede Weise. „Wir haben ’s ja,“ pflegte der Bauer in seinem Uebermuth zu sagen. Mit seinen vier Gäulen überholte er alle anderen Fuhrwerke, zurückbleiben oder gar umwerfen hätte den Huberbauern um den Verstand gebracht. Aber so reich er war, der rechte Segen war nicht in seinem Hause zu finden, denn es fehlte der Friede drin. Mit seiner schmucken Tochter, der blondzopfigen Liesel, lebte der Huberer in stetem Streit, weil das Mädel zum Mann nicht den Leitnerbauernsohn von Arzbach nehmen wollte, der an Reichthum dem Huberer nicht nachstand.

So brav die Liesel immer war, in dieser Angelegenheit zeigte sie sich gerade so bockbeinig wie der alte Bauer, und von Nachgeben war bei ihr keine Rede. Wohl donnerte der Alte viel vom Zwingen, vom gewaltsamen Hinschleifen zum Altar, aber die Liesel lachte ihm ins Gesicht und meinte: „Oho! Eine Huberische zwingt man nicht!“

Vom diesmaligen Lienhardstag erhoffte der Huberbauer eine Einwirkung auf seine eigenwillige Tochter. Er hatte den Leitnerbauern wissen lassen, wo sie nach der Fahrt in Tölz einkehren würden„ und bei guter Tafel und fröhlichem Tanz werde wohl sein Mädel mit sich reden lassen. Schon während der Fahrt nach Tölz war der Bauer fuchsteufelswild geworden, denn mehrere Male hörte er hinter seinem Wagen ein Pfeifen, gleichsam als gebe einer ein Zeichen, daß er vorfahren wolle. Der Huberer aber einen vorfahren lassen, das gab’s nicht! Und wie rasend hatte er auf die Gäule eingehauen, daß sie dampfend und keuchend an der Lienhardskapelle ankamen. Während der Fahrt in Tölz hatte er den Leitnersohn nicht zu Gesicht bekommen, was den Bauern abermals grimmig ärgerte. Dann hätte er um ein Haar die Kurve oben bei der Kapelle zu weit genommen, ein Hinterrad hing schon in der Luft. Das war sofort von den übrigen Bauern bemerkt worden und an Stichelrufen fehlte es nicht. Springgiftig war der Bauer endlich beim Wirthshaus angekommen, so recht in der Stimmung, just das Gegentheil von dem zu thun, was andere Leute meinten. Das fing gleich beim Bestellen des Getränkes an, weil einer der lustigen Burschen das Schnaderhüpfl sang:

„Gehst du ins Wirthshaus ’nein,
Trink an Tirolerwein,
Aber koan süaßen –
Sonst mußt es büaßen.“

Natürlich regalierte der Hitzkopf jetzt erst recht seine Eh’halten (Hausgesinde) mit süßem Weine, daß die Gesellschaft, des schweren Getränkes ungewohnt, rasch rothe Köpfe bekam. Getreu der alten Sitte bei der Leonhardsfahrt mußte aufgetragen werden, daß sich die Tische bogen. Wer wissen will, was ein Bauernmagen leistet und verträgt, der finde sich am Lienhardstag im Gebirge ein. Da ißt jeder drei- und viermal, denn an diesem Tage zahlt der Bauer die gesammte Zeche, und alles, was zum Hof gehört, ist sein Gast. Das kostet viele harte Kronenthaler, und wohl aus diesem Grunde ist die Betheiligung an der Lienhardsfahrt in den letzten Jahren etwas zurückgegangen.

Der Huberer ühertrumpfte heute alle anderen Bauern durch die Massenbestellungen von Speise und Trank, er lud jeden ein, der ihm zu Gesicht stand, und wie der schwere Wein seine Wirkung that, durften sich auch Burschen an den Tisch setzen, die der Bauer sonst nicht in seiner Gesellschaft geduldet hätte. Er brauchte Leute zum Hänseln, und um die „noblichte Zeche“ gaben sich genug arme Schlucker zum Stichblatt der bäuerlichen Spottsucht her.

Die Liesel hatte die qualmerfüllte Stube verlassen, als das Gespräch der erhitzten Bauern anfing, ein Heidenlärm zu werden. Das Mädel schämte sich, daß mit dem Reichthum so geprotzt wurde. Wie sie das Gärtchen oben am Bräukeller aufsuchen wollte, von wo man eibeb gar hübschen Ausblick auf die grüne Isar und ins Gebirge hatte, da trat auch der Schmiedflori ins behäbige Bräuhaus, und sein Falkenblick sah sofort die Gestalt des Prachtmädels. Im Nu war der Bursche die lange Stiege hinaufgesprungen, er wußte selbst nicht, wie es so schnell ging. Die Huberer-Liesel kannte er von einem Besuch auf dem Hofe des Bauern her, wohin er als „halber Thierarz!“ (Kurschmied) geholt worden war. Er sah das schmucke Mädel gern, aber weitere Gedanken hatte er sich nie gemacht, die hätt’ ihm auch der Bauer nicht [703] übel ausgetrieben. Bei einem richtigen Protzenbauern sind ja selbst Gedanken nicht zollfrei, denken dürfen bloß Leute, die ’was haben. Der Flori war bescheiden genug, den Abstand nicht zu vergessen, der zwischen ihm und dem reichen Huberer lag, und so unterließ er jede Annäherung, wiewohl das Benehmen der Bauerntochter durchaus nicht abweisend war.

Warum er jetzt so jäh auf sie losstürzte, wußte er wirklich selber nicht, es mußte eine innere Gewalt sein, die ihn herauftrieb.

Anfänglich erstaunt über das Ungestüm des Burschen, mußte Liesel doch lächeln, als der Flori in höchster Verlegenheit vor ihr stand und kein Wort sagen konnte, wie wenn er den Mund voll Krapfen hätte. „Es hat Dir wohl die Red’ verschlagen,“ meinte sie ermunternd.

„Ja!“ Das war alles, was der Flori herausbrachte. Dann standen beide schweigend beieinander, das Mädel in leichter Verwirrung, der Bursche verlegen und ärgerlich, daß ihm just jetzt die Sprache fehlte. Aber plötzlich löste sich der Bann, und anfangs stotternd vor innerer Aufregung, bald aber übersprudelnd vor Eifer erzählte er dem Dirndl, wie er „’s Wisperl“ gehört habe am Allerheiligentage, und das bringe Glück. Und ’s Glück sei auch schon da, weil er d’ Liesi vor sich habe und sie so gar kein’ Stolz habe gegen ihn.

„Wüßt net, warum i an Stolz haben sollt’!“ entgegnete Liesel. „Du bist a braver Bua, sunst hättest Du ‚’s Wisperl‘ net g’hört.“

Da ward die Unterhaltung der beiden jäh durch den Bauern gestört, der nachschauen kam, wo denn seine Tochter so lange stecke. Mit einem Fluch stapfte er auf den Flori zu und hieß den „Haderlumpen“ weiter gehen. Schon hatte der Bursche eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber er unterdrückte sie bei dem bittenden Blick des Mädchens. So meinte er nur, der Bauer solle aufpassen, daß er den „Haderlumpen“ nicht einmal nothwendig brauche.

„In dem Leben net,“ lautete die protzige Antwort, dann nahm der Bauer sein Mädel beim Arm und führte es in die heiße Wirthsstube zurück.

Rasch verflog die Zeit bei Tanz und Trank, der Abend brach früh herein, und der Huberer mußte aufbrechen, wenn er nicht in die Nacht hineinfahren wollte. So ward denn eingespannt, das Gesinde kletterte voll Uebermuth in den Wagen, der Bauer ergriff die Zügel, und in rasendem Galopp jagten die vier Gäule, von wuchtigen Peitschenhieben getrieben, das hügelige Sträßlein hinan. Dem Bauern schien es trotzdem noch zu langsam zu gehen, er gönnte den Thieren kein Verschnaufen, und wie der „Moar“ (Oberknecht) etwas Vorsicht empfahl, weil der Weg abschüssig werde und der Lienhardswagen keine Schleifen (Bremse) habe, da hieb der erregte Bauer nur noch wüthender auf die Pferde ein und fluchte dabei ganz lästerlich. Und wieder ertönten grelle Pfiffe, daß die Eh’halten ganz erschrocken aufhorchten. Aber immer toller wird das Jagen durch die Nacht, kein Sternlein erhellt den dunklen wolkenverhängten Himmel, dumpf braust der Bergwind über das Land und ächzend biegen sich die Bäume an dem Sträßlein. Die Pferde werden immer unruhiger, das Zerren am Zügel macht sie völlig rebellisch, der Handgaul scheut, springt seitwärts, ihm nach die andern Gäule – ein Krach, der Wagen stürzt und kollert den Hang hinab, ein wüstes Durcheinander.

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Auf dem Hubererhof ist’s still geworden seit jener unheilvollen Nacht. Der Bauer liegt mit arg verschundenen Beinen zu Bett, mehrere der Eh’halten haben Verletzungen davongetragen, nur die Liefel ist mit leichten Schürfungen davongekommen. Von Tölz kommt der Bader zweimal die Woche heraus und sieht nach den Kranken. Von der Lienhardsnacht darf er aber bei Leibe nicht reden, da kann der Bauer ganz toll werden, zumal er keine Ausrede für sein Umwerfen findet.

Doch mit der Heilung wollte es gar nicht vorwärts gehen, und ein über das andere Mal schimpfte der Bauer den Bader einen schauerlichen „Patzer“, aber den Arzt ließ er trotzdem nicht holen. Der Bader hatte gethan, was er konnte, allein es fehlte an der richtigen Verschienung. Je näher es auf Weihnachten zuging, desto „schlechter“ wurde der Bauer, und das lange Krankenlager fing an, ihn mürbe zu machen. Dazu kam noch, daß unter seinen Pferden die Milbenräude ausbrach, was den Bauer bald noch mehr schmerzte als sein eigenes Krankenlager. Für sich ließ er den Arzt nicht holen, aber dem Rath, den Schmiedflori kommen zu lassen wegen der Pferde, zeigte er sich zugänglich.

Richtig kam der Flori auf den Hof und fing gleich mit seiner Salzwasserkur bei den Pferden an. Er blieb auch auf des Bauern Wunsch ganz auf dem Hof, und seinen Bemühungen gelang es, in nicht ganz drei Wochen die Pferde, die ein großes Kapital für den stolzen Bauern bedeuteten, wieder herzustellen. Das flößte Vertrauen ein, und wie die Liefel meinte, vielleicht könnte der Flori auch dem Vater helfen, überließ sich der Bauer wirklich der Behandlung des Kurschmiedes.

Flori merkte richtig, wo der Fehler saß, legte einen besseren Verband an und am Heiligen Abend konnte der hocherfreute Bauer zum ersten Mal wieder aus dem Bett.

Daß Flori und die Liesel sich einander genähert, hatte der Bauer von seinem Lager aus wohl beobachtet. Unter anderen Umständen wäre er mit einem gehörigen Donnerwetter dreingefahren, aber so hatte er still liegen müssen und dabei Zeit genug gehabt zum Sinnieren. So kam er denn zu dem Ergebniß, daß der Flori doch eigentlich ein recht geschickter Bursche sei, der seine Sach’ verstehe. Dazu war die heilige Weihnachtszeit da, die selbst den herbsten Bauersmann mit ihrem Zauber ergreift und milde stimmt.

So saß der Huberer am Heiligen Abend seelenvergnügt über die glückliche Menschen- und Pferdekur in der Wohnstube, das Pfeiflein schmeckte ihm wieder, die Weihnachtskrapfen auch, welche die Liesel so schön gelb gebacken hatte. Und da fragte er auf einmal ganz unvermuthet, ob der Flori wohl Lust hätte, ganz auf dem Hubererhof zu bleibeu und die Schmiede drüben zu verkaufen. Dem Flori ward ganz schwarz vor den Augen und wie am Lienhardstage bei der Liesel versagte ihm auch jetzt die Sprache. Aber um so resoluter war das Mädel, das kurzweg sagte: Ja, Vater, mit Verlaub – als Hochzeiter.“

Da schmunzelte der Bauer, während der Flori wie im Gebete flüsterte. „O Du mein liab’s ‚Wisperl‘!“

„Larifari!“ meinte der Huberer dazu. „Du wirst ein ordentlicher Bauer, und wennst mein Lieserl net ordentlich halt’st, nachher komm i Dir mit ’m Wisperl, aber mit einem hoanbuchenen.“

„Is net nöthig!“ rief der Flori, „denn wann i mei Weib net ordentlich halten wollt, hernach könnt aus dem ‚Wisperl‘ no ‚’s Pfeiferl‘ wern, und dös – na, Bauer, nur koa Angst!“

Zur Christmette ging das junge Paar durch die glitzernde heilige Nacht, als Verspruchsleute, und mit besonderer Andacht beteten sie: „Ehre sei Gott in der Höhe!“

Die Sage vom Wisperl ist ziemlich vergessen worden im Laufe der Zeit, die Jugend glaubt solche Sachen nimmer.


[704] Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Gesundheit und Städteerweiterung.

Von Dr. Fr. Dornblüth.

Die Choleraepidemie in Hamburg, welche die alte Hansastadt mit so furchtbarer Gewalt, mit so viel Noth im Gefolge heimgesucht hat, stellt die Fragen der öffentlichen Hygieine aufs neue in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Durch diese jüngsten traurigen Erfahrungen ist eine Reihe von Punkten aufgedeckt worden, alt denen die bessernde Hand sofort und thatkräftig eingreifen muß. Mit in erster Linie kommt dabei die Sorge für gesunde und räumlich ausreichende Wohnungen in Betracht. Unsere alten Städte haben durch enges Zusammenbauen der Häuser, schmale und enge Straßen und Höfe, licht- und luftarme Wohnungen auf einem durch die Abfälle von Jahrhunderten verunreinigten Boden die beste Entwicklungsstätte für mörderische Seuchen geboten und nicht selten eine fast durchweg sieche Bewohnerschaft erzeugt. Die neuerstandene Sorge für die allgemeine Gesundheit hat diese Uebelstände durch gute Wasserversorgung und Kanalisation, durch Abbrechen alter Häuserhaufen und Durchlegen breiter Straßen, also durch Reinlichkeit, Luft und Licht mit oft glänzenden Erfolgen bekämpft; aber es droht den sich rasch ausdehnenden Hauptstätten industrieller Entwicklung eine ähnliche Gefahr durch die ungeregelte Befriedigung des rasch, fast überstürzt sich einstellenden Wohnungsbedürfnisses. Wenn zahlreiche Städte in zehn bis zwanzig Jahren ihre Einwohnerzahl auf das Doppelte und mehr vergrößern, so geschieht dies hanptsächlich durch den massenhaften Zuzug von Arbeiter, namentlich von ländlichen Arbeitern mit ihren Familien, die außer ihrer Arbeitskraft kein Kapital mitbringen und deshalb auf billige Wohuungen nothwendig angewiesen sind. So sehr die neu entstehenden Prachtbauten der inneren Stadttheile und die anmuthigen Villenvorstädte das Auge erfreuen, so bedenklich müssen wir der wachsenden Höhe der Häuser, der engen Bebauung der Höfe und Gärten, den kasernenhaften Massenquartieren gegenüberstehen, die der Gesundheit und Sittlichkeit ihrer jetzigen und zukünftigen Bewohner schwere Gefahren bereiten.

Vorbereitung zum Appell.
Nach einem Gemälde von Karl Müller.

Die hohen Preise der Bauplätze veranlassen die Hausbesitzer und Bauuuternehmer, auf möglichst engen Räumen möglichst zahlreiche Wohnungen zu erstreben. Hohe thurmartige Gebäude, welche die Straßen zu schmalen Spalten machen und von Höfen und Gärten nichts übrig lassen als enge Luftschächte, sogenannte Lichthöfe, die der reinen Luft und dem Sonnenlicht keinen oder nur spärlichen Zutritt verstatten; Wohnungen vom tiefen Keller bis unter das höchste Dach, mit zahlreichen Dunkelräumen; Wände aus schlechtem Material, dem keine Zeit gelassen wird, gehörig auszutrocknen, bevor die Räume mit Bewohnern vollgestopft werden: das ist die Kehrseite jenes stolz gerühmten Aufblühens der Städte.

Die hiermit gegebenen Wohnungsverhältnisse können durch Zuleitung guten und reichlichen Wassers, sowie durch die Abführung der Unreinigkeiten gebessert, aber nicht unschädlich gemacht werden. Zahlreiche Krankheiten, welche die Kraft und Erwerbsfähigkeit der Bewohner und ihrer Nachkommenschaft beeinträchtigen, und hohe Sterblichkeit bleiben als Folgen bestehen und drohen immer verderblicher zu wirken. Ueberaus lehrreich für diese Verhältnisse sind die Berechnungen des Professors von Pettenkofer, nach denen wie nach anderen zu dem gleichen Ergebniß kommenden Zahlenaufstellungen auf jeden Todesfall in einer Stadt mindestens 30 Erkrankungen treffen, die im Mittel 20 Tage dauern und während dieser Zeit die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen oder ganz aufheben, sowie Kosten für Arzt, Arznei und Pflege veranlassen. Diese Unkosten dürfen auf 2 Mark täglich veranschlagt werden. Wenn nun von 1000 Personen jährlich drei weniger sterben, also die Sterblichkeit von etwa 24 auf 21 vom Tausend sinkt, so bedeutet dies zugleich, daß 3 X 30 = 90 weniger krank sind und 20 X 90 = 1800 Krankheitstage nebst 2 x 1800 = 3600 Mark Unkosten gespart werden. Für eine Stadt von 10000 Einwohnern würde hierdurch eine jährliche Ersparniß von 36000 Mark, für 50 000 Einwohner eine solche von 180 000 Mark gemacht werden, was, zu 4 Prozent berechnet, einem Kapitalwerth von 900 000 bezw. 4 500 000 Mark entspräche.

Besserung der Gesundheitsverhältnisse ist also mit sehr erheblichen Ersparungen an baren Ausgaben verbunden. Diese treffen freilich zunächst nur die Einzelnen, aber das Wohl des Ganzen beruht doch auf dem Wohle seiner Glieder, und wo diese in ihrem materiellen Fortkommen geschädigt werden, muß auch das Gemeinwohl leiden. Außerdem haben viele der Krankheiten, die in ungesunden Wohnungen gleichsam gezüchtet werden, die Eigenschaft, daß sie früher oder später über ihren ursprünglichen Sitz hinausgreifen und nicht nur mittelbar, was in mehrfacher Beziehung immer der Fall ist, sondern auch unmittelbar die unter anderen, günstigeren Verhältnissen lebenden Mitbewohner gefährden und schädigen.

In England stehen den Gesundheitsbehörden sehr kräftige Eingriffe in die Rechte der Besitzer von ungesunden Wohnungen zu: diese können zur Ausführung der ihnen auferlegten Verbesserungen streng angehalten werden, Miethswohnungen können geschlossen, nicht [705] mehr zu sanierende Häuser zum Abbruch verurtheilt werden. In Deutschland geht man, soviel ich weiß, höchstens soweit, bestehende Mietverträge aufzulösen und die Wiedervermiethung erst nach erfolgter Abhilfe zu gestatten, ein Abbrechen ungesunder Häuser und Stadttheile, Durchlegen neuer Straßen etc. erfordert Zustimmung der Hausbesitzer oder schwierige, oft sehr langwierige Verhandlungen über Enteignung und Entschädigung. Die Mängel und Verschiedenheiten der bestehenden Gesetze und Ordnungen müßten vor allem durch ein Reichsgesetz über diese Verhältnisse gehoben werden.

Besser schon ist auch in Deutschland für gesundheitsgemäße Neubauten gesorgt, aber auch in diesem Punkte herrschen in den Einzelstaaten sehr verschiedene, meistens ganz unzureichende Bestimmungen. Und doch ist es bei dem riesigen Wachsthum der Städte durchaus nothwendig, daß erträgliche Verhältnisse wenigstens hierbei gesichert werden und daß die Reichsgesetzgebung mindestens die Grundbestimmungen feststelle. Trockenheit und Reinheit des Baugrundes, gute Beschaffenheit des Baumaterials, frische Luft und unmittelbares Licht für alle zum dauernden Aufenthalt von Menschen benutzten Räume, also für Wohn- und Schlafzimmer, Arbeitsräume, Küchen etc., genügendes Austrocknen vor dem Beziehen, gehöriges Verhältniß der Häuserhöhe zur Breite der Straßen und Weite der Höfe, Anschluß an bestehende Wasserzu- und Wasserableitungen, sowie Schutz gegen Luft-, Wasser- und Bodenverunreinigungen, das müßten jene Grundbestimmungen der Bauordnung für Einzelhäuser festzustellen haben, während gleichzeitig gesetzliche Fürsorge dafür zu treffen wäre, daß an sich gesunde Wohnräume nicht durch Uebervölkerung oder andere Umstände gesundheitsschädlich gemacht werden dürfen.

Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hat sich seit zwanzig Jahren vielfach mit diesen Angelegenheiten beschäftigt und unter Mitwirkung der berufensten Aerzte, Gemeindeverwalter und Bauverständigen Grundsätze für Städteerweiterungen, Bauordnungen und Wohnungspolizei aufgestellt, die bei voller Rücksichtnahme auf Grund- und Hausbesitzer und Bauunternehmer, auf Verkehrs- und Schönheitsinteressen den gesundheitlichen Verhältnissen ihr Recht zutheil werden lassen.

Diese Arbeiten des Vereins haben auf die Einführung und den Inhalt der Bauordnungen in manchen Einzelstaaten, sowie auf die Erweiterungspläne vieler Städte bedeutenden, theilweise geradezu maßgebenden Einfluß geübt; sie haben Anregung und Förderung gegeben bei zahlreichen hygieinischen Einrichtungen, namentlich wo es sich um Wasserversorgung, Entwässerung und Reinigung der Städte handelte, also um Maßnahmen von unbestreitbarem Einfluß auf die Verminderung der Sterblichkeit und die Fernhaltung von Volksseuchen. Aber bei der ganzen Frage hat sich mehr und mehr das Bedürfniß einer reichsgesetzlichen Grundlage für alle derartigen gesundheitlichen Verbesserungen herausgestellt, und dieses Bedürfniß ist durch die Choleraepidemie in Hamburg zu einer geradezu unabweisbaren Angelegenheit des öffentlichen Wohls geworden. Hoffen wir, daß diese gesetzliche Regelung rasch erfolgt und vor allem auf die hygieinischen Anforderungen an die Wohnungsverhältnisse der Städte jede gebotene Rücksicht nimmt!


Blätter & Blüthen.

Gesellschaft der Waisenfreunde. Vor etwas mehr als einem Jahre haben wir unseren Lesern die Mittheilung machen können, daß die verdienstvolle, seit Mitte der achtziger Jahre bestehende „Gesellschaft der Waisenfreunde“ sich nach einer Periode der Stockung neu gebildet hat, um ihre menschenfreundliche Thätigkeit mit frischer Kraft wieder aufzunehmen. Erfreulicher Weise hat der Verein seither einen bemerkenswerthen Aufschwung genommen. Die zahl seiner Mitglieder hat sich vermehrt, ansehnliche Jahresbeiträge und außerordentliche Spenden sind ihm zugeflossen, und der Geschäftsführer, Schuldirektor K. O. Mehner in Burgstädt, ist mannigfach durch zweckdienliche Mittheilungen über versorgungsbedürftige Waisen und durch Empfehlung des Vereins an kinderlose Familien unterstützt worden.

Wenn wir heute die Bitte an unsere Leser erneuern, durch eine rege Betheiligung die edlen Bestrebungen des Vereins zu fördern, so geschieht es zunächst deshalb, weil auf diesem Gebiet nie genug gethan werden kann, sodann aber auch deshalb, weil nur bei der vielseitigsten und ausgebreitetsten Theilnahme der wünschenswerthe Ausgleich zwischen „Angebot“ und „Nachfrage“ zu erreichen ist. Denn naturgemäß sind die Wünsche der Eltern, die zur Annahme eines Waisenkindes im allgemeinen sich geneigt zeigen, sehr verschieden, so daß sich oft unter den angemeldeten Kindern das jenen Wünschen Entsprechende nicht findet. Und doch möchte der Verein nur gut Harmonierendes zusammenfügen – er erläßt daher die Bitte namentlich an Vormünder und Vormundschaftsbehörden, die arme Waisen und besonders Mädchen im Alter von 1 bis 3 Jahren zu versorgen haben, sich an den obengenannten Geschäftsführer der Gesellschaft wenden zu wollen.

Jenem Uebelstand kann eben nur durch eine recht vielseitige Inanspruchnahme des Vereins abgeholfen werden, weil dann auf Seiten der Eltern wie der Kinder die Auswahl am reichsten ist. Freilich bedarf der Verein dann auch ausgiebiger Mittel, um seine schöne Aufgabe sachgemäß zu bewältigen, und wir wiederholen daher hier die Adresse des Schatzmeisters der Gesellschaft, welcher Anmeldungen zur Mitgliedschaft und Beiträge entgegennimmt. Sie ist: Franz Beyer, im Hause Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig, Königstraße 33 p.

Pietro Mascagni. (Mit Bildniß.) In den letzten Wochen war Wien von einem musikalischer Begeisterungstaumel erfaßt, der selbst im reichen Musikleben der Donaustadt seinesgleichen sucht. Pietro Mascagni, der mit einem Schlage berühmt gewordene italienische Komponist, war gekommen, um im Wiener Ausstellungstheater die Aufführung seiner Opern durch eine italienische Truppe selbst zu dirigieren. —

Pietro Mascagni.
Nach einer Photographie von Montabone in Rom.

Es ist ein eigenartiges Schauspiel – das plötzliche elementare Aufsteigen dieses Talents. Mit dem Altwerden Verdis betrachtete man die klassische Zeit der italienischen Opernkompositionen gewissermaßen als abgeschlossen, mit dem „Othello“ schien der Altmeister vor drei Jahren seinen letzten Trumpf ausgespielt zu haben. Da mit einem Male ging in dem bisher selbst in seinem engeren Vaterland so gut wie unbekannten jugendlichen Pietro Mascagni ein neuer Stern auf, und das ewige Einerlei des italienischen Opernrepertoires hat eine Aufbesserung erfahren, die zweifellos aufs angenehmste empfunden wird. Die „Sicilianische Bauernehre“ Mascagnis hat einen fast unerhörten Siegeszug durch alle Lande vollendet, und sein „Freund Fritz“, obwohl offenbar von weniger elementarer Wirkung, scheint im ganzen kein unebenbürtiger Genosse der „Bauernehre“ zu sein.

Wer ist nun dieser bis dahin ungekannte Meister der Töne?

Mascagni lebt in dem kleinen Städtchen Cerignola bei Foggia in Unteritalien, berühmt durch die Niederlage der Franzosen am 28. April 1503 unter Ludwig, Herzog von Nemours, Vicekönig von Neapel, der in dieser Schlacht gegen die Spanier unter Gonsalvo da Cordova seinen Tod fand. Mascagnis Geburtsort dagegen ist San Miniato al Tedesco im Toskanischen, sein Alter 27 Jahre. Seine musikalische Ausbildung erhielt er in Livorno und Mailand. Praktisch erprobte er sich als Kapellmeister bei der Operettengesellschaft Sconamiglio, dann wurde er als Organist und Kapellmeister der Philharmonie nach Cerignola berufen. Der junge Maestro muß, nach seinen vielen Kompositionen zu urtheilen, einen grossen Drang zu musikalischer Gestaltung seiner Gedanken in sich spüren. Vorwiegend beschäftigte er sich mit kirchlicher Musik und Liederkompositionen. Uns Deutsche wird es besonders interessieren, daß er unter anderm auch Schillers „Lied an die Freude“ in Töne gesetzt hat und daß gerade die Aufführung dieses vierstimmigen Chors mit Orchesterbegleitung zum ersten Male auf den begabten Musiker aufmerksam machte, der so etwas mit 17 Jahren zustande gebracht hatte. Mit der Kirchenmusik scheint Mascagni weniger Glück gehabt zu haben, denn trotz seines jetzigen Weltrufes ist die große Messe, welche er zur Säkularfeier des Domes von Orvieto geschrieben hat, ohne Umschweife gesagt, glänzend durchgefallen. Von fast fertigen Opern liegen in seinem Pulte: „Guglielmo Ratcliff“ und die „Rantzau“, nach Erckmann-Chatriau.

Die sogenannte „Spieloper“ galt bis daher – leider – längst als begraben. Hoffen wir, daß in Pietro Mascagni ihr ein lebenskräftiger Erwecker erstanden sei. Alfred Ruhemann.     
[706] Der Vierseenplatz bei Boppard. (Zu dem Bilde S. 680 u. 681.) Es ist ein merkwürdiges Spiel der Natur, welches unser Bild dem Leser vor Augen führt. Wenn man von dem lieblichen Rheinstädtchen Boppard durch den sogenannten „Bopparder Hamm“ hinaufsteigt auf die Höhe der das Thal umsäumenden Berge, so kommt man an eine Stelle, welche man den „Vierseenplatz“ getauft hat. Und in der That, viermal erscheint der Rhein dem Blicke, jedesmal für das Auge rings umschlossen von Fels und Hügel, jedesmal einem See nicht übel vergleichbar. Aber auch sonst gehört die Aussicht von diesem Punkte zu den schönsten an dem schönen deutschen Strome. Tief unten zieht der riesige Salondampfer seinen Weg, zur Rechten schauen wir über das Dörfchen Filzen weg hinüber nach dem stattlichen Boppard. Ganz hinten, am obersten „See“ liegt Kamp, noch weiter stromaufwärts die Burgen Sternberg und Liebenstein, die „feindlichen Brüder“. Zur Linken aber taucht der Kirchthurm von Osterspay empor, darüber auf bewaldeter Höhe Schloß Liebeneck. Eine echte Landschaft vom Mittelrhein! Rebenhügel und Felsstürze, Wald und Wiese, Strom und Au, freundliche Städtchen, saubere Dörfer, schlanke Kirchen und altersgraue Ruinen, alles vereinigt, als wäre es von der Natur eigens gruppiert zu der Menschen Augenweide! Und damit der Stempel der modernen Zeit nicht fehle, zieht die Eisenbahn ihre stählernen Linien mitten durch das idyllische Bild. Auch sie gehört ja heute mit zu den stehenden Eigenschaften einer Rheinlandschaft!

Berthold Auerbachs Schriften. Es sind jetzt etwas über zehn Jahre her, seit Berthold Auerbach zu Cannes in Südfrankreich sein langes vielbewegtes, schaffens- und erfolgreiches Leben beschloß und seit er in seinem bescheidenen württembergischen Heimathdorf Nordstetten begraben wurde, in jenem Boden und unter jenen Menschen, die durch seine „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ weit über die Grenzen der deutschen Heimath hinaus bekannt geworden sind. Schaut man heute aus der Entfernung zurück auf die so außerordentlich reiche schriftstellerische Thätigkeit Auerbachs und fragt sich: was bestimmt heute noch das litterarische Bild dieses Mannes, was hebt heute noch seinen Namen empor aus der Masse der zeitgenössischen Erscheinungen, so werden wir uns ohne langes Besinnen die Antwort geben: die „Schwarzwälder Dorfgeschichten“. Wer einmal den Zauber eines „Barfüßele“, die erschütternde Tragik eines „Diethelm von Buchenberg“, die köstliche Laune von „Brosi und Moni“ auf sich hat wirken lassen, der wird des Eindrucks nimmer vergessen und stets mit Liebe zu diesen Meisterwerken der Erzählerkunst zurückkehren, die einst ein ganzes Geschlecht begeisterten und fast in alle europäischen Sprachen übersetzt wurden.

Aber die „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ sind doch nur der eine Gipfel von Auerbachs Schaffen. Den zweiten bilden ebenso unstreitig seine großen Romane, von denen wiederum „Auf der Höhe“ wohl der hervorragendste sein dürfte. Weniger allgemeine Geltung haben sich die späteren Veröffentlichungen Auerbachs auf diesem Gebiet errungen, obwohl auch sie, wie z. B. „Das Landhaus am Rhein“, zu den bedeutenderen Erzeugnissen der deutschen Romanlitteratur gehören.

Man darf es nach dem Gesagten als durchaus sachgemäß bezeichnen, wenn aus der Fülle der Auerbachschen Werke die „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, die Romane „Auf der Höhe“ und „Das Landhaus am Rhein“ herausgegriffen und in einer eigenen neuen Volksausgabe dem Publikum näher gebracht werden. Eine solche beginnt soeben im Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger zu erscheinen. Sie umschließt die Werke, die Auerbachs Ruhm begründeten und die ihn frisch erhalten werden auch für die späteren Geschlechter.

Die Musikanten. (Zu dem Bilde S. 685.) Mitten im fröhlichsten Familienfest war man, unbekümmert um die große Welt, die jenseit der Alpen, in Deutschland, in grimmigem Religionskrieg zusammengestoßen war. Man hatte die Mahlzeit beendigt, und die heiterste Laune italienischen Wesens brach sich zwanglos Bahn. Die Frauen lachten über die Scherze der Männer, über ihre Schmeicheleien; die Männer kredenzten den perlenden Wein und stimmten auch wohl eine beliebte Arie zum Chorgesang an. Da stellten sich eben recht ein paar wandernde Musikanten auf der Straße vor dem Balkon auf und ließen ihre Lirum-Larumweisen ertönen. Sie waren ja nicht schön, diese Weisen; mit dem italienischen Dudelsack, mit der Drehleier und der einfachen Holzklarinette läßt sich kein Ohrenschmaus bereiten. Aber die Musik, auch in dieser einfachsten Art, übt doch einen gewissen Zauber aus auf die Gesellschaft im Hause. Sie hebt die Stimmung; die Frauen trinken lustig den armen Gesellen zu; das Kindchen setzt sich draußen auf die Steintreppe und betrachtet sich mit ernster Aufmerksamkeit die drei aufspielenden Männer. Ueber diese kommt denn auch etwas wie Künstlerstolz, daß sie so fröhlichen Anklang finden, und zugleich beschleicht ihr durstiges Gemüth die Ahnung eines reichen Geschenks und der stille Vorsatz, sich mit demselben einen lustigen Abend zu machen als echte freie Musikanten. S.     

Ein Jubiläum im Riesengebirge. Das schöne schlesische Gebirge, das Reich Rübezahls, hat kaum einen Anlaß, Jubiläen zu feiern; denn der alte Berggeist, der dort seit vielen tausend Jahren herrscht, kümmert sich nicht um die Zeitrechnung der Menschen. Und doch ist am 2. August hier ein fünfzigjähriges Jubiläum begangen worden: es galt einem kleinen Juwel des Gebirges, der Kirche Wang bei Brückenberg. Diese kleine norwegische Kirche hatte König Friedrich Wilhelm IV. aus warmem Kunstinteresse erworben; er bat seine mütterliche Freundin, die Gräfin Reden in Buchwald, sie möchte ihm die rechte Stelle angeben, wo er die Kirche aufbauen könne, und diese erwiderte, sie müsse im Angesicht von Erdmannsdorf, dem neuerbauten Schlosse des Königs, stehen, zum Gottesdienst für die Gebirgsdörfer oder Gebirgsbauden in der Nähe. Der König fand den Gedanken entzückend und auch den von der Gräfin bezeichneten Platz in der Nähe der Brotbaude angemessen, einen Punkt, der auch von dem Altan in Erdmannsdorf gesehen werden konnte. So wurde dort am 2. August 1842 das norwegische Kirchlein hingebaut, welches zu den eigenartigen Zierden des Gebirges gehört. Der Riesengebirgsverein ließ das Erinnerungsjahr nicht vorüberziehen, ohne die zahlreichen Freunde des Gebirges zu einem Gedenkfest einzuladen. Und man freute sich nicht nur des schöngeschmückten Kirchleins, man bewunderte nicht nur die kunstvollen Schnitzereien der Portale, die vor tausend Jahren von einem halbbarbarischen Volke gearbeitet worden waren – noch mehr zog die Blicke das Denkmal der Gräfin Reden auf sich, das Friedrich Wilhelm IV. seiner unvergeßlichen Freundin hatte errichten lassen, ein zierlicher marmorner Hallenbau, als Brunnenhäuschen gedacht; die hintere Wand, aus der die Quelle springt, ist in den Felsen eingefügt. Im Bogen an dieser Wand befindet sich ein auf Goldgrund gemalter Christuskopf, darunter das in karrarischem Marmor ausgeführte Reliefbild der Gräfin Reden mit einer vom König selbst verfaßten Inschrift, in welcher sich die ganze schwunghafte und fromme Denkweise des Monarchen spiegelt. Dies Denkmal erglänzte im herrlichsten Pflanzenschmuck. Der Jubiläumszug wandte sich dann den Bergen zu, wo es galt, eine festliche Taufe zu vollziehen. Der Hohestein, eine zerklüftete Felsgruppe aus Granit, ein Zwillingsfelsen, etwa 10 Meter hoch, sollte in pietätvoller Erinnerung an König Friedrich Wilhelm IV. von jetzt ab den Namen „Hohenzollernstein“ tragen. Die Gedächtnißtafel auf seiner der Kirche Wang zugekehrten Ostseite wurde nach einer Rede des Predigers der Kirche Wang enthüllt. Die gußeiserne Tafel trägt in erhabenen goldenen Lettern die Inschrift, welche den neuen Namen dem Wanderer verkündigt. †      

Ein seltener Hausgenosse. In der That – ein seltener Hausgenosse war es, den sich zwei Knaben im Alter von zwölf und acht Jahren an dem durch seine Pfahlbautensunde berühmten Dorfriede von Niederweil im Kanton Thurgau einfingen. Sie waren an einem Frühlingstag mit Fischen beschäftigt, als sie plötzlich einen Fischreiher in so geringer Entfernung erblickten, daß es ihnen, denen die Scheu dieser Vogelart wohl bekannt war, sofort auffallen mußte. Bei näherer Beobachtung sahen sie den einen Flügel des Thieres herabhängen, und nun machten sie Jagd auf dasselbe. Die flinken Buben hatten den Reiher bald eingeholt, in dem Augenblick aber, wo sie ihn ergreifen wollten, sprang er in das tiefe Wasser hinein, sich gegen das nahe Schilfrohr hinarbeitend. Ohne sich im entflammten Jagdeifer Zeit zum Entkleiden zu nehmen, stürzte der ältere Bruder nach. Da er schwimmen und sich zugleich gegen die Schnabelhiebe des Vogels schützen mußte, so gelang es ihm nur mit großer Mühe und nachdem er eine tüchtige Hiebwunde an der Stirn davongetragen hatte, seiner Beute habhaft zu werden. Triumphierend brachten die Jungen das wüthende Thier nach Hause. Der Vater, ein erfahrener Jäger, war leider nicht daheim, und so wurde die genauere Untersuchung des Gefangenen durch die Knaben selbst vorgenommen. Es ergab sich, daß am linken Flügel das Schwungbein gebrochen war und daß infolgedessen ein Knochen ziemlich weit vorstand; der Flügel hing herab und hinderte den Vogel im Gehen. Die beiden Buben fanden eine Operation nothwendig, entfernten das vorstehende Stück des Knochens und bestrichen die Wunde mit Baumöl; die beiden Flügelenden banden sie oberhalb des Schwanzes zusammen, damit der Vogel im Gehen nicht mehr gehemmt wurde. Nachdem auf diese Weise dem Reiher zugleich eine Flucht unmöglich gemacht war, ließ man ihn laufen. Er wählte sich als Zufluchtsort den unter der steinernen Haustreppe angebrachten Hundestall, und diesen Platz behauptete er in der Folge, so lange er lebte. Der starke Jagdhund hatte nur einmal den Versuch gewagt, dem Eindringling gegenüber seine älteren Rechte geltend zu machen, war aber durch einen einzigen Schnabelhieb zum Verzicht anf alle Ansprüche bewogen worden.

Auf ihre Bitten ward den beiden Knaben gestattet, den seltenen Gast, der nie einen Fluchtversuch machte, so lange als möglich behalten zu dürfen, und eifrig fingen sie Fische und Frösche, die sie in einem Zuber mit Wasser dem Vogel zu Gesicht brachten. Mit nie fehlender Sicherheit holte sich dieser seinen Fraß aus dem Wasser. Hüpfte einmal ein flüchtiger Frosch auf die staubige Straße, so wurde er sofort ergriffen, erst noch im Wasser abgespült und dann dem anderen im Kropf des Reihers noch zappelnden Kameraden nachgesandt. Der Appetit des Thieres war so groß, daß es die Knaben viel Mühe und Zeit kostete, das nöthige Futter aufzutreiben, und so schickte sie der Vater eines Tages mit ihrem gefräßigen Kostgänger ins nahe Ried, damit sich dieser seine Nahrung selber suche. Wer nachmittags, wohl der großen Hitze wegen, freiwillig zu seinem Stall zurückkehrte, das war der Reiher, und von da an trat er täglich zweimal seinen Spaziergang in sein Revier an. Er wandelte dabei auf der vielbefahrenen und vielbegangenen Landstraße eine Strecke weit hin und hatte offenbar jede Furcht verloren.

Der Wohnung seiner Beschützer gegenüber lag das Schulhaus, vor dem sich häufig die ganze Schar der Schüler tummelte. Das hielt jedoch den stolz dahinschreitenden Vogel nicht ab, mitten durch die Kinder hindurch seinen gewohnten Weg zu gehen; nie that er einem von ihnen etwas zuleide, und alle wetteiferten, ihrem Liebling von seinen Leckerbissen zu bringen. So wurde der völlig zahm gewordene Reiher eine „berühmte Persönlichkeit“ in Stadt und Land, um so mehr, da er seine Pfleger oft bis zu den nächstgelegenen Dorfschaften begleitete.

Im Spätherbst blieb er eines Abends aus, und als man am nächsten Morgen nach dem Vermißten forschte, wurden nur noch seine Ueberreste gefunden: ein Fuchs mußte ihn unversehens überfallen und überwältigt haben. Die Trauer um den merkwürdigen Gesellen war unter dem jungen Volke allgemein, und manche Thräne ward ihm nachgeweint. S. R.     

Butter und Margarine. Aus Anlaß eines Gerichtsfalles gab der Berliner Gerichtschemiker Dr. Bischoff kürzlich ein höchst einfaches Mittel an, wie sich der Laie Klarheit darüber verschaffen kann, ob er reine Naturbutter oder solche, die mit Margarine verfälscht ist, vor sich habe, und wir möchten nicht unterlassen, unsere Leser damit bekannt zu machen. Bringt man nämlich ein Stück reiner Naturbutter in einem Glase zum Schmelzen, so bildet sich ein Bodensatz von Wasser und Salz, während die darüber liegende Schicht flüssiger Butter klar und durchsichtig ist. Nicht so bei der Margarine; schmelzt man diese in einem Glase, so zeigt sich an Stelle der durchsichtigen eine undurchsichtige milchige Butterschicht. Ein Gemisch von Natur- und Kunstbutter wird demnach, je nach [707] dem Verhältniß der Mischung, eine mehr oder weniger starke Trübung aufweisen. Uebrigens, fügt Dr. Bischoff hinzu, werde schon beim Schmelzen der verdächtigen Butter eine einigermaßen empfindliche Nase den eigenthümlichen Geruch der Margarine bald herausfinden.

Die Enthüllung des Kaiser Wilhelm-Denkmals in Metz.
Nach der Natur gezeichnet von Franz Hein.

Das Kaiser Wilhelm-Denkmal in Metz. (Mit Abbildung.) Am 11. September ist unter freudiger Betheiligung der Bevölkerung durch den Statthalter Fürsten von Hohenlohe als Vertreter des Kaisers die Enthüllung des Denkmals vollzogen worden, das in Metz, diesem gewaltigsten Bollwerk der zurückgewonnenen Reichslande, dem Andenken Wilhelms I. gewidmet wurde. Auf der Esplanade, einem wundervollen Platz im Südosten der Stadt, von wo das Auge über das herrliche Moselthal hinweg zu jenen Befestigungen im Osten hinüberschweift, vor denen einst die Schlachten von Mars la Tour und Gravelotte geschlagen wurden – dort erhebt sich das mächtige Reiterbild. Der Kaiser, in Helm und Mantel, wie er von seinen Besuchen in Metz her in aller Erinnerung ist, schaut hinüber nach Osten, gegen die alten Schlachtfelder hin, die rechte Hand zeigt vorwärts ins Land hinaus, als wollte er eben einen entscheidenden Befehl für sein kämpfendes Heer geben. Die Bronzestatue, auf einem Syenitsockel von 3,75 Metern Höhe aufgestellt und selbst 4½ Meter hoch, ist von Professor Ferdinand von Miller in München modelliert und in der königlichen Erzgießerei dort gegossen; aus der ganzen Auffassung derselben spricht jene ruhige Schlichtheit, welche die Gestalt des alten Kaisers so wohlthuend und so unvergeßlich gemacht hat. Möge denn dieses Denkmal, indem es hinabschaut auf das Lothringer Land, stets auf friedliche Gaue blicken, möge es für alle Zeiten ein Zeichen deutschen Dankes, deutscher Einheit, eine unverrückbare Grenzwacht sein!

Reitende Bettler. Die Poesie des Bettler- und Vagabundenthums ist im Aussterben, seitdem die Prosa unserer land- und stadtpolizeilichen Einrichtungen, die Armen- und Arbeitshäuser das Bettlerthum in ihre Obhut genommen haben. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert stand aber jene Poesie noch in Blüthe. Da zog unter anderen eine zahlreiche Menge von Bettlern durchs Land, gab sich für entsprungene Christensklaven aus, machte unter Stöhnen und Schluchzen eine klägliche Beschreibung von ihrer Ausplünderung und Gefangennahme; sie rasselten dazu mit den Ketten, die sie angeblich noch von der Gefangenschaft her an Händen und Füßen trugen, zeigten die Striemen der Schläge, die sie als Sklaven empfangen haben wollten, und sammelten Almosen, um, wie sie sagten, ihre bei den Türken, Corsaren, Sarazenen zurückgelassenen Brüder und Freunde aus der Sklaverei loszukaufen.

Aus Schlesien wird sogar von reitenden Bettlern berichtet, einer vornehmer auftretenden Klasse vagabundierender Abenteurer, die dem betrügerischen Bettel unter der Maske abgedankter Offiziere, abgebrannter oder aus andern Ursachen um ihr Vermögen gekommener Edelleute nachgingen. Nicht bloß zu Pferde, selbst im Wagen erschienen sie und hatten Diener bei sich. Sie sprachen mit Vorliebe in adeligen Häusern vor und erhoben, wenn sie sich wehrlosen Personen, besonders Damen ohne männlichen Schutz, gegenübersahen, in zudringlichster Weise Anspruch auf „Ritterzehrungen“, das heißt auf standesgemäße Bewirthung und Beschenkung. Gerade diese Klasse war der öffentlichen Sicherheit sehr gefährlich. Es bestand die Vermuthung, daß hinter den bewaffneten und berittenen Bettlern sich Räuber und Spitzbuben verbargen. Thatsächlich führte eine der Spitzbubenbanden den Namen „Kavalierbande“. Wie beträchtlich die Zahl dieses berittenen Vagabundengesindels war, ergiebt sich aus einer schlesischen Bettelordnung von 1719, in der angeordnet ist, daß, wenn die Landdragoner mit demselben nicht fertig werden könnten, die nächste Dorfgemeinde und auf geschehene Anmeldung die Nachbardörfer das Gesindel verfolgen, auch militärische Hilfe und aus der nächsten Stadt die Jüngsten aus der Bürgerschaft herangezogen werden sollten, um es über die Grenze zu jagen oder einzufangen. †      

Verschlagene Seevögel. Wie gewaltig oft die Orkane im Atlantischen Ocean hausen, geht aus der großen Zahl von Seevögeln hervor, die nach England und zwar weit ins Land hinein verschlagen werden. Die Möven, Cormorane und Alken sind nur Küstenvögel, die ihre Heimstätte haben, ihre Sandbank, ihr Riff, wo sie wohlgeborgen sind, und sie werden von den Stürmen höchstens in ihrem Fischereibetrieb gestört. Anders die Sturmvögel des offenen Oceans: wenn diese auf dem Lande tot oder sterbend gefunden werden, so kann man danach die Größe des Unwetters auf dem Ocean bemessen. Besonders ist der Gabelschwanzsturmvogel in großen Scharen aufgetreten und selbst in Yorkshire gesehen worden, so daß er über ganz England weg geflogen sein muß, ehe er erschöpft zu Boden sank. Diese Sturmvögel, gewohnt, auf hoher See mit den Menschen zu verkehren, sich auf die Masten der Schiffe zu setzen und sich gelegentlich an Bord derselben heimisch zu machen, haben auch auf dem Lande das Zutrauen zu den Menschen nicht eingebüßt, das ihnen hier oft verhängnißvoll wird. †      

„Excelsior“. Unter dem Namen „Excelsior“, „selbstthätiger Desinfekteur“ wird neuerdings ein Apparat als „unentbehrliches Schutzmittel gegen Cholera, Typhus, Scharlach, Keuchhusten, Schwindsucht etc.“ verkauft. Er besteht aus einer mit 40 Gramm rohen Naphtalins gefüllten Pappschachtel, die, mit geöffnetem Deckel aufgehängt oder hingelegt, die erwähnte Wirkung besitzen soll. Ansteckungsstoffe irgend welcher Art auf diesem Wege erfolgreich zu bekämpfen, ist unmöglich; auch ist der Preis des „Excelsior“ – 75 Pfennig – ein viel zu hoher. Wir warnen also vor der Anschaffung dieses „Apparates“, den auch der „Karlsruher Ortsgesundheitsrath“ als durchaus werthlos bezeichnet. Kr.     
[708] Rudolf von Jhering †. (Mit Bildniß.) Ein glänzender Jurist, ein geistreicher Schriftsteller, ein Mann, originell in seinem ganzen Wesen und Denken, ist in dem Göttinger Professor Rudolf v. Jhering am 17. September der Wissenschaft, dem deutschen Volke entrissen worden. Jhering war einer der Gelehrten, deren Wirken über die Schranken der eigenen Fachwissenschaft hinausblickt auf die Allgemeinheit. Er beschränkte sich nicht darauf, die Ergebnisse seiner Geistesarbeit einer kleinen Zahl von Fachmännern zugänglich zu machen, sondern sah eine seiner Hauptaufgaben darin, mit den Resultaten seiner Forschungen vor das Volk zu treten, Stellung zu nehmen zu den Fragen, welche die Oeffentlichkeit bewegten und zugleich mit dem von ihm beherrschten Gebiet im Zusammenhang standen. Er that dies in geistreichster Form, mit sittlichem Pathos oder überlegenem Witze – kein Wunder, daß sein Name bald in die weitesten Kreise drang. Sein „Kampf ums Recht“, in dem er in glänzender Weise den Satz vertrat, daß die Verfolgung des eigenen Rechts und die Abwehr des Unrechts nicht nur eine Befugniß, sondern geradezu eine sittliche Pflicht des einzelnen bilde und ohne Gefährdung der eigenen Individualität nicht hintangesetzt werden dürfe; ferner seine Broschüre gegen den Trinkgelderunfug – „Das Trinkgeld“ – sein „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“, der mit köstlichem Humor dem Zopfe in der edlen Juristerei der Gegenwart zu Leibe geht; seine Abhandlung über die Uebertragbarkeit der Rückfahrkarten, für die er, freilich ohne Erfolg, im Gegensatz zu den Eisenbahnverwaltungen eintrat: diese Schriften haben ihm seine weitreichende Bedeutung für das große Publikum gegeben, während „Der Geist des römischen Rechts“, sein juristisches Hauptwerk, seinen wissenschaftlichen Ruhm im engeren Sinne begründete.

Professor Rudolf von Jhering.
Nach einer Photographie von Dr. Lange und Hoffmann
in Elberfeld und Göttingen.

Jhering hat an einer Reihe von Universitäten gelehrt. Er begann seine akademische Laufbahn in Berlin, erntete dann, nachdem er inzwischen mehreren anderen Hochschulen angehört hatte, von 1868 an als Rechtslehrer in Wien großen Erfolg, nahm aber 1872 einen Ruf in das stille Göttingen an. „Diese Stadt, so schön sie ist – ich finde sie doch zu lärmend“, äußerte er über Wien; er fand die Zerstreuungen und Aufregungen der Großstadt nicht förderlich für die Arbeit des Gelehrten. Dort in Göttingen ist Jhering nun als ein Vierundsiebzigjähriger – er war am 22. August 1818 zu Aurich in Hannover geboren – aus seinem reichen Wirken geschieden.

Ein Geleitwort für den „Gartenlaube-Kalender“. Es wäre eine anziehende statistische Aufgabe, einmal zusammenzurechnen, wie viele Kalender jedes Jahr erscheinen. Noch ehe ein Jahr recht seinen Höhepunkt überschritten hat, da kommen sie schon, die Quartiermacher des neuen, die großen und die kleinen, die billigen und die theuren, die lustigen und die ernsten, der eine mit strenger Amtsmiene, jener mit fröhlichen Scherzen, ein dritter mit frommem Augenaufschlag. Und mitten drunter wandelt auch unser „Gartenlaube-Kalender“ einher in dem bekannten rothen, schwarz galonnierten und goldbetreßten Röckchen.

Was bringt er? Nun, zunächst alles das, was man von einem rechtschaffenen Kalender verlangen kann, ein ausführliches Kalendarium, Bauernregeln, Messen und Märkte, Sonnen-, Mond- und Planetenstände, fürstliche Geburts- und christliche Buß- und Bettage, Rezepte für Haus und Küche, Garten und Acker, Regentengenealogien, allerhand Statistisches aus Leben und Verkehr, Post- und Telegraphentarife, Falbs kritische Tage etc. Das ist schon recht viel! Nun hat er aber noch einiges aufzuweisen, was nicht überall wiederkehrt und was seine Verwandtschaft mit der „Gartenlaube“ darthut. Voran steht wieder eine jener kleinen Novellen von W. Heimburg, die, unter dem gemeinsamen Titel „Aus meinen vier Pfählen“, nun schon seit einer Reihe von Jahren die Freude der Leser des „Gartenlaube-Kalenders“ bilden. Andere Beiträge erzählender Natur schließen sich an, und auch für zweckmäßige Belehrung über allerlei Fragen der Wissenschaft und des Lebens ist gesorgt. Stimmungsvolle Gedichte und hübsche Bilder reihen sich dazwischen, und mancher Scherz versucht seine Kraft an den Lachmuskeln des Lesers. Den Schluß bildet wie herkömmlich eine Uebersicht über die merkenswerthen Ereignisse vom Schlusse des vorigen Kalenders bis zur Ausgabe des neuen, eine gedrängte Geschichtsdarstellnng, recht nützlich für unsere schnell lebende und schnell vergessende Zeit.

Das ist’s, was der „Gartenlaube-Kalender“ für 1893 bringt und was ihm in dem Kalendergewimmel sein eigenartiges Gepräge verleiht. Möge auch er wie seine Vorgänger überall im deutschen Hause willkommen sein, so lautet der Wunsch, den die „Gartenlaube“ dem „Gartenlaube-Kalender“ zum Geleit giebt.



Auflösung des Herbströsselsprungs auf S. 676:

 Herbstgefühl.

Milder Glanz der Sonne,
Blasses Himmelblau,
Von verklungner Wonne
Träumet still die Au.

An der letzten Rose
Löset lebenssatt
Sich das letzte lose
Bleiche Blumenblatt.

Goldenes Entfärben
Schleicht sich durch den Hain,
Auch Vergeh’n und Sterben
Däucht mir süß zu sein.
 Karl Gerok.


Auflösung der Entzifferungsaufgabe auf S. 676:

Schlüssel.

Vom Unglück erst
Zieh’ ab die Schuld,
Was übrig bleibt,
Trag’ in Geduld!
  Th. Storm.


Auflösung der Versetzungsaufgabe auf S. 676:


Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 676:0 Krater – Kater.


Auflösung des Räthseldistichons auf S. 676:0 Buche, Buch.


Auflösung des Bilderräthsels auf S. 676: 0 Austernbank.


Auflösung des Scherzbilderräthsels auf S. 676:0 Ein Spaßmacher.


Auflösung der Kombinationsaufgabe auf S. 676:
Brevier, Madeira, Orestes, Stephan, Libanon, Chester, Sabiner, Romanze, Orontes, Lagunen, Persien. – Die 11 Mittelbuchstaben bilden den Namen Vespasianus (röm. Kaiser von 69–79).


Auflösung der Dominoaufgabe auf S. 676.

Im Talon lagen: B setzte: / D behielt C hatte:

Der Gang der Partie war:

0 I. A 4/6, B 6/6, C –, D 6/5;
0II. A 5/4, B –, C –, D 4/2;
III. A 2/6, B –, C –, D 6/3;
0IV. A 3/4, B –, C –, D 4/1;
0 V. A 1/6, B –, C –, D 6/0;
0VI. A 0/3 (= 93).


Auflösung des Citatenräthsels auf S. 676:

Todt ist, wer nicht mehr glauben kann und hoffen.
 E. v. Wildenbruch, „Die Quitzows“. IIIa, 2.




In dem unterzeichneten Verlag ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung.

Von C. Falkenhorst. Mit Abbildungen. Broschiert 5 Mark, gebunden 6 Mark.

Inhalt: 1. Unsere unsichtbaren Feinde. (Schilderung der Krankheitserreger und Belehrung über die Grundsätze einer wirksamen Desinfektion.) – 2. Luft und Licht in der Wohnung. – 3. Küche und Gesundheit. (Ueber Entstehung von Krankheiten durch Genuß schlechten Trinkwassers und infizierter oder verdorbener Nahrungsmittel. Rathschläge zur Verhütung dieser Uebelstände.) – 4. Die Kinderstube. – 5. Das Bad im Hause. – 6. Das Bett und das Schlafzimmer. – 7. Die Heizung. – 8. Die Wohnung als Erholungsstätte. (Ueber Gesundheitspflege in Sommerfrischen.) – 9. Die Hausapotheke. – 10. Das Krankenzimmer. (Ueber häusliche Krankenpflege mit besonderer Berücksichtigung ansteckender Krankheiten.)

Nicht nur in den „Höhlen“ und Kellerwohnungen verwahrloster Stadtviertel halten Krankheiten ihren Einzug – sie nisten sich auch in guten Wohnungen ein, wenn diese nicht gesundheitsgemäß erhalten werden. Darum wache jeder, namentlich aber die Hausfrau, am eigenen Herde, damit unser Haus auch in gesundheitlicher Beziehung unsere Burg sei. Die beste Auskunft über alle Gebiete der Haushygiene ertheilt das oben genannte Werk. Es ist das erste volksthümliche Buch, in welchem die Verhütung und Bekämpfung der Seuchen im eigenen Hause auf Grund der neuesten Errungenschaften der Wissenschaft ausführlich und klar gelehrt wird.

---+ Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. +---

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. Halbheft 16 dieses Jahrgangs.