Die Gartenlaube (1894)/Heft 13
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Nr. 13. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Mutter Mahtilt und Edelrot waren zur Ruhe gegangen. Sigenot saß noch hinter dem Steintisch und Wicho stand vor ihm. „Herr, schaffst Du noch ’was?“
Sigenot erhob sich. „Lösch’ das Feuer auf dem Herd!“ Während Wicho die Flammen erstickte und den letzten Funken mit Asche verschüttete, nahm Sigenot die Eisenhaube und den Schild seines Vaters von der Wand und verließ die Halle. Als der Knecht nach einer Weile folgte, sah er seinen Herrn im Dunkel auf der Hausbank sitzen, den blanken mattschimmernden Stahl über den Schoß gelegt.
„Wicho! Ich muß Dich um Deine Nachtruh’ bringen.“
„Macht nichts! Ich hab’ die letzte Nacht geschlafen bis in den sonnscheinigen Tag.“
„Sind Fisch’ im Kalter?“
Verwundert hörte Wicho diese Frage. „Wohl wohl, Ferchen und Hecht’.“
„So nimm das größte Lägel und thu’ hinein, was Platz hat!“
„Aber Herr,“ fuhr es dem Knecht heraus, „Du wirst mich doch in der heutigen Nacht nicht ausschicken wollen zum Fischtragen? Was Du fürchtest, merk’ ich doch an Deiner Wehr! Und ich mein’, da wär’ mein Platz an Deiner Seit’.“
„Hier bin ich allein genug! Und hilft mir nicht derselbig’, der meiner Schwester den Falk zu Hilf’ geschickt wider die Aasraben, so möchten mir Deine zwei Arm’ wohl auch nur lützel helfen. Drum geh’ und thu’ den Weg, den ich Dir ansag’!“
Schweigend ging Wicho davon. Sigenot hörte vom Brunnen her das Lägel poltern und das Wasser plätschern. Nach einer Weile kann der Knecht zurück, das triefende Fäßlein auf dem Rücken.
„Wohin also?“
„Geh’ hinaus zum Lok’wald ...“
„Wo die Klosterleut’ sitzen?“ fragte Wicho mit raschem Wort.
„Dort fließt zwischen dem Lok’stein und dem Kälberstein ein Bächl über den Hang herunter und füllt einen Weiher. Dort leer’ das Lägel aus und geh’ wieder still davon! Zeit lassen!“
„Zeit lassen auch!“ erwiderte der Knecht und schritt den Hügel hinunter zum Hagthor. Als er den Sperrbalken zurückgeschoben hatte, rief er mit halblauter Stimme zum Haus hinauf. „Komm, Herr, und leg’ hinter mir den Balken ein!“
Sigenot rührte sich nicht. „Geh’ nur! Wenn’s not thut, schieb’ ich mein Eisen vor ... das hat besseren Halt als Holz.“
Wicho ging, und lautlos schloß sich hinter ihm das Thor. Tiefe Nachtstille lag um das Fischerhaus gebreitet; nur gedämpft klang durch die Bäume einher das Rauschen der Ache. Zuweilen auch ließ sich vom See herauf ein sanftes Plätschern hören, wenn aus dem Weitsee eine Wildente gestrichen kam und zur Aesung einfiel in das Schilf. Droben in Wazemanns Haus leuchteten noch die Fenster der Herrenstube; man sah in der Finsternis weder Dach noch Mauer, und so hing der Lichtschein eines jeden Fensters im
[202] Dunkel wie ein großer strahlender Stern. Allmählich wurde der Himmel heller, über die Berge fiel ein falber Schein, und langsam schlich das Mondlicht über die steilen Wälder nieder in das finstere Thal. In weiter Ferne bellte ein Wolf, und ein anderer gab ihm Antwort. „Die Schneespringer melden sich,“ murmelte Sigenot, „es wird bald Winter werden.“
Ein kühler Hauch kam aus dem See gezogen und milderte die Schwüle der Sommernacht; das Schilf begann zu rascheln, und sanfter Wellenschlag erwachte, leis anrauschend wider das Ufer. Hinter dem Grat des Jennar stieg der Mond empor, wie ein rundes brennendes Gesicht. Silberne Helle floß über das Dach des Fischerhauses und über den stillen Wächter.
Lauschend hob Sigenot den Kopf; von der Ache her war ein Geräusch an sein scharfes Ohr gedrungen. „Er kommt!“ Sich aufrichtend, faßte Sigenot mit der Rechten das Schwert, hob mit der Linken den Schild vor die Brust und stieg über den Hügel hinunter zum Thor.
Draußen vor dem Hag trat Henning mit dem Knecht unter den schwarzen Bäumen hervor in den hellen Mondschein. Er trug einen Mantel über dem Arm, und die Faust ruhte am Griff des Wildfängers. „Es ist kein Lichtschein mehr im Haus,“ flüsterte der Knecht, der mit Dolch und Saufeder bewaffnet war.
Am Hag entlang schleichend, erreichten sie das Thor.
„Herr, sie haben den Balken nicht eingelegt, das Thor giebt nach!“
„Stoß auf!“
Die Thorflügel öffneten sich, Henning zog den Fänger und wollte in die Hofreut stürzen; doch wie versteinert hielt er inne beim ersten Schritt. Vor ihm stand Sigenot, das blitzende Schwert zum Schlag erhoben, umschimmert vom bleichen Mondlicht gleich einer gespenstigen Hünengestalt. Mit gläsernen Augen starrte Henning, befallen von abergläubischem Schreck, die unerwartete Erscheinung an. Der Knecht hatte die Saufeder im Anlauf gefällt, doch ein Schwertstreich Sigenots zersplitterte den Schaft.
„Die Toten stehen auf!“ lallte Henning und faßte, zur Flucht sich wendend, den Arm des Knechtes.
„Herr, so steh’ doch!“ keuchte der Knecht, aber Henning war nicht mehr zu halten; eine Strecke riß er den Knecht mit sich fort, und als er den Schutz der Bäume erreichte, ließ er den Arm des Gesellen fahren und sprang hinein in die Finsternis des Waldes, rannte wider die Stämme, stürzte, raffte sich wieder auf und stürmte bergwärts in sinnloser Flucht.
Sigenot trat vor das Thor und schleuderte mit dem Fuß die Speerstücke hinaus in den Sand der Lände. Mit verächtlichem Lächeln blickte er den Fliehenden nach. „So feig wie schlecht!“
Im Wald klang die schreiende Stimme des Knechtes: „Herr! Herr!“ Doch Henning hörte nicht mehr. Keuchend, ohne Atem und totenbleich, erreichte er den Burghof; kaum trugen ihn seine Knie noch hinauf über die Freitreppe, auf welcher ihm das helle Licht der Herrenstube entgegenstrahlte. Als er über die Schwelle taumelte, erhob sich Herr Waze vom Tisch, um welchen Sindel, Rimiger, Gerold und Otloh saßen, die vor kurzem erst heimgekehrt waren aus dem Lokiwald. Eilbert saß in der dunklen Ecke hinter dem Ofen, und Hartwig lag auf einer Bank.
Henning sah die Brüder nicht, er sah nur den Vater, und in seiner Erschöpfung fast niederbrechend vor ihm, keuchte er: „Vater … hinter mir ist die Höll’! Der Fischer, den ich erschlagen am Morgen … ist ein Gespenst geworden und geht um in seinem Hag.“
Zornig stieß Herr Waze den Sohn mit der Faust zurück, und am Tisch erhob sich schallendes Gelächter. Rimiger sprang auf und schrie: „Ein Gespenst? Hörst Du, Otloh, der Fischer, der Dich heut’ in der hellen Sonn’ vom Roß geworfen, ist gar nicht Fleisch und Blut gewesen, sondern ein Butzemännlein, das im Mondschein Mücken fangt und die Kinder schreckt, daß ihnen das Herz in die Hosen fallt!“ Seine Stimme erstickte fast unter Lachen. „Armer Otloh, jetzt kommst Du gar um die Sühn’, die der Fischer Dir schuldig ist! Heut’ am Abend hat er Dich ins Moos gesetzt, aber heut’ am Morgen hat ihn der gute Henning schon erschlagen!“ Alle lachten, nur Otloh wurde rot vor Zorn, und Henning starrte umher, als wäre er von Sinnen.
„Dummkopf! Verstehst Du noch allweil nicht?“ schnauzte der Vater ihn an. „Wie Dein Pfeil, so ist auch der Stein fehlgegangen, den Du gelöst hast über seinem Kopf. Eins aber möcht’ ich wissen … was hast denn Du jetzt beim Fischerhag zu schaffen gehabt?“
Eilbert war aufgesprungen und näher getreten. „Die Dirn’ hat er sich holen wollen,“ rief er höhnend, „aber wie der Fuchs hat er in den Immstock gegriffen und flink die Pfot’ wieder eingezogen!“
Mit einem Fluch stürzte Henning zum Tisch, packte ein Messer und schwang es gegen den Bruder. Aber Herr Waze und Rimiger faßten den Arm des Wütenden, entwanden ihm die Klinge und stießen ihn aus der Stube hinaus in die Kammer.
Wirres Geschrei erhob sich um den Tisch, doch alle übrigen Stimmen übertönte die Stimme Otlohs: „Soll der freche Uebermut da drunten noch lange den Streit und Hader unter uns Brüder werfen? Hinunter zu ihm! Ich hab’ keine Ruh’, eh’ nicht die Schand’ gelöscht ist, die er mir angethan!“
„Halt’ Dein Maul, Du Grasaff’!“ rief Herr Waze. „Wärst Du besser im Sattel gesessen, so hätt’ er Dich nicht gehoben!“ Den Lärm überschreiend, der diesen Worten folgte, schlug er mit den Fäusten auf den Tisch. „Wird Ruh’ werden oder nicht? Ich will doch sehen, wer in meinem Haus noch zu reden hat, Ihr oder ich!“ Mit funkelnden Augen maß er die Söhne, welche widerwillig verstummten. „Von Stund’ an geschieht, was ich will, ich allein! Daß mir keiner wieder dreintappt mit einer Hand, wie sie der Unschick da draußen hat … es müßt’ denn sein, daß Ihr heut’ über ein paar Wochen dastehen wollt ohne Haus und Fraß, ein Gespött für jeden Bauernknecht im Gadem!“ Herr Waze schritt durch die Stube und trat wieder zum Tisch. „Der Fischer soll Euch gehören! Die Stund’ aber, die ihn wirft, sag’ ich selber an. Heut’ ist er beim Lok’stein gewesen und hat gesponnen mit den Schwarzen. Thät’ er ihnen schon morgen fehlen, sie möchten wohl dran denken, daß er der erste gewesen ist, der zu ihnen gehalten hat, und möchten anrücken wider mich mit Fahn’ und Kreuz … und das hab’ ich erfahren: wider ihre Sipp’ und ihre Heiligen ist ein schieches Raufen. Ich will Fried’ haben mit ihnen, freilich auf meine Art. Eh’ ich einen Streich thu’, muß ich wissen, für welche Nacht der Richtmann das Thing geladen hat, muß wissen, was sie beschließen im Thing … und muß noch so manches andere wissen. Drum genug für heut’! Rimiger!“
„Ja, Vater!“
„Du reitest morgen wieder hinaus zum Lok’wald. Nimm den Henning, Eilbert und Otloh mit … und will einer von ihnen Streit anheben, so hau’ ihm eins übers Dach, in meinem Namen! Jetzt weiter … und auf die Häut’ mit Euch!“
Herr Waze trat in die vom Mond umglänzte Halle hinaus, um kühle Luft zu schöpfen, denn in dicken Perlen rann ihm der Schweiß von den Schläfen; er lehnte sich an die Treppensäule, spähte über das Thal hinweg in die Ferne der schimmernden Mondnacht und schüttelte die Fäuste. „Könnt’ ich nur einen Berg fassen und ihn umkehren, daß er hinfallt über sie und ihr hölzernes Nest!“ Hinter ihm in der Stube war es still geworden; als Herr Waze nun zurückkehren wollte, blieb er betroffen auf der Schwelle stehen. Vor ihm, inmitten der Stube, stand seine Tochter Recka, in weißem Schlafgewand, das bleiche Gesicht umringelt vom gelösten Rothaar, die finsteren Blicke auf den Vater geheftet.
„Dirn’? Was willst Du noch?“
„Antwort auf eine Frag’!“ sagte sie mit bebender Stimme. „Was Henning wider den Fischer that … ist es geschehen mit Deinem Willen, auf Dein Geheiß?“
„Du hast gelauscht!“ fuhr Herr Waze zornig auf.
„Muß man lauschen bei einem Geschrei, das durch alle Wände geht? Gieb Antwort! Mich kümmert nicht, was Henning thut … zwischen ihm und mir liegen Berg und Thal. Du aber bist mein Vater! Gieb mir Antwort: hat Henning wie ein Meuchler den Pfeil geworfen und den Stein gelöst auf Dein Geheiß?“
Reckas brennender Blick schien ein unbehagliches Empfinden in Herrn Waze zu erwecken. „Ich könnt’ Nein sagen,“ brummte er; „was der Lapp gethan hat, muß mir ja eher schaden als nützen, und wie könnt’ ich denn meinen eigenen Nachteil wollen?“ [203] Mit halb geschlossenen Augen spähte er in Reckas Gesicht und suchte zu lesen in ihren steinernen Zügen. „Bevor ich aber weiter antwort’,“ sagte er langsam, „hätt’ ich selber eine Frag’. Was kümmert denn Dich der Fischer?“
„Er? Nichts!“ erwiderte Recka mit heftigem Wort und wandte sich ab. „Ich sorge mich um seiner Schwester Los, die mir ins Herz gewachsen!“
„So? Die Schwester also?“ Herr Waze fing mit der Zunge den Schnurrbart zwischen die Zähne und nagte an den grauen Haaren. „Warum hast Du sie denn gar so lieb, die Schwester?“
„Weil sie gut und hold ist und meine Lieb’ verdient.“
„So? Gut und hold? Die Schwester? Und drum verdient sie Deine Lieb’? Und sonst, sonst hast Du keinen Grund?“
Recka blickte den Vater an. „Einen Grund? Welchen?“ Kalt und ruhig klang ihre Stimme, doch in ihre bleichen Wangen schlich eine dünne Röte.
Herr Waze lächelte. „Komm, mein schönes Rotfüchsl, thu’ nicht so finster! Komm, setz’ Dich her zu mir und laß uns miteinander reden in Ruh’! Schau’, ich wüßt’ schon einen Weg, auf dem der Fischer ein gutes Leben und Weilen hätt’ … da wär’ dann auch seiner Schwester geholfen, die Du so lieb hast!“
Zögernd ließ sich Recka auf den Sessel nieder, zu welchem der Vater sie gezogen hatte. Ihr gegenüber setzte sich Herr Waze an den Tisch und legte die Arme über die Platte. Langsam, als wöge er jedes Wort, begann er von den Sorgen zu sprechen, welche ihm die Klosterleute bereiteten, und er wählte die Worte glücklich; denn Recka lauschte gespannt, und zornig blitzten ihre Augen, als sie jener ersten Begegnung mit Waldram und Eberwein gedachte.
„Mein Haus und Land wollen sie mir nehmen, und Dir den Wildbann, Dein Roß, die Falken und die freie Luft! Ich hätt’ ihnen wohl einen Hag geflochten wider solch Gelüst’, aber dieser Fischer, dieser Sigenot …“
„Laß den Fischer aus Deiner Rede!“ fuhr Recka in brennendem Unmut auf.
„Ich brauch’ ihn aber! Wär’ der Fischer für mich, so hätt’ ich leichteren Stand. Er geht für hundert, ihm laufen die anderen nach … ich muß ihn haben!“
„Und meinst Du, wie Henning um ihn wirbt, das wär’ die beste Art, ihn zu gewinnen?“
„Ich hab’ ja zuvor auch im guten mit ihm geredet.“
„Zuvor?“ Reckas Augen blickten starr auf den Vater; dieses eine Wort hatte ihr viel gesagt.
„Ja, ja, ja!“ schrie Herr Waze in entfesselter Ungeduld. „Aber dieser Stock hat einen Sinn wie Eisen. Ich hab’ ihn nicht halten können, und ich bin doch ein Mann mit Fäust’! Aber ich muß ihn haben, ich muß! Und schau’, Dirn’, schau’, was ein Mann nicht fertig bringt, das wird oft einem Weib so leicht wie Spiel! Runde Arm’ und lange Haar’ machen feste Schlingen und Netz’.“
Recka war aufgesprungen, daß ihr Sessel zu Boden fiel. Mit flammenden Augen maß sie den Vater, und wortlos schritt sie der Thüre zu. „Was rennst Du denn davon auf einmal?“ rief der Alte in Verblüffung und Zorn; und als sie keine Antwort gab, sprang er auf und vertrat ihr den Weg. „Bleib’, Dirn’!“
„Gieb mir die Thüre frei! Wir haben ausgeredet. Du bist zu Scherzen aufgelegt, wie sie Deinen Buben gefallen mögen, aber mir nicht!“
„Scherz! Scherz! Meinethalben mag aus der Sach’ auch Ernst werden! Ich muß den Fischer haben, so oder so! Faß’ ihn mir, Füchsl, faß’ ihn! Ich mein’, es kostet Dich nur einen Blick und ein Wörtl …“ Von Reckas Lippen klang ein zorniges Lachen. „Und Du selber machst ja auch keinen schlechten Tausch. Vergleich’ ihn nur mit dem Pfleger von Hall, der sonst der einzig’ ist, den ich weiß für Dich. Steht der Fischer nicht da wie ein Baum in seiner jungen Kraft? Ein freier Mann, ein Herr auf seinem Eigen! Hat Haus und Hof, Sennen und Vieh … und sein Fischrecht wiegt wie ein rechtes Herrengut. Was meinst?“
„Ich meine,“ erwiderte Recka mit halb erstickter Stimme, „ich meine, wenn Dir ein andermal wieder die Laune kommt, mit mir zu reden, so thu’ es vor dem Mahl, nicht hinter dem Becher. Ich höre den Met aus Dir.“
„Dirn’!“ schrie Herr Waze gereizt und hob den Arm. „Daß ich Dir für solche Red’ die Faust ins Gesicht schlag’ … wer hindert mich?“
Das Mädchen richtete sich auf. „Mein Arm! Und eine die zwischen Dir und mir steht – meine Mutter Friderun!“ Am Vater vorüber schritt Recka in ihre Kammer und schlug hinter sich die Thüre zu. Mit erblaßten Lippen und funkelndem Blick, das Gesicht von Wut verzerrt, starrte Herr Waze seiner Tochter nach. „Deine Hand noch hätt’ ihn halten können, für Dich und für mich … jetzt muß er fallen!“
In der Kammer, welche Recka betreten hatte, brannte eine Leuchte neben dem Zinnspiegel; als sie an ihm vorüberschritt, zeigte ihr das blanke Metall in grellem Licht das von Zorn und Scham gerötete Antlitz. Und als könnte sie den eigenen Anblick nicht mehr ertragen, so stieß sie mit der Faust die Leuchte um; langsam erlosch das qualmende Flämmlein auf der Diele, während Recka sich im Erker niederwarf, durch dessen Fenster das Mondlicht mit bleichen Strahlen in die Kammer fiel. Schwer atmend, das Gesicht in den Armen vergraben, saß sie über den Tisch gebeugt. Das Mondlicht umwebte ihr Haupt mit Schimmer und machte das Geschmeide funkeln, welches noch immer neben dem offenen Kästlein verstreut umherlag. Zwischen dem glitzernden Gold und den farbig glimmenden Edelsteinen leuchtete mit fahlem Weiß der zersprungene Beinreif, wie ein aus dem Grab geworfener Totenknochen, wie der letzte Ueberrest eines vermoderten Lebens, eines versunkenen Glücks.
Draußen in der Mondnacht schrie ein Uhu, der mit lautlosem Flügelschlag von den Seewänden hinausstrich in das waldige Thal, um seinen Raub zu suchen. Ueber dem Fischerhause klang sein häßlicher Schrei und tönte an Sigenots Ohr, der unter seinem krankenden Jahrbaum saß, das Haus bewachend und der Heimkehr seines Knechtes harrend. „Es ruft der Totenvogel!“ flüsterte er, spähte durch das Gezweig empor in den bleichen Himmel und sah einen Schatten huschen.
Weiter und weiter ging des Nachtvogels Flug, über den Untersteiner Forst und gegen die Schönau hin. Da hörte ihn der Richtmann, der in schlummerloser Sorge lag und seines Buben dachte. Beklommen lauschte er. „Gilt’s mir oder gilt’s meinem Liebli?“ Immer weiter strich der Schreier in der Nacht, über Felder und Halden hinweg, vorbei an Gehöften und nah’ vorüber bei einer Brandstätte und einem zerfallenen Haus. Der alte Gobl erwachte unter dem Apfelbaum; er hörte den Ruf und lächelte: „Schrei nur! Schrei nur! Wie öfter, so lieber hör’ ich Dich! Vergelt’s der Botschaft, die Du mir anschreist!“ Ueber die Ramsauer Ache ging der Flug des Vogels, über die Gehänge der Strub hinauf zum Lokiwald und dem Untersberg entgegen.
Hell lag der Mond über der weiten Lichtung, auf den Zelten der Klosterleute und über dem wachsenden Bau. Wicho, mit dem geleerten Lägel auf dem Rücken, stand vor dem Zelt der dienenden Brüder; die Neugier hatte ihn näher gezogen. Doch als er den Schrei des Nachtvogels hörte, schüttelte ihn ein Grauen, und hastigen Laufes suchte er den Heimweg.
Drinnen im Zelt, durch dessen Ritzen nur ein matter Dämmerschein der Mondnacht quoll, richtete sich Bruder Wampo von seinem harten Mooslager auf. „Schweiker! Schweiker!“ Der Schlummernde hörte nicht; er schlief, von der Arbeit müde, den Schlaf des Gerechten. „Schweiker! Schweiker!“ Da rührte sich der Bruder und die Stangen seines Lagers ächzten. „Was ist denn schon wieder?“ fragte er mit verschlafener Stimme.
„Es hat sich ’was gerührt, draußen, ich hab’ schon gemeint, es kommt herein!“
Schweiker erhob sich und trat ins Freie; tiefe Stille herrschte ringsumher, und öde lag die mondhelle Lichtung. „Hast wohl wieder geträumt!“ sagte Schweiker, in das Zelt zurückkehrend. „Laß mich doch einmal in Fried’ mit Deiner unsinnigen Angst! Dein Fürchten wird schon bald eine Sünd’. Wir stehen doch in Gottesschntz!“
„Angst? Was Angst? Ich hab’ mich ja gar nicht geforchten!“ schmollte Wampo. „Gehört hab’ ich halt ’was! Und das hätt’ doch ’was Gutes auch sein können! Dein Bartele ist ja selbigsmal mit dem Himmelsbrot auch in der Nacht gekommen!“
Schweiker brummte ein unverständliches Wort und warf sich auf sein Lager. Seufzend ließ sich Bruder Wampo zurücksinken, [204] und um den Schlummer leichter zu finden, begann er eine Litanei zu beten.
Stille Stunden verrannen, und allmählich wandelte sich die Nacht zum Morgen. Im ersten Grau kam ein Fuchs über den Berghang heruntergeschlichen; langsam schob er sich durch das tauige Heidegras, vorsichtig nach allen Seiten windend. Plötzlich verhoffte er, hob spähend den Kopf und flüchtete mit langen Sprüngen den Felsen zu. Hinzula war aus dem Wald getreten, mit einem Weidenkorb auf dem Rücken und dem Hirtenstecken in der Hand. Zögernd näherte sie sich dem Zelt der Brüder, stellte den Korb zur Erde und begann seinen Inhalt auszukramen: Milch und Honig, Butter und Eier, Käse und Roggenbrot. „Der wird schauen, wenn er aufwacht!“ flüsterte sie lächelnd, während sie sich erhob und den Korb wieder über die Schulter schwang. Schon wollte sie gehen, da hörte sie ein Geräusch aus dem Zelte; es klang wie eine große Säge im hohlen Baum ... Bruder Schweiker schnarchte. Hinzula kicherte und versuchte die Schlummerstimme des Bruders nachzuahmen; doch was sie fertig brachte, klang im Vergleich zu den Lauten da drinnen wie das Zirpen einer Grille gegen eines Bären Gebrumm. Endlich gab sie die vergebliche Mühe auf. „Schnarkel’ nur zu! Wer fest schnarkelt, der schlaft gut, und der Schnarkler scheuchet die Truden und Maren!“ Lachend sprang sie dem Waldsaum entgegen, während das wachsende Licht über dem vom Tau benäßten Gras den Morgennebel steigen machte.
Bruder Schweiker erhob sich vom Lager. „Jetzt mein’ ich aber selber, ich hätt’ ’was gehört,“ murmelte er und lauschte. Da merkte er, daß es Tag wurde. „Freilich, die Arbeit hat nach mir geschrieen!“ Und mit gleichen Füßen sprang er auf die Erde. „Auf mit Gott, beim Teufel ist kein Trost!“ Sein Anzug war bald in Ordnung gebracht; er hatte in der Wollhose und im Arbeitskittel geschlafen und brauchte nur in die Schuhe zu schlüpfen. Den aus Holzperlen gereihten Rosenkranz, der zu Häupten seines Lagers gehangen, steckte er hinter den Gürtel, denn nach dem Morgenläuten sollte das gemeinsame Gebet gesprochen werden. Als er nun vor das Zelt trat, sah er die freundliche Bescherung auf der Erde. Eine dunkle Röthe floß über sein Gesicht, und mit breitem Lachen nickte er vor sich hin. „Schau’, schau’, das Bartele!“
Ein helles Kichern klang vom Waldsaum herüber. Schweiker blickte auf. „Hinzula?“ rief er und eilte mit langen Schritten den Bäumen zu. Aber flink wie ein Reh sprang die Hirtin aus ihrem Versteck und eilte thalwärts durch den Wald, der Ache entgegen. Doch war sie gar weit noch nicht gekommen, da rief ihr eine zornige Stimme zu. „Steh’, Dirn’!“ Und Henning kam zwischen den Bäumen hervorgeritten, dicht vor dem erschrockenen Mädchen das Pferd verhaltend. „Treff’ ich Dich schon wieder auf meinem Weg? Hab’ ich Dir nicht gesagt, Du Schmierfink, daß hier Bannwald ist?“
Hinzula ließ den Stecken sinken und während sie mit beiden Händen die Tragbänder des Korbes faßte, blickte sie in Scheu und Angst zu dem bleichen übernächtigen Gesicht des Reiters auf, in dessen Augen alle Wut funkelte, welche an ihm gezehrt hatte in schlafloser Nacht. Henning sah den leeren Korb auf der Schulter des Mädchens. „Wo kommst Du her?“ schrie er und riß die mit schwerem Hirschhorngriff versehene Reitpeitsche aus der Satteltasche. „Wo kommst Du her?“
„Von dort, Herre,“ stotterte das Mädchen, „wo die frommen Brüder bauen.“
„Was hattest Du zu schaffen dort?“
„Albengab’ hab’ ich hingetragen, Milch und Honig, Eier und Butter.“
„Das soll der Teufel Dir gesegnen!“ fluchte Henning und schwang mit zorniger Wucht den Knauf der Peitsche.
„Herre! Was thust mir denn?“ stammelte die Hirtin und wollte fliehen. Doch ehe sie sich zu wenden vermochte, fiel der Schlag und traf die Stirn des Mädchens. Ein bebender Schmerzenslaut rang sich von Hinzulas Lippen, eine Strecke noch, während das rote Blut über ihre Augen und Wangen rann taumelte sie dahin zwischen den Bäumen ... von ihrem Rücken fiel der Korb und rollte über das Moos ... dann wankte sie, mit zuckender Händen, stöhnend, griff sie in die Luft und stürzte zu Boden.
„Hinzula! Hinzula!“ klang Schweikers Stimme im Wald. Er hatte den zitternden Weheschrei des Mädchens gehört und kam über die Wurzeln und bemoosten Steine einhergesprungen, mit hohen Sätzen und wehendem Bart, einen Knüppel in der Faust, als gält’ es, die Hirtin zu retten vor einem reißenden Tier. „Hinzula! Hinzula!“ Der Ruf erstickte auf seinen Lippen; zwischen den Bäumen sah er die Hirtin liegen, regungslos, mit geschlossenen Augen, besudelt von Blut. Der Knüppel fiel aus seiner Hand, er hörte nicht das Brechen der Aeste, hörte nicht den Hufschlag des enteilenden Reiters ... in Schreck und Jammer schlug er die Hände zusammen und warf sich auf die Knie. „Kindl! Kindl! O mein lieber Himmelsherr, was ist denn da geschehen?“ Er hob das von Blut überströmte Köpflein der Hirtin auf seine Arme; ein mattes Stöhnen kam von den Lippen der Ohnmächtigen, und reichlicher blutete die klaffende Wunde an der Stirn’. Mit nassen Augen blickte Schweiker umher, als müßte die ersehnte Hilfe aus den Bäumen treten, aus den Lüften kommen wie ein Wunder. „O Ihr guten Heiligen! Ja was thu’ ich denn?“ Er drückte die zitternde Hand auf die Wunde, um das Blut zu stillen; doch der rote Quell rann ihm heiß durch die Finger. Von namenloser Angst befallen, schrie er mit gellender Stimme. „Mordio! Mordio!“ Mit beiden Armen umschlang er das Mädchen, richtete sich auf und begann mit seiner Last zu laufen. Keuchend erreichte er die von bleicher Morgenhelle übergossene Lichtung, von welcher dünne Nebel aufdampften gegen den Berghang. Wie ein Schleier lag’s über den Zelten und über dem Klausenbau.
„Mordio!“ hallte Schweikers Stimme.
Da tauchte eine Gestalt im Nebel auf. Eberwein war es. „Schweiker! Was rufest Du Mord? Wer ist in Not?“ Er eilte herbei und sah auf des Bruders Armen das blutende Mädchen liegen, mit hängendem Haupt und schlaffen Gliedern, einer Toten gleich.
„Schau’, Herre, schau’!“ jammerte Schweiker, die Stimme halb erstickt von Thränen. „Jetzt haben sie uns das Kindl erschlagen! Unser einzig’s, unser einzig’s!“
„Spute Dich, Schweiker!“ rief Eberwein. „Trage das Mädchen zum Teich, kühle die Wunde mit Wasser ... ich hole, was ich brauche!“ Er sprang davon, im Nebel verschwindend.
Schweiker stand, zitternd und dem Enteilenden nachstarrend mit ratlosem Blick. Da fühlte er, wie ihm das Blut der Hirtin über die Arme rann, wie es an der Brust durch den Kittel quoll und warm an seinen Körper rieselte. Wie ein Schwindel befiel es ihn. „Sie verblutet, sie verblutet ja!“ lallte er und rannte dem Teich entgegen. Am Ufer ließ er sich niedersinken, bettete den Kopf des Mädchens in seinen Schoß, schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und goß das kalte Naß über die wunde Stirn; mit dem über Hinzulas Haar und Antlitz rinnenden Wasser vermischte sich das Blut und wurde dünner. Schweiker schöpfte und schöpfte ... und zwischen dem rinnenden Blut erschien mit weißer Haut ein Gesichtlein von kindlichem Liebreiz. Immer weiter öffneten sich Schweikers Augen. Immer weiter schöpfte seine zitternde Hand das Wasser und goß und wusch. Da streckte sich Hinzula und ein stockender Atemzug erschütterte ihre Brust. „Kindl, Kindl – liebes Kindl!“ stammelte Schweiker und hob mit beiden Armen das Köpflein der Hirtin.
Langsam schlug sie die Augen auf und hing mit starrem Blick an seinem Gesicht. Nun schien sie ihren Retter zu erkennen, denn während ein mattes Lächeln ihren Mund umspielte, hob sie müde die Hand und griff mit gespreizten Fingern in den Flachsbart des Mönches, wie es ein krankes Kind wohl thun mag, wenn es, aus bösem Fieber erwachend, das kummervolle Gesicht des Vaters über sich gebeugt sieht.
Dicke Zähren rollten Schweiker über die bärtigen Wangen. „Sag’ doch, Kindl, sag’, wie ist Dir denn?“
„Gut!“ lispelte Hinzula und lächelte, doch in neu beginnender Schwäche verschwamm ihr schon wieder der Blick unter sinkenden Lidern.
Es wurde lebendig bei den Zelten, man hörte die Stimme Bruder Wampos, und Eberwein kam. „Sie lebet, Herr, sie lebet,“ rief ihm Schweiker entgegen, „aber sie hat vor Schwäch’ schon wieder die Sinn’ verloren!“
Neben dem Bruder kniete Eberwein nieder; mit einem Tuche trocknete er die Stirne der Hirtin und begann mit dem Skalpell die Wunde zu untersuchen. Da mußte Schweiker auf die Seite blicken, er konnte nicht sehen, wie das blinkende Eisen in die
[205][206] Wunde tauchte. Während nun auch Wampo und die Knechte herbeigelaufen kamen, bethätigte Eberwein schweigend seine hilfreiche Kunst; als er mit dem Messer einen Knochensplitter aus der Wunde löste, streckte sich Hinzula stöhnend und schlug mit den Händen gegen den Arm des Arztes. „Halte sie fester!“ flüsterte Eberwein.
Schweiker fesselte mit raschem Griff die Hände des Mädchens, aber er wurde bleich bis in die Lippen, und nach einer Weile blickte er mit umflorten Augen zu Wampo auf: „Gieb mir einen Trunk Wasser, Bruder, mir ist übel!“
Wampo riß einem der Knechte die lederne Kappe vom Kopf und schöpfte Wasser, welches Schweiker in langen Zügen trank.
Als Wampo, um die Kappe von neuem zu füllen, sich wieder zum Wasser bückte, wurden seine Augen starr; er ließ die Kappe fallen, warf die Arme in die Höhe und schrie: „Herr Du Allmächtiger, ein Wunder! Der Teich, der gestern noch leer gewesen, hat Fisch’! Hat Fisch’!“ Lachend und schreiend sprang er in die seichte Flut und tappte mit beiden Händen nach den scheu durcheinander schießenden Hechten und Ferchen.
Da richtete sich Eberwein auf. „Bruder!“ rief er zornig. „Hier liegt ein armes Geschöpf in Not und Blut! Und Du ...?“ Sein zürnender Blick ergänzte, was seine Lippen verschwiegen. Bruder Wampo machte eine scheue Miene und stapfte aus dem Wasser. „Geh’ und bring’ einen Becher von unserem Meßwein!“
Wortlos schlich Wampo davon; auf halbem Weg schielte er über die Schulter zurück. „Sie kommen mir ja nimmer aus!“ murmelte er, rang das Wasser aus dem triefenden Saum der Kutte und begann zu laufen.
Pater Eberwein legte den Verband um Hinzulas Stirne; dabei erwachte die Hirtin aus ihrer Ohnmacht, und als sie den Pater und die fremden Gesichter der Knechte sah, wollte sie sich erheben. Schweiker aber hielt sie fest in seinen Armen. „Geh’, Kindl, schau’, thu’ Dich still halten – es ist Dir ja zum Guten, was geschieht.“ Sie blickte zu ihm auf, atmete tief und rührte sich nicht mehr. Ein sanfter Wind erwachte, in bläulichen Wölklein kräuselte sich der Nebel über den Berghang empor, die Sonne stieg und ihre Strahlen fielen mit hellem Glanz auf Schweiker und Hinzula. Bruder Wampo brachte den mit Wein gefüllten Becher; Eberwein setzte ihn an die Lippen der Hirtin und flößte ihr den stärkenden Trank bis auf den letzten Tropfen ein. Der Wein erquickte sie, ihre Augen bekamen Glanz, ihre Glieder Kraft, und von Schweiker gestützt, vermochte sie sich zu erheben. Zitternd stand sie, ihr Köpflein ruhte an Schweikers Brust, und der Anblick, den es bot, mußte Rührung erwecken.
„Wer bist Du, Mädchen?“ fragte Eberwein mit bewegter Stimme.
Sie starrte ihn an und wußte kein Wort zu finden. „Hinzula heißt sie,“ sagte Schweiker, „und ihr Vater ist der Greinwalder, der sell drüben über der Ache hauset.“
„Und sie ist die erste gewesen, die auf das Glöckl gehört hat,“ fiel Bruder Wampo eifrig ein, „die erste, die zu uns gekommen ist mit frommer Gab’. Aber sag’ nur, Bartele, sag’,“ wandte er sich an das Mädchen, „wie ist Dir denn das Unglück zugestoßen? Bist auf einen Stein gefallen?“
Auch Eberwein fragte; doch Hinzula stand schweigend, als hätte sie die Sprache verloren; ihre scheuen Blicke glitten über die fremden Gesichter und blieben mit stummer Bitte an Schweiker haften.
„So red’ doch, Kindl! Sag’, was willst denn?“
„Heim!“ lispelte sie.
„So komm nur, komm, ich führ’ Dich schon, wohl wohl!“
„Weißt Du den Hag ihres Vaters?“ fragte Eberwein den Bruder. „Ich hoffe nur, er liegt nicht weit … es ist noch schwach bestellt um ihre Kräfte.“
„Und läg’ das Haus einen Tag weit, ich bring’ das Kindl heim … so lang’ ich selber noch Füß’ hab’, kommt sie schon weiter, da brauchst Dich nicht zu sorgen, Herr! Komm nur, Hinzula, komm!“ Fester schlang er den Arm um die Hirtin und führte sie den Bäumen zu. Bis zum Waldsaum ging Eberwein mit ihnen, dem Bruder Auftrag gebend, welche Pflege Hinzula empfangen sollte. Zum Abschied drückte er die Hand der Hirtin und streichelte ihr Haar. „Gott mit Dir, mein Kind! Ich komme morgen und sehe nach Deiner Wunde.“
Als Eberwein die beiden nun verließ, flüsterte Schweiker dem Mädchen zu: „So sag’ ihm doch ein freundlich’s Wörtl!“
„Vergelt’s, guter Herre!“ rief Hinzula mit mattem Stimmlein. Eberwein blickte sich um und nickte ihr lächelnd zu.
Während Schweiker mit dem Mädchen im Wald verschwand und Eberwein zu den Zelten ging, sprang Bruder Wampo, als hätte er mit Sehnsucht diesen Augenblick erwartet, in flinker Eile zum Teich. Die Sonne lag über dem klaren Wasser und regungslos standen die Hechte und Ferchen auf dem seichten Grund. Die Aeuglein des Bruders glänzten, während er mit deutendem Finger die Fische zählte. Sorglich umschritt er den Teich, doch er fand keine Stelle, die den Fischen einen Fluchtweg geboten hätte. „Ich brauch’ keine Angst zu haben, sie können mir nimmer aus!“ Nun stand er und blinzelte vergnügt den größten und fettesten der Hechte an. „Du kommst morgen an die Reih’, zur heiligen Sonntagsfeier!“ Er legte die Hände hinter den Rücken, blickte mit hellen Augen hinaus in den leuchtenden Morgen und schmunzelte. „Heut’ gefallt mir die Gegend ein lützel besser! Ich mein’ doch, sie wär’ nicht gar so schiech!“ Eine Weile noch stand er und ließ sich die Sonne auf das Bäuchlein scheinen; dann eilte er, vergnügt die Hände reibend, zur Feuerstätte, um die Morgensuppe zu kochen. Bei der Klause erklangen schon die Rufe und Beilschläge der Knechte, welche über der hölzernen Mauer die Balken zum Dache schränkten.
Inzwischen hatte Schweiker mit Hinzula das Thal erreicht. Langsam und mühselig war die Wanderung durch den Wald gegangen; aber nun, da die Hirtin mit Schweiker allein war, hatte sie die Sprache gefunden und in stockenden Worten erzählt, daß es Henning gewesen, Wazemanns Aeltester, der sie blutig geschlagen im Zorn.
„Ja warum denn?“
„Ich weiß nicht. Er hat gesagt, weil Bannwald ist, wo ich geh’!“
Schweiker hob die geballte Faust. „Käm’ er mir nur in den Weg, ich wollt’ einen Bann legen um ihn her, daß er den Arm nimmer heben möcht’ zu einem Schlag!“
Scheu blickte Hinzula zu ihm auf und stammelte: „Laß Dich mit dem nicht ein, das ist ein Arger!“
„Ich fürcht’ ihn nicht! Und wenn er gleich hundertmal stärker wär’ und Macht hätt’ wie der Teufel … ich weiß schon einen, der mir hilft!“
„Wen meinst denn?“
„Schau’ hinauf, Kindl! Den mein’ ich, der sell droben hauset in der Himmelsburg, der für alle Guten die Hilf’ ist und für die Argen ein Schrecken!“
Hinzula hob das Gesichtlein und blickte mit großen Augen zum blauen Himmel auf; dabei übersah sie den Wurzelknorren, der den Pfad überquerte; sie strauchelte und wäre gestürzt, hätte Schweiker sie nicht aufgefangen in seinen Armen.
„Aber Kindl! Warum schaust denn nicht auf den Weg?“
„Hast ja gesagt, ich soll hinaufschauen zur Himmelsburg.“
„Freilich, freilich, aber man muß doch auch einen Blick auf die Erd’ hin haben.“
Als die Zwei das Ufer der Ache erreichten, schüttelte der Bruder bedenklich den Kopf. „Kindl, da hinüber tragen Dich Deine Füßlein nicht. Aber wart’, da wird gleich geholfen sein.“ Er bückte sich und hob die Hirtin auf seine Arme. Sie lächelte, umschlang seinen Hals und lehnte das Köpflein an seine Schulter. Schweiker stieg in das Wasser, und während die schießenden Wellen ihn umrauschten bis über die Knie, blickte er lachend zu dem Mädchen auf. „Jetzt mein’ ich aber schier, ich bin der Christophorus!“
„Wer ist denn das?“ fragte sie.
Da wurde er rot bis über die Ohren, denn er meinte nun doch im stillen, daß es nicht anginge, das Bartele mit dem Christuskinde zu vergleichen, welches Christophorus über den Strom getragen; und er selber war wohl auch noch weit davon entfernt, ein Heiliger zu sein. Als aber Hinzula ihre Frage wiederholte, mußte er Antwort geben, ob er wollte oder nicht. „Der Christophorus, weißt, das ist ein Heiliger … wohl wohl. Aber wie er noch ein Heid’ gewesen ist, da hat er einmal ein Kindl übers Wasser getragen und hat nicht gewußt, wen er auf seinen Armen hält; auf die Letzt aber hat er doch gemerkt, daß er sein Heil getragen und sein Himmelsbrot verdient hat.“ [207] Mit sinnenden Augen blickte Hinzula auf Schweikers Lippen; die knapp gefaßte und dunkle Geschichte schien ihr nicht völlig einzuleuchten.
Das Ufer war gewonnen, und mit triefenden Füßen schritt Schweiker über die grasige Mulde hinweg, in welcher die Brüder gelagert hatten in jener ersten Sturmnacht. Es war wohl die Erinnerung an jene Nacht, welche ihn vergessen machte, die Hirtin wieder von seinen Armen zu lassen. Und auch Hinzula vergaß, ihn an ihre eigenen Füße zu mahnen. Sie erreichten den schattigen Wald, und Schweiker stieg mit seiner Last über den Hang empor, als wöge sie auf seinen eisernen Armen wie eine Feder. Seitwärts schimmerte eine Lichtung, und da hörten sie ein Getrippel hinter sich. Hinzula blickte über Schweikers Schulter.
Schau’ doch, schau’, da kommt mein Zottli daher!“ Mit mattem Stimmlein lockte sie das Tier, und der Bock, dem die vier Geißen folgten, kam mit spielenden Sprüngen zwischen den Bäumen hervor. Meckernd blieben die Tiere stehen und lugten zur Hirtin auf; langsam trippelten sie hinter Schweiker her, blieben abermals stehen und folgten aufs neue.
Der Wald wurde eben, die Bäume gingen zu Ende, und Schweiker erreichte eine weite Wiese, in deren Mitte ein hoher Hag sich erhob, das Haus verdeckend; gegen den Berghang zog sich ein Roggenfeld hin, auf welchem ein Mann und ein Weib mit der Sichel die mageren Aehren schnitten. „Schau’, dort,“ flüsterte Hinzula, „der Vater und die Mutter! Mein Bruder ist nicht daheim, der sennet auf der Alben.“
Schweiker stand und schöpfte Atem; seine Stirne zog sich in Falten, denn es erwachte in ihm die gruselige Frage: wie muß wohl die Mutter aussehen, die ein Kind hat, das sich vier Jahr’ lang nicht gewaschen?
Der Greinwalder und sein Weib hatten den Fremden, der ihren Grund und Boden betreten, schon gewahrt. Sie blickten über den sonnigen Hang herunter, die Hände über die Augen gedeckt, und redeten miteinander. Was sie sahen, mußte freilich ihr Staunen wecken; dieser Fremde in der seltsamen Tracht, ein Mensch wie ein Riese, mit dem wallenden Flachsbart und dem geschorenen Kopf, eine Dirn’ auf seinen nackten braunen Armen, und hinter ihm die meckernden Ziegen! Da erkannte die Greinwalderin ihr Kind; mit einem Schreckensruf warf sie die Sichel weg und kam herbeigelaufen, während der Mann ihr zögernd folgte.
Bruder Schweiker riß die blauen Augen auf, als er das freundlich anzusehende Weiblein erblickte, bei aller Aermlichkeit doch sauber gewandet und an Gesicht und Händen tadellos gewaschen. Vor Staunen sanken ihm die Arme, daß Hinzula zur Erde glitt ... vor Staunen fand er keine Antwort auf die erschrockenen Fragen der beiden Leute. Hinzula selbst mußte der Mutter und dem Vater berichten, was ihr geschehen und wie sie Hilfe gefunden.
Als der Greinwalder hörte, daß Schweiker einer von den Gottesmännern wäre, die ins Thal gekommen, musterte er den Bruder vom Kopf bis zu den Füßen und sagte: „So einen Senn’ möcht’ ich haben; da hätt’ mein Vieh wohl Ruh’ vor den Wölf’ und Bären und mein Haus vor den Wazemannsbuben auch!“
Schweiker hatte kein Ohr für dieses Lob. Denn er mußte der Greinwalderin, welche unter Seufzen und Zähren ihr Kind in den Hag führte, die Aufträge hersagen, die ihm Pater Eberwein für Hinzulas Pflege erteilt ... dabei wäre, wie er besonders betonte, Wasser und Reinlichleit nicht zu vergessen.
„Aber hör’,“ stotterte das Weiblein, „ich mein’ doch, das versteht sich von selber!“
Diese Antwort brachte den Bruder Schweiker wieder um alle Fassung. Seit vier Jahren hatte die Greinwalderin nicht ans Waschen gedacht, und jetzt auf einmal waren ihr diese beiden Dinge eine selbstverständliche Notwendigkeit! Kopfschüttelnd betrat Schweiker das sauber gehaltene Gehöft, darin das kleine Balkenhaus sich erhob, dem man die Liebe ansah, mit welcher es in gutem Stand erhalten wurde. In jeder Fensterluke stand ein hölzernes Tröglein mit blühenden Nelken, zwei weiße kraushaarige Lämmer trippelten im Hof umher, die Hühner scharrten in der Sonne, und zu Hunderten schossen die aus und einziehenden Immen durch die Luft.
Als Hinzula, von der Mutter geführt, das Haus betreten wollte, wandte sie auf der Schwelle das Gesicht, blickte zu Schweiker auf und fragte mit beklommenem Stimmlein: „Gelt, Du bleibst schon noch da?“
„Freilich, Kindl, freilich!“ sagte er und nickte ihr lachend zu. Dann ließ er sich auf die Hausbank niedersinken, that einen lauten tiefen Atemzug, streckte die Beine und wischte sich mit beiden Armen den in Bächlein rinnenden Schweiß vom Gesicht. Der Greinwalder trat vor den Bruder hin und bot ihm die Hand. „Vergelt’s, Gottesmann, vergelt’s für alles, was Du gethan hast für mein Kind!“
„Da braucht’s keinen Dank! Ist gern geschehen, wohl wohl!“ Schweiker wischte die Hand am Kittel ab und reichte sie dem Bauer.
„Und lohnen will ich’s auch, weißt! All Woch’ zweimal, wenn mein Bub’ abtragt von der Alben, schick’ ich Euch ein Körbl voll Zeug hinunter. Jetzt weiß ich doch, wem’s zukommt!“
„Das muß nicht sein!“ sagte Schweiker, aber da fiel ihm Bruder Wampo ein, und er fügte zögernd bei. „Wenn Du ’was graten kannst, und du giebst es gern ... meinethalben. Aber sein muß es nicht.“
Die Greinwalderin kam aus dem Haus gelaufen, füllte an einem sprudelnden Quell eine hölzerne Kanne und verschwand wieder in der Thür. Schmunzelnd blickte Schweiker ihr nach, und als sich der Greinwalder an seine Seite setzte, sagte er zu ihm: „Wo ich hinschau’ ... alles gefallt mir da. Bist ein rechtschaffener Bauer. Auch Dein Weibel schaut sich gut an und tragt sich sauber im Häs. Aber sag’ mir nur, wie kann denn die Mutter ihr Kindl so umlaufen lassen ... vier Jahr’ lang kein Tröpfl Wasser im Gesicht, vier Jahr’ lang nimmer gewaschen!“
„Vier Jahr’ lang, wohl wohl,“ nickte der Greinwalder, „weißt, seit wir halt gemerkt haben, daß die Dirn’ sich lieb und sauber auswachst.“
Schweiker machte große Augen; diese seltsame Logik wollte ihm nicht einleuchten. „Weil sie lieb und sauber ist, darum muß man sie schiech machen, daß einem hätt’ grausen können vor ihr?“
„Grausen! Freilich! Wie mehr, so besser! Wenn die Wazemannsbuben meine Dirn’ gesehen haben, so haben sie geschrieen. ‚Der Schmierfink!‘ und sind davongelaufen.“ Die Augen des Bauern funkelten. „Hätten sie gemerkt, was dahinter versteckt ist, ich hätt’ meine Dirn’ schon lang einmal suchen dürfen und hätt’ sie wohl nimmer so gefunden, wie sie von mir gegangen!“
Nun verstand der Bruder. Eine dunkle Röte floß über sein Gesicht, er ballte die Fäuste und blickte über den Bergwald hinunter nach dem Lokistein. „Laß gut sein, Greinwalder, das Blattl soll sich wenden, und müßt’ ich selber drein schlagen mit allen zwei Fäusten! Den Wazemannsbuben soll ein Riegel gelegt werden!“
„Es wär’ an der Zeit!“ Und um dieses Wort zu bekräftigen, erzählte der Geinwalder, was er und die Seinen von den Wazemannsleuten erduldet hatten seit langen Jahren. „Bei meinem Vater haben sie angefangen,“ so schloß die böse Litanei, „und jetzt kommen sie über mein Kind. Schau’ sell hinüber, Gottesmann!“ Er deutete nach einer einsam stehenden Fichte, welche ohne Gipfel war. „Dort steht noch die Ficht’, an deren Gipfel die Wazemannsknecht’ meinen Vater gebunden haben, weil er sich als Freibauer gewehrt hat wider die Fron’. Den Gipfel hat mein Vater abgeschnitten, und der dürre Stecken harret in meiner Kammer auf den Tag, an dem heimgezahlt wird!“
Die Greinwalderin kam aus der Thür und blickte, als sie die zwei roten Köpfe sah, besorgt von dem einen zum anderen. Dann sagte sie zu Schweiker. „Geh’, komm ein lützel herein, meine Dirn’ laßt mir keine Ruh’ nimmer, allweil verlanget sie nach Dir!“
Mit einem Sprung war Schweiker im Haus. Als der Greinwalder ihm folgen wollte, hielt ihn das Weib am Kittel fest und fragte scheu: „Hast doch nicht gescholten wider die Wazemannsleut’?“
„Und gehörig auch noch!“
„Aber Bauer, Bauer!“ stotterte die Greinwalderin erschrocken. „Wenn’s der Fremde jetzt weitertragt!“
„Der? Da hab’ keine Sorg’!“
Zur Geschichte der Tabakspfeife.
Ein großer, wenn nicht der größere Teil des starken Geschlechtes nennt eine Freundin sein eigen, die ihm überaus wert und teuer, zuweilen sogar unentbehrlich, seine Zuflucht in trüben Stunden, sein Trost im Ungemach, die Quelle seiner stillen Freuden, kurz sein Alles ist. Freilich besteht diese Freundin, wie zur Beruhigung aller zur Eifersucht geneigten weiblichen Gemüter sofort bemerkt werden möge, keineswegs aus Fleisch und Blut, sondern ist entweder aus Thon, Gips, Holz, Porzellan, oder bei vornehmen Herren der Schöpfung aus jenem Stoffe, aus welchem dereinst Venus emporgestiegen ist, nämlich aus dem „Schaume des Meeres“ hergestellt. Allein dennoch atmet sie Glut und Leben und hält den Mann nicht selten so ganz und gar in ihrem Banne, daß er ohne sie nicht existieren zu können glaubt und ihr alles opfert.
Lessing z. B. war ihr so zugethan, daß er sich, wie seine Wirtschafterin einmal bezeugte, von morgens früh bis abends spät nicht von ihr trennte, und Nikolaus Lenau erklärte jedem, der es hören wollte: „Ich vermöchte keine Zeile zu schreiben ohne meine Tabakspfeife – denn sie ist die Freundin des Mannes, die wir meinen – im Munde zu haben.“ In demselben Sinne, nur mit anderen Worten, äußerte sich der vor zwei Jahren verstorbene englische Dichter Lord Alfred Tennyson. Tennyson und Tabakspfeife, das waren überhaupt zwei unzertrennliche Begriffe. Er liebte sie unendlich. Sie war alltäglich sein erster und letzter Gedanke und ihm besonders nach dem Essen unentbehrlich. Nur sie durfte ihn in sein Arbeitszimmer begleiten, und je mehr sie dampfte und glühte, desto beschwingter wurde sein Geist.
In die Geschichte eines so hervorragend wichtigen Gerätes einmal einen Blick zu werfen, verlohnt gewiß die Mühe, und wenn wir seinen Spuren auch bei den fremden Völkern nachgehen, so werden uns die merkwürdigsten Gebilde menschlicher Kunstfertigkeit und Erfindungsgabe vor Augen treten.
Als die Spanier unter Führung von Christoph Kolumbus zum erstenmal die Antillen besuchten, sahen sie dort zu ihrem größten Erstaunen Männer und Frauen Kräuter rauchen. „Es waren das,“ wie der Bericht des Entdeckers lautet, „trockene Kräuter, in ein gleichfalls trockenes breites Blatt eingewickelt; sie waren von der Art der kleinen Musketen, deren sich die spanischen Kinder an Pfingsten bedienen. Am einen Ende waren sie angezündet, am anderen Ende saugten die Leute und tranken gewissermaßen durch Einatmung den Rauch. Sie werden dadurch berauscht, sind aber offenbar vor Müdigkeit geschützt. Die Leute heißen diese Art kleiner Musketen tabacos.“
Neben anderen Dingen überreichten die Eingeborenen den Entdeckern diese getrockneten Blätter, die indessen den Spaniern höchst gleichgültig waren. Keiner von ihnen konnte ja ahnen, daß in vierhundert Jahren der Tabak ein Weltbeherrscher sein würde, daß eines Tages in den fünf Weltteilen alljährlich rund eine Milliarde Kilogramm dieser Blätter geerntet und deren Wert nach Hunderten von Millionen Mark geschätzt werden würde!
Kolumbus selbst, der ausgezogen war, um die königlichen Kassen Spaniens mit dem Gold Indiens zu füllen, dachte nicht im Traume daran, daß diese nichtigen Blätter, die er geringschätzig beiseite schob, dereinst von den ewig geldbedürftigen Staatsmännern in ungeahntem Maße ausgebeutet werden sollten, daß der Ertrag von Tabakzöllen, Tabakmonopolen und Tabaksteuern jahraus jahrein Millionen über Millionen einbringen würde!
Die „tabacos“ der Antillenbewohner oder die „Cigarren“, wie wir heute die zusammengerollten Blätter nennen, blieben in der That eine geraume Zeit ohne Bedeutung für die Völker Europas. Die spanischen Ansiedler und Abenteurer in der Neuen Welt gewöhnten sich wohl zum Teil das Rauchen an, aber die „barbarische Sitte“ machte keine bedeutenderen Fortschritte. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts sah man auch Matrosen, die aus Amerika zurückkamen, in den europäischen Hafenstädten rauchen, aber man beeilte sich nicht, ihrem Beispiel zu folgen. Matthias de Lobel hat in einem im Jahre 1576 zu Antwerpen erschienenen Buche einen dieser ersten Cigarrenraucher in Europa verewigt. Ein Blick auf die getreue Wiedergabe jener Abbildung (S. 209 unten, Nr. 1) belehrt uns, daß es sich da um einen Riesenstummel handelte, eine trichterförmige Röhre, welche aus Palmenblättern oder Schilf verfertigt und mit zerschnittenen trockenen Tabakblättern gefüllt war. Wir wollen es dahingestellt sein lassen, ob dieser ehrwürdige Raucher vor dem alten Lobel dickthun wollte; so viel steht fest, daß man damals auch annehmbarere Cigarren kannte, die ungefähr Größe und Form einer Kerze hatten. Aber die Cigarre, die heute in der Welt eine so große Rolle spielt, war gar nicht dazu berufen, dem Tabak die Wege in der Alten Welt zu ebnen. Erst als die Tabakspfeife nach Europa gebracht wurde, trat mit einemmal das duftende Kraut seinen stürmischen Siegeslauf um das Erdenrund an.
Im Laufe der Zeit lernten die Europäer in Amerika verschiedene Arten des Tabakrauchens kennen. In Mexiko bedienten sich die Azteken eigenartiger Rauchrohre, über deren Herstellung der Franziskanermönch Bernardino de Sahagun Folgendes berichtet: [209] „Diejenigen Indianer, welche Rohre zum Einsaugen des Tabakrauches verkaufen, schneiden Schilfrohre und reinigen sie von den Blättern. Dann werden sie mit fein zerriebener, nasser Kohle überstrichen und mit Blumen und Tieren, Adlern, Fischen u. dgl. bemalt. Man hat auch solche, deren Malereien erst sichtbar werden, wenn das Rohr gebraucht und vom Feuer verzehrt wird. Manche sind schön vergoldet. Die Rohre werden mit dem trockenen Kraute des Tabaks und verschiedenen aromatischen Kräutern, Rosenblättern, wohlriechenden Gummiarten, gefüllt und angezündet.“ Diese Rauchrohre, deren Abkömmlinge man vielleicht in den noch heute üblichen, mit weißen Zeichnungen, Messingknöpfen, Spiegeln. u. dgl. verzierten Rauchgeräten der Pampasindianer erblicken darf (S. 208), fanden aber in Europa ebensowenig Anklang wie die ersten Cigarren.
Im Jahre 1512 besuchte der Portugiese Juan Ponce de Leon zum erstenmal das Land Florida. Die Eingeborenen waren dem Tabakrauchen sehr ergeben, aber die Art und Weise, wie sie diesem Genusse frönten, war wieder eine andere. Sie benutzten hohle Gefäße aus gebranntem Thon, in die sie ein Rohr aus Schilf einsetzten. Die Gefäße wurden mit den trockenen Tabakblättern gefüllt, angezündet und der Rauch durch das Rohr eingesogen. Hier lernte man also wirkliche Tabakspfeifen kennen; aber auch sie blieben zunächst unbeachtet.
Sechs Jahrzehnte später rüstete der englische Ritter Sir Walter Raleigh eine Expedition aus, um neue Länder in Amerika zu entdecken. Er landete an der Ostküste Nordamerikas, benannte den von ihm in Besitz genommenen Landstrich Viginien, der jungfräulichen Königin Elisabeth zu Ehren, und gründete dort eine Niederlassung. Die englischen Kolonisten traten in nähere Beziehungen zu den Eingeborenen, die ebenso wie die Rothäute in Florida aus thönernen Pfeifen die getrockneten Blätter des Krautes Yppowoc rauchten, nahmen diese Sitte der Wilden an, und ein ehemaliger Lehrer Raleighs, der Mathematiker Thomas Hariot, schrieb aus Virginien die ersten Lobreden auf das Tabakrauchen: der Rauch reinige das Haupt von überflüssigen Feuchtigkeiten, eröffne die Schweißlöcher und andere Gänge des Leibes. Raleighs Kolonie nahm freilich ein frühes Ende, und als im Jahre 1586 der Admiral Francis Drake, von einem Raubzuge in den westindischen Gewässern heimkehrend, sie besuchte, baten ihn die Ansiedler, er möchte sie doch wieder nach England mitnehmen. Am 27. Juli 1586 landeten diese Leute in Plymouth, ein Gegenstand eifrigen Staunens für das Volk, da sie zum erstenmal in England das seltsame Schauspiel des Tabakrauchens aus Pfeifen darboten. An jenem Tage wurde der Bacillus des Tabakrauchens in Europa ausgestreut. Die indianischen Thonpfeifen gefielen; das Beispiel der zurückgekehrten Ansiedler wirkte ansteckend, bald sah man überall in England Leute mit Pfeifen und im Jahre 1598 rauchte man in London bereits in Theatern. Das Kraut selbst wurde aus Amerika bezogen, aber die englischen Töpfer brannten sofort thönerne Pfeifenköpfe im Lande und es entstand alsbald ein Gewerbe der Pfeifenmacher, dem bereits im Jahre 1619 in London Körperschaftsrechte erteilt wurden. Hauptsitz der ersten europäischen Thonpfeifenindustrie wurde die Ortschaft Broseley in Staffordfhire, wo man einen geeigneten Thon fand.
Die Verbreitung der Thonpfeife über Albions Grenzen hinaus war zunächst das Werk englischer Studenten, welche die Universität Leiden besuchten. Hier sah man sie bereits um das Jahr 1590 ihre Pfeifen schmauchen, und ihr Beispiel steckte die Holländer an. Schon im Jahre 1610 war der Tabak ein wichtiger Handelsartikel in Holland, und bei Gouda entstand ein neuer Mittelpunkt der Tabakspfeifenindustrie. In der Glanzzeit waren hier an 300 Thonpfeifenfabriken thätig, welche Millionen der einst sehr beliebten holländischen Thonpfeifen (vergl. die nebenstehende Abbildung Nr. 4) alljährlich in die Welt versandten.
Die Thatsache, daß durch das Tabakrauchen Durst und Hunger vorübergehend betäubt werden, machte die Pfeife bald in den Heeren der damaligen Zeit beliebt, und so wurden englische und holländische Truppen zu weiteren Vorkämpfern der Tabakspfeife; sie waren es, welche während des Dreißigjährigen Krieges die Sitte nach Deutschland trugen. In den Jahren 1620 und 1622 sah man englische und holländische Truppen zum erstenmal in Sachsen und in Süddeutschland rauchen, und bald darauf rauchte man auch in den Lagern von Tilly und Wallenstein.
Im Laufe des 17. Jahrhunderts „trank“ oder „schmauchte“ man in Deutschland den Tabak nur aus Pfeifen, und zwar aus thönernen nach virginisch-indianischem Muster. In einem gereimten „Lob des Tabaks“ aus jener Zeit wird das Gerät des Rauchers ausführlich geschildert. Es heißt darin:
[210]„Brauchet ihr Töpffer die reinesten Erden,
Machet die Pfeiffen, als wär’ es Crystall,
Daß sie glatt, eben und kreideweiß werden,
Von Gläser wie das gegossene Metall.
Welchen ihr wollet zum Meister erhöhen,
Laß an den Pfeiffen sein Meisterstück sehen.
Auch so ihr Künstler in Silber und Eisen,
Bringet Erfindung von Stopffern herfür,
Welche von allerhand arthigen Weisen,
Feuerschlag, Zangen, Zahnstöcker, Pitschier,
Pfeiffen und Kratzer und mehrerlei Sachen
Müßt ihr bei dieser auffs künstlichste machen.“
Tabaksbrüder jener Zeit lehrten in ihren „Tabacologien“, d. h. Abhandlungen über den Tabak, von denen eine große Zahl erhalten ist, die Pfeife solle nicht zu kurz oder unter vier Zoll sein; die leichte Zerbrechlichkeit der Thonpfeifen preßte ihnen manchen Stoßseufzer ab, und so riefen sie:
„Machet ihr Meister von Messing und Bleche
Dienliche Futter, die zierlich und schön,
Daß man die Pfeiffen nicht leichtlich zerbreche,
Die aus zerbrechlichem Thone bestehn.
Oder die es noch bequemer verlangen,
Pflegen mit silbernen Pfeiffen zu prangen.“
So suchte man, nachdem das Rauchen einmal festen Fuß gefaßt hatte, die Rauchutensilien zu vervollkommnen, und den Thonpfeifen, die in Deutschland vorzüglich zu Köln und zu Almerode in Hessen verfertigt wurden, entstanden bald allerhand Nebenbuhlerinnen.
Bevor wir aber auf diese Neuerungen näher eingehen, möchten wir noch ein wenig der Vergangenheit der Pfeife in ihrer Urheimat, in Nordamerika, nachspüren.
Hier war das Tabakrauchen nicht bloß ein sehr beliebtes privates Genußmittel, es bildete auch einen Teil gottesdienstlicher und amtlicher Handlungen. Der Sonne, welche der Indianer verehrte, wurde der Tabak als Opfer dargebracht und der Rauch aus der Pfeife gegen das leuchtende Tagesgestirn geblasen. Die Indianer besaßen Kriegspfeifen, aus welchen die Männer vor Eröffnung eines Feldzuges gemeinschaftlich zu rauchen pflegten und die der Häuptling auf dem „Kriegspfade“ bei sich führte; sie besaßen aber auch Friedenspfeifen, die unter dem Namen Calumet bekannt sind (vergl. die Abbildung, S. 209 unten, Nr. 2). Das vier bis fünf Fuß lange, aus leichtem Holz verfertigte Calumetrohr wurde mit Schwanzfedern einer Adlerart, mit Bändern, Flechten von Frauenhaar, verschieden gefärbten Kielen von Stachelschweinen, bunten Federn, auch wohl mit weißen Korallenschnüren und Vogelschnäbeln verziert. Jeder Stamm schmückte die Pfeife auf seine Weise, so daß die Indianer beim ersten Blick bestimmen konnten, welcher Nation ein Calumet angehörte. Der Kopf des Calumet war jedoch nicht aus Thon gebrannt, sondern zumeist aus einem eigenartigen Stein, dem „ Catlinit“ oder roten Pfeifenstein, geschnitten, dessen Brüche sich im Westen Dacotas vorfinden. Noch heute gilt jene Gegend den Resten der Indianer als ein geheiligter Grund und Boden. Wir können uns versagen, länger bei diesem Gegenstand zu verweilen, da dieser berühmte Steinbruch Tchanopa-o-kä, das Heiligtum der Roten Rasse, im Jahrgang 1883 der „Gartenlaube“, S. 83, von Rudolf Cronau in Wort und Bild geschildert wurde.
Wie uralt der Gebrauch der Tabakspfeife in Nordamerika ist, darüber geben die vielen in unseren Museen befindlichen nordamerikanischen Pfeifen Aufschluß, deren Ursprung gewiß in vorgeschichtliche Zeiten zurückreicht. In den Thälern des oberen Mississippi, des Missouri und Ohio, sowie an deren Zuflüssen, in Wyoming, Pennsylvanien und den Ländern bis zum St. Lorenzstrome giebt es zahlreiche Grab- und Opferhügel, die man mit dem Namen „Mounds“ bezeichnet und die vermutlich von einem Volksstamme herrühren, der noch vor den Indianern jene Gebiete bewohnte. In diesen „Mounds“ fand man nun neben vielen anderen Geräten sehr häufig Pfeifenköpfe, die bald aus Thon gebrannt, bald aus verschiedenen Gesteinsarten geschnitzt sind, entweder die Form einfacher Schlote haben, oder Tiere, Vögel und Menschenköpfe darstellen (vergl. Abbildung S. 209 unten, Nr. 3, 4 u. 6). Diese Pfeifenköpfe sind den unserigen aus Thon oft zum Verwechseln ähnlich, Jahrtausende hindurch hat sich dieser Typus erhalten, die Moundsleute vermachten sie den nordamerikanischen Indianern und diese wieder den Europäern. Eigenartig sind aber Pfeifen, welche Menschenköpfe oder welche Tiere darstellen, die auf einer gewölbten Platte befestigt sind. Sie bilden zweifellos die ältesten Formen kurzer Pfeifen. Man vergleiche z. B. den Frosch unten auf unserer Abbildung S. 209. In die Höhlung am Rücken stopfte man Tabak, das vordere Ende der Platte, wo eine mit jener Höhlung in Verbindung stehende Röhre mündete, nahm man an die Lippen, das andere aber diente als Griff.
In Mexiko waren zur Zeit der Entdeckung des Landes durch die Spanier die bereits geschilderten Rauchrohre üblich; in ferner zurückliegendes Zeiten war aber auch dort die Tabakspfeife bekannt; denn es wurden an verschiedenen Orten Thonpfeifen ausgegraben, die an virginische erinnern und bald Menschen, bald Tiere darstellen. Dorther stammt das sonderbare Gebilde S. 209 unten, Nr. 5. Am allerbizarrsten nimmt sich eine Pfeife von weichem Thonschiefer aus, die auf der Königin Charlotte-Insel an der Westküste von Nordamerika heimisch ist. Die unten stehende Abbildung giebt sie getreu nach dem im naturhistorischen Hofmuseum zu Wien befindlichen Originale wieder.
Die Zeit der ausschließlichen Herrschaft der Thonpfeife sollte aber in Europa und überhaupt in der Alten Welt nicht lange dauern. Schon im 17. Jahrhundert sann man auf Verbesserung des Rauchgeräts, und zwar nach zwei Richtungen hin; einerseits wollte man den zerbrechlichen Thon durch bessere Stoffe ersetzen, anderseits die Pfeifen zum Rauchen geeigneter machen, durch besondere Vorrichtungen die unangenehmen beißenden Wirkungen des Rauches beseitigen.
Für Deutschland ist besonders beachtenswert die Erfindung der Tabakspfeife mit Mundstück und Abguß oder Schwammdose, die der österreichische Arzt Vilarius im Jahre 1689 gemacht haben soll. Diese Art erfreute sich bald einer überaus großen Verbreitung. Am wichtigsten aber für die neuerstandene Industrie war die Wahl neuer Rohstoffe zur Herstellung unseres Rauchgeräts.
Fast gleichzeitig mit den Thonpfeifen erschienen metallene, namentlich silberne Köpfe auf der Bildfläche, fanden aber keinen Anklang. Eine gefährlichere Nebenbuhlerin wurde dagegen die Pfeife aus Holz, deren Herstellung in Süddeutschland, vor allem in Ulm, aber auch im Norden, in Göttingen zu hoher Blüte gelangte (vgl. Abbildung S. 209 oben, Nr. 2 und 5). Man begnügte sich nicht mit einheimischen Holzarten, sondern bezog passende Hölzer aus den verschiedensten Ländern, die Stein- oder Winterheide aus den Pyrenäen, Palysander-, Veilchen- und Campecheholz aus Amerika und Westafrika, wohlriechende türkische Weichsel aus Persien und Cedernholz aus Asien. Die Drechsler hatten viel zu thun und begannen neben Horn auch den Bernstein zu Pfeifenspitzen zu verwenden. Später, gegen Ende des vorigen und namentlich zu Anfang dieses Jahrhunderts, kamen die Porzellanköpfe in Aufnahme und im Thüringer Walde bildete sich ein neuer Sitz dieser Industrie.
Den begehrtesten und schönsten Rohstoff zur Herstellung von Pfeifenköpfen fand man aber zu Anfang des vorigen Jahrhunderts [211] in dem Meerschaum.
Im Jahre 1724 lebte in Pest ein Schuhmacher Karl Kovács, der durch seine Geschicklichkeit im Pfeifenschnitzen sich einigen Ruf verschafft und u. a. auch die Gunst eines Grafen Andrassy erworben hatte. Als der Graf im genannten Jahre von einer seiner türkischen Reisen zurückkehrte, brachte er ein großes Stück weißen Materials mit, das man ihm in der Türkei als etwas um seines außerordentlich geringen specifischen Gewichtes willen Seltenes geschenkt hatte. Dem Schuhmacher schien dieser Stoff für Pfeifen verwendbar und er fertigte daraus zwei Pfeifen, die eine für den Grafen, die andere für sich selbst. Wegen seines eigentlichen Handwerks konnte er seine Hände nicht immer rein halten, und so kam es, daß beim Rauchen aus seiner Pfeife mehrere Pechstückchen zurückblieben. Als Kovács diese entfernte, sah er zu seiner Verwunderung, daß der Stoff an den betreffenden Stellen glänzend braun geworden war und keine schmutzigen Flecken zurückgeblieben waren. Um nun der Pfeife eine gleiche Farbe zu verleihen, schmierte er sie ganz mit Pech ein und mit Freude bemerkte er später, nachdem er sie wieder gereinigt hatte, was für eine schöne Farbe die ursprünglich weiße Pfeife bekommen hatte. So wurde Kovács zum Erfinder der Meerschaumpfeifen und zugleich der Kunst des Anrauchens.
Die Pfeifen gefielen und mehrere reiche Adlige ließen, als sie von den wunderbaren Eigenschaften dieser merkwürdigen Masse erfuhren, große Mengen derselben zum Zwecke der Pfeifenfabrikation kommen.
Wir können nicht mehr feststellen, ob diese Erzählung, die verschieden wiedergegeben wird, auf geschichtlicher Wahrheit beruht, soviel aber geht aus sorgfältigen, namentlich von Alexander Ziegler angestellten Nachforschungen hervor, daß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Meerschaumköpfe aus der Türkei über Oesterreich und Ungarn eingeführt wurden und daß sich um jene Zeit ein Handel mit rohem Meerschaum entwickelte. In Lemgo und Nürnberg begann man – in welchem Jahre, das ist nicht mehr genau festzustellen – aus diesem Stoffe Pfeifenköpfe zu schnitzen, und von jenen Städten aus pflanzte sich die neue Art der Industrie auch nach dem Thüringer Flecken Ruhla fort. Dort aber wurde um das Jahr 1750 eine Erfindung gemacht, welche sehr viel dazu beitrug, „die Ruhl“ zu einem Mittelpunkt der Tabakspfeifenindustrie zu erheben.
Ursprünglich blühte an diesem Orte der Eisenbergbau und die Waffenschmiedekunst; hier hat auch nach jener schönen Sage der „Schmied von Ruhla“ den Landgrafen Ludwig den Eisernen „hart“ gemacht. Als im Laufe der Zeit die eisernen Harnische und klirrenden Panzer abkamen, wurden die Ruhlaer geschickte Messerschmiede und machten anfangs gute Geschäfte, bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts auch dieser Handel mehr und mehr in Verfall geriet. Da half ein neuer Industriezweig aus der Not: ein gewisser Simon Schenk verpflanzte hierher im Jahre 1739 die Herstellung von Beschlägen für Pfeifenköpfe, was naturgemäß zur Fabrikation der Tabakspfeifen selbst und auch der Meerschaumköpfe führte. Diese letzteren freilich waren ein sehr teurer Artikel, den sich nur reiche Leute kaufen konnten. Da gelang es um 1750 Ruhlaer Meistern, aus Meerschaumabfällen den sogenannten künstlichen Meerschaum und aus diesem die unechten Meerschaumköpfe anzufertigen, und nun konnten die schönen Pfeifen auch weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden. Im Kirchenbuche von Ruhla hat der Pfarrer Lechler im Jahre 1790 beim Tode eines Joh. Christoph Dreiß eingetragen, daß dieser der Erfinder der in Ruhla fabrizierten unechten Meerschaumköpfe sei, an welchen andere Geld verdient hätten, während es ihm nicht habe gelingen wollen, aus seiner Erfindung den gehörigen Nutzen zu ziehen.
Die Ruhlaer Meerschaumköpfe wurden auf die Leipziger Messe gebracht und von hier aus weltbekannt. Das Ansehen des kleinen Ortes stieg und er wurde zur berühmtesten Pfeifenstadt der Welt, obwohl alle Rohmaterialien aus weitester Ferne hergebracht werden müssen: Meerschaum aus Kleinasien, Bernstein von der Ostsee, Weichselröhren aus Baden bei Wien, Harze aus den ostindischen Wäldern, Cedernholz vom Libanon, Heidewurzel aus den Pyrenäen, Birken- und Buchsbaumholz aus Schweden etc.
Die Ruhl, romantisch an dem „Erbstrom“ gelegen (s. das Bild S. 208), gehört halb zu Sachsen-Weimar und halb zu Gotha und zählt gegen 5000 Einwohner, aber nach Millionen zählen die Pfeifen. die von hier in alle Weltteile wandern, und die Ausfuhr Ruhlas an Pfeifenwaren bewertet sich nach vielen Millionen von Mark. Ruhla erzeugt durchschnittlich im Jahre eine halbe Million echter und fünfeinhalb Millionen unechter Meerschaumköpfe. Ein einziger echter Meerschaumkopf kostet 20 bis 150 Mark, während man für dasselbe Geld ein ganzes Dutzend unechter erhalten kann. Feingeschnittene Kunstwerke, wie z. B. der auf unserer Abbildung S. 209 oben, Nr. 1, sind natürlich teurer und wurden schon mit 300 bis 400 Mark von Liebhabern bezahlt. Außer den Meerschaumköpfen erzeugt Ruhla vor allem Pfeifenbeschläge, mit welchen es Millionen von Pfeifenköpfen aus Holz und Porzellan versieht. In den großen Geschäften sind Hunderttausende von Pfeifen und Cigarrenspitzen an 10 000 verschiedenen Nummern aufgestapelt! Auch die hölzerne „Schwertpfeife“ (vgl. Abbildung S. 209 oben, Nr. 3) stammt aus Ruhla, und zwar aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts.
Auf ihrem Siegeszug durch die Welt hat die Tabakspfeife auch in anderen Ländern vielfache Wandlungen erfahren. Der Türke schwärmt für den Tschibuk mit dem roten Thonkopf, dem Rohr aus Weichselholz oder Jasmin, dem Mundstück aus Bernstein; [212] er schmückt ihn mit kostbaren Edelsteinen.
Im entlegeneren Orient, in Arabien, Persien und Indien steht die Wasserpfeife besonders hoch in Gunst. Sie besteht (vgl. die Abbildung S. 211) aus einem Gefäß von Glas, Porzellan oder Metall, welches über die Hälfte mit Wasser gefüllt wird. In dasselbe wird der aus Metall oder gebranntem Thon gefertigte Pfeifenkopf eingesetzt, von dem eine Röhre ausgeht, die bis ins Wasser reicht. Ein langer mit Mundstück versehener Schlauch, bestehend aus Drahtspiralen, die mit Leder überzogen sind, führt in den freien Raum der Flasche oberhalb des Wassers; oft sind auch zwei solcher Schläuche an einem Gefäße angebracht. Infolge dieser Anordnung gelangt der Rauch beim Ansaugen zuerst ins Wasser, wird hier abgekühlt und verliert sein brenzliges Oel.
Andere Volker, andere Sitten! Bei den Japanern, die, wie ein Kenner von Land und Leuten einmal schrieb, „mehr Rauch als Reis“ verschlingen, rauchen selbst die jungen Mädchen aus reizenden, oft nur fingerhutgroßen Metall- oder Porzellanpfeifchen, die an kurzen bräunlichen Bambusröhrchen mit Metallspitze stecken und in hübschen Etuis aus Holz oder Elfenbein verwahrt werden. Auch die größeren für Männer bestimmten Tabakpfeifen sind aus Metall und haben nicht selten prächtige, in Metall eingelegte Rohre. (S. die Abbildungenn S. 211.) Der Kirgise bohrt in einen Hammelknochen seitwärts ein Loch, füllt die Markröhre mit Tabak und schmaucht aus diesem Apparat; äußerst einfach ist auch die aus einem ausgehöhlten Wurzelstock hergestellte sibirische Pfeife (S. 211, Nr. 2). Neben ihr nimmt sich die andere in Sibirien gebräuchliche, ebenfalls hölzerne Pfeife mit Zinnbeschlag und rohen Schnitzereien (Nr. 1) wie ein Kunstwerk aus, Dies hat auch etwas, was allen anderen Pfeifen fehlt, nämlich einen hölzernen Vorstecker zum Schutze und zur Reinhaltung des beinernen Mundstücks (Nr. 3). Der Jakute, der nicht immer Tabak kaufen kann, füllt seine Pfeife mit Holzspänen, die er mit einigen Tabakblättern würzt. Bei vielen asiatischen Völkerschaften, z. B. bei den Birmanen, beteiligen sich auch Weiber und Kinder eifrig an dem Rauchgeschäft, wie wir dies ja auch von unsern Zigeunern wissen. Von den Tausenden von Frauen, welche den Harem des Königs von Siam bilden sollen, ist angeblich keine der Pfeife abhold, weshalb denn auch Seine siamesische Majestät die Kleinigkeit von 20000 Pfeifen ihr eigen nennt und eigene Beamte zu ihrer Pflege besoldet. Ferner sind die Koreaner, männlich und weiblich, dem Beispiel ihrer Königin folgend, der „Huhka“ genannten Tabakspfeife (vgl. die Abbildung S. 214, Nr. 4) mit Leib und Seel ergeben.
Man behauptet allerdings vielfach. daß nicht alle Tabakspfeifen der asiatischen und afrikanischen Völker aus dem nordamerikanischen Muster hervorgegangen seien, daß vielmehr das Rauchen bei einigen dieser Völker schon vor der Entdeckung Amerikas bekannt war. Es liegen zwar keine sicheren Nachrichten darüber vor, allein verschiedene Umstände berechtigen zu dem Schlusse, daß die Schwarzen viel früher geraucht haben als die Weißen. Allerdings nicht Tabak, denn dieser ist überhaupt erst nach der Entdeckung Amerikas als ein dort einheimisches Gewächs bekannt geworden, sondern gewöhnlichen, bekanntlich berauschenden Hanf und „Dacha“, eine spezifisch afrikanische Hanfart. Aber auch allerlei andere getrocknete Pflanzen mögen schon vor Zeiten dem ungezügelten Schmauchbedürfnisse der Schwarzen gedient haben.
Wie urwüchsig übrigens ihre Art zu rauchen ehedem gewesen sein mag, das kann man noch heute im Betschuana-Lande erfahren. Ein Betschuane konstruiert sich nämlich seine Pfeife in der Weise, daß er einen kleinen Sandhügel mit oben kraterähnlicher Höhlung formt, dieselbe mit Hanf, Dacha, Tabak oder sonst etwas Brennbaren anfüllt, eine Kohle darauf legt und nachdem er ein Rohr durch den Sand bis an den Rauchstoff geführt hat, auf dem Bauche liegend zu schmauchen beginnt. Andere südafrikanische Stämme sind, wie die Exemplare am Rande des untenstehenden Betschuanenbildes beweisen, in Sachen der Pfeife allerdings weiter vorgeschritten; ihre grotesken Pfeifen aus Büffel-, Antilopen- und sonstigen Hörnern sind vorzugsweise zum Hanf- oder Dacharauchen bestimmt, besitzen keine Spitze, sondern werden mit der breiten Oeffnung des Hornes an den Mund gesetzt. worauf die eine bedeutende Lungenkraft erfordernde Aufsaugung des Rauches aus den in die Rohre eingesteckten Köpfen beginnt.
Was nun die sonstigen Tabakspfeifen Afrikas anbelangt, so sind zunächst die etwa 30 bis 40 cm langen hölzernen Pfeifen der Niam-Niam deshalb merkwürdig. weil an dem eine menschliche Gestalt darstellenden Rohre zwei Köpfe sitzen (Abbildung oben auf dieser Seite Nr.. 13). Derartige doppelköpfige Pfeifen kommen in verkleinertem Maßstabe auch sonst vor. Werden nun von den afrikanischen Holzschnitzern in der Regel menschliche und tierische Figuren zum Vorbilde oft recht schöner und niedlicher Tabakspfeifen
[213]gewählt, so geben ihnen diejenigen, die sich mit der Erzeugung von Pfeifen aus schwarzem oder rotem Thon befassen, die Form aller erdenklichen Gefäße, um die sich bei den Bakungo gewöhnlich eine Schlange ringelt (Abbildung S. 212, Nr. 6). Die zierlichsten Pfeifenköpfe oder vielmehr -köpfchen dieser Art finden sich in Timbuktu (ebenda Nr. 1). Charakteristisch für alle afrikanischen Thonpfeifen, ob schwarz, rot oder gelb, ist der Umstand, daß die vertieften Verzierungen mit einer weißen Masse eingerieben werden, wodurch sie wie bemalt erscheinen. Ein weiteres Kennzeichen der afrikanischen Thonpfeifen ist das Rohr, das sich an Kürze mit dem Rohre europäischer Cigarrenspitzen messen kann. Doch wie überall, so berühren sich auch im Lande der glühenden Sonne die Gegensätze; so haben z. B. die Wanjoro kleine Pfeifenköpfe an sehr dünnen, bis zwei Meter langen Rohren, den längsten (Vgl. S. 212 unten bei a.) Erwähnenswert ist ferner die aus einer Kokosnuß hergestellte Tabakspfeife vom unteren Kongogebiet (Abbildung S. 212, Nr. 8) sowie die Pfeife der Kassai (ebenda Nr. 12 u. 14), welche in der Weise konstruiert wird, daß ein langes aus Holz verfertigtes Horn einen becherartigen Pfeifenkopf als Aufsatz erhält. Ebenso fabrizieren die Marundscha (Nr. 17) ihre Pfeifen, nur daß der obere Teil der Rohre aus Holz, der mittlere aus Eisen und der untere aus Messingblech besteht.
Eine eigentümliche, etwa 30 cm hohe Trompetenpfeife, deren oberer Teil mit Eisendraht umwunden wird, ist bei den Bakunje am Niassasee gebräuchlich (Nr. 5); von anderen Pfeifen könnte man sagen, daß sie in Afrika. „wild“ wachsen. Sie heißen gewöhnlich „Kiko“ und bestehen aus einem bauchigen ausgehöhlten Flaschenkürbisse, dem ein Pfeifenkopf aufgesetzt wird (Nr. 9). Den Kürbis füllt man mit Wasser, den Kopf mit Tabak und saugt nun entweder an dem engen Halse des Kürbisses, oder an dem in denselben eingeführten Holzrohre. Noch eine Reihe weiterer seltsamer afrikanischer Pfeifengebilde ist auf unserer Abbildung S. 212 oben, zusammengestellt.
Die unheimlichste Erscheinung in der internationalen Pfeifengesellschaft ist zweifellos die Opiumpfeife, deren Heimat unstreitig China ist. Die, man kann ohne weiteres sagen, schreckliche Pfeife beherrscht in den mannigfachsten, auf unseren Bildern S. 213 und 214 veranschaulichten, zumal in Chinesisch-Turkestan recht seltsamen Gestalten einen großen Teil Asiens und der dazu gehörigen Inseln, besonders Java und Sumatra. Unser Bild S. 213 läßt uns einen Blick in eine chinesische Opiumhöhle thun; auf Pritschen und Bänken kauern oder liegen die bezopften Söhne des Reiches der Mitte und schmauchen das betäubende Gift von schlitzäugigen Kellnerinnen mit Thee bedient. Den unteren Rand der Zeichnung nehmen allerhand Opiumpfeifen und -behälter ein.
Wenden wir nun unsere Blicke nach dem fünften Weltteil hinüber, so finden wir, daß dessen Urbewohner der Tabakspfeife am wenigsten hold sind. Wie die Indier kauen sie Betel und rauchen Cigaretten. Die Wasserpfeife kennen sie gar nicht und der emsigste Forscher wird in Australien und den dazu gehörigen Inseln wenig mehr als die hölzerne Löffelpfeife mit Vogelknochenrohr der Eingeborenen Neu-Seelands und den gleichfalls hölzernen Nasenwärmer der Papuas von der Roon-Insel, sowie das Rauchgerät der Bewohner Neu-Guineas bemerkenswert finden (S. 212).
Das letztere heißt um Port Moresby herum „Baubau“, ist ein mehr als meterlanges Bambusrohr mit eingebrannten Verzierungen, an einem Ende offen und gleich einer Flöte mit einem Seitenloche versehen. In dieses wird eine Cigarette gesteckt und durch Saugen am offenen Ende das Rohr mit Rauch gefüllt, der sodann nach Entfernung der Cigarette aus dem Seitenloche eingesogen wird ein Umständliches, ja das umständlichste Rauchverfahren der Welt.
Als bemerkenswerte Thatsache sei hier noch angeführt, daß der Schah von Persien sich rühmen kann, die teuerste Tabakspfeife der Welt zu besitzen – eine Pfeife, die, mit den herrlichsten Edelsteinen geziert, auf nicht weniger als 1 500 000 Mark geschätzt wird. In Brüssel lebt jedoch ein Mann, der seine Sammlung von Pfeifen selbst für dieses Prachtstück nicht hergeben würde, nämlich der bekannte Sammler Kapitän Crabbe. Derselbe hat nicht weniger als 5000 Pfeifen aus allen Zeiten, Ländern und jedem nur denkbaren Material.
Schließen wir hier unsere geschichtliche und ethnologische Rundschau. Eine sorgfältige Forschung wird noch manche Aufklärung bringen können; soviel steht aber fest, daß das Tabakrauchen als Genußmittel vor der Entdeckung Amerikas in der Alten Welt nicht bekannt war, daß es erst im 16. und 17. Jahrhundert sich ausbreitete. Auf diesem Eroberungszuge begleitete überall die Pfeife die dürren Tabakblätter. In der Neuzeit ist das anders geworden; die Tabakspfeife scheint den Höhepunkt ihrer Bedeutung überschritten zu haben und an ihre Stelle ist vielfach als ein neues Rauchgerät die Cigarrenspitze getreten. Aber diese Vorliebe für Cigarren ist vorläufig nur bei der europäisch-amerikanischen civilisierten Menschheit bemerklich, obwohl auch unter ihr – man denke nur an unsere Studenten und ihre mitunter riesigen Pfeifen – sich noch zahllose Pfeifenliebhaber befinden. Die Millionen der gelben, roten, braunen und schwarzen Menschen jenseit der Berge und Oceane rauchen nach wie vor aus Thon oder Eisen, huldigen der Weltbeherrscherin Tabakspfeife. F.-M.
Ein frischer, heller Märztag ging zur Neige;
Scharf pfiff der Ostwind durch die kahlen Zweige.
Schon lag das Thal im fahlen Dämmerdunkel,
Doch auf dem Turmkreuz, das im Lichtgefunkel
Des Abendrotes blinkte, sang der Star,
Der Frühlingsbote. – – – – –
– – – – – Meine Seele war
Von Kummer voll. Es saß an meiner Seite
Der Mann, der mir ins Leben gab Geleite,
Der sanften, milden Sinns erzog den Knaben,
Dem ich, nächst Gott, die allerbesten Gaben
Der Jugend dank’, der heißem Blute wehrte,
Der fromm und frei zugleich mich denken lehrte,
Ein müder Greis von mehr als achtzig Jahren. – –
Vom Arzte hatten heimlich wir’s erfahren,
Der Tod sei auf dem Weg, ihn abzuholen
Im Nebenstübchen weinten sie verstohlen,
Mein Weib, die Enkel, das Urenkelein,
Zum Abschiednehmen stellten sie sich ein. –
Daß nah’ sein Ende war, er mocht’ es wissen.
Die treue Gattin legte ihm die Kissen
Im Sessel, und es sprach mit leisem Ton
Zu mir der Vater, zu dem einz’gen Sohn:
„Mein Söhnlein, laß uns nicht in Thränen reden!
Die Scheidestunde kommt einmal für jeden.
Vielleicht auch werd’ ich morgen wieder wach –
Dann singt der Starmatz auf des Hauses Dach.
Daß ich nicht schlafe, Junge, allzulang’,
Weckt Sonnenschein mich und der Vogelsang. –
Setz’ meine Pfeife weg! Sie schmeckt nicht mehr! –
Nein, nicht geweint! Du machst das Herz mir schwer!
Noch eine Bitte! In dem Pultgefache
Liegt dort ein Brief. Es ist nicht eil’ge Sache,
Doch, wie Du weißt, hab’ immer mit Bedacht
Vor Schlafengehn ich reinen Tisch gemacht.
Schreib’ Du die Antwort! Bis es ist geschehen,
Will ich zu meinem Gott noch einmal gehen,
Und will es thun, wie ich’s seit Jahren that –
Es ist noch nie der Schlummer mir genaht,
Bevor ich, die mir teuer sind hienieden,
Empfohlen habe Gottes Gnad’ und Frieden,
Bis ich geprüft, ob in mir rein und frei
Von Haß und Zorn auch meine Seele sei –
Und dann zum Schlusse sprach ich: wohlgesinnt
Bleib’ Du, o Herr, auch mir, dem alten Kind,
Das Dir noch mit dem letzten Atemzug
Zu danken hat und dankt doch nie genug! – –
Verzeih’! Geschwätzig ist des Alters Zunge! –
Ich wollt’, Du schliefst so gut wie ich, mein Junge!“
(O Gott, „mein Junge“ bleibt man immerdar
Fürs Vaterherz auch noch mit grauem Haar!)
– – – – – – – – – – – – – –
Ich schrieb den Brief – dann stand ringsum im Kreis
Vereinigt alt und jung auf das Geheiß
Des Greises. Da und hier und hier und dort,
Für jeden gab’s ein liebend, segnend Wort,
Für seine Gattin, die ihn treu gepflegt,
Mein Weib, für das er solche Lieb’ gehegt
Wie für mich selbst – und endlich zum Beschluß
Für Enkel und Urenkelein den Kuß. – – –
„Und nun hol’ Wein, mein Junge!“ Rasch gethan
War das Gebot. „Mit allen stoß’ ich an!
Gott sei mit Euch!“ – Und, als die Reihe ging
An mich und mir im Aug’ die Thräne hing,
Mit Lächeln hob der Alte den Pokal:
„Stoß zweimal an! Es ist zum letztenmal! –
Nun helft zu Bett mir! Wache halten sollt
Ihr nicht; die Hände will ich ruhig falten,
Und, wenn Ihr mir noch Lieb’ erweisen wollt,
Lest vor: ‚Wer nur den lieben Gott läßt walten‘!
Zu danken, danken hab’ ich tausendfach.“
– – – – – – – – – – – – – –
Der Vater schlief – und ward nicht wieder wach.
Am Morgen sang der Star so überlaut,
Der hoch am Giebel hatt’ sein Nest gebaut;
Der Sonnenschein umfloß das Angesicht
Des Toten – Sang und Licht erweckt’ ihn nicht.
Doch bei der Heimkehr von der Kirchhofstätte,
Was fanden wir? Auf Vaters Sterbebette
Ein Täublein saß, als wär’ es ausgesandt,
Botschaft zu bringen aus des Friedens Land!
Emil Rittershaus.
Die Perle.
(12. Fortsetzung.)
In dem Zimmer, das neben dem der Kranken lag, war Ilse damit beschäftigt, einen Weihnachtsbaum zu schmücken; ihr war wenig danach zu Mut, allein die Mama hatte es gewünscht, und Armin, der in Ilses Augen immer noch ein Kind war – eine Bezeichnung, die ihn jedesmal mit gerechter Entrüstung erfüllte – mußte doch auch seinen Christbaum haben: Herr von Montrose hatte am Abend zuvor seinen Diener mit einer herrlichen Tanne herübergeschickt. Während Ilse Silberketten und kleine Wachsengel mit schimmernden Flügeln an die grünen Aeste hing, gedachte sie der früheren Weihnachtsfeste – wie anders noch im vorigen Jahr alles gewesen war! Und wie würde es im kommenden sein? Wo war Albrecht heute? Feierte er an Bord wohl auch Weihnachten? Ihr fiel ein, daß sie selbst morgen in große Gesellschaft müsse, und ein Schauer ergriff sie. Der Vater forderte es von ihr, auch er brachte ein schweres Opfer, indem er die Einladung annahm, aber er hatte gesagt, er sei das Herrn von Montrose schuldig, der ihrer beider Erscheinen als einen persönlichen Freundschaftsdienst von ihm gefordert habe. Es war das erste Mal, daß der zurückhaltende Herr einen solchen Ausdruck gebraucht hatte – Doßberg hatte sich gefügt und verlangte von der Tochter dasselbe. Ilse that einen langen bebenden Seufzer. Nun, gottlob, es würden viele Menschen versammelt sein, der Hausherr würde keine Zeit finden, sich um sie zu kümmern, sie konnte unbeachtet unter den übrigen Gästen verschwinden.
Da, horch! Schlittengeläute! Sie ließ die Hände sinken und lauschte. Konnten sie das schon sein? Freilich konnten sie – die Pferde waren gut, die Bahn wundervoll – gewiß waren sie es! In Ilses Herzen regte sich ungestüm die geschwisterliche Liebe zu dem „Jungen“, mit dem sie seit frühesten Kindertagen redlich alles geteilt hatte – sie ließ ihren Tannenbaum im Stich und lief, der Kälte nicht achtend, so wie sie ging und stand, durch das kleine Vorzimmer über den Flur, durch die Hausthür die drei Stufen hinunter. Da stand sie, zog ihr Tuch heraus und winkte. „Willkommen, willkommen!“
„Ilse, willst Du hinein! Bei der Kälte, in dem Schnee!“ [216] rief Baron Doßberg vom Schlitten herunter und unterstützte seine Worte durch eine höchst nachdrückliche Gebärde. Aber Ilse schüttelte den Kopf und lachte ihn an. „Was soll mir das schaden! Laß doch, Papa – das bißchen Kälte! Ich geh’ sofort hinein, sowie ich erst den Jungen – da hab’ ich ihn schon!“
Armin hatte die Pelzdecken weggeschleudert, war mit einem Satz vom Schlitten herunter und warf sich ungestüm an den Hals der Schwester. Die Stimme, mit der er sie begrüßte, hatte einen verdächtigen Klang. Inzwischen hatte sich Doßberg ebenfalls aus den Decken geschält und schob nun seine Kinder, die einander noch umfaßt hielten, nachdrücklich gegen die Hausthür. „Hinein mit Euch! Ilse, Du kannst ja den Tod davon haben!“
„Warum nicht gar, Papa! Höchstens den Schnupfen!“
Das sagte sie schon im Hausflur, wo sie sich dicht vor Armin hinstellte und ihn musterte. „Sieh’ ihn Dir an, Väterchen! Das Kind ist so groß wie ich – es dauert kein Jahr, dann ist es mir über den Kopf gewachsen! Und was ist dies? Komm doch näher zum Fenster, es ist so dämmerig hier - wahrhaftig, das Kind kriegt Anlage zu einem Schnurrbart!“
„Na, aber bedeutend!“ Armin pflanzte sich herausfordernd vor Vater und Schwester hin und wirbelte um Daumen und Zeigefinger der rechten Hand unternehmend an etwas herum, das vorläufig bloß als Schatten auf seiner Oberlippe saß. „Uebrigens, Ilse, wenn Du mir immer noch mit dem ‚Kind‘ kommst ... das muß nun doch ’mal ein Ende nehmen!“
„Wollen sehen, wie Du Dich benimmst, mein Sohn! Nicht da hinein! Mama schläft eben, Lina sitzt bei ihr und wird es uns sofort melden, wenn Mama wach ist. Einstweilen kommt in mein Zimmer! Du auch, Papa! Ich mache Euch auf der Spiritusflamme einen steifen Grog nach der kalten Fahrt – Armin, verträgst Du denn so etwas auch?“ Dieser beantwortete die Frage nur mit verächtlichem Blick und mitleidigem Achselzucken; Ilse lachte laut auf – angesichts des Bruders fühlte sie ihren alten Frohsinn wieder erwachen. Sogar über Herrn von Doßbergs trübes Gesicht ging ein Lächeln, als er den Geschwistern zusah, wie sie Arm in Arm in Ilses Zimmer traten. Es war bedeutend kleiner als das frühere im Schloß, auch fehlte ihm die imposante Höhe, der stolz geschweifte Fensterbogen, die schöne Stuckarbeit der Decke, was alles dem Raum drüben etwas so Vornehmes gegeben hatte. Hübsch war’s aber dennoch, dies Mädchenstübchen mit seinen hellgeblümten Möbeln und Vorhängen, den vielen Blumen, dem leise flötenden Kanarienvögelchen im Käfig. Ilse zog Armin an der Hand hinter sich her. „Ist’s nicht allerliebst hier bei mir?“
Er machte eine finstere Miene, ließ den Blick rundum schweifen, schaute zur Decke empor, trat dann ans Fenster und sah zu dem alten Schloß hinüber, dessen graues Gemäuer deutlich durch die entlaubten Bäume hindurchschimmerte. „Unerträglich ist das!“ rief er und ballte die Fäuste. „Unerträglich! Wie Du bloß so ruhig sein kannst – und mich noch fragen, ob’s nicht allerliebst bei Dir sei! O ja, allerliebst – meine Schwester hier im Verwalterhaus, und drüben steht unser Schloß, unser - unser - sieh mich nicht immer an!“ schloß er plötzlich wütend und stampfte mit dem Fuß auf. „Du brauchst es nicht zu sehen, daß ich heulen muß!“ Die zornigen Thränen schossen ihm aus den Augen und liefen ihm die Wangen herab, während er Ilse unsanft zurückdrängte, um sie gleich darauf wieder an sich zu ziehen. „Nein, nein - sei nicht bös, Ilse, ich bin so - einfach außer mir bin ich!“
„Wenn das nur etwas helfen könnte!“
„Helfen, helfen! So klug bin ich auch, daß ich weiß, es hilft nichts! Aber leichter wird einem doch – freilich können Mädchen das nicht verstehen. Die sind von der Natur zum Leiden und Dulden geschaffen –“
„So? Sind sie das? Eine sehr bequeme Annahme, mein liebes Kind! Wenn das wirklich die Regel sein soll, dann kann ich Dich versichern, daß es auch Ausnahmen giebt!“
„Na, Du kannst zufrieden sein - in Deinen Briefen an mich hast Du nie etwas zu klagen gehabt!“
„Wär’ mir auch von besonderem Nutzen gewesen, zu klagen! Und gar Dir gegenüber, der ohnehin schon so eine Brandrakete ist! Das hätte nur Oel ins Feuer gegossen!“
„Na, wie ist er denn?“
„Wer?“
Armin machte eine unwillige Kopfbewegung nach dem Schloß hinüber. „Du weißt ganz gut, wen ich meine! Ich kann den Namen nicht ausstehen!“
„Papa lobt ihn sehr, nennt ihn gerecht, zartfühlend –“
„Ja, das hat er mir unterwegs auch gesagt. Na, und Dü?“
„Ich hab’ ja nichts mit ihm zu thun!“
„So? Papa sagte doch, er komme ziemlich häufig hier herüber!“ Ilse schwieg. „Also? So red’ doch auch ein Wort!“
„Ach, Armin, quäl’ mich nicht!“ Ilse machte sich hastig von des Bruders Arm los. „Hörst Du nicht? Papa kommt! Nimm Dich zusammen!“ Baron Doßberg hatte inzwischen den Pelz abgelegt, jetzt trat auch er ins Zimmer; das junge Mädchen schob ihm einen Sessel hin. „Setz’ Dich, Papa!“
Der Baron ließ sich etwas schwerfällig nieder. „Dank’ Dir, mein Kind! Nun, Du hast es doch Armin bestätigt, daß es mit Mama wenigstens nicht schlechter geht?“
Sie zuckte ein wenig zusammen. „Nicht gerade schlechter, aber doch nicht so gut wie vor einiger Zeit. Da hofften wir doch –“
Doßberg schüttelte trübe den Kopf. „Ich hoffe seit lange nichts mehr!“ Er versank eine kurze Weile in sein gewöhnliches Brüten, dann hob er mit einiger Anstrengung den Kopf. „Und Deine Pläne, Armin, die Du mehrfach in Deinen Briefen angedeutet hast? Laß doch einmal hören!“
Der junge Mensch sah zu Ilse hinüber und zögerte. „Ihr müßt mir aber beide Euer Wort geben. daß Ihr Euch über das, was ich zu sagen habe, nicht ereifern werdet!“
Ein schwaches Lächeln zog schattenhaft über Herrn von Doßbergs Gesicht. „Ein bißchen viel verlangt, mein Sohn! So mit gebundenen Händen sein Wort geben - wer könnte das?“
„Ich hab’ auch mehr Ilses wegen Angst als Deinethalben, Papa! Aber Ilse ... wie ich die kenne. wird sie sich sehr ereifern, und wenn ich das dann auch thue, so steckt von vornherein die ganze Geschichte im Sumpf! Könntest Du mir nicht wenigstens Dein Wort geben. Ilse?“
„Nein, liebes Kind, selbst ich kann das nicht!“
„Dann muß es so heraus!“ Armin nahm förmlich einen innerlichen Anlauf, er schluckte ein paarmal und bewegte nachdrücklich den Kopf. als ob er sich den Nacken steifen wollte. „Sieh, Papa, Du hast Dich unterwegs gewundert - ich hab’ Dir’s angemerkt - daß ich mich gar nicht nach dem Gut erkundigt hab’, nach all den Anschauungen und Verbesserungen, die notwendig waren. Ja, ich habe die ‚Perle‘ geliebt – wie sehr, das kann ich Euch gar nicht beschreiben ... mindestens ebenso wie Papa und viel mehr als Du, Ilse – Mädchen können darin überhaupt nicht so empfinden! Aber nun, seitdem das Gut nicht mehr uns gehört, ist alles wie tot in mir, ’s ist mir rein egal, was dieser Usurpator, dieser Parvenü –“
„Armin, Du mäßigst Dich!“ fiel Baron Doßberg streng ein. „Herr von Montrose ist so rücksichtsvoll gegen mich, wie ich nur wünschen kann, überdies durchaus kein Parvenü, sondern von nahezu so altem Geschlecht wie wir.“
„Mag er – entschuldige, Papa, ich kann ihn nicht leiden, und wenn er ein Engel wäre! Er hat uns die ‚Perle‘ weggenommen, das kann ich ihm nie verzeihen. Aber ich werde nichts mehr gegen ihn sagen, da Du ihn in Schutz nimmst. Nur müßt Ihr begreifen, daß mir die ‚Perle‘ verleidet ist! Laß’ geschehen auf ihr, was da will, laß’ sie den zehnfachen Wert bekommen – sie gehört nicht mehr den Doßbergs! Ihr wißt, ich hab’ mit Leib und Leben Landmann werden wollen, aber eben als Besitzer von ‚Perle‘ und nur so. Was sollte ich jetzt als Landmann anfangen? Mich irgendwo in die Lehre geben bei fremden Menschen? Denn hier hielt’ ich es keine acht Tage aus. Und soll ich dann am Ende irgendwo als Inspektor unterkriechen mit einem lumpigen Gehalt – der letzte Doßberg? Ich thu’s nicht, und wenn die ganze Welt sich dagegen verschwört, ich thu’s nicht! Und darum“ – Armin dehnte seine Brust, als habe er sich das Herz frei gesprochen - „darum will ich einen andern Beruf ergreifen und will Seemann werden!“
Ilse zuckte zusammen bei dem Wort, Herr von Doßberg furchte die Brauen. „Und Deine Mutter?“ fragte er leise.
„Ach Gott, Mama braucht das ja gar nicht zu wissen!“ meinte Armin leichthin, in Erinnerung an das unentwirrbare
[217][218] Netz von Unwahrheiten und falschen Vorstellungen, in das die kranke Frau seit Jahren schon eingesponnen war. „Man sagt ihr irgend ’was, wenn ich ’mal lange fort bin – landwirtschaftliche Akademie, weite Reise, kleines Erkältungsfieber, das mich am Heimkommen hindert, das findet sich schon! Aber weil ich doch minderjährig bin, muß ich Deine Zustimmung haben, Papa!“
„Wie denkst Du Dir Deine seemännische Laufbahn?“ unterbrach ihn sein Vater in etwas scharfem Ton.
„Das ist ziemlich einfach – ich hab’ mir schon alles zurechtgelegt. Mit dem Zeugnis für Oberprima komm’ ich bei der Marine an – ich hab’ ein Langes und Breites mit Onkel Erich darüber geredet. Zu Anfang war er gehörig wütend und sehr grob; der Seemannsberuf sei zehntausendmal zu schade dazu, so nebenher als Notbehelf gewählt zu werden, bloß weil’s mit der Landwirtschaft nichts werden könne, und ’n richtiger Seemann sei um fünfzig Prozent besser als ein Landwirt, und was er sonst noch so gesagt hat. Zuletzt aber, als ich gar nicht locker ließ, da hat er vernünftig geredet und mir von seinem Paten allerlei erzählt, das ist ein Kapitän Kamphausen, auch bei der Marine, führt jetzt die ‚Nixe‘, in China oder da herum. Muß ein sehr tüchtiger Mensch sein, und so einer wie der will ich auch werden. Kennst Du den Kapitän Kamphausen, Papa?“
„Sehr oberflächlich!“
„Mir ist doch so, als hättest Du mir ’was von ihm erzählt – oder war das Ilse? Na, einerlei, auf den also schwört Onkel Erich, und wenn Kamphausen zurückkommt, dann werd’ ich mich an ihn machen, und er wird mir helfen, denn das kann er, sagt Onkel Erich. So, und nun wißt Ihr es! Bist Du böse, Papa?“
Herr von Doßberg wiegte kummervoll den Kopf hin und her. In vielem von dem, was sein Sohn soeben gesprochen hatte, lag Wahrheit, er konnte sich’s nicht verhehlen. Ein Landwirt ohne Vermögen, das war eine kümmerliche Existenz! Aber nun Seemann – ein so schwieriger, so gefahrvoller Beruf! Ein solches Los hatte er, der Vater, seinem einzigen Sohn bereitet, daß dieser den Weg, den seine Vorfahren in Ehren gegangen waren, verlassen und froh sein mußte, wenn Fremde ihm „halfen“, in den neuen Beruf einzutreten! Bitter stieg es empor in dem unglücklichen Mann. Ilse strich sanft mit ihrer weichen Hand über seine Rechte, die, zusammengeballt, schwer auf dem Tisch lag. „Böse kann Papa nicht sein!“ sagte sie tröstend, aber mit etwas erzwungener Frische zu Armin, der erschrocken zu seinem Vater hinübersah. „Dazu ist er viel zu einsichtsvoll und zu gerecht; als Landmann wird er Dich selbst nicht gern sehen wollen, nachdem alles sich so anders gestaltet hat. Und wenn Dir jetzt der Beruf eines Seemanns noch am besten gefällt, so wird Papa sich gewiß allmählich in den Gedanken finden, und ich werde es auch! Nicht wahr, Papa, wir werden es beide thun? Das sind wir schließlich doch Armin schuldig, vorausgesetzt natürlich, daß er nicht wankelmütig ist und seine Pflicht thut. Und wenn Onkel Erich seine Hand über ihn hält – er hat Dir’s doch versprochen, nicht wahr?“
„Ja, und er sagte auch, falls es Papa zu schwer würde … mit den Kosten, mein’ ich … so würd’ er zusehen, ob sich nicht in seiner Tasche etwas für mich fände!“
„So ist Onkel Erich!“ Ilse nickte dem Bruder lebhaft zu „Er kann herzhaft grob werden, unausstehlich kann er sein … schließlich, wenn man seiner bedarf, ist er allemal auf dem Platz.“
„Aber die Gefahren dieses Berufs!“ warf Doßberg ein.
„Ach, Väterchen, er ist aber doch schön!“ Ilses Augen leuchteten, die Stimme klang warm und überzeugend. „Die ganze weite schöne Welt sehen dürfen, all das Neue, Fremdartige genießen, von dem andere ihr Lebtag kaum eine dürftige Ahnung durch Bücher bekommen – sein gutes Schiff sicher durchbringen durch Sturm und Wetter –“
„Ich habe gar nicht gewußt,“ sagte der Baron langsam und musterte Ilse mit prüfendem Blick, „daß mein Töchterchen ein so begeisterter Anwalt für den Seemännsberuf ist!“
„Aber recht hat sie!“ fiel Armin mit seiner heisern Stimme ein, die so drollig zwischen krähendem Diskant und wuchtigem Baß hin und herschwankte.
Inzwischen war Ilse, um ihre Verlegenheit zu verbergen, an den kleinen Seitentisch getreten; sie füllte die Gläser, mischte, prüfte, mischte wieder und trat dann vor den noch immer stumm und unschlüssig dasitzenden Vater hin. „Komm,“ sagte sie heiter und gab ihm das Glas mit der dampfenden Flüssigkeit in die Hand, „komm, Papa, stärk’ Dich! Und das erste Glas auf Armins neuen Beruf!“
Die drei Gläser klangen aneinander; mit einem leichten Kopfschütteln, aber ohne weiteren Widerspruch setzte Herr von Doßberg sein Glas an die Lippen, während Armin, in feuriger Begeisterung für die gute Sache, das seinige fast bis zur Neige leerte.
Es klopfte leise, Lina erschien auf der Schwelle. „Guten Tag, Herr Armin! Die gnädige Frau sind aufgewacht, Herr Baron, und fragen nach dem jungen Herrn!“
„Grüß Gott, Lina! Wir kommen – wir kommen sofort!“
Hinter des Vaters Rücken griff Armin nach Ilses Hand und drückte sie in seiner Dankbarkeit so „männlich“, daß das junge Mädchen fast aufgeschrieen hätte. „Bist ’n famoser Kerl. Du!“ flüsterte er anerkennend. „Hast Dich einfach großartig benommen – ich vergeß’ Dir’s nicht. Und wenn Du gelegentlich von mir ’was haben willst … na, sollst ’mal sehen!“
Die Drei schritten durch das Vorzimmer, dessen Ausstattung Armin vorhin, ganz erfüllt von seinen Seemannsgedanken, weiter nicht beachtet hatte. Es glich einem Blumengarten. Auf Tischen, Korbgestellen und in gefällig geformten Majolikagefäßen duftete und blühte es hier, am vierundzwanzigsten Dezember, wie am herrlichsten Frühlingstag. „Prachtvoll!“ rief Armin, einen Augenblick stehen bleibend, um seine Nase tief in einen ganzen Busch frischer Maiblumen zu vergraben. „Ist ja fabelhaft schön! Wo habt Ihr das her?“ Ilse that, als habe sie die Frage nicht gehört, sie ging hastig voran. „Wo habt Ihr das her?“ wiederholte Armin.
„Herr von Montrose schickt täglich Blumen aus dem Gewächshaus herüber!“ sagte Baron Doßberg.
Armin fuhr von den Maiblümchen zurück, als züngelte ihm daraus plötzlich eine Natter entgegen. Ilse winkte ihm ungeduldig. „So komm doch, Armin, Mama wartet ja!“ –
– – – – – – – – – –Einige Stunden später brannten neben dem Bett der Baronin die Lichtchen des Weihnachtsbaums. Die Kranke lag still in den hochgetürmten schneeweißen Kissen, die Hände leicht ineinandergelegt, und starrte unverwandt, mit großen Augen, in den Glanz der Kerzen; in ihren weitgeöffneten Augen spiegelte der Lichtschein sich wieder. Sie sprach sehr wenig, aber sie wollte all die kleinen Gaben sehen, die Mann und Kinder einander beschert hatten, und als man sie ihr einzeln ans Bett brachte, nickte sie freundlich. Auch die weiche seidene Decke, das feine Häubchen, das buntgemalte Trinkglas, die für sie bestimmt waren, schienen ihr Freude zu machen, ihre schmale Hand strich leise über die knisternde Seide hin, ihr Mund lächelte dankbar. Armin fand die Mutter im ganzen unverändert, nur daß ihre Stimme anders klang als sonst, fiel ihm auf. Sie sprach mit einem ganz leisen müden Ton wie ein geduldiges Kind.
Armin war sehr vergnügt. Die Sache mit dem Berufswechsel hatte ihm schwer auf der Seele gelegen, jetzt aber mußte alles gut werden. Und auf vierzehn Tage frei von der Schule zu sein, war auch nicht übel! So saß er denn neben dem Bett der Mutter, erzählte allerlei drollige Schulgeschichten, ahmte seine Lehrer nach und brachte die Zuhörer mehr als einmal zu lautem Lachen. Die Lichter am Tannenbaum brannten fort, ein feiner Harzduft schwebte durch den Raum, die großen Wandspiegel warfen den Kerzenglanz leuchtend zurück, dann und wann knisterte ein Zweiglein. Baron Doßberg dachte zurück an den mächtigen Saal im Schloß, in dem sonst die drei riesengroßen Tannenbäume gestanden hatten, die langen Tafeln, die vom einen Ende des weiten Raumes zum andern reichten, belastet mit Geschenken für die Schloßdienerschaft, für die Bewohner des Dorfes. Jetzt baute ihnen ein Fremder die Gaben auf, zum erstenmal seit Jahrhunderten war es kein Doßberg! Heiß stieg es ihm in die Augen, die Lichter des Weihnachtsbaumes flimmerten vor seinem Blick. Leise kam Lina ins Zimmer, sie machte sich etwas in Ilses Nähe zu schaffen und flüsterte dabei: „Fräulein Ilse, bitte, einen Augenblick! Im kleinen Vorzimmer ist – ist – jemand!“
Der Baron sah, wie seine Tochter erblaßte, er hatte Linas Bestellung gehört; es kam ihm in seiner Stimmung gelegen, gleichfalls zu gehen. „Ein paar Minuten nur für mich und Ilse, liebste Elisabeth!“ sagte er und küßte die Hand seiner kranken Frau. „Gleich sind wir wieder bei Dir!“
Im Vorzimmer unter den Blumen stand Clémence von Montrose, in einen kostbaren Pelz gehüllt, eine viereckige polnische [219] Pelzmütze auf dem Kopf. „Ich komme als Papas Abgesandte,“ begann sie in einem Ton, der trotz einer gewissen Glätte und Verbindlichkeit nicht frei von Zwang war. „Papa wünscht so sehr, dieser erste Weihnachtsabend, fern von den Ihnen lieben Räumen, möge Ihnen nicht allzu schmerzlich sein; er bittet Sie beide durch mich nochmals, uns morgen die Ehre Ihres Besuches zu schenken, und ersucht besonders Baroneß Doßberg, diese bescheidene Weihnachtsgabe freundlichst von ihm entgegenzunehmen.“
Die Sprecherin hielt Ilse dabei ein längliches, in Papier gesiegeltes Kästchen entgegen. Es war Clémence nicht leicht geworden, diesen Auftrag „als Papas Abgesandte“ auszuführen, sie hatte sich anfangs rundweg weigern wollen. Allein Herr von Montrose besaß eine so eigene Art, solche Dinge zu verlangen und den Betreffenden dabei anzusehen, daß der Widerspruch seiner Tochter in einem unverständlichen Gemurmel erstarb, von dem er gar keine Notiz nahm. Er hatte ihr nur noch aufgetragen, jedenfalls alles wörtlich zu bestellen, und sie hatte an ihren Botho gedacht, der trotz des Weihnachtsfestes eine so gedrückte Miene aufsetzte, was jedenfalls mit Geld zusammenhing, mit Geld, das Papa schaffen mußte ... also galt es, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und zu diesen Doßbergs hinüberzugehen. Gern hätte Clémence die „bescheidene Weihnachtsgabe“, die ihr Vater der schönen Ilse verehrte, gesehen, allein Herr von Montrose hatte ihr das Päckchen versiegelt übergeben, und sie durfte nicht wagen, es ohne weiteres zu öffnen. Sicher irgend ein Schmuckgegenstand, und zwar kein billiger – Papa schenkte nichts Schlechtes. Das fehlte gerade noch, dieser hochmütigen Prinzessin solche Aufmerksamkeiten zu erweisen, damit sie noch eingebildeter wurde, als sie schon war! Wie sie sich nur jetzt wieder benahm! Wurde sie nicht abwechselnd rot und blaß und ließ sie eine ganze Weile mit dem Geschenk in der Hand dastehen, ohne es ihr abzunechmen? Und als sie es endlich that, setzte sie es nicht so eilig wieder hin, als habe sie sich daran verbrannt? Und wie sie dann dankte! So leise, so hastig, daß es kaum zu verstehen war! Und das war Ilse Doßberg, die sie, Clémence, von Georges sich beständig zum Muster aufstellen lassen mußte, die er so entzückend „schick“ fand! Benahm sich diese Prinzessin nicht so kindisch und unbeholfen wie ein Schulmädchen? Wenn Georges sie jetzt sehen könnte! Aber nein, der würde auch dies „unendlich reizvoll“ finden – die hübsche Larve hatte ihn eben bestochen!
Baron Doßberg nötigte Clémence zum Sitzen und redete ein paar verbindliche Worte. Fräulein von Montrose sah sich indessen mit erstaunten Augen um – sie war lange nicht hier gewesen bei „Papas Verwalter“, wie sie den Baron mit Vorliebe nannte; aus eigenem Antrieb kam sie überhaupt nie. Wie das hier aussah! Man saß ja im reinsten Frühlingsgarten! Soviel von den schönsten Blumen schickte Papa hierher – diese Verschwendung! Darum also hatte sie gestern im Gewächshaus, als sie die Blumen zum Zimmer- und Tafelschmuck für das Fest aussuchte, eine so beschränkte Auswahl angetroffen! Was da für Exemplare von Azalien und Kamelien, von Fliederbäumchen und Maiblumenbüschen standen! Wenn es nicht so lächerlich wäre, man könnte wahrhaftig denken ...
Mechanisch erwiderte Clémence einige Redensarten auf des Barons höfliche Bemerkungen, sie erhob sich sehr bald wieder, um zu gehen. Die Atmosphäre war ihr nicht geheuer hier. Doßberg geleitete den Gast bis zur Hausthür, wo der Bediente seine Herrin erwartete.
Behandlung der Diphtherie mit Citronensäure.
In den letzten Jahren ist es den eifrigen Bemühungen der Aerzte gelungen, das früher so rätselhafte Wesen der Diphtherie, des gefürchteten Würgengels unserer Kinderwelt, näher zu ergründen. Professor Löffler in Greifswald hat zuerst zweifellos nachgewiesen, daß die Krankheit durch einen bestimmten Bacillus hervorgerufen wird. Dessen Keime gelangen auf die Schleimhaut im Munde oder Rachen des Kindes, vermehren sich hier und erzeugen zunächst eine örtliche Entzündung. Während aber die Bacillen fortleben, bilden sie giftige Stoffe, welche durch die verletzten Stellen der Schleinthaut in das Blut gelangen und eine schwere mit Fiebererscheinungen verbundene allgemeine Erkrankung des Körpers herbeiführen.
Diese Erkenntnis zeigte dem Arzte die Wege, auf welchen er die Bekämpfung des Leidens anzustreben hatte. Einerseits mußte er suchen, die Diphtheriebacillen in dem Belag der erkrankten Schleimhaut zu vernichten und auf diese Weise deren Giftbildung hintanzuhalten; anderseits mußte er auf Mittel bedacht sein, welche die verderblichen Wirkungen des Diphtheriegiftes im Körper aufheben würden.
Was nun die letztere Aufgabe anbelangt, so ist man seit Jahr und Tag damit beschäftigt, aus dem Blute gegen die Diphtherie immun gemachter Tiere Stoffe zu gewinnen, welche sozusagen als Gegengifte gegen das Diphtheriegift helfen könnten. Was man in dieser Hinsicht bis jetzt erreicht hat, das berechtigt uns wohl zu den besten Hoffnungen für die Zukunft; aber die Forschung ist noch nicht so weit fortgeschritten, daß man ihre Ergebnisse im praktischen Leben beim kranken Menschen anwenden könnte.
Viel günstiger ist dagegen der Arzt gestellt, wenn er an die Bekämpfung der Bacillen selbst geht. Es ist eine ganze Anzahl von Desinfektionsmitteln bekannt, welche Diphtheriebacillen töten. Professor Löffler in Greifswald hat selbst sehr eingehende Untersuchungen darüber angestellt, indem er frische lebenskräftige Diphtheriebacillen mit verschiebenen Flüssigkeiten übergoß, diese Flüssigkeiten 10, 20 bis 30 Sekunden oder länger einwirken ließ und dann prüfte, ob die Bacillen abgetötet waren oder nicht. Diese Versuche ergaben recht wertvolle Fingerzeige. Manches Mittel, das früher als sehr brauchbar gepriesen wurde, erwies sich als gänzlich erfolglos. So zeigte z. B. das so oft verwendete chlorsaure Kali in fünfprozentiger Lösung selbst nach einer Dauer von 60 Sekunden gar keine Wirkung; auch gesättigtes Kalkwasser versagte dem Diphtheriebacillus gegenüber. Dagegen hat eine Reihe anderer Mittel sich trefflich bewährt.
Zwei Quecksilberpräparate, das Sublimat und das Quecksilbercyanid, ferner Chlorkalklösung, Chlor- und Chloroformwasser zeigten in bestimmten Verdünnungen sichere bacillentötende Wirkung selbst in der kurzen Zeit, während der eine Gurgelung ausgeführt wird; es sind dies bei Erwachsenen höchstens 30, bei Kindern höchstens 15 Sekunden. Leider aber waren die wirksamsten Mittel derart beschaffen, daß man sich nicht entschließen konnte, sie für den gewöhnlichen Gebrauch als Vorbeugungsmittel gegen Diphtherie zu Gurgelungen zu empfehlen. Zum Teil waren sie starke Gifte, zum Teil besaßen sie ätzende Eigenschaften; so mußte deren zweckmäßige und vorsichtige Verwendung dem Arzte überlassen werden.
Und doch ist es von höchfter Bedeutung, ein Mittel zu kennen, das ohne schädliche Nebenwirkungen imstande wäre, die Diphtheriebacillen zu töten, das man in verdächtigen Erkrankungsfällen sofort anwenden und mit dessen Hilfe man die Entwicklung der Krankheit wenigstens bis zur Ankunft des Arztes zum Stillstand bringen könnte.
Es war nun seit langer Zeit bekannt, daß verschiedenen Pflanzensäuren und ätherischen Oelen keimtötende Elgenschaften innewohnen. Bis zu einer gewissen Grenze liefert uns die im Haushalt so vielfach verwendete Citrone antiseptische Stoffe. Löffler hat darauf hingewiesen, daß das Citronenöl, das ja so angenehm erregend auf das Nervensystem wirkt, die Entwicklung der Diphtheriebacillen zu hemmen vermag, Abadie und Babés fanden, daß auch die Citronensäure nach längerer Einwirkung den fraglichen Feind der Kinderwelt zu töten pflegt.
Neuerdings hat nun Dr. Hugo Laser im hygieinischen Institut zu Königsberg i. Pr. die Wirkung der Citronensäure auf Diphtheriebacillen genauer untersucht. In ihrer keimtötenden Kraft steht sie den früher erwähnten Mitteln nach, immerhin aber werden durch eine fünfprozentige Citronensäurelösung die Diphtheriebacillen in vier bis fünf Minuten sicher vernichtet.
Dr. Laser stellte noch einige Versuche an Tieren an, und da dieselben günstig ausfielen, so behandelte er auch an Diphtherie erkrankte Menschen mit Citronensäure und Citronensaft. Laut seinem in der „Hygieinischen Rundschau“ veröffentlichten Berichte war der Erfolg der Behandlung folgender: von den betreffenden Kranken wurde bei 15 durch bakteriologische Untersuchung zweifellos die Diphtherie festgestellt. Vierzehn dieser Kranken wurden in drei Tagen geheilt, ein Kind erlag seinem Leiden. Außerdem wurden 82 Kranke, die an nicht diphtheritischer Halsentzündung litten, mit Citrmtensäure behandelt und sämtlich in ein bis zwei Tagen geheilt. Man kann daraus selbstverständlich nicht schließen, daß die Citronensäure ein spezifisches Heilmittel gegen Diphtherie sei, aber man muß zugeben, daß sie einen guten Einfluß auf den Verlauf dieser Krankheit, sowie der Halsentzündungen überhaupt ausübt. Die Behandlung ist dabei recht einfach. Dr. Laser ließ eine fünf- bis zehnprozentige Lösung von Citronensäure herstellen, davon einen Eßlöffel in einem Glase Wasser verdünnen und damit die größeren Kinder stündlich gurgeln. Kleinere Kinder, die noch nicht gurgeln konnten, bekamen von der Verdünnung ein- bis zweistündlich einen Theelöffel innerlich einzunehmen. Nebenbei erhielten die Kinder Stückchen von rohen Citronen zu essen. Die Kinder nahmen die Scheiben in den Mund, kauten sie gründlich durch, verschluckten den Saft mit großem Genuß und spuckten den Rest aus, einige verzehrten bis zu zwei Citronen in vierundzwanzig Stunden, ohne daß danach üble Folgen bemerkt worden wären.
Unter diesen Umständen ist es wohl angebracht, auch die
Aufmerksamkeit eines weiteren Leserkreises auf diese Verwendung des
Citronensaftes zu lenken. Sicher ist es unbedingt nötig, bei irgendwie
verdächtigen Halserkrankungen der Kinder so schnell wie möglich den Arzt
herbeizurufen. Bis zu seinem Erscheinen jedoch kann man die kranken
Kinder mit Citronenlimonade gurgeln lassen und ihnen Citronenscheiben
zu kauen geben. Citronen sind ja überall zu haben, selbst in Orten, wo
es keine Apotheke giebt, und so billig, daß sie von jedermann benutzt
werden können. C. Falkenhorst.
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Zum sechzigjährigen Geburtstag von Emil Rittershaus. (Mit dem Bildnis S. 201.) Ein Dichter voll gesunder Kraft, voll volkstümlicher Frische der Empfindung ist es, der am 3. April zu Barmen seinen sechzigsten Geburtstag feiert. Nicht vielen ist es vergönnt, auf ein so harmonisches Leben zurückzuschauen wie Emil Rittershaus. Freilich hat auch ihm das Schicksal die Erfüllung manchen Wunsches versagt; vor allem hätte er gerne studiert, und zwar Naturwissenschaften, aber die Vermögensverhältnisse des Vaters ließen diesen Lieblingsgedanken seines einzigen Kindes nicht zur Ausführung kommen. Da zeigte sich denn die innere Tüchtigkeit, die in dieser Natur steckt: Rittershaus versank nicht in weichliche Träumereien über verfehlten Beruf, sondern griff herzhaft die Aufgabe an, die ihm als Kaufmann gestellt war, und indem er die Pflicht mit der Neigung zur Poesie zu vereinigen wußte, gedieh ihm beides, seine tägliche Arbeit und die dichterische Frucht seiner Mußestunden. Ja vielleicht verdankt er das, was er als Dichter geworden ist, nicht zuletzt seiner Stellung mitten im praktischen Leben, die ihm das Verständnis für die Bedürfnisse seiner Zeit und seines Volkes, das herzliche Empfinden für alle Not, den Sinn für das Einfache und Schlichte stets wach erhielt und mehrte. Was Rittershaus durch sein Lied gewirkt und geschaffen hat, das brauchen wir nicht erst zu erweisen durch Aufzählung seiner Dichtungen, von denen das erste Bändchen vor nun bald 40 Jahren, 1855, erschien. Unsere Leser haben in der „Gartenlaube“ Jahr um Jahr an dem Besten sich erfreut, was die Muse des rheinischen Sängers spendete, von jenem erschütternden Ruf an: „Zu Hilfe!“, mit dem die „Gartenlaube“ 1866 ihre Sammlung für die Opfer des Krieges eröffnete, bis zu dem heutigen Gedicht „Aus meinem Leben“, in dem Rittershaus voll rührender Innigkeit den Todestag seines Vaters schildert, der am 3. März 1885 starb. So dürfen wir denn gewiß sein, daß alle unsere Leser von Herzen sich den Glückwünschen anschließen, die wir dem Dichter zu seinem sechzigsten Geburtstag darbringen. Möge es ihm vergönnt sein, noch lange Jahre in rüstiger Schaffensfreude aus dem frischen Borne der Lieder zu schöpfen!
Eine zweideutige Tierfreundschaft. (Zu dem Bilde S. 205.) Der Prairiehund, dessen „Dörfern“ wir einen Besuch abstatten, ist ein Verwandter des Murmeltieres – die ersten Trapper, welche die nordamerikanischen Prairien betraten, nannten ihn „Prairiehund“, da er ähnlich wie ein Hündchen bellt und kläfft; sonst hat dieses Geschöpf mit dem Hunde nichts gemein. Die Naturforscher stellen es in die Ordnung der Nager und in die Familie der Hörnchen.
Der Prairiehund wird nicht viel größer als unser Eichhörnchen, auf der Oberseite ist er licht rötlichbraun, an der Unterseite schmutzig weiß gefärbt, seine äußere Erscheinung ist auf unserem Bilde von Meister F. Specht naturgetreu wiedergegeben. Die baumlose Steppe, die echte Prairie ist seine Heimat. Hier siedelt sich das muntere und aufgeweckte Tier in großen Gesellschaften an. Wo es sich niedergelassen hat, dort sieht man die Prairie wie mit Maulwurfshügeln besät, nur daß diese Hügel bedeutend größer sind und jeder aus einer guten Karrenladung Erde besteht, welche die Tiere beim Bau ihrer unterirdischen Wohnungen ans Tageslicht gefördert haben. Diese Hügel können als Häuser gelten, in denen eine oder zwei Familien wohnen; sie stehen bald dichter beisammen, bald weiter voneinander, in der Regel mag die Entfernung fünf bis sechs Meter betragen; dazwischen sehen wir festgetretene Pfade, die von einem Loch zum andern, von Haus zu Haus führen; oft bedecken solche Hügelgruppen mehrere Morgen Landes. Kein Wunder also, daß die ersten Wanderer in den Prairien diesen Ansiedlungen den Namen „Dörfer“ beigelegt haben!
In diesen Gemeinden herrscht stets ein reges Treiben und ein geselliger Geist; die Nachbarn besuchen sich fortwährend und kläffen und bellen, so lange die schöne Jahreszeit dauert; denn bei Wintersanfang verstopfen diese Dörfler ihre Hausthüren und halten einen halben Winterschlaf. Es ist aber nicht so leicht, das Leben und Treiben dieser kleinen Gesellen zu belauschen, denn sie sind scheu und stellen Wachtposten auf, die von den Zinnen ihrer Burgen herab die Gegend mustern und ihre Mitbürger durch Bellen vor jeder nahenden Gefahr warnen. Prairiewölfe, Füchse, Geier und – Menschen zählen bei ihnen immer zu den gefährlichen Erscheinungen; während sie früher wohlgemut zwischen den Hufen der Büffel hin und her huschten und heute sich dicht an Eisenbahnlinien anbauen, da sie wohl wissen, daß das schnaubende Dampfroß rauch- und dampfspeiend vorübereilt, ohne sich um sie zu bekümmern.
An diese Prairiehunde nun knüpft sich die Sage von einer eigenartigen Freundschaft, die sie mit zwei erbitterten Feinden aller Nager halten sollen.
Trapper wußten davon zu erzählen, daß die Prairiehunde mit Erdeulen und Klapperschlangen auf einem befreundeten Fuße leben. Man war vielfach geneigt, diese Berichte für amerikanisches Jägerlatein zu halten, aber als der bekannte Dichter und Schriftsteller Washington Irving im Jahre 1832 die Prairien besuchte, mußte er die Thatsache bestätigen. In seinem hinreißend geschriebenen Buche „Ein Ausflug in die Prairien“, welches der Welt die Poesie der amerikanischen Steppe zum erstenmal enthüllte, schrieb er:
„Die Prairiehunde sind aber nicht die einzigen Bewohner dieser Dörfer. Eulen und Klapperschlangen sollen unter ihnen hausen, ob aber als geladene oder als zudringliche Gäste, darüber ist man nicht einig. Die Eulen sind von besonderer Art, sehen lebendiger aus, sind hochbeiniger, fliegen rascher als die gewöhnlichen und am hellen Tage. Nach einigen bewohnen sie nur die verfallenen Höhlen der Prairiehunde, welche von letzteren verlassen worden sind, weil ihnen ein Verwandter darin gestorben ist; es soll dem Gefühle dieser sonderbaren kleinen Geschöpfe zuwiderlaufen, an einem Orte zu bleiben, wo sie einen der Ihrigen verloren haben. Andere behaupten, die Eule sei eine Art Haushälterin beim Prairiehund, und da ihr Geschrei fast ganz so klingt wie das seinige, so meint man sogar, sie lehre die Jungen bellen und versehe so das Amt des Hauslehrers. Was die Klapperschlange betrifft, so konnten wir nichts Bestimmtes darüber erfahren, welche Rolle sie im Haushalte der kleinen Gemeinde spielt. Manche erklären sie geradezu für einen Schelm und Verräter und behaupten, sie nehme schnöderweise die braven, leichtgläubigen Prairiehunde zu sich, und daraus, daß man hin und wieder ein junges Mitglied der Gemeinde in ihrem Magen findet, geht sattsam hervor, daß sie sich insgeheim nach etwas Besserem als Aschenbrödelkost umsieht.“
Etwas anderes können heute nach sechzig Jahren die Naturforscher nicht aussagen. Einige meinen, daß an ein friedliches Zusammenleben der drei Bewohner nicht gedacht werden könne. Dr. O. Finsch erklärte dagegen auf eine Anfrage Brehms: „Jeder, welcher mit der Prairie und ihren Bewohnern vertraut ist – und ich erkundigte mich bei sehr verschiedenen durchaus glaubwürdigen Männern – weiß, daß Prairiehunde, Erd- oder Prairieeulen und Klapperschlangen friedlich in einem und demselben Baue beisammenleben. Ausstopfer im fernen Westen wählen das Kleeblatt mit Vorliebe als Vorwurf zu einer Tiergruppe, welche unter dem Namen ‚Die glückliche Familie‘ bei Ausländern nicht wenig Verwunderung erregt. Da ich in die Aussagen meiner Gewährsmänner nicht den leisesten Zweifel setze, stehe ich keinen Augenblick an, dieselben als wahr anzunehmen.“
Diese Erklärung braucht nicht als ein vollgültiger Beweis angesehen zu werden. Viele der sogenannten „Tierfreundschaften“ haben sich infolge genauerer Beobachtung als ein Zusammenleben von Tieren erwiesen, bei dem die Freundschaft nicht weit her ist und bei dem das schwächere Tier zwar seinen Vorteil wahrnimmt, aber stets auf der Hut vor dem stärkeren ist. Die Freundschaft zwischen dem Prairiehund, der Erdeule und der Klapperschlange harrt sonach noch einer annehmbaren Erklärung; vielleicht ist einer der Gartenlaubeleser in den Prairien des fernen Westens in der Lage, uns über diese rätselhafte Erscheinung eine bessere Auskunft zu geben. Auch hat, soviel wir wissen, die Leitung des Berliner Zoologischen Gartens die Absicht, dem Wesen dieser vielumstrittenen Tierfreundschaft durch besondere Versuche auf die Spur zu kommen. *
Tätowierte Lords. Die Sitte der Südseeinsulaner, sich zu tätowieren, hat zunächst bei den Matrosen Eingang gefunden; jetzt aber ist sie auch in höhere Kreise des meerbeherrschenden Albions gedrungen und besonders durch den Herzog von York, den Sohn des Prinzen von Wales, Mode geworden; derselbe hat seine Oberarme mit künstlichen Wappen und Flaggen bedeckt. Es giebt in London einen Professor Williams, der in dieser Malerei Meister ist und für jede derartige künstlerische Verschönerung 50 Pfund Sterling erhält. Auch noch andere englische Prinzen sowie der russische Großfürst Alexei sind tätowiert. Das Beispiel der Prinzen findet natürlich Nachahmung im Hause der Lords und viele derselben tragen jetzt ihre Wappen sowie Adelskronen mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen mit sich herum und können so mit den Fidschiinsulanern und anderen Bewohnern des Südseearchipels wetteifern, nur daß diese in der glücklicheren Lage sind, ungehindert Himmel und Erde und dem versammelten Kriegsvolk die Verzierungen zeigen zu können, mit denen sie ihr „sterblich Teil“ verschönt haben. †
Russische Grenzpatrouille. (Zu dem Bilde S. 217.) Der Zollkrieg mit Rußland und die Verhandlungen über den russischen Handelsvertrag haben in letzter Zeit in besonderem Maß die Aufmerksamkeit auf jene Grenze gelenkt, welche Deutschland vom Reiche des Zaren trennt. Diese Grenze stellt sich äußerlich dar in einem neutralen Weg, welcher die Grenzstationen und Grenzpfähle miteinander verbindet. Auf deutscher Seite wird die Bewachung dieser Linie durch Grenzaufseher und Gendarmerie bewirkt, Rußland aber hat zu demselben Zweck eine ganze kleine Armee herangezogen. In geringen Entfernungen voneinander stehen die russischen Posten, und in entsprechenden Zwischenräumen liegen Grenzwachthäuser, in denen ein Kapitän oder Wachtmeister mit etwa dreißig Mann, darunter sechs bis acht Berittene, stationiert ist. Patrouillen sorgen für Aufrechthaltung des geordneten Dienstes, nötigenfalls auch für Verstärkung der Posten, wenn diese mit den ungemein waghalsigen Schmugglerbanden nicht allein fertig werden. Unser Bild zeigt uns eine solche Grenzpatrouille, von einem Offizier geführt. Haltung und Ausdruck dieser Leute lassen darauf schließen, daß sie ihren Dienst keineswegs als eine Annehmlichkeit betrachten, und in der That ist das Leben für Offiziere und Soldaten äußerst öde und einförmig, das sechs Jahre lang zu ertragen – auf diese Dauer sind gewöhnlich die Abkommandierungen zum Grenzdienst bemessen – keine leichte Aufgabe ist.
Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (12. Fortsetzung). S. 201. – Emil Rittershaus. Bildnis. S 201. – Tierfreundschaft in der Prairie. Bild. S. 205. – Zur Geschichte der Tabakspfeife. S. 208. Mit Abbildungen S. 208, 209, 210, 211, 212, 213 und 214. – Aus meinem Leben. Gedicht von Emil Rittershaus. S. 215. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (12. Fortsetzung). S. 215. – Russische Grenzpatrouille. Bild. S. 217. – Behandlung der Diphtherie mit Citronensäure. Von C. Falkenhorst. S. 219. – Blätter und Blüten: Zum sechzigjährigen Geburtstag von Emil Rittershaus. S. 220. (Mit dem Bildnis S. 201) – Eine zweideutige Tierfreundschaft. S. 220. (Zu dem Bilde S. 205.) – Tätowierte Lords. S. 220. – Russische Grenzpatrouille. S. 220. (Zu dem Bilde S. 217.)