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Die Gartenlaube (1894)/Heft 27

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[449]

Nr. 27.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Brüder.

Roman von Klaus Zehren.

Es ist am Abend des achtzehnten August 1870. Glutrot im Dunste des Pulverdampfs und des durch Menschenfüße und Pferdehufe aufgewühlten Staubes ist die Sonne zur Rüste gegangen auch über diesem Tag, und die Dämmerung sinkt nun wie eine riesige alles verhüllende Totenhand auf die Wahlstatt herab. Von fernher, ersterbend, in Pausen schwächer und schwächer werdend, Gewehrfeuer, das dumpfe Dröhnen eines Kanonenschusses, welches in langsamen Schallwellen über die sanft geneigte Landschaft zu kriechen scheint. Rings am Horizont züngelnde Flammen, brennende Dörfer, aus kohlendem Gebälk aufsteigender schwarzer Rauch. Ein Stöhnen und Aechzen schwebt durch die Luft, der Sterbeseufzer Gefallener vermischt mit den wimmernden Klagelauten der Verwundeten. Biwakfeuer glimmen auf; hier und da tönt der Klang deutscher Soldatenlieder hinein in den Blutdunst, der von der Erde sich erhebt. Einzelne Schüsse knattern bald nahe, bald fern, Schüsse, mit denen die Verwundeten die Aufmerksamkeit der Krankenträger auf sich zu lenken suchen.

Ein einzelner Ordonnanzoffizier reitet langsam über das Schlachtfeld von St. Privat.

Neros Gastmahl.
Nach einer Originalzeichnung von K. Fröschl.

[450] „Hier waren sie, als ich den Bruder zuletzt sah,“ murmelt er, mit den Augen scharf die unregelmäßig verstreuten Leiber der Gefallenen musternd, während sein abgehetztes Pferd mit gesenktem langgestreckten Halse dahinschreitet; behutsam hebt das edle Tier die Füße über reglose Körper hinweg, windet sich hindurch, weicht schnaubend zurück vor einem Sterbenden zu seinen Füßen.

Hier war es, wo die preußischen Garden zum Sturm vorgingen auf St. Privat, todesmutig, unter brausendem Hurra heranbrandend in dem vernichtenden Gewehrfeuer, das ihnen aus jeder Hecke, hinter jeder Steinmauer des Dorfes hervor entgegenprasselte. Reihenweise hat sie der Tod niedergemäht.

Etwas abseits von einer solchen todesstarren Gruppe liegt lang hingestreckt am Boden die mächtige Gestalt eines Offiziers, das Antlitz, auf den verschränkten Armen ruhend, zur Erde gekehrt.

Langsam, den Kopf weit vorgebeugt, kommt der Reiter näher, und als sich ihm die Umrisse jenes Körpers aus dem Dämmerlicht loszulösen beginnen, zieht fahle Blässe über das Gesicht des Suchenden. „Bruder!“ stöhnt er und gleitet aus dem Sattel, an der Seite jenes Gefallenen niederknieend.

Sein Gaul senkt schnaufend die Nüstern zu einigen niedergetretenen Haferähren hinab, während die Hände seines Reiters den Körper des Hingestreckten betasten. „Bruno! Bruder!“ Er hält die eigenen Finger dicht vor die Augen, nach Spuren von Blut forschend.

Kein Laut, der dem Rufenden Antwort giebt. Oder doch? Ist es nicht, als ob ein Zittern durch den Körper da vor ihm gehe, als ob ein ersticktes Wimmern vernehmbar sei? „Bruno, wo bist Du verwundet? Kannst Du den Kopf nicht heben?“ Und wieder beginnt er mit den Händen zu tasten. Kein Tropfen Blut, nicht eine defekte Stelle in dem die breite Gestalt umschließenden blauen Waffenrock! Da – kein Zweifel! Ein krampfhaftes Zucken der Glieder ist fühlbar. Entschlossen hebt Hermann von Weßnitz das Haupt des Bruders empor, faßt ihn an den Schultern und schwerfällig dreht sich der Körper auf den Rücken.

„Was ist Dir, Bruder? So sieh mich doch an!“

Langsam öffnet Bruno die Augen, wie jemand, der sich fürchtet, durch das Sehen wieder die Außenwelt auf sich wirken zu lassen. Ein verstörtes ausdrucksloses Gesicht, zwei glanzlose stumpf starrende Augen! Aber das ist nicht der Blick eines schwer Verwundeten oder Sterbenden!

Die Brüder hängen mit ihren Blicken aneinander wie gebannt; der eine forschend, suchend, der andere mit einem Zucken in den Augenlidern, einem unruhigen Hin- und Herflackern. Dann schlägt Bruno beide Hände vor das Antlitz. „Was willst Du von mir? Geh, geh – laß die Hände weg! Fort von mir, sag’ ich! Doch nein, nein, bleib! Rasch einen Revolver! Ich verlor den meinen .... Was starrst Du mich an? So thu’ es doch! Schieß’ Deinem Bruder eine mitleidige Kugel vor die Stirne!“

Hermann prallt zurück. Seine Blicke irren entsetzt, verständnislos umher. Ist er wahnsinnig oder der Bruder? Eine unnennbare Vorstellung, eine unklare atemraubende Ahnung von etwas Schrecklichem, Undenkbarem zuckt ihm durchs Gehirn. Er stützt sich wie nach einem Halt suchend mit beiden Händen auf den Boden, seine Finger krampfen sich in das Erdreich.

Nun klingen wieder Worte an sein Ohr, abgerissen, stockend, hervorgestoßen aus einer ächzenden Menschenbrust. „So tritt mich doch mit den Füßen! Ein Weßnitz ein Feigling! Schlage mich, wenn Dir eine ehrliche Kngel zu gut dünkt! Ganz recht, Du willst nicht hersehen! Hier liegt Dein Bruder, Blut von Deinem Blut, haha – – pst! Ruhig! Duck’ Dich!“ Er versucht den Bruder zu sich herabzuzerren, während seine Augen mit dem Ausdruck eines geschlagenen Hundes den Gestalten zweier Krankenträger folgen, die in einiger Entfernung vorübergehen. „Daß sie uns hier nicht zusammen sehen! – O, im Anfang war das alles gar nichts! Man steckte so in der Masse drin, man hörte Kommandorufe und es ging vorwärts, man sah kaum rechts noch links. Aber dann ein Halt, weil wir nicht mehr vorwärts konnten, auch zu schießen vermochten wir nicht hinter dem Grabenwall. Nur die Verwundeten schrien. Jetzt wieder auf! Die Ersten, die heraussprangen, stürzten tot zurück. Wieder aus der Deckung! Reihenweise sanken sie zusammen. Den Vetter Ungern schossen sie durch den Kopf, er rollte wie ein Klotz mir vor die Füße und ich – nun ich stürzte über ihn weg – dort, dicht hinter mir, er liegt noch da. O, er kann wohl so ruhig daliegen! Ein ehrlicher Toter!“ Erschöpft hält der Sprecher inne und wischt mit dem Rücken der rechten Hand den Schweiß von der Stirne.

„Du hast irgendwo eine matte Kngel, einen Prellschuß bekommen,“ sagt Hermann von Weßnitz in einem Ton, als klammere er sich an diese Möglichkeit fest.

Der Bruder schüttelt den Kopf. „So glaubte ich selbst im Anfang! Ein dumpfes lähmendes Gefühl im Kopf, als hielten mich tausend Hände an den Kleidern auf dem Boden fest. Dann kam das zweite Bataillon dicht an uns vorbei. Irgend einer sagte ganz laut. ,Da liegt Weßnitz, armer Kerl!‘ O, hätte er wahr gesprochen! Kurz darauf betastete jemand meinen Körper. Eine Stimme schrie herüber. ,Nicht den! Dem ist nicht mehr zu helfen, hier, nehmt diesen Offizier!‘ Dann war ich wieder allein. Ich kannte jene Stimme, es war die unseres Bataillonsarztes.“

„Noch war es nicht zu spät –“

„So, glaubst Du? Sollte ich hinterherlaufen und schreien: mir fehlt nichts, gar nichts, ich habe nur einen kleinen Nervenschauer gehabt! So antworte doch! Hermann!“ schreit er auf, „sieh mich nicht so an! So nicht! Genau wie der Vater! Nur der graue Bart fehlt und die schneeweißen Haare! Ja, ja, es ist gut, daß sein Haar schon weiß ist! Ein Weßnitz ein Feigling in seines Königs Rock!“ In namenloser Scham wirft sich Bruno wieder herum und wühlt das Gesicht in die Erde.

Tiefe Stille, es ist fast Nacht geworden. Unheimlich dröhnt von St. Privat das Prasseln zusammenstürzender Häuser herüber.

Hermann ist aufgestanden. Die Arme über der Brust gekreuzt, blickt er unbeweglich zu dem Bruder hinab. Tiefe Falten legen sich ihm um Mund und Augen, Schmerz, Groll, Schamgefühl graben scharfe Linien in sein junges Gesicht, rascher und härter, als Jahre es könnten.

Da tönen Stimmen herüber zu den beiden. Scheu fahren sie zusammen.

„Hermann, wenn jemond uns hier so fände! Geh, geh! Wo ist Dein Revolver? Rasch, ich beschwöre Dich! Der Vater, die Kameraden . . .“

Eine Sekunde zögert Hermann, dann zerrt er den Revolver aus der Satteltasche und drückt ihn dem Bruder in die feuchtkalte erdige Rechte. „O Bruder!“ ruft er stöhnend.

„So – danke Dir! Leb’ wohl! Und grüß’ die Lore – und . . .“

Das andere hört Hermann nicht mehr, halb besinnungslos, kaum die Bügel berührend, schwingt er sich in den Sattel und giebt dem Pferde die Sporen, in aufgeschreckten Sprüngen stürmt es davon. Plötzach ein heftiger Ruck an den Zügeln – er hält. Ein entsetzlicher Gedanke hat ihn erfaßt und macht ihm das Blut in den Adern erstarren: „Warum hast Du die That nicht verhindert? Mörder! Brudermörder!“ Er reißt das Pferd herum und will zurück. Da – ein kurzer Knall aus jener Richtung. Der Reiter zuckt zusammen und fährt langsam mit der Hand unter die Helmblende. „Zu spät! Es ist geschehen! Leb’ wohl, Bruno!“ kommt es heiser von seinen Lippen.

Winkt dort nicht im Schein mehrerer brennender Laternen ein rotes Kreuz auf weißem Grunde? Mechanisch wendet er sein Pferd dorthin.

Eine Verbandstelle. Mehrere Aerzte sind an der Arbeit, den einen davon kennt er persönlich.

„Herr Stabsarzt! Bitte, dort, an jenem kleinen Strauch – er hebt sich gegen den Feuerschein ab – dort muß mein Bruder liegen. Ich habe keine Sekunde Zeit – Meldung an das Generalkommando –“

„Werde sogleich hinschicken, selbstverständlich! Eine tolle Wirtschaft, und nun die Nacht dazu. Sie schleppen alles heran, Tote und Sterbende, und die anderen, denen noch zu helfen wäre, bleiben liegen. He, Krankenträger! Dort drüben – sie sehen den Strauch – ein verwundeter Offizier!“

„Ich danke Ihnen,“ preßt Hermann hervor und reitet davon. –

In einem halbzerschossenen Hause findet er seinen General.

„Was ist aus Ihrem Bruder geworden, lieber Weßnitz?“ fragt ihn der Vorgesetzte, unter den buschigen Augenbrauen hervor seinen Ordonnanzoffizier anblickend.

„Ich habe ihn nicht gefunden“, antwortet Weßnitz und wendet sein Gesicht von dem dürftigen Lichtschein einer wackligen Stalllaterne weg, die fast das einzige Mobiliar dieses Quartiers ausmacht.

„Na, es wird nicht so schlimm sein! Verdammt! Nach diesem [451] Tag nichts als Wasser und das elende französische Weißbrod! Langen Sie zu, Weßnitz, in der Not frißt der Teufel Fliegen!“

„Ich danke gehorsamst, Herr General, ich kann nichk essen, ich habe nur den Wunsch, zu schlafen.“

„Glaub’s schon. Dort auf der Tenne hab’ ich Stroh zusammentragen lassen.“

Langsam geht Hermann hinaus. Der General blickt ihm sinnend nach. „Ein braver Kerl, nur zu still und zu bescheiden, um rasch seinen Weg zu machen.“

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Drei Tage später!

Hermann hatte seinen Bruder besucht im Feldlazarett.

„kann von Glück sagen, Ihr Bruder,“ hatte derselbe Stabsarzt gemeint, dessen Fürsorge Hermann am Abend des achtzehnten August angerufen hatte. „Einen Centimeter mehr links, dann war alles aus.“

Nachher war Hermann an Brunos Lager getreten. Sie sprachen nicht viel zusammen. Wie ein feindlicher Schatten stand die Erinnerung an jene Scene auf dem Schlachtfelde zwischen ihnen.

Ein kurzer flüchtiger Händedruck.

„Ich soll nach der Heimat gebracht werden – hast Du etwas zu bestellen? fragt Bruno mit matter Stimme.

„Nein, nichts!“

„Auch nicht Grüße an Vater und Mutter?“

„Ja so – gewiß!“

„Und an die Lore?“

„Auch an die natürlich!“

„Hermann!“ Es lag ein unsagbar trauriger hoffnungsloser Ton in der Stimme des Verwundeten, ein beinahe frauenhaft weiches Flehen.

„Leb’ wohl, Bruno! Gute Besserung!“ Das klang fast gerührt, war aber halb im Fortgehen gesagt. –

Am nächsten Abend lag Hermann von Weßnitz, in eine Pferdedecke gehüllt, am Biwakfeuer. Rings in der Runde im flackernden gespenstischen Schein der brennenden Holzscheite die schlafenden Gestalten der Kriegsgefährten, deren todmüde Glieder auf einigen Schütten Stroh ausgestreckt ruhten, hoch über ihm die Sterne in hellem Geflimmer. Er konnte die Augen nicht schließen, ein Gedanke hielt sie wach, ein unablässiges schmerzhaftes Grübeln, ein Wägen zwischen Herz, Verstand und deutscher Soldatenehre.

Zuerst hatte er eine unbändige Freude darüber empfunden, den Bruder noch lebend zu wissen, befreit zu sein von dem dumpfen bleiernen Gefühl, ihm selbst die tödliche Waffe in die Hand gedrückt zu haben. Aber eine kurze Freude war’s. Gleich nachher der häßliche quälende Gedanke. wie kommt’s, daß er nur verwundet ist? Kann das Zufall sein oder hat auch da noch seine Hand gezittert, aus Feigheit gezittert?

Er schauderte frierend zusammen und stieß mit dem Fuß einen Holzklotz tiefer in die Flammen. Gewaltsam suchte er sich seinen Grübeleien zu entreißen. Was wäre denn besser geworden, wenn die Kugel einen Centimeter weiter links gegangen wäre? Konnte der Tod des Bruders die Sache anders machen? Ja doch – das wäre Sühne gewesen mit dem Leben, das er zu lieb gehabt hatte. Sühne? Wofür denn Sühne? Für eine natürliche menschliche Schwäche? Für das Versagen der Nerven, für eines der mächtigsten Gefühle einer jungen Brust, für den Wunsch, das Leben zu retten ...... Und trotzdem –

Hermanns Blick haftete nachdenklich auf der Brust eines Husarenoffiziers ihm zur Seite, auf dem lichtblauen Tuch des Rockes bewegte sich mit dem Atmen des Schläfers ein schlichtes schwarzes Kreuz auf und nieder, regelmäßig, taktmäßig. Er konnte den Blick nicht davon trennen. Man hatte erzählt, die verwundeten Offiziere würden fast alle mit dem Eisernen Kreuz geschmückt werden, mit diesem Ehrenzeichen, das so schmucklos und stolz zugleich auf der Brust getragen wurde, mit dem der König die Besten zu ehren gedachte. Die Besten!

Er richtete sich auf und starrte glanzlosen Auges ins Feuer, aber die Stimme in ihm kam nicht zur Ruhe. Dann bist also du schuld, daß dein König dies Zeichen einem Unwürdigen an die Brust heftet! Und alle werden achtungsvoll das Kreuz betrachten, alle, alle! Der Vater und die Lore mit dem Goldhaar und den braunen großen Augen! Mit zitternden Fingern griff er sich an die Stirn. Würde Bruno es tragen können, dies Ehrenzeichen für seine Schande, ohne wahnsinnig zu werden? Würde es ihn nicht tausendmal überkommen: lieber erschossen, gesühnt, gebüßt, als mit dem elenden Bewußtsein, mit dem Ekel vor sich selbst, sich von anderen ehren lassen für das, was man nie gethan, nie hat vollbringen können?

Krachend schlug ein Scheit Holz um – eine Funkengarbe sprühte knisternd empor, den Sternen zu, die so geduldig und stetig aus weltentlegenen Fernen über der Erde flimmerten, über all den unruhigen armen Menschenkindern.

„Sie können wohl auch nicht schlafen, Weßnitz?“ sagte der Husarenoffizier und rutschte auf dem Stroh näher ans Fener. „Es wird verdammt kühl! Aber Sie sind ein junger Kerl und brauchen um nichts zu sorgen. Unsereinen plagt der Gedanke an die Frau, die man zurückließ, kaum ein Jahr nach der Hochzeit. Der Soldat sollte nicht heiraten.“

Hermann blickte fragend in das hübsche Gesicht seines kriegskameraden. „Treptow, ich habe nicht gewußt, daß Sie so weich sein können.“

„Pah,“ meinte dieser und biß die Spitze einer Cigarre ab, „weil ich immer lustig bin und kein Kopfhänger? Sehen Sie, Weßnitz, wenn man erst erfahren hat, was eine Frau bedeutet, so ein Menschenkind, das nur für uns lebt und atmet, na, Sie verstehen mich – und schließlich – wenn einen solch eine verdammte Kugel hinüberbefördert, das ist doch keine Kleinigkeit! Man ist so feftgehalten an der Erde, es fehlt einem ganz das Gefühl völliger Gleichgültigkeit, das Sie gewiß haben, wenn die Kugeln pfeifen.“

Weßnitz blickte antwortlos vor sich nieder.

„Freilich, Sie haben ja auch Eltern und Geschwister, aber das ist doch etwas anderes, und dann – ich muß jemand haben, dem ich es sage: mein Weib soll mir ein Kind schenken. Ich sage Ihnen, diese Angst ist schlimmer als in eine Batterie reiten! Man hat oft so verrückte Gedanken. Als ich mit der Schwadron am Achtzehnten die Batterie nahm – wir waren noch etwa zweihundert Schritt davon entfernt und in einem ganz anständigen Tempo, ich ritt den Vollblutfuchs und der Gaul lag in den Zügeln wie besessen – da fuhr es mir durch den Sinn: Donnerwetter, wenn gerade jetzt zu Hause ein kleiner Husar ankäme, und ich, der Vater, würde hier totgeschossen! Himmelelement – so soll der Junge wenigstens stolz sein, dachte ich, und ließ meinen Fuchs fliegen, ohne hinter mich zu sehen. Das war die Ursache, weshalb ich so weit vor der Schwadron hineinkam und den französischen Batteriechef herunterholte! Man kommt zu Ehren, man weiß nicht wie, aber gefreut hat es mich doch, und wenn kleine Hände einmal mit diesem Kreuz spielen, wenn es auch die eines Mädels sind – nun, dann werde ich an die Geschichte gern zurückdenken.“

Der Offizier schaute nachdenklich mit einem hoffnungsfrohen Blick in das Feuer. Hermann sah ihn von der Seite an. Wie schlicht der Mann das alles erzählt hatte! Unwillkürlich streckte er dem Kameraden die Hand hin. Dieser nickte ihm freundlich zu, dankbar, daß er jemand gefunden hatte, der mit ihm fühlte.

„Solch eine Frau hat eigentlich mehr Mut als wir. Sie weiß genau, daß ihr des Kindes Dasein vielleicht das Leben kostet, und lächelt doch bei dem Gedanken. Und schließlich, wenn sie stirbt, ihr Tod ist so ehrenvoll wie der unsere durch den Feind – gestorben für die Zukunft! Ja, ja, an solche Dinge denkt man nicht als Junggeselle! Na, es wird ja noch alles gut gehen! Was hilft das Grübeln!“ Er warf die Cigarre in die Holzglut. „Miserables Kraut!“ Sich von neuem in seine Decke wickelnd, schob er seinen Körper dicht ans Feuer, und nach wenigen Minuten ging das Kreuz auf blauem Tuch mit den Atemzügen des Schlafenden wieder regelmäßig auf und ab.

*  *  *

„Markenstein! Aussteigen! Zwei Minuten Aufenthalt!“ ertönte die Stimme des Schaffners.

„Verdammt langweilig! Ich muß hier eine Stunde auf meinen Zug warten,“ sagte ein Husarenoffizier zu einem Kameraden von der Infanterie, der neben ihm stand.

„Ja, wir haben das Warten satt bekommen in den letzten Monaten,“ meinte dieser und drückte dem Aussteigenden die Hand. „Leben Sie wohl, Treptow! Na, die Freude Ihrer Frau, wenn Sie ankommen, und noch dazu der Junge, den sie Ihnen entgegenbringt!“

Ueber das hübsche Gesicht des Husaren zog es wie heiter Sonnenschein. „Nun, Ihre Alten werden auch vergnügt sein,

[452]

Photographie im Verlage der Kunsthandlung von R. Wagner in Berlin.
Auf der Fahrt durch die schöne Natur.
Nach dem Gemälde von Adolf Menzel.

[453] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [454] beide Jungens wieder heil und gesund bei sich zu haben. Leben Sie wohl, Kamerad! Grüßen Sie Ihren Bruder, den lustigen Kerl!“

„Fertig!“ schrien die Schaffner und pfeifend, stöhnend setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Der im Wagen Zurückgebliebene wischte mit dem Fensterriemen die beschlagene Scheibe ab und blickte eine Weile nachdenklich hinaus in die Landschaft.

Heide, braune Heide, so weit das Auge reichte, darüber ein schmutzig grauer Himmel! Schnee und Regen, vor dem pfeifenden Novemberwind aus niedrigen Wolken über die Ebene jagend! Hier und da huschten kleine verkrüppelte Fichten vorüber, die Aeste nur nach einer Seite streckend, wie es der rauhe Nordwest ihnen geboten, seit sie den ersten Schößling auf sandigem Boden getrieben.

Hermann von Weßnitz kannte diese Gegend; er war ja darin aufgewachsen, und diese endlose Heide war ihm nicht weniger lieb wie dem Schweizer sein Hochgebirge. Alte Erinnerungen tauchten vor ihm auf. Wie oft er mit seinem jüngeren Bruder auf flinken kleinen Pferden die Einöde durchstreifte! Wie oft sie in heißen Sommertagen an der sanften Böschung eines Hügels im duftenden Heidekraut lagen! Ringsum summten die Bienen und die Grillen zirpten, während er stundenlang träumen konnte zu dem blauen Himmel hinauf. Bruno war anders. Der vermochte nicht so lange ruhig zu bleiben. Sein leichtes wildes Blut ging zu hastig; er fing Käfer und anderes Getier, neckte den Bruder mit Grashalmen oder trieb sonst allerhand Kurzweil.

Bruno war stets der lebhaftere der beiden Brüder gewesen. Ein schöner unbändiger Junge mit sehnigem Körper, stets begierig nach Neuem, nach Genußreichem, und dann wieder so bald satt und weiterdrängend zu anderem Zeitvertreib, während Hermann stets etwas Stilles, Zurückhaltendes in seinem Wesen hatte. Starrköpfig führte er aus, was er sich vornahm, schon als Kind ein Mensch, den Widerwärtigkeiten anzogen, um sie zu bekämpfen; dabei verschlossen, schwer zugänglich für Fremde. Vielleicht gerade wegen dieser Gegensätze hingen die Brüder so fest aneinander, obgleich der jüngere stets bevorzugt wurde, sogar vom eigenen Vater. Wie manches harte Wort hatte Hermann für die tollen Streiche seines Bruders hingenommen, um diesen vor einer Strafe zu bewahren! Und es freute ihn manchmal, daß man ihm solche Streiche zutrauen konnte.

Zwischen den beiden wuchs als treue Spielgefährtin, wenn auch an Jahren jünger, eine Kousine auf – die lustige Lore, ein früh verwaistes Kind, das von den Verwandten erzogen wurde.

Hermann lächelte leise vor sich hin. Wie sie mit den Knaben tobte in der Schulstube, in Scheune und Keller, im Wald und auf der weiten Heide! Und wie die Brüder sich überboten, der kleinen Prinzeß jeden Wunsch zu erfüllen! Wie ihr Goldhaar flatterte, wenn sie um den runden Rasenplatz vor dem Hause auf flüchtigen Füßen dahinflog!

Donnernd fuhr jetzt der Eisenbahnzug über eine kleine Brücke. Ein Flüßchen schlängelte sich zwischen Erlengebüsch und Wiesenstreifen durch die Ebene. Das Gesicht des einsamen Reisenden wurde ernst, während seine Augen den entschwindenden Schlangenlinien des Gewässers folgten. Langsam strich er mit der Rechten über die Augen, als wollte er eine Erinnerung fortwischen. Vor seinen Augen tauchte immer wieder das süße Mädchenantlitz auf – die Lore, wie er sie gekannt vor dem Krieg. Ein schwerer Abschied! Die Eltern waren mit der Pflegetochter in seine Garnison gekommen, um ihm Lebewohl zu sagen. Hermann freute sich auf den Krieg wie jeder junge Offizier. Gewiß war er bewegt, als er der Mutter Thränen auf seinem Gesicht fühlte, als sie ihn in die Arme schloß, aber erst, als er vor der Lore stand und ihr die Hand reichte, als diese kleine Hand zitternd in der seinen lag, als das Mädchen sich schluchzend an seine Brust warf und er seine Lippen leicht auf ihren goldigen Scheitel senkte, erst da wurde ihm das Herz schwer – und doch zugleich so hoffnungsfreudig. Blitzartig rang sich damals in ihm die Liebe zu diesem Mädchen empor, eine plötzliche klare Empfindung, daß er sie nicht nur als Schwester liebe.

„Behalte mich lieb, Lore!“

Sie lachte unter Thränen und nickte mit dem Kopf. „Natürlich, Hermann! Dem Bruno haben wir gestern Lebewohl gesagt. Er machte Witze, so daß wir lachen mußten trotz aller Angst!“

„Ja, Witze kann ich nicht machen, Lore,“ hatte er einfach erwidert und war aus dem Zimmer gestürmt, weil er fürchtete, daß ihm das Herz zu weich würde.

„Nätürlich, Hermann!“ Die Worte hatte er im Gedächtnis behalten, aber das war ihm entfallen, daß sie gleich darauf von Bruno gesprochen hatte.

Hermann konnte den Gedanken an jenen Abschied nicht loswerden. An keinem Abend hatte er seither die oft todmüden Glieder zur Ruhe gestreckt, ohne daß ihm Lores Antlitz vor der Seele geschwebt, ohne daß er ihren Namen geflüstert hätte. Wie oft am flackernden Biwakfeuer hatte er sich ausgemalt, wie herrlich, wie schön es sein müsse, wenn sie die Seine würde mit ihrem hellen fröhlichen Lachen, ihren blitzenden Augen!

Der Wind warf prasselnd Schnee und Regen gegen die Fenster des Wagens.

Wie würde das Wiedersehen sein mit Vater und Mutter und mit Lore? O, diese weichen Mädchenhaare wieder an seinem Halse zu fühlen! Und Bruno? Er zog fröstelnd den Mantel fester um den Körper. Das lastete auf ihm wie ein trüber Schatten, wie ein Alpdruck. Der arme, arme Bruder! Für eine Stunde, für eine Minute, da die Nerven ihren Dienst versagt hatten, ein Leben lang unglücklich sein müssen! Aber nie sollte Bruno wissen, daß er selbst noch an jenes Wiedersehen denke. Durch ein ganzes pflichtgetreues Leben ließ sich ja jene Schande sühnen, und er wollte dem guten sonst so kecken Kerl redlich dazu helfen. Merkwürdig, als Student brachte Bruno in jeden Ferien neue Schmisse mit nach Hause.

„Welch ein Unsinn!“ hatte Hermann ihn oft verspottet.

„Das stählt den Mut!“ pflegte dann Bruno zu sagen.

Du lieber Gott, in Binden und Bandagen verpackt, sich die Haut ritzen lassen und fest stehen im Kampfe mit Schwert und Blei – das sind verschiedene Dinge! –

Es war Hermann schwer geworden, damals nach dem Friedensschluß noch mit der Okkupationsarmee in Feindesland bleiben zu müssen, während die andern in die Heimat zogen. Aber das war ja nun auch vorüber!

Abgespannt von der langen Fahrt, lehnte er den Kopf an das Wagenpolster. Aus dem Halbschlaf fuhr er plötzlich auf. Ein Stoß und Ruck, der Zug hielt.

„Halingbrock!“ rief der Schaffner und riß die Thüre auf.

Schlaftrunken taumelte Hermann in die Höhe und raffte sein Gepäck zusammen. Der alte Diener seines Vaters stand auf dem Bahnsteig und grüßte leuchtenden Auges, in ehrerbietiger Haltung, den lackierten Hut in der Hand.

„Guten Tag, alter Jochen! Setzen Sie nur den Hut wieder auf, sonst erkälten Sie sich noch!“ Der Offizier streckte dem greisen Diener freundschaftlich die Hand entgegen, die dieser mit zitternden Fingern umschloß.

„Nee, die Freude!“ sagte er nur und griff nach dem Handgepäck. „Die Herrschaften wollten den Herrn Lieutenant lieber zu Hause erwarten,“ fügte er hinzu, eilig neben Hermann zum Wagen schreitend.

„Willkommen to Hus,“ grüßte der Kutscher und zügelte nur mühsam die beiden Braunen vor dem leichten Jagdwagen.

Wie das alles heimatlich anmutete! Alles unverändert! Dieselben Gesichter – dort, rechts am Bahnsteig noch derselbe alte knorrige Apfelbaum mit dem Nistkasten in dem kahlen Wipfel! Alles unverändert, und doch, wie war die Zeit mit eisernem Rad über das Geschick zweier Völker dahingerollt!

Es gehe alles gut, berichtete Jochen auf Hermanns Fragen, auch dem Herrn Bruder seit acht Tagen. Das letzte sagte der Diener mit abgewandtem Gesicht und stieß dabei den Kutscher mit dem Ellbogen in die Seite. Hermann bemerkte es nicht. Der Wagen bog in die lange gerade Allee zum Gutshof ein.

Der junge Offizier fühlte, wie ihm das Herz schlug. „Fahr’ zu!“ befahl er dem Kutscher.

Wiedersehen mit Eltern und Bruder und Lore! Schon von weitem winkten sie von der Sandsteintreppe herab, die zum alten schmucklosen viereckigen Gutsgebäude hinanführte. Dort standen sie – der Vater, dessen grauer Vollbart im Winde flatterte, die Mutter, in ein altmodisches Tuch gehüllt, und dahinter Bruno in Uniform mit der Lore. Ein letzter Gruß der Wintersonne flog blitzartig über die Erde und fing sich in des Mädchens rotblonden leuchtenden Locken.

Mit einem Satze sprang Hermann vom Wagen und warf sich in die zitternden treuen Mutterarme, an die breite Brust des Vaters. Dann streckte er die Hand den beiden anderen entgegen, [455] stumm, nur ein Zittern der Mundwinkel unter dem blonden Schnurrbart verriet seine innere Bewegung.

Lore, noch immer am Arm des Bruders, schmiegte sich fest an diesen an; das liebliche Gesicht wurde in raschem Wechsel rot und blaß. „Bruder! Lieber Hermann!“ rief sie endlich und riß sich von Bruno los, beide Hände dem Ankommenden entgegenstreckend. „Hier sind wir, der Bruno und ich! Schau’, so sehen zwei Verlobte aus!“ Sie sprudelte das fast atemlos heraus, lachend, schluchzend, in holder Verwirrung.

Hermann stand einen Augenblick wortlos, die beiden anstarrend. Langsam sank seine Rechte herab. Dann richtete er sich auf und reichte den Zweien mit einem Ruck die eiskalte Hand.

„Wie er erstaunt ist, ganz anders als sonst, und wie der Vollbart ihn alt macht!“ rief Lore.

Ein Versuch zum Lächeln irrte um seine Lippen. „Welches Glück!“ murmelte er hastig und ging den anderen voraus in das Wohnzimmer.

„Der Vater wollte durchaus, daß ich Uniform anlegte,“ flüsterte Bruno dem Bruder zu und hüstelte dabei.

„Ja, ja!“ Geistesabwesend starrte Hermann einen Augenblick in die Runde. Wie anders hatte er sich das alles gedacht, sich ausgemalt auf der langen Reise! Dann überkam ihn eine unnatürliche Lustigkeit; er begann beim Abendessen aus dem Feldzuge zu erzählen, alles hastig, ununterbrochen, als fürchtete er, daß ihm der Faden entfiele.

„Warum hast Du denn Dein Eisernes Kreuz nicht angelegt?“ fragte nach dem Essen der alte Weßnitz, sich Bruno zuwendend.

Ein hastiger qualvoller Blick, den vier Augen wechselten.

„O, ich vergaß es in der Eile, lieber Vater!“

„Wie kann ein Soldat ein solches Ehrenzeichen vergessen!“ meinte der Alte, das graue Haupt langsam hin und herbewegend. „Donnerwetter, ich bin stolz, daß wenigstens einer meiner Söhne es mit nach Hause gebracht hat.“

Die Augen des Vaters schweiften zu Hermann hinüber, über das schlichte dunkelblaue Uniformtuch, das die kraftvolle Gestalt seines Erstgeborenen umschloß.

„Man hat mit dem Eisernen Kreuz kolossal um sich geworfen,“ sagte Bruno leise und zerrte an den Fransen der Tischdecke.

„Nun ja! Aber ich denke, die Offiziere in den Stäben – Du warst doch während des ganzen Feldzuges Ordonnanzoffizier, Hermann!“

„Sie thaten alle ihre Pflicht,“ platzte Bruno heraus, in der Verwirrung das Taktloseste vorbringend.

Eine Sekunde herrschte Schweigen, eine verlegene abscheuliche Stille. Der Vater bemerkte, daß er durch seine Fragen vielleicht Hermann verletzt habe, ohne es zu wollen. „Es ist gut, daß Du wieder da bist, Hermann, und mit gesunden Knochen!“

Der Aelteste nickte ihm freundlich zu und versuchte zu lächeln, konnte es aber nicht, als sein Blick auf Bruno fiel.

Der Mutter Augen wanderten forschend vom einen zum andern. Lore, die nichts verstand, nichts verstehen konnte, wollte durchaus das Schweigen brechen.

„O,“ sagte sie und lehnte sich an Brunos Schulter, „ich weiß, wo es hingehört, das Eiserne Kreuz! Gerade hier über ein tapferes Herz!“ Und fast kindlich neigte sie den schlanken Körper und drückte die Wange liebkosend an die Brust ihres Verlobten.

Er ward bleich. In nervöser Hast drängte er sie mit beiden Händen zurück und sprang vom Stuhle auf.

„Laß das, Lore! Das ist – – es ist entsetzlich heiß hier! Ich will ein Glas Wasser bestellen.“ Rasch ging er hinaus.

„Er ist so merkwürdig heute,“ sagte Lore, tapfer eine Thräne hinunterschluckend, und stieß in der Verlegenheit eine Tasse vom Tisch herunter. Klirrend zerschellte diese auf dem Fußboden.

Als man sich zur Nachtruhe trennte, hielt die Mutter lange die Hand ihres Aeltesten zwischen den ihren.

„Deine Hand ist eisig. Hast Du Dich vielleicht erkältet?“

Er wandte den Blick ab.

„Sieh mich an, Hermann!“

Er that es, voll, groß, ruhig. Liebkosend streichelte sie seine Hand. „Bist mein guter starker Hermann,“ flüsterte sie leise. „Gute Nacht!“

Sorgenvoll begab sie sich zur Ruhe und lange noch lag sie grübelnd in den Kissen. Mutteraugen sehen scharf. Sie hatte die Wunde gefunden, die durch des Sohnes Herz ging, und wußte nun, weshalb sie sich über des Jüngsten Verlobung nicht recht von Herzen freuen konnte.

Langsam hatte Hermann sein Schlafzimmer aufgesucht, ein großes Gemach, einst das Spielzimmer der beiden Brüder und der Kousine. Gedankenlos begann er sich auszukleiden, zog gewohnheitsmäßig die Taschenuhr auf und schauderte fröstelnd zusammen bei dem klirrenden Geräusch, das die niedergleitende Uhrkette auf der Marmorplatte des Betttischchens machte.

Der Wind fuhr brausend durch die alten Eichen vor dem Hause. Er setzte sich auf den Bettrand und klappte langsam den Deckel eines kleinen Etuis auf und zu, das er seiner Reisetasche entnommen hatte und in dessen Innerem ein schlichter goldener Reif mit einem großen Türkis ruhte.

„Träumer!“ murmelte er leise.

Was hatte er sich eigentlich gedacht? Was berechtigte ihn, so fest daran zu glauben, daß er einst diesen Ring über Lores Finger streifen würde? Nichts, gar nichts in der Welt! Weshalb sollte die Lore denn den Bruder nicht lieben? Dem waren ja von jeher alle Menschen gut gewesen – und er selbst? Nun, er hatte den Bruder ja auch geliebt. Hatte! hatte! Also jetzt nicht mehr? Was konnte denn der Bruder dafür, daß ihm des Mädchens Herz zugefallen war? Wie konnte er, Hermann, über eine Liebe trauern, die ihm nie gehört, die ihm also auch niemand geraubt hatte!

Und doch schnürte es ihm die Brust zusammen, nicht anders, als wäre ihm das Mädchen als sein Eigentum entrissen worden. Wenn nun Bruno nicht nach Hause gekommen wäre? Wenn er bei St. Privat den Tod gefunden hätte? Er schauderte zusammen vor den häßlichen Gedanken, die sich ihm aufdrängten.

Wie schön sie war mit ihrer süßen Gestalt, wie die Augen noch größer, noch dunkler erschienen unter den feinen Brauen!

Er sprang auf, sein Blut kochte. Das Mädchen in seines Bruders Armen! Wird er sie glücklich machen, der … der Feigling! Wie konnte ein Mann, der nie einer war, die Lore glücklich machen!

Es klopfte jemand. Mit weit geöffneten Augen blickte Hermann auf. „Wer ist da?“

Langsam öffnete sich die Thür. Bruno! Die Haare unordentlich in die Stirn fallend, die Gesichtszüge schlaff und bleich, die großen braunen Augen fieberhaft glänzend, so stand er da.

„Hermann,“ sagte er leise und tastete mit der Hand an dem Hemdkragen, als sei ihm der zu eng. „Ich kann es nicht mehr ertragen – den Ekel vor mir selbst! Ich glaubte, es sei überwunden, aber nun ich Dich wiedersehe, quillt alles neu in mir auf, als sollte ich ersticken!“

Hermann sah den Bruder stumm an, dann senkte er den Blick. Gegenüber dieser Seelenqual schwand alles, was er selbst eben noch empfunden hatte. Sein Edelmut regte sich. Er faßte Bruno an beiden Händen und zog ihn auf einen Stuhl. „Du mußt es überwinden. Du mußt darüber hinweg, und wenn es noch so schwer ist. Das Leben liegt vor Dir und hat Arbeit für Dich. An die klammere Dich an! Mir ist es, als sei ich zehn Jahre älter als Du. Kopf hoch! Du konntest doch früher das Leben heiter nehmen.“

Bruno schüttelte den Kopf. „Du meinst, ich sollte durch Arbeit sühnen. Sühnen? Ein Ammenmärchen! Hast Du einen Zaubertrank gegen Flecken der Seele?“

„Ja; die Zeit und ein ehrliches festes Wollen! Und im übrigen –“

„Ja, im übrigen weiß ja kein Mensch davon,“ fiel Bruno ein und strich sich die wirren Haare aus der Stirn.

Hermann blickte grübelnd zu Boden. Das also war Brunos Trost! Wohl ihm! Von alledem, was er selbst durchgekämpft hatte damals am Lagerfeuer, empfand jener nichts!

„Und dann,“ sagte Bruno, während sein früheres lustiges Gesicht sich allmählich aus den trübseligen Falten herausarbeitete, „dann hab’ ich ja sie, die Lore, meine Braut!“

„Ja, die hast Du,“ murmelte Hermann und trat ans Fenster, in die Nacht spähend.

„Wie glücklich ich bin! Sie war zu reizend, zu süß an meinem Krankenlager! Sie hat mich so rührend gepflegt und unterhalten, Du weißt, sie kann sehr vergnüglich plaudern, Sie besitzt wirklich Geist. Als ich dann zum erstenmal im Zimmer umherging, vor vierzehn Tagen, nun, da kam das so ganz von selbst. Ich küßte ihr die Hand, sie verbat sich den Unsinn, und da küßte ich sie auf [456] den Mund. Es war prachtvoll, zu sehen, wie sie selbst erst jetzt bemerkte, daß sie mich lieb hätte. Sagtest Du etwas, Bruder?“

„Nein, nein, nur der Novemberwind braust in den Bäumen.“

„Ach ja, der Winter beginnt.“

„Ja, der Winter beginnt.“

„Es ist kalt hier,“ meinte Bruno und fröstelte zusammen. „Du solltest noch einige Scheite Holz auflegen, ich fühle mich doch noch etwas schwach. Sie sagten damals, ich hätte sehr viel Blut verloren.“

„Hast Du Deiner Braut etwas von der Sache gesagt?“ fragte Hermann und wandte dem Bruder sein ernstes festes Gesicht zu.

„Der Lore das sagen?“ klang es fast angstvoll zurück.

„Du würdest dann vielleicht Ruhe finden. Ein Weib, das liebt –“

„Aber sie würde mich –“ Er brach ab und sprang auf. „Doch wenn Du meinst – Du kennst ja die Lore! Gut, es soll sein, sie mag entscheiden! Obgleich – es ist eine mißliche Sache, sich selbst in den Schmutz zu ziehen – aber wenn Du mir rätst … “

„Ich rate es Dir. Gute Nacht, Bruno! Es ist Mitternacht vorüber!“

„Gute Nacht!“

Hermann folgte dem langsam Hinausgehenden mit den Blicken. Eine unbezähmbare Aufregung bemächtigte sich seiner. Sein Blick fiel auf das kleine Etui; hastig öffnete er es, nahm den Ring heraus und schleuderte ihn zu Boden. In Sprüngen rollte derselbe davon, drehte sich im Kreis und fiel klirrend auf die Eisenplatte vor dem Ofen. Hermann war ihm gefolgt; er setzte den Absatz darauf; knirschend splitterte der Stein ab. Aber der Reif ließ sich nicht zermalmen. Im Ofen war noch Feuer; rasch warf er den Ring auf eine Schaufel und legte sie auf die glühenden Kohlen. Das Gold begann zu schmelzen, es zitterte in der Schaufel – er stieß sie in die Asche.

„Vorbei!“

Mühsam richtete er sich auf und kleidete sich vollends aus. Dann, während er die Lampe auslöschte, murmelte er. „Narr, kindischer Narr, der ich bin!“

Im Hofe schlug ein Hund an, dann war es ganz still; auch der Sturm draußen schien schwächer zu werden. Ob er es der Lore sagen wird? – –

(Fortsetzung folgt.)


Thüringens Gewerbfleiß.

Von C. Forst. Mit Zeichnungen von W. Hoffmann

Das Eingangsthor der Thüringer Ausstellung.

Den Reisenden, der in diesem Sommer auf den Flügeln des Dampfes durch Thüringen eilt und die Gartenstadt Erfurt berührt, grüßen, wenn er zum Wagenfenster hinausschaut, von der alten „Daberstedter Schanze“ die vielfarbigen Fahnen der Thüringer Staaten. Stolz flattern sie im Winde von Türmen und Kuppeln luftiger Gebäude, der großen Hallen und der schmucken Pavillons, die inmitten reizender Gartenanlagen die „Thüringer Gewerbe- und Industrie-Ausstellung“ beherbergen. Einladend winken sie dem Fremden entgegen und mahnend scheinen sie zu rufen: „Hemme deinen Lauf, eiliger Wanderer! Steige zu uns herauf durch das altertümliche Portal: schenke uns einen Tag, um Thüringens Schätze aus alter und neuer Zeit, des Waldlandes Gewerbfleiß zu schauen. Du wirst dieses ‚Opfer‘ sicher nicht bereuen, reich beschenkt wirst du heimwärts ziehen!“

Thüringens Gewerbfleiß! Welch eine Flut menschlichen Sinnens und Trachtens, welch eine ungeheure Summe rastlosen Arbeitens und Ringens umfassen diese zwei kurzen Worte! Wohin wandern nicht die Werke, die des Thüringers feste Hand geschaffen hat? Man kennt sie in Nord und Süd, vom Fels zum Meer, in allen Gauen des deutschen Vaterlandes, das Dampfroß trägt sie hinaus in alle Länder Europas und auf Schiffen ziehen sie über die Oceane nach den vier anderen Weltteilen. Millionen Kinder jauchzen alljährlich einem Teil dieser Erzeugnisse entgegen, denn Thüringen ist das echte und rechte Spielwarenland, in dem das Christkind seine schönsten Gaben sammelt. Vor zwei Jahrhunderten war es, da Sonneberg in Thüringen die Erbschaft Nürnbergs antrat und in der Erzeugung der Spielwaren die Führung übernahm, und trotz aller Wandlungen der Zeiten behauptet es noch heute den hohen Rang.

Für die Sonneberger Ausfuhrfirmen, deren es etwa 60 giebt, ist die ganze Umgebung mit über 30 Ortschaften thätig, und kaum wird in Deutschland ein zweiter Raum von etwa 5 Quadratmeilen Ausdehnung gefunden werden, welcher die Zweige der Spielwarenfabrikation in derartiger Ausdehnung und Mannigfaltigkeit pflegt, von der größten Schieferplatte bis zum einfachsten Griffel, von der leichten Holzschachtel bis zu den feinsten Werken der Modellierkunst. Treffend ist gesagt worden: „Mit den Sonneberger Waren spielen unsere Kinder, mit ihnen schmückt sich der indianische Häuptling, der Malaie des Stillen Meeres, der Neger des sonnenverbrannten Afrika. Kein Palast und keine Hütte ist ihnen verschlossen.“

Berühmt sind die Sonneberger Puppen. Manche Firmen erzeugen jährlich je 20000 bis 30000 Dutzend Puppen oder Puppenköpfe. Und welche Fortschritte hat hier das uralte Mädchenspielzeug gemacht! Auf der Londoner Weltausstellung 1851 erregten die „Schreipuppen“ zum erstenmal Aufsehen, bald darauf hatten die Puppen „Papa“ und „Mama“ rufen gelernt, jetzt sprechen sie und singen Lieder. Wie wurde in Sonneberg der „Teint“ der Puppenköpfe verbessert, bis die zarten Gesichtchen waschbar und wetterfest wurden, in der Tropenhitze nicht erweichten und in der frostigen Kälte des Nordens keine Sprünge bekamen! Die Thüringer Fabrikanten wetteiferten auch erfolgreich mit den Ausländern in dem Bestreben, Leben in den starren Puppenleib hineinzubringen, bis unter ihren sorgsamen Händen die Gelenke beweglich wurden und die Puppen sogar gehen lernten.

Außerdem entstand in Waltershausen ein zweiter bedeutender Mittelpunkt der Puppen- und Spielwarenfabrikation, und an vielen anderen Orten regen sich zahlreiche fleißige Hände, um Spielzeug zu schaffen. Berühmt ist Ruhla auf diesem Gebiete durch eine Besonderheit: erzeugt doch hier eine einzige Firma in jedem Jahre gegen 15 Millionen Stück Kinderuhren, darunter auch Stand- und Wanduhren für Puppenstuben, welche, wenn sie in der Regel auch nicht gehen, doch an Naturtreue nichts zu wünschen übrig lassen!

Doch verlassen wir die Stätten, in welchen allerlei Tand für arme und reiche Kinder bereitet wird! Seit Jahrhunderten standen die Thüringer Schmiede in hohem Ansehen: es waren naturgemäß kleine Meister, die in der Neuzeit durch die in anderen, günstiger gelegenen Gebieten erwachsenen Fabriken überflügelt wurden. Trotzdem wirken in Thüringen noch heute Tausende von Kleinfeuerarbeitern und fertigen allerlei Kurzwaren, die sich durch geschmackvolle und zierliche Arbeit, durch schöne Politur und Reinheit auszeichnen. In Schmalkalden, Zella, Mehlis und Suhl giebt es Großhändler, welche illustrierte Kataloge über 2000 und mehr verschiedene Gegenstände aus den Werkstätten dieser Schmiede dem Handel zur Verfügung stellen und Musterlager nicht nur in [457] den bedeutendsten Städten Europas, sondern auch in Amerika, China, Japan und Aegypten unterhalten. Dieser Zweig der Hausindustrie wird wohl freilich mit der Zeit verschwinden und dem Großbetriebe den Platz einräumen, wie es zum Teil schon geschehen ist.

In der Nähe von Arnstadt liegt der Marktflecken Ichtershausen. In ihm hat die deutsche Industrie einen hervorragenden Sieg errungen. Die Deutschen waren es, die einst die Fabrikation der Nähnadel ins Leben riefen, und die Nürnberger und Schwabacher Ware erfreute sich eines Weltrufes. In unserer Zeit wurde jedoch Deutschland von England überflügelt; wohl suchte man seit 60 Jahren in Aachen, Altona und Iserlohn es den Engländern gleichzuthun, aber die englische Ware beherrschte dennoch den Weltmarkt. Da wurde im Jahre 1862 in Ichtershausen von Wilhelm Wolff und August Knippenberg eine Nadelfabrik gegründet. Bald überholte diese dank der Vervollkommnung der Anfertigungsweise unsere Nebenbuhler jenseits des Kanals und eroberte der deutschen Ware den verlorenen Boden. Gegen 50 verschiedene mechanische Arbeiten werden verrichtet, um Nähnadeln aus dem Rohmaterial herzustellen; gegen 5000 Sorten verschiedener Nadeln können hier erzeugt werden und die Fabrik vermag täglich über 2 Millionen Nähnadeln zu liefern – sie ist vermutlich die größte und leistungsfähigste Nadelfabrik der Erde. Mit Thüringer Nadeln nähen heute Millionen fleißiger Frauenhände, und Thüringer Nadeln schwingen in zahllosen Nähmaschinen.

Kunsthalle.   Hauptausstellungsgebäude.   Thüringer Bauernhaus.
Gartenbauhalle.

Bilder von der Thüringer Gewerbe- und Industrieausstellung.

Aber nicht nur für Kinder und Frauen sorgt der Thüringer Gewerbfleiß. Die Thüringer waren auch Waffenschmiede, berühmte Panzerer, Plattner und Harnischschmiede. Namentlich das Suhler Eisen eignete sich ausgezeichnet für Harnische und Schwerter, in den Thüringer Thälern blühte das Waffenhandwerk und Suhl hieß das „deutsche Damaskus“. Da kam die Zeit, wo der Panzer vor den Feuerwaffen verschwand, und die Suhler wurden berühmte Büchsenmacher. Beim Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges sandte Thüringen seine Musketen in alle Weltgegenden und es hieß „Deutschlands Zeughaus“, bis es in barbarischer Weise durch den kaiserlichen „Brandmeister“ Isolani im Jahre 1634 zerstört wurde. Erst in neuerer Zeit kam dieser Zweig der Industrie in Thüringen von neuem empor: im Jahre 1827 erfand der Sohn eines Thüringer Schlossermeisters, J. N. Dreyse, das Zündnadelgewehr, das anfangs noch von vorn geladen wurde. 1836 wandelte er es in einen Hinterlader um. 1840 wurde dasselbe in Preußen angenommen; nun fertigte wieder Thüringen die hervorragendsten deutschen Waffen; bis zum Jahre 1874 wurde der größte Teil der preußischen Militärgewehre in Thüringen hergestellt, und man kann wohl sagen, daß die Kriege von 1864, 1866 und 1870 zum großen Teil mit Sömmerdaer Waffen ausgefochten wurden. In der letzten Zeit sind Staatsaufträge in Thüringen seltener geworden, aber das Waffengewerbe blüht noch im Lande fort und liefert ausgezeichnete Jagd- und Luxuswaffen, wie die „Gartenlaube“ dies im Jahrgang 1892, Nr. 17 beschrieben hat.

Die Pfeife ist seit dem Dreißigjährigen Kriege zur Genossin und Freundin des Soldaten geworden. Auch die Pfeifenfabrikation blüht im Thüringer Lande und Ruhla ist weit und breit als die Pfeifenstadt, die Metropole der Pfeifenerzeugung berühmt (vgl. Seite 211 dieses Jahrgangs). Außer den Pfeifen werden hier noch alle anderen „Rauchinstrumente” hergestellt und außerdem spielt die Verarbeitung des Bernsteins gegenwärtig eine so große Rolle, daß sie an Bedeutung wohl bald die Meerschaumfabrikation überflügeln wird.

Um das Jahr 1500 kam aus China das Porzellan zum erstenmal nach Europa. Ein Thüringer von Geburt, der Alchimist Joh. Friedrich Böttger, hat das Geheimnis seiner Herstellung im Jahre 1709 in Meißen entdeckt. 1711 kam das erste Meißener Porzellan auf die Leipziger Messe und 1759 wurde die erste Thüringer Porzellanfabrik in Katzhütte eröffnet. Seit jener Zeit blüht die keramische Industrie in Thüringen und bildet die eigentliche Lebensader vieler Waldorte. Namentlich die Thüringischen Porzellanpuppenköpfe und Nippfiguren sind weltbeliebte Modeartikel geworden, die jährlich zu vielen Tausenden von Centnern in die weite Welt wandern.

Thüringen besitzt gegenwärtig an keramischen Fabriken, die außer Porzellan noch Steingut, Fayence, Majoliken, Terrakotten und ähnliches erzeugen, die stattliche Zahl von 115. Und ein Drittel von ihnen beschäftigt je über 200 Arbeiter!

Im nächsten Jahre wird die Glasindustrie in Thüringen ihr dreihundertjähriges Jubiläum feiern können, denn 1595 gelangte sie dorthin, nachdem sie in Venedig und Böhmen schon früher aufgeblüht war. Ihres Glaubens wegen verfolgte Protestanten, der „Schwabenhans“, Hans Greiner, und Christoph Müller aus Böhmen, gründeten damals in Lauscha die erste Glashütte Thüringens. Lauscha ist noch heute der Hauptsitz dieses Zweiges des Thüringer Gewerbfleißes. Hier wird leuchtender Christbaumschmuck und gefälliges Trinkgerät hergestellt. Trefflich sind seine mattweißen Fischperlen, denen der Glanz der echten Perlen durch eine aus den Schuppen des Uklei gewonnene Essenz verliehen wird, ferner die künstlichen Tier- und Menschenaugen, die hier gefertigt werden.

Ja, berühmt, weltberühmt ist das Thüringer Glas! Nunmehr ist es auch zu einer der schneidigsten Waffen der Wissenschaft geworden in den Mikroskopen. Frankreich hatte einst in der Herstellung von diesem wunderbaren Werkzeug der Forscher die Führung innegehabt. Da gründete im Jahre 1846 Karl Zeiß in Jena ein optisches Institut und setzte Mikroskope zusammen, die schon im Jahre 1857 selbst die berühmten Pariser übertrafen. Er ruhte aber nicht auf diesen Lorbeeren aus; in den 1860er Jahren trat er mit einem Thüringer, dem 1840 in Eisenach geborenen Dr. Ernst Abbe, [458] in Verbindung, um für den Bau der Mikroskope die sichere wissenschaftliche Grundlage zu gewinnen. Dieses Ziel wurde in mühevollen, jahrelangen Arbeiten erreicht und das „glastechnische Laboratorium in Jena“ von Schott und Genossen ins Leben gerufen, auch eine staatliche Unterstützung dafür erwirkt. (Vergl. „Gartenlaube 1888, Nr. 8.) Nunmehr steht Deutschland in der Herstellung wissenschaftlicher Instrumente vom Auslande völlig unabhängig da; die Anstalt von Karl Zeiß aber ist das größte, den Bau rein wissenschaftlicher Mikroskope betreibende Unternehmen der Welt.

Außer dieser Musteranstalt, die zu den jüngsten Fortschritten der Wissenschaft so ungemein viel beigetragen hat, besitzt Thüringen noch viele Geschäfte, die meteorologische und andere Instrumente für den gewöhnlichen praktischen Gebrauch liefern. Von Thüringen aus wird z. B. die halbe Welt mit Thermometern versorgt; den Mittelpunkt dieser Industrie bilden namentlich Ilmenau, Stützerbach und die benachbarten Orte.

Das sind die hervorragendsten Beispiele des so verschiedendartige Zweige umfassenden emsigen Fleißes der Thüringer. Wir könnten noch viele andere anführen, die berühmten Paraffinfabriken des Thüringer Vorlandes, die Gerbereien von Weißenfels, unmöglich aber ist es, die Thüringer Blumengärtnerei und den Gartenbau mit Stillschweigen zu übergehen. Erfurt gebührt in dieser Hinsicht die führende Stelle, Erfurt, das durch seinen eigenartigen Feldbau schon in längst vergangenen Zeiten berühmt war; verdankt doch die Stadt ihre einstige Macht und Blüte dem Anbau der nordischen, den Indigofarbstoff spendenden Pflanze, des Färberwaids! Im 15. Jahrhundert war Erfurt der Mittelpunkt des deutschen Waidbaus und Waidhandels. Der Waid baute den Erfurtern ihre Paläste, und so oft die „Waidjunker“ eine Raubburg erobert und zerstört hatten, pflegten sie dort Waidsamen auszustreuen, um der Nachwelt zu zeigen, daß die streitbaren Erfurter diese Zerstörung vollbracht.

Die Einfuhr des Indigo aus Ostindien, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts erfolgte, legte diesen Zweig des Feldbaus völlig lahm. Inzwischen entwickelte sich aber am Dreienbrunnen vor den Thoren Erfurts ein schwunghafter Gemüsebau. Man zog hier Brunnenkresse, den schwarzen Winterrettig, von dem 5 bis 6 Stück bisweilen einen Centner wogen, Kohlrabi und Blumenkohl, der um das Jahr 1660 von der Insel Cypern eingeführt wurde. Seit dem vorigen Jahrhundert kam die Zucht der Blumen in Erfurt in Aufnahme, und namentlich sind es die Levkojen, welche den Erfurter Blumensamenhandel berühmt gemacht haben. Im Anfang unseres Jahrhunderts hatte Erfurt seinen „Levkojenkönig“, Christoph Lorenz. Vor fünfzig Jahren wurde die Georginenkultur durch Erfurt gehoben; heute ist es in Bezug auf Blumenzucht und Handel mit Blumensämereien einer der wichtigsten Mittelpunkte des Weltverkehrs. Ein einziges Haus hat ein Preisverzeichnis von 8000 Nummern und setzt jährlich gegen 20000 Centner Blumen- und Gemüsesamen ab, ein anderes beschäftigt 1000 Arbeiter. Von Erfurt breitete sich der Gartenbau über viele andere Orte Thüringens aus.

Schließlich hat Thüringen seine herzlichen schattigen Laubforste und duftenden Nadelwälder; alljährlich öffnet es dieselben zahllosen Fremden, die aus dem Lärm der Städte, aus der eintönigen Tiefebene ins Gebirge eilen, um dort ihren Leib und ihre Seele zu erfrischen. Tausende und Abertausende dieser Sommergäste reisen gegenwärtig über Erfurt, an der Ausstellung vorbei. Ob diese Ausstellung des Besuches wert ist? Ist sie nicht lediglich eine provinziale Ausstellung? Sicher, sie umfaßt nur ein kleines Gebiet, aber wir haben angedeutet, wie groß und mannigfaltig Thüringens Gewerbfleiß ist und welche Früchte er gezeitigt hat!

Und wenn auch dieser und jener hervorragende Fabrikant und Meister mit seinen Werken zu Hause geblieben ist, es versäumt hat, die an der Heerstraße des Touristenverkehrs liegende Ausstellung zu beschicken, so bietet doch das, was auf der Daberstedter Stanze zusammengetragen worden ist, ein erschöpfendes, fesselndes und höchst lehrreiches Gesamtbild der hohen Blüte der Thüringer Industrie. Dabei ist der Aufenthalt in der Ausstellung selbst durchaus angenehm und erquickend. Der Raum ist weit, und inmitten schöner anmutiger Gartenanlagen, an Springbrunnen und Teichen vorbei wandert man von Halle zu Halle. Gegenüber dem schmucken Hauptausstellungsgebäude erhebt sich der Kunstpavillon, in dem namentlich wertvolle Kunstaltertümer die Bewunderung der Besucher erregen. Hinter ihm steht ein „Thüringer Bauernhaus“ aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts, mit der breiten Thoreinfahrt, mit Stall und Scheune. Die goldenen Gaben der Ceres finden wir in der letzteren nicht, oft aber eine fröhliche Schar, die König Gambrinus huldigt. In dem Wohnhause selbst sind die Wohnstube und der Alkoven mit echtem alten Hausrat ausgestattet, während die oberen Räume in ein kleines Museum für Thüringer Trachten, Tiere und Pflanzen und alte Kräuterbücher verwandelt sind. Ein Gegenstück zu diesem Bauernhaus bildet in der Nähe der Pavillon für Frauenarbeit und Hausfleiß; hier ist die neuzeitliche Kunstfertigkeit der Thüringer Frauen und Jungfrauen vertreten; hier bietet sich jedem, der Sinn für Schönes und Geschmackvolles besitzt, Gelegenheit, reizende und auch teure, aber wirklich wertvolle Andenken an die Ausstellung zu erwerben. Durch schöne Gartenanlagen führt der Weg zur Gartenbauhalle, in welcher die seltensten Blumen das Auge des Beschauers erfreuen und die bunten Blattpflanzen mit diesen Blüten aus allen Weltteilen in der Farbenpracht wetteifern.

Von hohem Interesse ist die Abteilung für Forstwirtschaft. Da fallen zunächst die mächtigen Scheiben von starken Stämmen ins Auge, an deren Jahresringen man das Wachstum des Holzes in verschiedenen Waldbeständen zu erkennen vermag. Da sehen wir verschiedene Mißbildungen der Nutzbäume, Verwachsungen von Fichten infolge von Verletzungen der jüngeren Pflanzen, sowie Stamm- und Wurzelverwachsungen von Buchen und Tannen mit Buchen. Auf Tischen stehen kleine Modelle von Thüringer Pechhütten und Teeröfen; die Gewinnung von Pech- und Kienruß blüht ja noch immer in Thüringen und „Meiningen hat das meiste Pech“, wie der Volkswitz sagt. Dicht daneben befindet sich eine künstliche Brutanstalt, welche den Brutprozeß von Forellen veranschaulicht. Der Anblick der kleinen Fischlein erfüllt den Touristen gewiß mit Freuden; ist er doch eine Verheißung kulinarischer Genüsse, die seiner in irgend einem Thüringer Mühlengrunde harren. Aber auch an Ort und Stelle, auf dem Ausstellungsplatze selbst ist in liebenswürdiger Weise für die leiblichen Bedürfnisse des Wanderers gesorgt. Vielerorts kann man dort in schmucken Bauten den Durst löschen, und wer Lust hat, zu steigen, dem winkt der hohe Aussichtsturm entgegen, von dessen Höhen man über die Ausstellung und das thurmreiche Erfurt weit in die Thüringer Lande hinausschauen kann. Aber – wir wollen keinen „Führer“ durch die Ausstellung schreiben, sie verfügt bereits über einen ausgezeichneten, äußerst lehrreichen Wegweiser. Es ist der offizielle Katalog. Einer der trefflichsten Kenner Thüringens, Dr. Fritz Regel, Professor der Geographie an der Universität Jena, hat als Einleitung zu dem Katalog eine zwölf Druckbogen umfassende Abhandlung über „Die wirtschaftlichen und industriellen Verhältnisse Thüringens“ geschrieben. Er war dazu berufen wie kaum ein anderer und wird dafür gewiß den Dank vieler Tausende ernten. Diese Schrift bietet bei weitem mehr als den Schlüssel zu dem sonst für den Laien so schwierigen Verstehen einer Ausstellung; sie führt uns in das herrliche grüne Thüringer Land ein, sie ist ein kundiger Wegweiser für jeden, der nicht nur Berge und Thäler schauen, sondern auch die Menschen in ihrem nützlichen Wirken, in ihrer rastlosen Arbeit kennenlernen will; sie enthüllt uns die schönsten Seiten des genügsamen und fleißigen Thüringers, und indem wir uns in diese Schilderungen vertiefen, lernen wir Thüringens Gewerbfleiß hochschätzen.

Der Aussichtsturm.


[459]

Kleine Leiden der Fußwanderer.

Zu den kleinen Uebeln, welche den Menschen, wenn nicht das Leben, so doch das Gehen verbittern können, zählt jene unbehagliche Folgeerscheinung eines unzweckmäßigen Schuhwerks, das Hühnerauge. Die Aerzte haben sich in früheren Zeiten mit dieser Kleinigkeit wenig befaßt, um so mehr widmeten fragwürdige Heilkünstler dem lästigen Gebilde ihre Aufmerksamkeit. Hühneraugenoperateure machten keine üblen Geschäfte, obwohl man sagte, daß diese kleine Operation sogar das Leben gefährden könne. Und diese letztere Behauptung ist gewiß wahr! Die kleine Wunde, die bei ungeschicktem Schnitt entstehen kann, ist an und für sich nicht gefährlicher als jede andere Wunde; aber eine Wunde am Fuß ist besonders leicht der Verunreinigung ausgesetzt. Dringen nun in dieselbe bestimmte krankheiterzeugende Bakterien ein, so wird die Wunde schlecht und kann Anlaß zur Blutvergiftung, ja zum Starrkrampf geben. Es sind thatsächlich Fälle bekannt, in welchen Hühneraugenoperationen ein solch trauriges Ende nahmen. Und doch schneiden noch recht viele Menschen an ihren Hühneraugen herum! Es ist darum angebracht, ganz besonders hervorzuheben, daß es geradezu ein Unsinn ist, mit Messer und Schere das Hühnerauge zu behandeln, während wir doch andere zuverlässigere und dabei gefahrlose Mittel zu dessen Entfernung kennen.

Es giebt viele Stoffe, welche die Eigenschaft besitzen, die Oberhaut derart aufzuweichen, daß sie sich von der Unterhaut von selbst ablöst. Nur wirken diese Stoffe nicht augenblicklich, sondern langsam, zumeist erst in einigen Tagen. Man nennt solche Mittel „dermatolytische“, oder „hautlösende“, und zu ihnen zählen das Seifenpflaster und die Essigsäure, die schon seit geraumer Zeit zum Erweichen der Hühneraugen empfohlen werden. Am wirksamsten ist aber die Salicylsäure; sie beseitigt auch die schlimmsten Hornbildungen.

Ihre Anwendung kann verschieden sein.

Vielfach wird eine Mischung von 1 Teil Salicylsäure und 10 Teilen Kollodium empfohlen; man pinselt dieses Salicylsäurekollodium drei bis vier Tage lang morgens und abends auf das Hühnerauge, läßt das Kollodium eintrocknen und wartet, bis das Horngebilde erweicht ist, worauf man es mit dem Nagel während eines Fußbades abheben kann. In den Apotheken werden Hühneraugentinkturen verkauft, die in der Hauptsache aus Kollodium und Salicylsäure bestehen und denen noch andere Bestandteile, wie z. B. Essigsäure und Hanfextrakt, beigemischt sind. Letzterer soll etwa nach der Bepinselung eintretende Schmerzen lindern.

Dieses Salicylsäurekollodium befriedigt jedoch nicht immer; es kann bei empfindlicher Haut recht unangenehme Schmerzen bereiten, und auch die Ablösung des erweichten Hühnerauges gestaltet sich nicht immer vorschriftsmäßig. Man hat darum Salicylsäurepflaster bereitet, die einfach auf das Hühnerauge gelegt werden. Man erneuert sie 6 bis 8 Tage lang, und in dieser Zeit wird das Hühnerauge derart aufgeweicht, daß man es in der oben angegebenen Weise abzuheben vermag.

Schließlich kann man auch die reine Salicylsäure anwenden. Zu diesem Zwecke nimmt man von aufgestrichenem Heftpflaster, am besten amerikanischem Gummiheftpflaster, ein Stück, das so groß ist, daß es reichlich das Hühnerauge bedeckt, schneidet es an den Rändern ein, schüttet in die Mitte eine kleine Messerspitze voll Salicylsäure und klebt das Ganze auf die zu behandelnde Stelle des Fußes. Dieses Verfahren erneuert man im Laufe einiger Tage, und zwar so lange, bis das Hühnerauge derart erweicht ist, daß man es mit dem Fingernagel entfernen kann. Gewaltsames Reißen ist jedoch zu unterlassen; giebt die abzulösende Hautschicht nicht nach, so lege man lieber das Pflaster wieder auf und warte, bis die Erweichung vollständig geworden ist. Sollten sich Schmerzen einstellen, so setzt man die Behandlung für einen bis zwei Tage aus. Dies ist ein Vorzug des Pflasters gegenüber dem Salicylsäurekollodium, das, einmal auf die Haut gebracht, sich nicht entfernen läßt, bis die Erweichung erfolgt ist.

Auf diese Weise kann man durch die Salicylsäure die lästigsten und ältesten Hühneraugen bei etwas Geduld in einigen Tagen beseitigen. Man muß sich aber, selbst wenn das Schuhwerk zweckmäßig abgeändert wurde, auf einen Rückfall gefaßt machen. Die frische Haut an Stelle des Hühnerauges ist zart und rot; sie befand sich schon während der Bildung des Leichdorns in gereiztem Zustande und hat die Neigung, in Ueberfülle neue Oberhaut zu bilden. Man muß darum bestrebt sein, diese junge Haut anfangs durch Auflegen von Watte zu schützen. Es wird sich aber in der Regel trotzdem auf ihr ein neues Hühnerauge bilden; nur wartet man nicht so lange, bis es Beschwerden macht, sondern legt wieder ein etwas kleineres Salicylsäurepflaster auf. Die Erweichung geht nun leichter vor sich. Die Rückfälle werden schwächer und schwächer; die Hautstelle wird nach und nach normal und die Heilung eine dauernde.

Im Anschluß daran möchten wir noch einige Worte über die Fürsorge für kleine Wunden an den Füßen sagen. Die Wundbehandlung ist Sache des Arztes, aber wegen eines Ritzes, einer Hautabschürfung am Fuße sucht kaum ein Mensch den Arzt auf. Und doch können die geringfügigsten Verletzungen, wie wir schon früher bemerkt haben, sehr schlimme Folgen nach sich ziehen. Wie soll man diesen vorbeugen?

Es handelt sich bei kleinen so gut wie bei großen Verwundungen zunächst darum, daß schädliche Stoffe, die in die verletzte Stelle vielleicht bereits eingedrungen sind, unschädlich gemacht werden und daß man die Wunde bis zur erfolgten Heilung vor neuen Verunreinigungen verwahrt. Dies ist bei kleinen Verletzungen ungemein leicht zu erreichen. Man wäscht sie mit reinem Wasser, oder noch besser mit zweiprozentigem Karbolwasser ab, nimmt dann etwas reine Verbandwatte, legt diese auf die wunde Stelle und betupft die Watte zwei- bis dreimal mit Collodium elasticum. Es bildet sich alsdann über der Wunde ein wasser- und luftdichter Verschluß, unter dem die Heilung ohne irgendwelche Schwellung oder Eiterung vor sich geht. Den Verschluß befestigt man im Laufe des ersten Tages durch nochmaliges Auftragen von Collodium und läßt ihn liegen, bis er von selbst abfällt. Collodium elasticum erhält man in jeder Apotheke; es ist dies das gewöhnliche Kollodium, dem etwas Ricinusöl zugesetzt wurde; es spannt nach dem Eintrocknen weniger als das reine Kollodium.

Dieser Verschluß hat bei Fußwunden, namentlich bei Hautabschürfungen, durchgescheuerter Haut auf dem Marsche etc., vor den sonst üblichen mit antiseptischen Salben bestrichenen Läppchen den Vorteil, daß er unverrückbar festsitzt; er schützt die Stelle vor weiterem Druck, und selbst, wenn man weiter wandert, wird eine Vergrößerung der Abschürfung vermieden und der Schmerz in der Regel behoben. Je eher man den Kollodiumverschluß anbringt, desto besser ist es.

In derselben Weise können auch kleine Verletzungen an Fingern und Händen aufs zweckmäßigste behandelt werden; auch bei ihnen ist die Gefahr der Verunreinigung besonders groß, und wenn eine solche nur selten zur Blutvergiftung führt, so giebt sie doch ungemein häufig Anlaß zu eitrigen Entzündungen, die bei kochenden, scheuernden und aufwaschenden Frauen und Mädchen leider so oft an den Fingern vorkommen.

Auf dem Lande steht der Leim in besonderem Rufe als Verschließungsmittel für kleine Wunden. Sein Ruf ist nicht unbegründet; frisch gekochter Tischlerleim ist aseptisch, frei von allen Keimen, und wenn er erhärtet, so verschließt er die Wunde wenigstens so lange, bis die Gefahr einer Ansteckung vermieden ist. Das Kollodium aber, das in Wasser unlöslich ist, läßt sich reinlicher handhaben und steht jeden Augenblick zum Gebrauch bereit da. Eins aber ist zu beachten: das Kollodium ist leicht brennbar, und deshalb darf man damit nicht in der Nähe einer offenen Flamme hantieren. Immerhin ist die Entzündbarkeit der flüssigen und verdunstenden Masse keineswegs so groß wie die des Benzins und auch geringer als die des Aethers. *      


Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.

 (26. Fortsetzung.)


Hinter jenem Grat, auf dessen Höhe Otloh so still und regungslos die Wache hielt, senkte sich der überschneite Steingrund zu einer weiten Mulde. Gute Weide war es, welche hier der tiefliegende Schnee bedeckte; denn ehe Herr Waze, um seinem Fahlwild Ruhe und reiche Aesung zu sichern, die Gehänge des König Eismann mit seinem Bann umhegte, hatte dieses Bergthal als die beste Albe des Gadems und der Ramsau gegolten. Aus jener Zeit noch stammte die Hütte, die sich inmitten des kesselförmigen Thals erhob. Der Schnee, welcher über das Dach gefallen, war hinweggeschmolzen, und durch die Balken quoll der Rauch des Feuers, das auf der Herdstatt brannte. Sein zitternder Schein beleuchtete ein stilles Glück, das zwischen diesen morschen Balken ein Heim in der Oede gefunden und nach allen Schrecken der vergangenen Tage, bei aller Gefahr und Sorge, von der es bedroht war, so freundlich blühte wie die Bergrose im Schnee und von so reiner Helle war wie ein Stern in dunkler Nacht. Rötlis geschickte Hände hatten dem unwirtlichen Raum ein fast trauliches Ansehen verliehen. Nun stand sie vor dem Herd, das liebliche, nur etwas schmal und bleich gewordene Gesichtchen vom rötlichen Feuerschein überstrahlt, und behütete als junges Hausmütterchen mit sorgendem Eifer die Pfanne. Freilich wurde ihre Achtsamkeit gar oft gestört; doch ehe sie noch schmollen konnte, schloß ihr schon ein warmer Mund die Lippen. Dann lehnte sie wohl das Köpfchen an Ruedliebs Brust, und während er sie umschlungen hielt mit festem Arm, blickten sie schweigend in die züngelnden Flammen und träumten von kommender Zeit, von dem traulichen Herd, der ihrer wartete im Thal. Einmal seufzte Rötli aus tiefem Herzen.

„Schätzli, was ist Dir?“ fragte Ruedlieb und strich mit der Hand über ihr Braunhaar.

Sie hob die feuchten Augen. „Was meinst wohl, wie es meiner Mutter geht und meinem Bruder?“

„Gut! Wie denn anders! Dein Bruder steht wie ein Baum; an den trauen sich die Maulwürf’ nimmer an! Uns hat er in sichere Hut geschickt, und sich selber weiß er zu wahren!“

„Aber wenn die Wazemannsleut’ ...“ Rötli konnte nicht weiter sprechen, denn zum besten Trost hatte ihr Ruedlieb mit den [460] Lippen den Mund geschlossen. Dieser stille Trost hatte so lange Dauer, daß der Brei in der Pfanne in verdächtiges Brodeln geriet. Erschrocken löste Rötli sich aus den Armen, die sie umschlungen hielten, und stammelte: „So, schön, jetzt hätt’ ich schier noch unser Mahl verbrennen lassen! Geh’ nur flink und ruf’ den Vater, daß wir mahlzeiten miteinander!“

Ruedlieb eilte zur Thür, doch vor der Schwelle blieb er stehen, blickte in lachender Freude auf sein Weib zurück und hatte sein helles Wohlgefallen an dem ernsten Eifer, mit welchem Edelrot beim Feuer schaltete. Draußen vor der Thüre saß der Richtmann auf einem Steinblock. Vor Stunden schon hatte er die Hütte verlassen, denn er wollte das stille Glück seiner Kinder nicht durch den Anblick der Sorge verkümmern, die aus seinen bleichen vergrämten Zügen redete. Er hatte die ganze Nacht hindurch kein Auge geschlossen und nur immer dem Murren der Lawinen gelauscht und dem Gepolter der Steine, welche von den Wänden niedergingen und ihren Weg an der Hütte vorübernahmen. Auch sonst noch hatte er in der unheimlichen Nacht gar seltsame Geräusche und Stimmen vernommen, die er nicht zu deuten wußte und die ihn mit banger Angst erfüllten.

Nun saß er schon seit Stunden einsam vor der Hütte und spähte mit forschenden Blicken empor zum steilen Gipfel des König Eismann. Da klang von der Hüttenthür die Stimme Ruedliebs: „Komm, Vater! Das Rötli hat uns aufgekocht, wir wollen gute Mahlzeit halten!“

Schwer seufzend wandte der Schönauer das bleiche Gesicht und winkte den Sohn herbei. Als Ruedlieb kam, faßte ihn der Vater bei der Hand und flüsterte. „Ich hab’ vor der lieben Dirn’ nicht reden mögen, aber jetzt hör’ mich an, Liebli: wir müssen fort auf die Nacht! Mir grauset! Der Berg ist nimmer sicher!“

Ruedlieb erschrak. „Meinst, Herr Waze hätt’ erfahren ...?“

Der Richtmann schüttelte den Kopf. „Ich fürcht’ den Berg.“

„Die Stein’ und Lahnen?“ Ruedlieb lächelte schon wieder. „So schau’ doch auf! Es ist ja wieder sonnscheinige Zeit, und der Schnee liegt still und fest.“

„Ich kenn’ die Berg’, Liebli, ich bin älter als Du. Aber ich mein’ schier, es müßt’ ’was kommen, was ich selber noch nie gesehen hab’. Alles ist lebendig in der Rund’, und zur Nachtzeit hab’ ich die Steinalfen schreien hören wie in Schmerz und Not. Mir grauset, Bub’! Der Bidem steckt im Berg wie die Scheermaus unter dem Traidfeld. Wir haben wohl gute Ruh’ vor Wazemanns Leut’ ... aber ich mein’ schier, der Berg möcht’ Fäust’ kriegen und schlagen nach uns. Wir müssen fort zur Nacht! Sag’s der lieben Dirn’ ... sie hört’s von Dir leichter. Die Nacht ist lang und reicht wohl aus, daß wir durch die Ramsau flüchten und das Haller Thal gewinnen.“

Aus der Hütte klang Rötlis helle Stimme: „Aber so kommt doch!“ Mit einem Sprunge war Ruedlieb bei der Thüre. Als der Richtmann ihm folgen wollte, hörte er von der Höhe des weißen Grates einen Laut. Betroffen lauschte er. War es eine menschliche Stimme gewesen? Oder der winselnde Laut eines Hundes? „Ich muß es wissen!“ murmelte er, von banger Ahnung erfüllt. Mit der einen Hand fühlte er, ob er das Messer am Gürtel trüge, mit der anderen faßte er einen der schweren Latschenäste, die vor der Hütte lagen, und eilte gegen den Hang.

„Vater! So komm doch!“ mahnte in der Hütte die Stimme Ruedliebs.

„Ich komm’ gleich! Esset nur derweil’! Mir schmeckt der Brei so lieber, wenn er verkühlet hat.“ Die Worte des Richtmanns klangen rauh und heiser. Er atmete schwer, und mit irrem Blick wandte er noch einmal die Augen nach der Hütte. „Liebli ...“ Wie ein Seufzer glitt ihm der Name seines Buben von den Lippen. Dann richtete er sich auf, seine bleichen Züge verschärften sich, mit funkelnden Augen spähte er nach der Höhe und begann durch den klebrigen Schnee emporzuwaten. Als er nach schwerer Mühe den Grat erreichte, stand er vor Entsetzen wie versteinert. Auf blutgetränktem Schnee, mit zerschmettertem Hinterkopf, lag eine Leiche vor ihm, deren starre Totenhand noch den Eibenbogen umklammert hielt: Otloh, Wazemanns Jüngster. Ein stürzender Fels, dessen Weg eine tiefe Furche im Schnee bezeichnete, war über ihn hinweggegangen. Mit verstörtem Blick hing der Richtmann an dem blutigen Bild; er faßte nicht, was er sah, und griff sich an die Stirne. Da hörte er vom jenseitigen Hang herauf die Stimmen der Wazemannsleute und das Gewinsel der Hunde, einen Schritt noch that er – dann sah er sie kommen. Auf die Weite eines Pfeilwurfs waren sie unter ihm. Sie hatten ihn schon erblickt und auch erkannt – das verriet ihm ihr Geschrei und der Pfeilschaft, welcher nahe vor seinen Füßen im Schnee versank. Einen Augenblick stand er ratlos, mit verzerrtem Gesicht und zitternd an allen Gliedern. Dann jählings faßte er die Leiche, schleifte sie über den Grat hinaus und gab ihr einen Stoß, daß sie über den steilen Hang hinunter und den Emporsteigenden entgegenrollte, von Schnee überwirbelt, umprasselt von nachstürzendem Geröll.

„Berget Eueren Toten ... ich wahr’ die Meinen, so lang sie noch leben!“ Er sprang über den Grat zurück, und das Messer aus der Scheide reißend, stand er und schickte einen gellenden Notschrei hinunter in das stille Bergthal. Der hallende Ruf weckte das Echo an allen Wänden. Es rieselte der Schnee, Steine rollten, und überall in den Felsen schrie es, als wären zwanzig Stimmen mit einmal lebendig geworden in der Oede.

Ruedlieb und Edelrot kamen aus der Hütte gesprungen. Von der Höhe des Grates sahen sie den Vater herabeilen und wußten nicht, was sie denken sollten.

Da schrillte von der Höhe der Ruf des Richtmanns. „Laufet! Laufet! Hinter mir die Wazemannsleut’!“

Rötli erblaßte und ihre Knie wankten; auch aus Ruedliebs Wangen jagte der jähe Schreck alles Blut, doch seine Hand griff nach dem Messer. Gestalten tauchten über den Grat empor. Herr Waze, Henning, Rimiger und Sindel, und hinter ihnen die Knechte mit den Hunden. Zitternd klammerte sich Edelrot an Ruedliebs Brust und barg an seiner Schulter das von Angst und Entsetzen verstörte Gesicht. „Der Unfirm ... und seine Hund’ ...“

„Laß ihn kommen!“ Ruedlieb richtete sich auf. „Solang’ ich noch Arm’ hab’, soll Dir nimmer geschehen, wie dem Rösli geschehen ist, aus deren Blut die Albenros’ gewachsen. Leben sollst Du ... oder ich sterb’ mit Dir!“ Ein paar Schritte riß er die Wankende durch den Schnee mit sich fort, dann wieder stand er und rief mit tonloser Stimme: „Vater! Komm!“

Der Richtmann hörte wohl den Ruf seines Buben, ein Schwanken ging über alle seine Glieder, dann blieb er plötzlich stehen, in der Linken den Latschenast, in der Rechten das blanke Messer zum Wurf bereit, die brennenden Augen nach der Höhe gerichtet. Den Söhnen und Knechten voran überklomm Herr Waze den verschneiten Grat. Sein Gewand und seine Hände waren rot vom Blute Otlohs, dessen rollende Leiche er aufgefangen. Er hatte den Hut verloren, und seine dünnen Haarsträhne klebten an dem schweißtriefenden Gesicht, dessen Züge verzerrt waren, daß sie nicht mehr dem Abbild eines Menschen glichen, sondern der Fratze eines verwundeten Raubtiers, das sich zum Sprunge duckt. Heiser kreischte seine Stimme: „Dort steht er, dort, der mir den Sohn erschlagen! Faßt ihn! Ich will ihn haben! Lebendig!“

Rimiger und Sindel sprangen über den Schneehang nieder und auf den Richtmann zu. Henning aber hob den Bogen und spannte die Sehne. Da flog das Messer des Richtmanns, und mit lautem Wehschrei ließ Henning die Waffe sinken – das Messer hatte seinen Arm durchbohrt.

„Die Hund’ von den Riemen!“ schrie Herr Waze in schäumender Wut. „Die Hund’ über ihn!“

Die Knechte lösten die Fesseln, und gleich einem Bündel abgeschnellter Pfeile schossen die heulenden Rüden thalwärts.

Da rann unter dumpfem Knirschen ein Zittern durch den Felsgrund, das verschneite Steinfeld hob sich langsam wie die Brust eines atmenden Riesen, ringsumher aus dem weiten Berghang stäubten kleine Schneewolken auf, und durch die Lüfte ging ein Murren – wie fernes Echo klang es und dennoch wie ein naher Laut, dicht vor den Ohren der Lauschenden.

Herr Waze auf dem Grat, Rimiger und Sindel, Henning mit dem blutenden Arm, die beiden Knechte, die verstummten Hunde und der Richtmann, der sich schon wieder zur Flucht gewendet hatte ... sie alle standen jählings wie versteinert, wie angewachsen auf der Scholle, welche sie trug. Hinter dem Grat hatte Eilbert, der die Leiche Otlohs in den Armen gehalten, den blutigen Körper fallen lassen, und die beiden Brüder, welche vor dem Erschlagenen auf den Knien im Schnee gelegen, waren aufgesprungen mit schreckensbleichen Gesichtern. Irrenden Blickes starrten sie umher – sie alle fühlten die Nähe einer dunklen grauenhaften Gefahr. Von welcher Seite aber drohte sie? In den Lüften oder im Grund der Felsen? In der Höhe oder im Thal? Diese Ungewißheit mehrte noch das Bangen und Entsetzen. Von Hennings Lippen löste sich der

[461]

Bei der Musik im Münchener Hofgarten.
Nach einer Originalzeichnung von P. Bauer.

[462] erste Laut. Und als hätte dieses kreischende Lallen jäh erwachter Todesfurcht die anderen aus ihrer Betäubung aufgeschreckt, so erhob sich plötzlich ein wirres Angstgeschrei in die von dumpfem Gesumm erfüllten Lüfte.

Von Wand zu Wand hin rollte das Echo dieser Stimmen – und ein verworrener Laut noch drang hinunter in die Bergschlucht, durch welche Sigenot und Recka den Weg zur Oedhütte suchten, erschöpft, mit keuchendem Atem, bis über die Hüften mit Schnee behangen. Aufhorchend faßte Wazes Tochter den Arm des Fischers. „Ich höre Stimmen ... sie schreien um Hilf’!“

Sigenot riß das Beil aus seinem Gürtel und lauschte; er hörte nur ein leises Murren in ferner Höhe und schüttelte den Kopf. „Hinter dem Eismann geht ein Lahn!“ Um dem zähen Schnee zu entrinnen, kämpfte er sich auf den steilen Berghang zu, auf dessen dünner beschneitem Gestein er festeren Weg zu finden hoffte. Recka blieb hinter ihm zurück, umklammert vom nassen Schnee, in den sie halb versank. Als Sigenot ihre Mühsal gewahrte, zögerte er und streckte die Hand nach ihr. Doch sie rief ihm mit bebender Stimme zu: „Sorg’ Dich nimmer um mich! Deine Schwester in Not! Ich folg’ Dir!“

Er wandte sich ah, begann zu klimmen und schwang sich von Stein zu Stein. Nun machte die Bergschlucht eine Wendung, und zwischen halbverdorrten Zirben fand Sigenot leichteren Pfad. Doch jählings stockte ihm der Fuß, denn er sah vor sich den gähnenden Absturz einer Felskluft, welche zu beiden Seiten von den steilen Wänden niederlief, an der einen Felswand eine finstere Höhle bildete und die Bergschlucht quer durchriß, zu tief und steil für den Niederstieg, zu breit für jeden Sprung. Mit verstörten Augen starrte Sigenot in die Tiefe, die sich vor ihm geöffnet. Es war nicht das erste Mal, daß er auf diesem Wege zum König Eismann emporstieg – doch er kannte diese Spalte nicht, ihre Wände waren gelb wie frisch gebrochenes Gestein. Als verließe ihn beim Anblick dieser Schranke seine letzte Kraft, so stützte er sich mit zitternder Hand an den Stamm einer Zirbe.

Recka holte ihn ein: „Was stehst Du?“

„Unser Weg hat ein End’! Schau’ her – der Bidem hat eine Fragel vor uns aufgerissen.“

„Schlag’ die Zirbe nieder, sie schafft uns einen Steg!“

Noch hatte Recka nicht ausgesprochen, da schwang der Fischer schon das Beil und alle Kraft schien ihm wiedergekehrt. Recka wankte zur Höhle, die sich neben der Zirbe in die Felswand senkte, und ließ sich auf einen Steinblock fallen.

Sigenot führte Schlag um Schlag und jeder Hieb machte den Stamm der Zirbe erbeben und hallte von den Wänden. Dumpfe Geräusche quollen von der Höhe des König Eismann nieder, Steine fielen, und über allen Felsen rieselte und glitt der Schnee, als wären die steilen Gehänge belebt von tausend und abertausend weißen winzigen Tierchen ...

Recka griff nach ihrem Bogen, und als sie gewahrte, daß die Sehne sich von der Feuchtigkeit des Schnees gelockert hatte, legte sie, um den Strang zu spannen, eine Schlinge über die Bogenkerbe; dann nahm sie den Köcher in ihren Schoß. Ein leises Aechzen ging unter Sigenots Schlägen durch den erzitternden Baum, und Recka hob die Augen. „Der Gipfel neigt sich schon ... schlag’ zu!“ Sie ließ die Pfeile halb aus dem Köcher gleiten. „Einen hab’ ich verloren im Schnee.“ Ueber ihre bleichen Lippen ging ein irres Lächeln. „Aber wenn es zum ärgsten kommen soll ... sieben Schäft’ noch hat mein Köcher, ich mein’, sie reichen!“ Im letzten Wort klang ihre Stimme schrill wie eine springende Saite.

„Recka!“ stammelte Sigenot, und der Schwung des Beiles stockte in seinen Händen.

„Schlag’ zu. Deine Schwester in Not! Der Baum muß fallen!“ Wieder krachten die Schläge, und schon begann der Wipfel zu schwanken. Recka saß wie mit versteinertem Antlitz, doch ihre Augen flammten. Und mit schmalen Lippen raunte sie vor sich hin: „Wie Feuer brennt in meinem Gesicht das Mal von meines Vaters Faust! Jeder Schlag der Brüder liegt wie Glut auf meinem Leib! Zeit meines Lebens haben sie Schmach und Ekel um mich her gehäuft, daß mir zu Mut’ war in ihrem Haus wie dem kranken Falken im Geiernest – und nach solchem Leben diese letzte Stund’! Sie haben mich geschlagen und geschmäht wie der Bauer im Metrausch seine Magd.“ Bebend an allen Gliedern sprang sie auf und schüttelte das Haar in den Nacken. „Ich bin gelöst von ihrem Haus! Haß wider Haß ... und Lieb’ um Lieb’! Mir sind nur noch zwei Ding’ im Leben heilig: meine Mutter, die mir lieb gewesen, und die Treu’ für Deine Schwester, die mir hold geworden ...“

Da verstummte der Beilschlag, und ächzend neigte sich die Zirbe. Reckas Blick begegnete den Augen Sigenots; sie senkte das Antlitz, zwei helle Tropfen fielen von ihren Wimpern, und ihre Stimme schwankte. „Für Deine Schwester will ich stehen und frag’ nicht, wider wen! Ich thu’, was ich muß ... und sollt’ ich drum im Leben auch nimmer Herd und Heimat haben!“

Unter dem stürzenden Baum hinweg war Sigenot auf Recka zugesprungen. „Nimmer Herd und Heimat?“ Fast versagte ihm die Stimme. „So magst Du reden, derweil ich noch leb’? Du? Und nimmer Herd und Heimat? Recka!“ Er streckte die Arme und wie ein Taumel überkam es ihn. Zitternd stand die Tochter Wazes, sie wollte sprechen, doch die Worte erloschen ihr auf den Lippen; es zuckte und kämpfte in ihrem Antlitz, und über ihre bleichen Lippen fiel es wie rosiger Sonnenglanz.

Auge in Auge standen sie, und mehr als alle Sprache hätte reden können, sagte dieser stumme Blick, der den Inhalt zweier Leben erschöpfte. Wie Feuer zu Feuer fliegt, so trieb es diese beiden zueinander. Hatte Sigenot die Geliebte an sich gerissen ... hatte Recka sich an seine Brust geworfen? Sie lagen Herz an Herz, umschlangen sich mit pressenden Armen wie in jener Sturmnacht auf dem See und in dürstendem Kusse fanden sich ihre Lippen.

Krachend fiel die Zirbe und warf ihren Stamm und ihr Gezweige über die gähnende Kluft.

War das dumpfe Brausen, welches durch die Lüfte ging, ein Echo ihres Falles? Hatte ihr Sturz die schlafenden Riesen im Gestein geweckt und sie gelöst aus tausendjährigem Bann? Wie das Rauschen eines nahenden Sturmes quoll es hernieder aus unsichtbarer Höhe, wuchs zu mächtigem Gerassel und fand ein donnerndes Echo an den gegenüberliegenden Wänden ...

Recka und Sigenot erwachten aus ihrer taumelnden Wonne und blickten um sich her mit traumverlorenen Augen. Es zitterte die Erde unter ihren Füßen, ein sausender Luftstrom peitschte ihnen Gewand und Haar, ächzend bogen sich die hundertjährigen Zirben, und brüllende Stimmen füllten die Bergschlucht. Reckas Augen glitten zur Höhe und jäh erblaßte ihr Gesicht. Sie sah das Verderben über die Felsen niederstürmen: eine weiße Riesenwolke, von braunem Rauch umflattert. Von ihren Lippen löste sich ein gellender Schrei, und die Angst des Todes sprach aus ihren erstarrten Zügen; doch nicht das eigene Leben war es, um welches sie bangte ...

„Recka!“ stammelte Sigenot und wollte die Geliebte mit den Armen schützend umschlingen, wollte sie decken mit seinem eigenen Leib. Doch sie, den einzigen Schutz erkennend, auf den in dieser stürzenden Not noch eine Hoffnung zu setzen war, stieß den geliebten Mann mit aller Wucht ihrer wilden Kraft dem Berghang zu, daß er rücklings in die Höhle taumelte. Mit hellem Aufschrei wollte sie ihm folgen, aber da fiel es schon wie weiße Sturzflut auf sie nieder, und die Steine prasselten.

Stöhnend hatte Sigenot sich aufgerafft, einen Schritt noch that er, wie durch weiße fließende Schleier sah er noch Reckas Haupt, ihr wehendes Rothaar und die winkenden Arme, hörte aus allem Donner und Toben noch ihren jauchzenden Ruf: „Ich liebe Dich!“ ... dann brach es vor ihm nieder mit schwarzer Nacht.

Die stürzenden Massen erfüllten die ganze Breite der Schlucht, und von allen Wänden lösten sich neue Lawinen. – –

Hoch über dem Albenthal, dessen Hütte Herr Waze und seine Söhne, der Richtmann und die Knechte in jagender Flucht zu erreichen suchten, geriet der ganze Berghang in rinnende Bewegung. Aus dem aufdampfenden Schneegewölk flogen braune Punkte hervor, erst wie springende Kiesel erscheinend, doch schon im nächsten Augenblick als mächtige Felsblöcke; in weitem Bogen wurden sie über steile Wände hinausgeworfen oder liefen wie kreisende Scheiben mit Windesschnelle über die Gehänge nieder, um jählings in tausend Splitter auseinanderzufahren.

Die Kräfte der Fliehenden gingen zu Ende, und schon rollte die sich dunkel färbende Lawinenwolke gegen das Albenthal. Knatternd fiel ein Regen von Steinen über den Grat hernieder, und lauter noch als das Kreischen der Angst erhob sich das Wehgeschrei der vom Steinschlag Getroffenen. Wen nicht eine springende Scholle zu Boden warf, der stürzte, da ihm der beißende Staub, aus Schnee und Sand gemischt, die Augen fast erblinden machte. Stöhnend rafften die Gestürzten sich wieder auf und suchten Rettung in neuer Flucht. Keiner hörte das Wehgeschrei, welches neben oder hinter ihm [463] erscholl, halb erstickt von dem die Lüfte erfüllenden Toben. Keiner dachte des anderen, jeder nur an das eigene Leben. Der Bruder kannte nicht mehr den Bruder, der Sohn den Vater nicht, und für die Knechte gab es keinen Herrn. Wer zu Boden lag, griff mit zuckenden Händen nach jedem Fliehenden, dessen Weg an ihm vorüberführte – und wer eine klammerude Hand an seinem Leibe fühlte, stieß mit den Füßen, riß und zerrte, bis er sich frei gemacht.

Immer dichter fielen die Steine, und die Stimmen der Lüfte und der brechenden Felsen verschmolzen sich zu schwebendem Gedröhn.

Allen Fliehenden voran war der Richtmann schon der Hütte nahegekommen, als eine springende Steinscholle seinen Schenkel traf. Stöhnend brach er zu Boden, wollte sich wieder aufraffen, doch die zerschmetterten Knochen versagten den Dienst. Er wußte, daß er verloren war – und wie nach einem bösen Sturmtag unter dem fernen Gewölk einher noch eine letzte schöne Röte der sinkenden Sonne schimmert, so sah der Sterbende vor seinen Augen als leuchtendes Bild, was seinem Leben teuer gewesen. „Liebli, mein guter Bub’! Mein Haus und Herd!“ Er schluchzte laut und bedeckte mit zitternden Händen das Gesicht.

Da tönte aus dem jammernden Geschrei, das auf dem halb schon überschütteten Hang sich noch vernehmen ließ, eine keuchende Stimme an des Richtmanns Ohr. „Der Heilige ... der Heilige hinter mir ... und sie lassen mich allein ... die Söhn’ den Vater ... die verfluchte Brut ...“ Ein Wehlaut unterbrach die röchelnden Worte. „Helfet! Helfet! Her zu Eurem Herrn, Ihr ungetreuen Knecht’!“ Mit heiserem Schrei erlosch die Stimme, und durch den Schleier des wirbelnden Staubes, durch den Hagel der Steine sah der Richtmann einen Klumpen Leben sich nähern, ein Lächeln des befriedigten Hasses überzuckte sein fahles Antlitz, er hob sich auf das unverletzte Knie und faßte die schwere Scholle, die ihn getroffen.

„Helfet, Helfet!“ klang es wieder in winselnder Angst. „Du gütiger Himmelsherr, so schau’ doch nieder auf meine Reu’ und hab’ Erbarmen! Ihr guten Heiligen, nehmet alles, was ich hab’, den ganzen Gadem, mein Roß und meinen Weißfalk ... höret, Ihr Heiligen, ich gelob’s ... ich laß’ Euer Kloster bauen aus festem Stein ... nur helfet, helfet ...“ Der Jammernde stürzte, rollte vor des Richtmanns Füße und versuchte sich wieder aufzurichten; die Kotze des Bauern geriet ihm unter die tappenden Hände, er klammerte sich an, zerrte sich in die Höhe und kreischte: „Helfet ... helfet ... ich zahl’ mit Gold und Spangen ...“

„Ich thu’s umsonst!“ klang mit heiserem Gelächter die Antwort, und die Faust des Richtmanns mit der schweren Scholle fiel. Ein gurgelnder Laut, ein starrer Blick noch in das Gesicht des Bauern, und Herr Waze überschlug sich auf dem steilen Hang, das zerschmetterte Haupt von Blut überronnen ...

Mit Getöse stürzten die dichten Massen des niederfahrenden Gesteins über den Grat einher, und eine mächtige Staubwolke, dem Sturz der Felsen vorangleitend, verhüllte den Todeskampf der wenigen, die noch lebten. Schon sausten die ersten Blöcke gegen die Hütte im Thal und brachen die morschen Balken. Springende Steine fuhren über das Schneefeld hin und flogen vorüber an dem flüchtenden Paar, das mit letzter Kraft durch den angewehten Schnee sich weiterkämpfte. Von blindem Grauen befallen, hatte Ruedlieb die Geliebte mit sich fortgerissen, des Weges nicht achtend, den er nahm. Nun stand er zitternd und starrte über die steile Felswand, welche sich niedersenkte zum Windacher See; sein irrender Blick sah in der Tiefe das weite Wasser, am Ufer zwei rennende Menschen und Pferde in rasender Flucht. Vor ihm der Abgrund, hinter ihm der stürzende Tod, der ihm den Vater schon genommen – da gab es nimmer Weg noch Rettung! Wohl versuchte er noch die Flucht am Rande der Felsen hin, doch Rötlis Kräfte waren zu Ende, und lautlos sank sie an Ruedliebs Seite in den Schnee. Schluchzend griff er nach ihr, riß sie empor an seine Brust und hielt die Taumelnde umschlungen. „Jetzt holt der Bid, was ihm verfallen ist!“ Er drückte die Lippen auf Rötlis Haar und schloß die Augen, den Tod erwartend, der unter Donner und Tosen auf springenden Felsen geritten kam. Wie ein grauenvolles Ungetüm schoß die den Sturz verhüllende Wolke über den Hang hernieder; aus ihrem Dunkel wurden mächtige Blöcke hervorgewirbelt wie Asche aus einem Schlot und ihr voran, gleich dem Brausen eines gewaltigen Sturmes, jagte die vom Sturz der Felsen angestaute Luft. Der sausende Windstrom faßte das Dach der halb zertrümmerten Hütte und wehte die Balken davon wie leichte Schindeln, die im Schnee versunkenen Latschenbüsche blies er von der Erde weg, und als er die beiden Menschen erreichte, die sich zitternd umschlungen hielten, ergriff er sie und trug sie wie auf unsichtbaren Händen in weitem Fluge über den Abgrund hinaus, daß ihnen Atem und Bewußtsein schwand ...

Unter dem donnernden Widerhall, welcher rings im weiten Thal über alle Wände rollte, stürzten die Massen der gebrochenen und zu Geröll zerschmetterten Felsen in den Windacher See, dessen aufgewühlte Fluten haushoch über die Ufer schwankten. Mit dröhnendem Klang zerbarst die Felswand über den Schluchten der Windach, und der aus seiner tausendjährigen Haft befreite See ergoß sich mit tosendem Rauschen über das Thal.

Eberwein und Eigel, welche dem Ausfluß der Windach nahe waren, sahen die Felswand auseinanderfallen und das Wasser kommen. Mit bleichen Gesichtern standen sie und gedachten erst der eigenen Rettung, als die niederbrausenden Fluten schon die Schlucht der Windach in ihrer ganzen Breite füllten und brüllend näherschossen. „Wahr’ Dich, Herr!“ stammelte Eigel, faßte den Arm des Mönches und riß ihn gegen den Berghang. Keuchend klommen sie zwischen den Bäumen empor, um dem Weg der fallenden Gewässer zu entrinnen. Schon hatten sie gesicherten Grund erreicht – da wich unter einem Tritt des Kohlmanns die Moosdecke, er stürzte und kam auf dem vom Regen durchweichten Hang ins Gleiten.

„Barmherziger Gott!“ schrie Eberwein und sprang, der eigenen Gefahr nicht achtend, auf den Stürzenden zu. Doch es brausten schon die Fluten heran, und eine über den Hang emporspülende Welle erfaßte den Greis und schleuderte ihn an einen Baum. Lautlos kollerte Eigel über das Netz der Wurzeln, aber ehe das schießende Wasser ihn verschlingen konnte, hielt ihn Eberwein schon umkiammert mit beiden Armen, von einer springenden Welle übergossen, gewann er mit seiner Last den sicheren Grund und bettete das Haupt des Kohlmanns in seinem Schoß. Da sah er, daß von Eigels Schläfe das Blut in dicken Tropfen durch die grauen Haare sickerte ... es war ein Sterbender, den er gerettet.

Kaum eines Wortes mächtig, beugte sich Eberwein über den Kohlmann und nestelte am Hals aus seiner Kntte eine Schnur hervor, an welcher ein Kreuzlein hing. Er wollte das heilige Zeichen dem Sterbenden zum Kusse bieten. „Der Gott der Liebe wird Dir gnädig sein ... blick’ auf zu ihm!“ Da lief ein Zittern über die Glieder des Greises, seine Augen wurden starr, er kämpfte, als wollte er sich erheben, als möchte er sprechen, und faßte mit gierigem Griff – nicht das Kreuz – sondern die seltsame Reliquie, welche mit dem heiligen Zeichen an die gleiche Schnur gebunden war: die Hälfte eines entzweigesprungenen Beinreifs, braun vor Alter, mit halb verwischten Runenzeichen. „Salmued!“ Dieses eine Wort nur rang sich von den Lippen des Sterbenden, und das Brausen der thalwärts stürzenden Gewässer verschlang den zitternden Laut. Eigels knöcherne Finger, die den Reif umklammert hielten, zuckten wie im Krampf, und seine Glieder streckten sich. Ein umflorter Blick noch suchte die Augen des Mönches, und flüsternd hauchte der erbleichende Mund: „Die gute Zeit ...“

Eberwein verstand den letzten Seufzer dieses erlöschenden Lebens nicht. Er sah die Augen des Greises brechen, drückte mit zitternden Armen den Erlösten an sich und küßte die kalte Stirne. Er wollte beten, doch die Worte versagten ihm. Tosend rauschten zu seinen Füßen in endlos wachsendem Schwall die entfesselten Fluten vorüber, den Wald und die Felsen brechend, die Zerstörung niederwälzend auf bewohnte Stätten. Vor seinen irrenden Blicken erschien das weite Thal der Ramsau, er sah die einsame Kirche und das verödete Pfarrhaus, die stillen Hütten rings umher und ihre Menschen. Er sah im Geiste schon die Dächer stürzen und hörte das Angstgeschrei der bedrohten Geschöpfe. Zitterndes Grauen befiel ihn, und aus seinem gemarterten Herzen rang sich der bange Aufschrei. „Gott der Liebe! Wo bist Du?“

Nur der Donner über den Bergen, nur das Rauschen und Toben der stürzenden Fluten gab die Antwort ...

Wie von den bleichen Lippen des Mönches, so flog in dieser Stunde der Vernichtung auch aus der Seele eines anderen in Zweifel und Jammer ein Gebet zum Himmel auf. Hinter dem König Eismann, in der schwarzen Finsternis der verschütteten Höhle, taumelte Sigenot zwischen den erzitternden Felsen umher und schrie. „Du Starker, Du! Ich hab’ gehalten zu Dir! Jetzt halt’ zu mir! Jetzt thu’ mir den Weg auf! Laß mich zu ihr! [464] Zu ihr!“ Doch seine schreiende Stimme erstickte der dumpfe Donner, der ihn umrollte. In Qual und Verzweiflung riß er mit den Händen am Gestein und zerrte an dem wirren, von Schnee und Geröll durchsetzten Astwerk, welches den Ausgang der Höhle verschloß. Da begann der Steingrund unter seinen Füßen sich zu bewegen gleich einer Wiege, und aus der Tiefe des Berges kam ein Klang, der mit Messerschärfe in Sigenots Ohren fuhr. Jähe Helle fiel ihm in die Augen, und langsam wichen vor ihm die Felsen auseinander wie die Flügel eines Thores. Aufschreiend that er einen Sprung ins Freie, doch eh’ er noch wußte, wo er stand und wohin er sich wenden sollte, verging ihm Hören und Sehen. Eine Schneewelle hob ihn empor, spülte ihn aufwärts gegen die höhere Schlucht, und während er zwischen Gestein und Schnee bewußtlos lag, fuhr ein Riß, bei der die Schlucht durchquerenden Spalte beginnend, über die kahlen Felsen hinauf, und die vom Stock des Berges losgetrennte Steinwand neigte sich vornüber. Donnernd stürzten die gewaltigen Massen über den See. Ihr Fall zerteilte die Flut, zwei weiße Wassermauern hoben sich turmhoch auseinander, und während die eine zur Linken in den Kessel der Berge rollte, wälzte sich die andere zur Rechten gegen das Thal der Ache. Mit Schäumen und Brausen wuchs und stieg die laufende Mauer noch, je mehr das Seethal sich verengte, und auf ihrem Wege spülte die riesige Welle den Wald vom Berghang weg wie einen Haufen Späne ...

Im Fischerhause hatten sie den Donner des fallenden Gesteins vernommen. Sie sahen über dem Kessel des Weitsees eine Wolke dampfen und hörten das Sausen und Rauschen des kommenden Wassers. Die Magd stand vor der Hausthür und rang die Hände, bleich und zitternd kam Kaganhart, die Leiche seines Weibes verlassend, aus der Kammer des Knechtes gerannt, und Wicho stand auf dem Lugaus, mit verstörtem Gesicht, die Finger in das Haar geklammert. Immer näher kam das Toben und Brausen; ein sausender Wind, weißen Schaum in die Lüfte peitschend, flog über den See einher, und die turmhohe rollende Wassermauer tauchte um die Falkenwand, auf der einen Seite den steigenden Bergwald mit Fluten überschüttend, auf der anderen Seite ihre Springwellen emporschleudernd bis zu der um Wazemanns Haus gezogenen Ringmauer.

Das Geschrei der Mägde und die heulenden Stimmen der gefangenen Raubtiere tönten vom Falkenstein hernieder, während Heilwig und Kaganhart in rasender Hast über die Lände gegen den waidigen Berghang flüchteten. Wicho sprang vom Lugaus nieder und stürzte in das Haus. „Mutter Mahtilt! Mutter Mahtilt!“ Schrill klang seine Stimme; doch andere Worte brachte er nicht mehr über die Lippen, er lallte nur und deutete mit den Armen. Starr sah ihm das bleiche Gesicht der Greisin entgegen. Er wollte sie umschlingen, aber sie wehrte sich und lachte, mit beiden Händen sich anklammernd an die Lehnen ihres Sessels. Gewaltsam riß er sie empor und hob sie auf die Arme, und während er keuchend mit seiner Last die Thüre suchte, streckte Mutter Mahalt unter gellendem Gelächter noch die Hände nach dem Herd. Wohl erreichte Wicho das Freie. Doch über die Lände wälzte sich schon, doppelt so hoch als der Hügel mit dem Haus des Fischers, der bransende Wasserberg heran, mächtige Felsblöcke wie leichte Kiesel vor sich herschwemmend und einen Wust von gebrochenen Bäumen ausschleudernd nach allen Seiten.

Wichos Knie versagten, zitternd stand er und klammerte die Arme um die Mutter seines Herrn, während in das Brausen der stürzenden Flut das Gebrüll der Rinder sich machte, die zwischen den Wänden ihres Stalles die Nähe einer Gefahr erkannten. Kalkige Blässe deckte das Gesicht des Knechtes, doch über Mutter Mahtilts bleiche Züge ging es wie ein Leuchten. Sie hob die Arme, und mit heller Stimme klang es von ihren Lippen. „Gelfrat! Gelfrat!“ Die Nähe des Todes hatte ihre stumme Zunge gelöst. Noch einmal rief sie den Namen des geliebten Mannes, den ihr der See genommen, und streckte die Hände den anrauschenden Wellen entgegen. Brausend stürzte sich die Wassermauer über den Hügel hin – ein Krachen und Dröhnen von brechendem Gebälk – und die tobende Flut verschlang, was Sigenots Hag umschlossen hatte.

Immer weiter wälzte sich die zerstörende Riesenwelle, und ihr Rauschen quoll über das Thal hinaus und fand das Ohr der Menschen, welche in bleichem Schreck aus ihren Hütten rannten. Thal auf und nieder flog das Gespenst der Furcht und faßte alle Gemüter. Aus der stundenlangen Waldschlucht hervor, in welcher die Schmiede des Ilsankers lag, bis zu den Halden der Strub hin hörte man schon das ferne Brausen der Gewässer, welche die Ramsau überschwemmten. An den Wänden des Untersberges erwachte ein summendes Echo, während vom König Eismann über den Gadem einher ein leises Brummen, bald stockend, bald wieder anschwellend, bis zum Lokiwald durch die Lüfte quoll.

Bruder Wampo trat aus der Klause und blickte nach allen Seiten. Schweiker, das Beil in der Hand, kam zögernd vom Waldsaum herangeschritten.

„Was ist denn schon wieder?“ fragte Wampo. „Hörst denn nicht?“

„Wohl wohl!“ nickte Schweiker und blieb lauschend stehen. „Es kann doch kein Unwetter aufziehen! Ist ja der ganze Himmel blau!“ Bruder Wampo verstummte, denn er sah, daß Pater Waldram aus der Kirche trat, gegürtet und mit dem Stab in der Hand. Erst machte der Bruder erstaunte Augen, dann eilte er auf den Pater zu. „Herr?“ Waldram wandte das Gesicht; seine Züge waren bleich wie das Antlitz eines Toten, doch gleich zwei Flammen brannten seine Augen; was aus ihnen leuchtete, war wie das lodernde Feuer im Blick des Kriegers, der den Ruf zur Schlacht vernommen. Der Bruder fühlte die flammende Kraft dieses Blickes, und scheu vor dem Pater zurücktretend, fragte er: „Herr, wohin gehst Du?“

„Wohin die Stimme Gottes ruft! Leget Ihr anderen die Hände in den Schoß und sehet zu, wie des Herrn Zorn die Berge stürzt ... ich aber folge seinem Ruf, denn meine Stunde kam!“ Weit ausholend mit dem Stabe, schritt er dahin, vom Sonnenglanz des zur Neige sich wendenden Tages umwoben.

Die Brüder standen schweigend, und einer suchte den Blick des anderen. Als Waldram unter den Bäumen verschwunden war, atmeten sie auf, und Bruder Wampo schüttelte den Kopf. „Er könnt’ einem Angst machen!“ Ein Schauer rüttelte ihn, und hastig bekreuzte er Gesicht und Brust; dann wieder lauschte er dem fernen Murren und dem summenden Echo.

Schweiker hatte die Hand über die Augen gedeckt und spähte in die Weite. „Schaü’ doch einmal ... ich weiß nicht, was ich seh’ da draußen. Ueber den Schönsee ziehen Nebel her ... aber sie schauen sich braun und grauslich an.“

Kaum hatte Bruder Wampo in die Ferne geblickt, da schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. „O Gottes Wunder! Zu Wazemanns Bannberg schau’ hinauf ... der Heidenkönig Eismann ist christlich worden und schlägt ein Kreuz!“

Auf den silberweißen, in heller Sonne glänzenden Schneegehängen des steil in die blauen Lüfte ragenden Bergriesen erschienen zwei dunkle, schräg sich kreuzende Striche. Noch ein Augenblick der Ruhe – und vor den entsetzten Sinnen der beiden Brüder vollzog sich ein Zerstörungswerk, gewaltig und furchtbar. Immer dunkler, in die Breite wachsend, erschienen auf dem hochliegenden Schneegehäng des König Eismann die quer durcheinander laufenden Rinnen. Während über ihnen der Gipfel des Berges noch sein unverändertes Bild bewahrte, überwälzte sich unterhalb dieser gleitenden Risse der Schnee auf weite Flächen, und aus dem zerfetzten weißen Kleide tauchte die nackte graue Brust des steinernen Riesen hervor. Zugleich auf allen Seiten begann ein Spalten und Auseinanderklaffen, ein Brechen und Stürzen des gewaltigen Felsenhauptes. Es schien, als wären die finsteren Mächte, welche Jahrtausende lang in diesem Gestein geschlummert, jählings zum Leben erwacht, als hätten sie sich verbündet zu einer unerhörten That. Mit rasender Schnelle stürmten sie dem Thal entgegen; nur wenige Augenblicke, und auf dem weiten Unterstock des fallenden Berges waren lange Thäler zugeschüttet und über ihnen neue Felsenhügel aufgeworfen, über welche hinweg die stürmende Todesjagd der ungeheuren Massen thalwärts ging. Die ganze Höhe war verwandelt in ein wirbelndes Chaos, und immer trüber verhüllte sich der rasende Wechsel all der schaudervollen Bilder; denn wie auf einer Brandstätt der aus Thür und Fensterhöhlen strömende Rauch zu dicker Schwade über dem Dach sich sammelt, so flossen die von den auseinanderfahrenden Trümmerströmen aufdampfenden Staubwirbel zu einer ungeheuren Wolke ineinander, deren züngelnde Ränder im Schein der Sonne mit Flammenröte sich färbten, während den finsteren Kern des rollenden Ungetüms ein fahles Leuchten durchlief wie von zuckenden Blitzen.

Nun kam es über den weiten Gadem zum Lokiwald gezogen – erst wie ein dumpfes Tönen nur, darauf ein Aechzen und ohrzerreißendes Knirschen, ein Knattern und Gerassel, das zu Krachen und Sausen wuchs, zu dröhnendem Donner. Unter dem Sturmwind, welcher einherflog über den Gadem, beugten sich alle Wälder, [465] es brachen die Bäume, und der jagende Wind trug aus dem Thal das Angstgeschrei der Menschen bis zur Klause. Schweiker und Wampo, welche auf den Knien lagen, mit erhobenen Händen und in lautem Gebet, vernahmen aus dem Thal eine Männerstimme wie das Gebrüll eines Stieres: „Es kommt der Berg! Laufet! Laufet! Es kommt der Berg.“ Die Brüder sprangen auf, betäubt und wie von Sinnen.

„Das jüngste Gericht! Das End’ der Welt! O guter Herre, sei gnädig dem armen Sünder!“ lallte Bruder Wampo, ins schlammige Moos gedrückt.

Schweiker taumelte und seine verstörten Augen suchten die Gehänge des Göhl. Eine Staubwolke sah er niedergleiten über die Wände, und ihre Straße ging den Halden zu. „Hinzula!“ Und wie ein Hirsch, der schon den Pfeil des Jägers nach seinem Herzen fliegen sieht, sprang Schweiker über die Lichtung hin, dem gebrochenen Wald entgegen.

„Bruder, ach, Bruder, verlaß mich nicht! Wir wollen selbander zum Himmel fahren!“ kreischte Wampo; er raffte sich auf und begann, dem schon Verschwundenen folgend, mit schlotternden Knien die Flucht, Gebete lallend und strauchelnd bei jedem Sprung.




Konkurrenten.
Nach einer Originalzeichnung von M. Plinzner.


34.

Durch das schöne Thal hin schritt der Tod, Hand in Hand mit seiner Schwester, der Zerstörung. Auf jeder Stelle weilten sie und waren allgegenwärtig an allen Ecken. Auf den Fluren der Ramsau schritten sie den brausenden Fluten voran, welche die Häuser brachen und die wehrlosen Menschen verschlangen … auf den Halden im Gadem folgte ihrem Fuß das stürzende Gestein und der alles erstickende Schutt des gebrochenen Berges. Hoch über dem Falkenstein, an einer scharfkantigen Bergrippe, teilte sich der sausende Wust der mit zahllosen zersplitterten Bäumen durchmischten Trümmer, und während der eine Strom zum Schönsee niederfuhr, jagte der andere gegen die Halden der Schönau. Wazemanns Haus blieb unversehrt; nur verirrte Steinschläge prasselten über Dach und Mauern, und die gleitende Staubwolke hüllte Haus und Hof in schwärzliches Dunkel. Der Hag des Grünsteiners, mit Menschen und Vieh, und das Gehöft der Hanetzer Buben fielen als die ersten Opfer; Hütte um Hütte verschwand in der rollenden Wolke, und ihrem Wege voran ging ein Gewirbel von Dachteilen, Balken, Heu, Getreidegarben, und wie fliegende Boten des Verderbens sausten ihr einzelne Felsen voraus, alles zermalmend, was sie trafen auf ihrem Pfad.

Auf freier Halde stand eine Schar betäubter Menschen, unter ihnen der Hanetzer, der Schmied von Ilsank und der Köppelecker. Der stürzende Berg hatte sie aufgehalten auf dem Wege zu Wazemanns Haus. Als sie nach lähmendem Schreck ihrer Sinne und Glieder wieder mächtig wurden, begannen sie zu fliehen wie ein Rudel verscheuchten Wildes; sie wandten sich bald zur Rechten und bald zur Linken, standen und starrten umher und flohen wieder. Von allen Hütten kamen die Flüchtenden, die einen mit armseliger Habe beladen, die anderen ihre Kinder schleifend. Die Ermatteten, denen die Glieder versagten, warfen sich mit dem Gesicht zu Boden, stumpf das Ende erwartend. Andere sanken auf die Knie und begannen mit erhobenen Armen zu beten – sie lallten und wußten nicht, was sie beteten, und wußten nicht, zu wem. Die Stunde der höchsten Not und der Hauch des Todes, den sie schon fühlten auf ihren bleichen Wangen, trieben mit Gewalt in ihre zitternden Herzen den Glauben: es müsse doch einer sein, welcher stark sei wider alle Not, auch stark noch wider stürzende Berge. Und während sie lallten in Todesangst und nicht wußten, wo sie diesen Einen suchen sollten, hörten sie durch den Hagel des Gesteins und durch die Schleier des dampfenden Staubes eine klingende Stimme: „Heran zu mir! Ihr alle, nach denen der Tod die Hände streckt! Heran zu mir! Bei mir ist Gott! Bei mir der Himmel und die Hilfe! Heran zu mir!“ Sie lauschten mit [466] Zittern, sie sprangen auf, sie streckten die Arme, und schluchzend rannten sie, um den Gott zu suchen, bei dem die Hilfe wäre.

Hinter Waldrams Schritten wuchs die Schar. Zitternd nach allen Seiten starrend, begannen sie die Worte nachzureden, die er mit hallender Stimme betete. Und je länger sie sahen, wie dieser Mönch, durch keine Gefahr beirrt, leuchtenden Auges jedem Unheil entgegenschritt, desto mehr befiel es die Herzen dieser Menschen wie ein Rausch der Hoffnung; immer lauter wurden ihre Stimmen, und die lallenden Gebete hoben sich zu trunkenem Geschrei. Häuser stürzten, und sie sahen es nicht – Menschen fielen, und über die zerschmetterten Körper schritten die Verzückten hinweg ...

Immer dünner wurde der Hagel des Gesteins, und schwächer rollte schon über den Bergen das donnernde Echo. Nur vereinzelte Blöcke kamen noch aus der Höhe und schwangen sich in weiten Sprüngen über den zermalmten Schutt. Ein Fels, wie ein Haus so groß, wälzte sich durch den Hag des Richtmanns und drückte die leeren Ställe nieder, schon hatte der Lauf des Blockes sich gemindert, doch auf geneigter Halde kam er wieder ins Rollen. Gegen die Trümmerstätte, die einst das Hans des alten Gobl getragen, nahm er seinen Weg.

Vor dem zerfallenen Dächlein saß der Alte; mit den dürren Armen hielt er auf seinem Schoß den zitternden Knaben umschlungen, der das Gesicht in Gobls zerlumpte Kotze vergrub. Als der Sturz begonnen, hatte der Greis den schlummernden Buben vom Heusack aufgerissen, um mit ihm zu flüchten; doch nach wenigen Schritten schon hatte die Last seine mürben Knie niedergedrückt. „Jetzt, Büebli, jetzt kommt er, auf den ich wart’!“ Doch er fand bei diesen Worten nicht mehr das alte Lachen. Seine Stimme schwankte, und mit Kopf und Armen deckte er das Haupt des Knaben, als der steinerne Hagel durch die Lüfte ging. Da löste sich der wirbelnde Staub und das Gedröhn der Berge begann zu verstummen. Gobl atmete auf und streichelte mit zitternder Hand das Haar des Knaben. „Schnauf’, Büebli, schnauf’ ... die Berg’ haben ausgerumpelt, und all’weil leben wir noch!“

Da tauchte über sinkenden Büschen jener Felsblock auf wie ein steinernes Ungetüm; doch die Kraft seines Laufes war schon gebrochen; kollernd wälzte er sich über die faulen Reste des Hags, zerquetschte den Apfelbaum und hob sich noch ein letztes Mal auf die Kante – fiel er, so lag die Trümmerstätte des Hauses mit den beiden Menschen unter ihm begraben. Schreiend hatte Gobl sich aufgerafft, und da er die Kraft nicht mehr besaß, den Knaben zu tragen, versetzte er ihm einen Stoß, daß Huze seitwärts niederrollte über die schiefen Balken und Moosfladen des zerfallenen Daches. Unter der Wucht des Stoßes kam der Alte selbst zu Fall und kollerte dem Vlock entgegen. Schon fiel der Block – da wich unter seiner Last die durchweichte Erde, im Fallen drehte sich der Fels und, halb in den Grund versinkend, legte er sich seitwärts nieder. Dicht neben Gobl drückte sich eine Kante des Blockes in den Boden und zog die Kotze des Greises mit sich hinunter. Der Alte riß und zerrte wie ein junger Hund, der zum erstenmal die Schlinge des Riemens an seinem Halse spürt, dabei keuchte er den regungslosen Felsblock an: „He, Du! Hast mich selber übrig gelassen, so laß auch meinen Kittel aus!“ Doch der Stein hielt fest. Gobl mußte aus den Aermeln schlüpfen und den Rock im Stiche lassen. Da hinkte und kroch ihm schon der Bub’ entgegen. „Gobl-Aehni! Gobl-Aehni!“

„Büebli! Mein gntes Büebli Du!“ Mit den Armen umschlang der Greis den Knaben und herzte ihn unter Lachen und Weinen.

„Gelt, Aehni, gelt, der gute Vater im Himmel hat geholfen?“ schluchzte der Bub’.

„Wohl wohl!“ Die nassen Augen des Greises suchten den hinter dampfendem Staub verdeckten Himmel. „Es muß doch ein Guter und Starker sein, der sell da droben!“ Er drückte den Knaben an sich, während ihm die Zähren in den Bart rollten ....

Auf den Bergen war es still geworden; nur in Zwischenräumen ließ sich von den Höhen hernieder noch dumpfes Gepolter vernehmen, welches das Rauschen der Gewässer übertönte. Ein unruhig wechselnder Wind trieb die Staubwolken und wo der braune Schleier auseinanderriß, enthüllte er Bild um Bild der grauenvollen Zerstörung. Doch was die Ueberlebenden auch immer an Unheil gewahren konnten – der wehende Staub und das sinkende Licht des Tages waren barmherzig und verhüllten den Blick ins Weite: es erwachte in den Menschen keine Ahnung der ganzen Vernichtung, welche über das Thal und seine Bewohner gefallen war. Allmählich nur erholten sich die Geretteten aus ihrer Betäubung und lähmenden Todesangst. Geschrei ertönte auf allen Seiten, herzzerreißendes Klagen, nur selten ein Ruf der Freude und ein Jauchzen des Wiedersehens. Auf freier halb von Geröll übergossener Halde lag Waldram auf den Knien, die Arme zum Himmel gestreckt, die Augen in Verzückung leuchtend, und betete mit hallender Stimme. Aber die Schar, die ihn umdrängte, wurde immer kleiner. Jeden trieb es, nach den Menschen zu suchen, die ihm teuer waren, jeden zog es zu seinem Haus und Herd. Ein wirres Laufen und Rennen begann, und einer schrie den anderen an: „Hast meinen Vater nicht gesehen, mein Weib, meine Kinder? Steht mein Haus noch oder liegt’s?“ Sie rannten und suchten, und mancher war, welcher suchte und nimmer finden konnte. Je näher sich die Schönau gegen den Stock des König Eismann hinzog, desto furchtbarer zeigte sich das Bild der Zerstörung, desto lauter schallten die Klagen der den Schutt Durchirrenden. Mit kalkweißem Gesicht kletterte der Hanetzer über die Felstrümmer, die Stätte suchend, auf welcher sein Haus gestanden. Er fand sie nicht; doch seine Brüder kamen, die sich durch Flucht gerettet. Er hatte keinen Blick für sie, kein Ohr für ihren Jammer. Mit verzerrtem Antlitz stand er und starrte durch den wehenden Staub empor zur Höhe der Falkenwand, von welcher Wazemanns Haus über gebrochene Wipfel niederblickte. „Das meinig’ liegt ... und das seinig’ steht noch all’weil!“ keuchte er, faßte die Brüder am Arm und schüttelte sie. „Mir nach! Nimmer leben will ich ... oder sein Haus muß fallen!“ Er riß einen zermalmten Holzstrunk aus dem Schutt und stürzte dem nächsten Gehöft entgegen, dessen Haus in Trümmern lag, mit rauchenden Balken; das Herdfeuer hatte das zerschmetterte Dach entzündet, und vor dem glostenden Haufen stand der junge Bauer mit seinem Weib in wortlosem Jammer. Der Hanetzer packte ihn an der Brust. „Liegt das Deinig’ auch? So schau’ hinauf: das seinig’ steht noch! Aber nimmer leben will ich, oder es muß sein Haus noch fallen vor der Nacht!“ Mit glasigen Augen stierte ihn der Bauer an; sein Weib aber riß aus dem Trümmerhaufen einen glühenden Storren hervor, schwang ihn durch die Luft, daß die Flamme erwachte, und kreischte: „Brauchst Feuer?“

Mit heiserem Gelächter faßte der Hanetzer den Brand und eilte den anderen voran. Von einer Trümmerstätte zur nächsten trug er die lodernde Flamme und den Schrei seiner Wut; es wuchs der Trupp, Männer und Weiber gesellten sich zu ihm, ünd über die Schutthügel stürmte der Haufe gegen Wazemanns Haus empor. Die heiße Lust, den alten Haß zu kühlen, überfiel sie wie ein Labsal in ihrem Jammer, wie eine Betäubung ihres Schmerzes ...

Die kreischenden Stimmen mischten sich mit dem dumpfen Rauschen, welches von der zur Ramsau führenden Waldschlucht ausging und mit wachsendem Hall über den weiten Gadem tönte.

Schon waren die Halden der Strub überschwemmt von dem brausend dahinschießenden Wasser; entwurzelte Bäume, Hausgerät und behauene Balken trieben auf den schlammigen Wellen. Tosend nahmen sie durch das Thal hin ihren Weg, und aus allem Rauschen tönte das hohle Gepolter der Felsblöcke, welche sie rollten auf ihrem Grund. Den weiten Lokiwald umkreiste die Flut und vereinigte sich mit den hochgestiegenen Wellen der aus dem Schönsee kommenden Ache. Schon war die Stätte überschwemmt, auf welcher die Brüder in jener ersten Nacht gelagert hatten, und mit Toben strömten die Gewässer in das enge Waldthal ein das hinausführte zur fernen Salzaburg ...

Weit draußen in der Waldschlucht tönte eine jammernde Stimme: „Bruder Schweiker! Bruder Schweiker!“ Erschöpft und atemlos, von Todesangst in allen Knochen geschüttelt, suchte Wampo zwischen Gestein und Büschen den Weg, auf welchem, wie er meinte, Bruder Schweiker geflohen wäre. „Bruder Schweiker! Bruder Schweiker!“ klang der schluchzende Ruf, den das näher und näher tönende Brausen schon halb übertäubte. „Schweiker, Schweiker! Ja hörst denn nicht? Bist Du denn auch noch ein Bruder nach Christi Wort? Schweiker! Schweiker!“

So bang der Rufende auch lauschen mochte, er hörte keine Antwort; stöhnend und unter Stoßgebeten kämpfte er sich weiter durch das wirre Gestrüpp, dann wieder stand er zitternd und starrte mit entsetzten Augen rückwärts über das Thal. Er hörte das dumpfe Rauschen und sah über das welke Laub der Büsche graue Buckel auf- und niedertauchen gleich springenden Mäusen. Und bevor in seinem wirren Kopf noch ein Gedanke erwachen konnte, waren die kleinen Mäuse schon gewachsen und schossen [467] durch das brechende Gebüsch einher mit klotzigen Rücken. Da kam dem Bruder in seiner blinden Betäubung und schlotternden Angst nichts anderes zu Sinn als jenes Abenteuer des ersten Tages. „Allmächtiger Gott! Hinter mir die wilden Säu’!“ So kreischte er und begann zu springen. Der neue Schreck verlieh ihm neue Kräfte, und mit schlagenden Armen warf er sich durch die Büsche, während hinter ihm ein Brechen und Rauschen sich näherte, als hätten in dem engen Waldthal sich die Wildschweinherden aller Welt gesammelt. Schon ging dem Bruder der Atem aus, als er nah’ vor sich einen die Büsche überragenden Felsblock gewahrte. Schreiend faßte er das niederhängende Gezweig, gab sich einen verzweifelten Schwung und erreichte glücklich eine Stufe des Blockes. Doch als er die Hände streckte, um die Höhe des Felsens zu erklettern, fuhr ihm etwas zwischen die Beine, naß und kalt – und das war kein wildes Ferkel. „Schweiker!“ keuchte der Bruder noch, dann flog er mit einem Purzelbaum über den Block hinweg. Doch er fiel nicht hart; schon hatten unter ihm die schießenden Fluten den Fels umrauscht, eine hohe Welle fing ihn auf, und von der gebauschten Kutte wie von einem Luftsack über Wasser gehalten, segelte Bruder Wampo mit jagender Eile durch das Waldthal hin. Hätte er auch den schnellsten Renner aus des Kaisers Stall zwischen den Knien gehabt, er hätte der „schiechen Gegend“ nicht flinker entrinnen können.

Wohl verging ihm Hören und Sehen vor Todesangst, aber dennoch behielt er so viel Bewußtsein, um zum erstenmal in seinem Leben dem Himmel aus ehrlichem Herzen für das wohlgemessene Bröcklein Fett zu danken, das ihm eine allgütige Vorsicht zwischen Haut und Knochen gelegt. Er konnte nicht sinken! Und als er trotz dieses beruhigenden Trostes in verzweifelter Angst zu zappeln und um sich zu schlagen begann, daß die Luftblasen aus der Kutte wichen und das Wasser ihn umgurgelte bis zum Hals, da fegte ihn eine aus der Flut einhergaukelnde Tanne mit ihrem dichten Gezweig aus den Wellen heraus, als wäre sein rundes Erdengewicht nur ein Flöcklein Wolle. Triefend und zitternd, mit unglaublicher Schnelligkeit klomm er über die schwimmenden Aeste empor, ünd als er sich in den Zweigen eingenistet hatte, erquickte ihn ein schüchterner Atemzug der Hoffnung. Er hielt sich an die Zweige festgeklammert und regte sich nicht; nur manchmal versuchte er mit bleichen Lippen einen Ruf. „Schweiker ... Schweiker ...“ Der Laut ging unter im Gebraus der Wellen. Aber hätte Bruder Wampo in seiner Kehle auch die Stimme eines Riesen getragen – es hätte der Ruf doch nimmer Schweikers Ohr erreicht.

Hoch über dem Thal, das die tobenden Fluten füllten, keuchte Schweiker im halb zerstörten Bergwald über den steilen Hang empor. Sein Atem war wie ein Röcheln, und in dicken Tropfen rann ihm der Schweiß über das Gesicht, auf dessen fahlen Wangen rote Flecken brannten. Taumelnden Schrittes, mit zitternden Händen jeden Halt erfassend, gewann er den Waldsaum. Auf der freien Halde, auf welcher sonst kein Stein gelegen, gewahrte er mächtige Felsblöcke, grauen Schnee und zerstreutes Geröll – und über der Halde sah er wohl des Greinwalders Hag, von Lücken klaffend, doch hinter dem Hag kein Haus und Dach. Mit dumpfem Schrei warf er die Arme in die Luft und begann von neuem zu rennen. Als er wankend das Thor erreichte, sah er den Balkenwust, zu welchem das Haus zerfallen war. Die Bäuerin lag auf den Knien, hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt und schluchzte, während der Bauer einen Dachsparren vom Trümmerhaufen hinwegzuzerren versuchte und mit jammernder Stimme immer wieder den Namen seines Kindes schrie. Schweiker stand wie gelähmt; dann plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper, er spuckte in die Hände, stürzte auf die Trümmer des Hauses zu und faßte einen Balken. Mit schier übermenschlicher Kraft hob er das schwere Holz und warf es zur Seite – und so löste er Sparren um Sparren vom Haufen des Gebälks. Als der Bauer und sein Weib den Bruder solche Riesenarbeit leisten sahen, verstummte ihr Jammer, schweigend griffen sie zu, und jeden Balken, den Schweiker hinter sich warf, schleiften sie von der Stelle, um Raum zu schaffen für den nächsten. Schon zeigte sich im Wust der Trümmer eine dunkle Höhlung. Zitternd beugte sich Schweiker vor und keuchte: „Hinzula? Lebst noch?“

„Wohl wohl!“ klang aus dem Gebälk und Schutt hervor das matte Stimmlein der Hirtin.

Unter Schluchzen und Lachen griff Schweiker nach einem Balken und hob ihn achtsam, damit nur ja kein Splitter und kein Bröselein des Schuttes sich bewegen möchte. Dabei sprach er mit Worten rührender Zärtlichkeit in die dunkle Grube hinunter und mahnte die Verschüttete, tapfer auszuhalten und kein Fingerlein zu rühren. „Ich helf’ Dir schon, wohl wohl, thu’ Dich nur nimmer bangen!“

„Mir banget nimmer ... ich seh’ Dich ja schon!“ klang es matt unter den Balken hervor.

Schweiker schluckte, und die Zähren tropften ihm über den Bart. Er hob die Balken, daß ihm an Hals und Schläfen die Adern zu dicken Striemen schwollen, und grub mit den Händen im Schutt, daß ihm alle Nägel brachen. Schon konnte er das bleiche Gesichtchen der Hirtin erkennen, welche mit zuckendem Lächeln zu ihm aufblickte. Aufrecht stehend war sie bis an den Hals zwischen Schutt und Balken eingemauert. Je näher Schweiker der Verschütteten kam, desto emsiger flogen seine Hände ... und endlich hatte er sie herausgeschält, so daß er sie mit den Armen umschlingen konnte und emporheben aus dem zerfallenden Schutt. Er hielt sie an seine Brust gedrückt und taumelte über die Balken nieder auf ebenen Grund. Seine Knie trugen ihn nicht länger. Er sank zu Boden, und auf der Erde sitzend, umklammerte er auf seinem Schoß die Hirtin mit zitternden Armen und bedeckte unter zärtlichem Stammeln ihr Haar, ihre Augen und ihren Mund mit heißen Küssen. Hinzula regte sich kaum, erst nach einer Weile konnte sie die gequetschten Glieder rühren und bewegen ... und da schlug sie die Arme um Schweikers Hals, daß ihm die Stimme erlosch.

Die beiden hielten sich umschlungen, als wollten sie nimmer und nimmer voneinander lassen, als hätte die Erde und der Himmel keine Macht mehr, die mit dem Kitt der höchsten Todesangst und tiefsten Lebensfreude gebundenen Herzen wieder zu lösen. Doch als die wortlose Seligkeit der beiden gar kein Ende nehmen wollte, stieß die Bäuerin den Ellbogen an den Arm ihres Mannes und murrte: „Alles, was recht ist ... aber jetzt könnt’ er uns die Dirn’ doch auch ein lützel hergeben. Ich möcht’ ihr doch auch wieder in die Augen schauen. Geh’, red’ mit ihm!“

„Reden? So?“ Der Greinwalder kratzte sich hinter dem Ohr. „Wenn ich ein Wörtl sag’, das ihm nicht taugt ... der Kerl haut ja gleich zu! Red’ selber mit ihm! Ich kann’s schon noch erwarten, und merken thu’ ich auch, daß ihr nichts geschehen ist: sie busselt ja, als hätt’ sie aller Lebtag’ nichts anderes getrieben! Schau’ nur hin und lus’ ... es schmatzget nur so!“

Der Bauer wandte sich zu den Trümmern seines Hauses; die Augen wurden ihm naß, und er seufzte. Als könnte er den wüsten Anblick nicht länger ertragen, so kehrte er sich ab, und seine Blicke suchten das ferne Thal. „Weib! Sell schau’ hinunter!“ stammelte er entsetzt über die Verwüstung, die seinen Blicken sich bot. „Mir grauset völlig!“

„Und sell schau’ hin, zum Schönsee hinaus!“ stotterte das Weib und deutete in die Ferne. „Zu allem steinigen Elend auch noch Feuersnot!“

Ueber dem Falkenstein loderte eine hohe Feuergarbe. „Wazemanns Haus!“ schrie der Greinwalder, und in seinen Augen funkelte die Freude des Hasses. „Da trag’ ich auch noch ein Scheit zur Glut!“ Er zerrte einen zersplitterten Sparren aus dem Trümmerhaufen seines Hauses und eilte thalwärts, doch kreischend lief ihm die Bäuerin nach und hielt ihn an der Kotze zurück.

Schweiker erwachte aus seiner trunkenen Seligkeit. Wie ein Träumender blickte er rings umher, atmete tief und stammelte: „Wie ist mir denn? Ja sag’ nur, liebe Dirn’, wie ist mir denn?“

„Gut halt! Wie mir!“ lispelte Hinzula, ohne das Köpfchen von Schweikers Brust zu heben.

Er streichelte mit zitternden Händen ihr Haar. „Vor einem Stündl noch ist Todesangst und Not in mir gewesen. Und jetzt ist mir Leib und Seel’ so voller Süßigkeit und Freud’, als könnt’ über mich in aller Lebenszeit nimmer Sorg’ und Herzeleid kommen ... schau’, liebe Dirn’, mir ist ja völlig, als hätt’ ich Himmelsbrot gegessen ...“ Und wieder hing er an den Lippen der Hirtin.

Als der Bauer mit seinem Weib zurückkehrte und den Sparren, den er davongetragen, wieder zum Haufen warf, ließ Schweiker das Mädchen aus seinen Armen. Flink erhob er sich und reckte die Glieder. „Komm, Vater Greinwalder, jetzt müssen wir bauen! Die gute Dirn’ braucht eine Ruhstatt für die Nacht!“ Der Bauer nickte nur; und während die Bäuerin nun endlich ihr gerettetes Kind umhalsen und herzen konnte, begannen die beiden Männer schon die Arbeit.

(Fortsetzung folgt.)


[468] 0


Blätter und Blüten.


Vorrichtung zum Anzeigen „Schlagender Wetter“. Wiederum hat ein furchtbares Grubenunglück die Welt in Schrecken gesetzt. In den Kohlenbergwerken bei Karwin in Oesterreichisch-Schlesien sind durch eine Explosion „Schlagender Wetter“, die vielleicht durch Unvorsichtigkeit eines Arbeiters hervorgerufen wurde, etwa 230 Menschen dem Tode zum Opfer gefallen, und namenloser Jammer erfüllt die ganze Gegend.

Vor zwei Jahren, aus Anlaß der großen Katastrophe von Anderlues in Belgien, ist in der „Gartenlaube“ auseinandergesetzt worden, was für eine Bewandtnis es mit dieser unheimlichen Erscheinung der schlagenden Wetter hat. Der Bergmann versteht darunter die Gasgemenge, die sich in den Räumen des Bergwerkes bilden und die, wenn sie sich entzünden, mit großer Heftigkeit explodieren. Da diese Gase sich dem Geruchssinne nicht bemerkbar machen, so war es trotz aller Sorgfalt bisher nicht möglich, sie immer zeitig zu entdecken und zu entfernen. Mehrere Apparate, die bestimmt waren, die Gase aufzufinden, bewährten sich nicht, und so wiederholen sich von Zeit zu Zeit die Explosionen mit ihren verderblichen Wirkungen. Angesichts dessen verdient ein neuer Versuch des französischen Gelehrten Hardy Beachtung, der vielleicht berufen ist, eine Besserung zu schaffen. Hardy gründet seine Erfindung, die er Formenephon[1] nennt, auf einen ganz neuen Grundgedanken: er will die bösen Feinde zwingen, sich durch das Gehör zu verraten!

Es ist unseren Lesern wohl bekannt, daß zwei auf genau gleiche Höhe gestimmte Toninstrumente den Ton ganz gleichmäßig abgeben. Ist aber ein geringer Unterschied in der Tonhöhe vorhanden, so fängt der Gesamtton an zu schwingen, er wird abwechselnd stärker und wieder schwächer. Der Physiker nennt diese Erscheinung „Schwebungen“ oder „Stöße“. Bei geringem Unterschiede sind die einzelnen Schwebungen lang, mit wachsendem Tonunterschiede werden sie kürzer. Zur Wahrnehmung dieser Schwebungen ist durchaus kein musikalisches Gehör erforderlich, es bemerkt sie jeder, der überhaupt hören kann.

Es ist gar nicht schwierig, z. B. zwei Orgelpfeifen genau auf dieselbe Höhe abzustimmen. Nun ist aber von dem Erfinder noch eine zweite, vielleicht weniger bekannte Erscheinung zu Hilfe genommen worden; es ist die, daß der Ton einer Pfeife sich ändert, sobald eine Luft von anderer Schwere, also z. B. eine mit Grubengas vermengte und dadurch leichter gewordene Luft sie zum Ertönen bringt.

Die letzterwähnte Erscheinung ist nun in folgender Weise benutzt worden: in zwei getrennten Apparaten befindet sich je eine Orgelpfeife von genau derselben Tonhöhe. Der erste Apparat ist mit reiner Luft gefüllt, die luftdicht abgeschlossen ist. Mittels einer gasometerartigen Glocke oder eines Blasebalges kann man den Inhalt cirkulieren lassen, wobei die Pfeife den Ton angiebt, auf den sie abgestimmt ist. Der zweite Apparat ist ganz ähnlich eingerichtet, nur ist er nicht luftdicht abgeschlossen, sondern wird von der zu untersuchenden Luft durchstrichen. Ist diese nun rein, so ist der Ton der Pfeifen gleichmäßig, ist sie durch Grubengas verunreinigt, so treten sofort jene Schwebungen ein und die Anwesenheit der gefährlichen Gase hat sich verraten. Je kürzer die Schwingungen sind, je größer ist die Gefahr. Macht man die Apparate selbstthätig und überträgt den Ton mittels Telephon in die Stube des Aufsichtsbeamten, so ist dieser jederzeit von der Beschaffenheit der Wetter unterrichtet und kann danach seine Wettermaschinen regeln.

Konkurrenten. (Zu dem Bilde S. 465.) Ein richtiger Kavallerist ist so stolz auf seine Waffe wie des Friedländers Kürassiere in „Wallensteins Lager“ und meint, wenn er hoch zu Rosse dahinsaust, in jeder Beziehung auf die zu Fuße gehenden „Sandhasen“ herabblicken zu können. Unsere heutige Infanterie mir ihrer vervollkommneten Bewaffnung fürchtet aber bekanntlich keine Kavallerie; daß sie neuerdings jedoch unter Umständen auch an Schnelligkeit der Bewegung mit der Reiterei in Wettbewerb zu treten vermag, zeigt unsere Abbildung.

Die großartige Verbreitung und Entwicklung des Radfahrsports und die immer zunehmende Verwendung des Fahrrades zu praktischen Zwecken mußte sehr bald die Frage nahe legen, ob es denn nicht möglich sei, die Dienste der Radfahrer auch für das Kriegswesen nutzbar zu machen. Es war gegen Ende der siebziger Jahre, als man in Italien zuerst mit Versuchen begann, die alsbald auch von den Verwaltungen der übrigen Heere aufgenommen wurden und so günstige Ergebnisse lieferten, daß heute wohl keine Armee mehr auf den Gebrauch des Fahrrades verzichten wird.

Ueberall, wo gebahnte Wege zur Verfügung stehen, lassen sich die Fahrräder zur Befehls- und Nachrichtenübermittlung mit großem Vorteil benutzen. Im deutschen Heere sind folgende Grundsätze für die Verwertung des neuen Beförderungsmittels aufgestellt worden: Auf dem Marsch dient das Fahrrad zur Verbindung zwischen einzelnen Gliedern der Marschsicherung; bei den Vorposten tritt der Radfahrer an Stelle der Meldereiter zur Übermittelung von Meldungen und Befehlen zwischen einzelnen Gliedern der Vorposten; im Quartier ist derselbe zu jeder Art von Ordonnanzdienst bestimmt; im Relais- und Etappendienst ist das Fahrrad besonders verwendbar und wird die Kavallerie bedeutend entlasten; in den großen Festungen hat der Radfahrer den Meldedienst vollständig zu übernehmen und die Kavallerie hierfür entbehrlich zu machen. Jedes Infanterie- und Jägerbataillon erhält zwei Fahrräder; als Maschine ist das Niederrad mit Rahmengestell, Vorderradbremse und staubfreien Kugellagern zu verwenden, welches sich bei den verschiedenen Versuchen am besten bewährt hat.

Somit werden jetzt bei größeren Felddiensten und während der Manöver stets Mannschaften der Fußtruppen in der militärischen Benutzung des Fahrrades geübt, und gar oft kann man dabei Scenen wie die auf unserem Bilde zur Anschauung gebrachte wahrnehmen, daß nämlich Kavalleriepatrouillen auf eine Radfahrerordonnanz Jagd machen.

Auf der Fahrt durch die schöne Natur. (Zu dem Bilde S. 452 und 453.) Das einfache Motiv einer „Fahrt durch die schöne Natur“ hat dem Künstler Gelegenheit gegeben, seine ungewöhnliche Gabe für scharfe Charakteristik in hellem Lichte erstrahlen zu lassen. Welche Gegensätze der Empfindung in diesen paar Typen, die sich in dem Wagenabteil zusammen gefunden haben! Am stärksten malt sich die Erregung auf dem Gesichte des Bankiers im Hintergrunde, der es nicht fassen kann, wie der ihm gegenübersitzende Freund eine Stelle verschlafen kann, die doch im Bädeker zwei Sternchen aufweist! Etwas gelassener, doch mit merklicher Spannung mustert die schwarzgelockte Nachbarin des Bankiers durch das Glas die vorüberfliegenden Schönheiten. Auch die andere Dame würde dies wohl gerne thun, wenn nicht ein unhöflicher und selbstsüchtiger Reisegefährte ihr mit seinem breiten Rücken den besten Teil der Aussicht verdeckte. So begnügt sie sich, entsagungsvoll zu dem Himmel aufzublicken, der über der versagten Herrlichkeit sich wölbt. Auch dem etwas struppigen Professor im Vordergrunde geht’s nicht ganz nach Wunsch. Mit gewohnter Gründlichkeit möchte er alles Merkenswerte an den von ihm berührten Punkten einer sorgfältigen Betrachtung unterziehen, aber – der Kuckuck soll es holen – es will ihm nicht gelingen, sein Opernglas auf die richtige Sehschärfe einzustellen. Er dreht und dreht, und darüber rollt der Zug in rasender Eile weiter und der arme Professor hat das Nachsehen. – Nur zwei Personen sind von der Fahrt durch die schöne Natur nicht in Mitleidenschaft gezogen; das ist einmal der Schaffner, der ruhig und gelassen seines Amtes waltet, und dann das kleine Töchterlein neben der um die Aussicht betrogenen Mama: es schläft den Schlaf des Gerechten, unbekümmert um alle Bädekersternchen der Welt!

Bei der Musik im Münchener Hofgarten. (Zu dem Bilde S. 461.) Sonnabend nachmittag und Hofgartenmusik! Zwei gleich entzückende Freuden, welche die sämtlichen „Münchener Kindln“ aufs gründlichste zu genießen verstehen. Scheuen doch auch die jeweiligen Gretis und Wallys selbst einen weiten Weg nicht, um ihre Pflegebefohlenen hier in den Schatten der grünen Bäume zu bringen, zu welchen das Blau der Uniformen einen so erfreulichen Farbengegensatz bildet! Und nun blasen sie, daß es eine Pracht ist, die stämmigen Musikanten, um welche der Strom der Zuhörenden sich drängt. Ein Verwegener aus der ersten Lateinklasse wagt es, die große Trommel vorsichtig mit dem Stöckchen zu berühren, sein Schwesterlein zittert über ein solches Unterfangen, und selbst die künftige kleine Salondame im kurzen Puppenröckchen wendet sich um, voll Spannung, wie das ablaufen wird. Aber da droht keine Gefahr – wir sind im Lande der Gemütlichkeit. Selbst dem verlorenen Ball darf die Kleine dort unter den Musikpulten nachkriechen. Bn.     

Neros Gastmahl. (Zu dem Bilde S. 449.) Mit hausfraulicher Würde steht klein Annchen da und rührt den köstlichen Brei aus Wasser und Erde, zu dem das ältere der beiden Brüderchen noch eifrig Materialien herbeischafft, während das jüngere sich darauf beschränkt, in staunender Bewunderung solcher Kochkunst zu verharren. Wie erfahren sie thut, die fünfjährige Köchin, und wie getreu sie in Haltung und Führung des Löffels das Vorbild der Erwachsenen nachzuahmen versteht! Und auch der würdige Freund ist schon da, dem dies fürstliche Mahl zugedacht ist. Nero, die stattliche Dogge, der Kinder Reittier, Wächter und Spielgefährte. Er ist es wert, um seiner vielen Verdienste willen glänzend regaliert zu werden. Der Begünstigte selbst freilich sieht dem Kommenden mit äußerst gelassener Ruhe entgegen. Sein Hundeverstand reicht glücklicherweise nicht soweit, daß er den tieferen Sinn dieser festlichen Veranstaltung erfaßte, sonst hätte Nero höchst wahrscheinlich die freundliche Einladung mit verbindlichstem Danke für die ihm zugedachte Ehre abgelehnt. So läßt er vorläufig seine kleinen Schutzbefohlenen ruhig auf dem seligen Glauben, daß sie ihrem Nero ein Gastmahl bereiten.

Die Landkokette. (Zu unserer Kunstbeilage.) Leuchtend in goldgelber Pracht dehnt sich das wogende Kornfeld, der Sichel des Schnitters gewärtig. Durch die nickenden grüßenden Halme wandert schön Lieschen heim mit Rechen und Krug und leerem Eßkorb, frohmutig ein Liedchen singend mit den trillernden Lerchen um die Wette. Die Zukunft liegt vor ihr im rosigsten Scheine, dieweil ein gewisser Irgendwer, dessen Namen sie um keinen Preis der Welt verrät, sie auf den lachenden Mund geküßt und sie seinen „lieben Schatz“ genannt hat. Sonderbar, daß sie daran jetzt immer denken muß! Und weil sie der Weg nun doch einmal an seinem Acker vorbeiführt, denkt sie weiter, so könnten ein Paar Mohnblumen auf dem großen gelben Strohhut nichts schaden! Es macht sich so hübsch und steht ihr so gut und muß ihm auch gefallen. Also rasch ans Werk, die Blumen sind ja in Hülle und Fülle bereit! Nun steht sie da, bewundernd das Werk ihrer Hände, und ist fest überzeugt, so einen schönen Hut giebt’s nicht mehr in der Welt – soweit die Welt nämlich in dem Gesichtskreis jenes unbekannten Irgendwer liegt. Und darauf kommt es in diesem Falle gerade an!


  1. Formen = Grubengas

manicula Hierzu Kunstbeilage VIII: 0 Die Landkokette. Von R. Beyschlag.

Inhalt: Die Brüder. Roman von Klaus Zehren. S. 449. – Neros Gastmahl. Bild. S. 449. – Auf der Fahrt durch die schöne Natur. Bild. S. 452 und 453. – Thüringens Gewerbfleiß. Von C. Forst. S. 456. Mit Abbildungen S. 456, 457 und 458. – Kleine Leiden der Fußwanderer. S. 459. – Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (26. Fortsetzung). S. 459. – Bei der Musik im Münchener Hofgarten. Bild. S. 461. – Konkurrenten. Bild. S. 465. – Blätter und Blüten: Vorrichtung zum Anzeigen „Schlagender Wetter“. S. 468. – Konkurrenten. S. 468. (Zu dem Bilde S. 465.) – Auf der Fahrt durch die schöne Natur. S. 468. (Zu dem Bilde S. 452 und 453.) – Bei der Musik im Münchener Hofgarten. S. 468. (Zu dem Bilde S. 461.) – Neros Gastmahl. S. 468. (Zu dem Bilde S. 449.) – Die Landkokette. S. 468. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.