Die Gartenlaube (1894)/Heft 39
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Nr. 39. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Um fremde Schuld.
Es war eine schreckliche Nacht, die ich auf dem Sofa zubrachte unter Papas großer Photographie. In der ersten Morgenfrühe schon ging ich, ohne meine Mutter gesehen zu haben, zur Komtesse. Sie allein werde mir helfen können, meinte ich, denn sie hatte Papa auch geliebt. Daß ich im Begriff stand, eine grobe Indiskretion zu begehen, darüber dachte ich nicht nach; ich hatte nur das eine Gefühl brennender Scham für meine Mutter und das machte mir das Geständnis schwer, aber ich sagte mir, ich müsse sie retten.
Es war ein schwüler Morgen, wie er auf eine Nacht folgt, in der kein Tau gefallen, die Straßen noch erfüllt von der gestrigen
[650] Glut der Sonne, schon belebt von Bauernfuhrwerken und Landweibern, die zum Markte gekommen waren. Vor dem spitzgiebligen hohen Rathause stauten sich hoch aufgetürmte Heuwagen, die einer nach dem andern auf die Stadtwage gefahren wurden, und längs des Bürgersteiges standen die Butterweiber, die Kiepen mit der appetitlichen Ware vor sich, eifrig schwatzend, hier und da auch schon Käufer bedienend. Dies alles erschwerte mein eiliges Gehen, und ich strebte doch so sehr vorwärts. Wie eine Irrsinnige mag ich ausgesehen haben, als ich mich durch die Menge schob, rasch atmend, ohne Hut, und nur ein Tuch flüchtig umgeschlagen; die Haare zerwühlt und verwirrt, die Augen heiß und verschwollen.
Die Fenster der Komtesse waren mit den Läden verschlossen; ich überlegte keine Sekunde, ob die alte Dame etwa noch schlafe, und riß die Klingel, als gelte es, Feuer anzumelden.
Im nächsten Augenblick wurde die Sicherheitskette drinnen ausgehakt, und die Komtesse rief: „Du infamer Schlingel, hab’ ich Dich endlich“ – – „Herr meines Lebens!“ schrie sie dann, und in der nächsten Sekunde hatte sie mich über die Schwelle gerissen und stand vor mir, im tiefsten Negligé – sie mochte just dem Bett entstiegen sein – in rosa geblümter Nachtjacke, grauem wollenen Unterrock, ungeheure Filzschuhe an den Füßen, mit eingewickelten Löckchen, die seltsam schaukelnd unter der gekrausten Nachthaube hervorbaumelten. Sie hielt das kupferne, wie Gold glänzende Kohlenbecken, auf dem sie ihren Kaffee warm zu halten pflegte, in der Hand und sah mir starr ins Gesicht.
„Herr meines Lebens, Anneliese, ist Deine Mutter krank?“
Ich konnte auf einmal nicht sprechen, die Kehle war mir wie zugeschnürt.
„Komm! Du schaust ja aus wie das Leiden Christi! Komm hinauf!“ Und sie zog mich die Treppe empor und schob mich vor sich her in ihr Zimmerchen, in dem die Jalousien vor dem geöffneten Fenster herabgelassen waren. Dort stellte sie das Kohlenbecken auf den Tisch und ergriff mich bei beiden Schultern.
„Was hat’s gegeben, Anneliese?“
„O Tante,“ stammelte ich, und die Zähne schlugen mir zusammen, „Tante – bitte – Tante hilf mir doch – – Mama –“
„Natürlich! Sie ist nun glücklich krank geworden! Hab’s ihr gleich gesagt, hat sich ja bei Deiner Pflege reinweg übernommen! Na, mach’ doch nur kein so gottsjämmerliches Gesicht, Deine Mutter stirbt nicht gleich – wart’ – ich ziehe mich an und komme mit. Habt Ihr den Doktor schon?“
„Sie ist nicht krank – sie ist – sie hat – –“
„Herrgott, so rede doch endlich!“ rief sie ärgerlich. „Was hat sie?“
„Sie will – ach Tante, es ist so fürchterlich – sie will – der Wollmeyer – er will Mama heiraten.“
„Der Wollmeyer wi – will – Deine Mutter?“
Ich hob die thränenden Augen und starrte in ein Antlitz, das vor Ueberraschung wie versteinert schien.
„Ja! Ach, Tante, hilf mir, leide es doch nicht, sag’ es ihr doch!“ Jetzt brachen die Thränen stromweise aus meinen Augen.
Die alte Dame aber war in einen Stuhl gesunken, und ich kniete vor ihr, das Schluchzen rüttelte mich wie der Sturm einen jungen Baum. Sie hatte die große schwere Hand auf meinen Kopf gelegt und sprach kein Wort, sie ließ mich erst ausweinen.
Nach einer langen Weile räusperte sie sich. „Hm!“
„Tante?“
„Hm!“
„Liebe beste Tante, leid’ es doch nicht!“ flehte ich aufs neue.
„Josephine!“ schrie die Komtesse, „bring’ den Kaffee! Du mußt ’was genießen, Kind, dann reden wir!“ Und als der Tisch gar zierlich mit dem einfachen weißen Kaffeegeschirr gedeckt war, strich sie mir eine Buttersemmel und trank, starr auf einen Punkt sehend, in kleinen Schlückchen ihre ungeheure Tasse leer, offenbar ganz mit ihren Gedanken beschäftigt. Es dünkte mich eine Ewigkeit. Dann langte sie nach dem kleinen Gebetbuch, schlug es auf, wo das Zeichen lag, rief ihren Kanarienvogel, der sich eben anschickte, seinen Tageslauf mit einem Triller zu beginnen, ein energisches „Pst!“ zu und las mit gefalteten Händen laut: „Und gedenkest alles des Weges, durch den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat, auf daß er dich demütigte und versuchte, daß kund würde, was in deinem Herzen sei, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht – Amen!“ Und nun faltete sie die Hände über dem zusammengeklappten Buche und sagte: „Du bildest Dir das wahrscheinlich alles ein, Du kleines dummes Gör. Ich bin überzeugt, die Len’ – – ich werde nachher mit Dir gehen und – –“
Da wurde die Thüre aufgerissen und meine Mutter kam herein. Als sie mich sah, faßte sie nach der Lehne des Sofas, auf dem die Komtesse saß, ihre Gestalt wankte und ein eigentümlicher Laut kam aus ihrer Kehle. „Anneliese!“ murmelte sie, „Gott sei gelobt!“
„’n Morgen, Len’!“ rief die Komtesse, aber ihr Gesicht war so hochmütig und eiskalt, als ob sie einen mißliebigen Bittsteller vor sich hätte und nicht ihren vergötterten Liebling, der sich wie gebrochen in einen Stuhl fallen ließ und das schöne Gesicht senkte wie in schwerem Schuldbewußtsein.
„Du hast mir wohl etwas zu erzählen, Len’? Geh’ in die Küche, Anneliese, zur Josephine, denk’ nach über das, was ich eben gelesen hab’!“
Meine Mutter hob den Kopf nicht, als ich vorüberschritt, aber hinter mir her flog die Stimme der alten Dame wie das Signal eines zur Attacke blasenden Trompeters: „Len’, bist Du denn ganz von Gott verlassen? Einmal zu heiraten, das ist eine Dummheit, die ich einem Frauenzimmer vergeben kann, aber das zweite Mal – da hört doch – –“
Gottlob, die Komtesse würde es zu hindern wissen!
Fröstelnd und übermüdet saß ich neben Josephinens Kochherd, starrte gedankenlos die Menge der Teller und Gläser und Töpfe an, die auf Regalen standen, welche alle sauber mit weißen Papierspitzen ausgelegt waren, und zählte die alten Zinnteller mit dem gräflichen Wappen immer noch einmal – vierundzwanzig Stück und zwei große Schüsseln. .... Wie unendlich lange blieb sie! Endlich hörte ich Schritte die Treppe herunterkommen, durch den Flur eilen und das Haus verlassen. Mama ging – sie war böse auf die Komtesse, sie beharrte auf ihrem Willen, sie – mein Gott!
„Gnädiges Fräulein möchten zur Komtesse kommen,“ sagte Josephine. Ich stürzte aus der Küche und die Treppe empor. Die alte Dame war allein im Zimmer; sie stand an ihrem Blumentisch und pflückte ein paar welke Blättchen ab.
„Na, mein altes Gör?“ fragte sie weich, ohne sich zu wenden.
„Wo ist Mama?“
„Sie ist nach Hause gegangen.“
„Tante!“
Sie wandte sich noch immer nicht um. „Anneliese, Du wirst vernünftig sein, wirst Deiner Mutter einen Schritt, den sie mit reiflicher Ueberlegung thut, der ohnehin sehr schwer ist, nicht noch schwerer machen.“
„Tante – Du – auch Du?“
„Ich sehe ein, sie hat recht von ihrem Standpunkt aus; Du kannst das nicht verstehen. Es ist sehr schwer, schutzlos zu sein im Leben – für eine Frau in der Lage Deiner Mutter. Sie – na, das, wie gesagt, Anneliese, das verstehst Du nicht.“
Also, das war das Ergebnis der Unterredung – die Komtesse völlig auf seiten Mamas! Ich stand wie gelähmt.
„Na, Anneliese?“
Sie drehte sich endlich um, da sah ich, daß die kleinen grauen Augen rot umrändert waren. Die Komtesse, die Harte, die allezeit Gelassene, hatte geweint!
„Deine Mutter,“ fuhr sie fort, „wird die Verlobung so bald als möglich veröffentlichen, sie will Rücksprache mit Herrn Wollmeyer nehmen und wird, da sie nicht wohl in dem Hause ihres künftigen Mannes wohnen kann, mein Gast sein bis zu ihrer Hochzeit. Du – natürlich ebenfalls, wenn Du nicht vorziehst, eine kleine Reise zu machen. Ich – ich habe Verwandte in Hamburg, die sich freuen würben, Dich anzunehmen bis – die Hochzeit vorüber. Falls Du – –“
„Bitte – ja, ich werde diesen fremden Leuten dankbar sein, Tante.“
„Dann freilich kehrst Du in das Haus Deiner Eltern zurück.“
„Ich werde nie mehr Eltern, sondern immer nur eine Mutter haben, Tante. Ich hatte einen Vater, Du kanntest ihn und wirst begreifen, daß er durch solchen Mann nie ersetzt werden kann, wenn überhaupt vom Ersatz eines Vaters die Rede sein darf, und ich werde nicht in das Haus meiner Mutter zurückkehren, sondern versuchen, auf eigenen Füßen durch das Leben zu gehen.“
„Aber das wird sich ja alles finden, Anneliese,“ antwortete sie, und ihre Stimme hatte gar nicht den energischen Klang wie sonst. „Also vorläufig gehst Du nach Hamburg? Wie die Sachen [651] liegen, mache ich keinerlei Versuch, Dich hier zu behalten, denn es würde keine Wohlthat sein für Deine Mutter, Dein trotziges Gesicht immer vor Augen zu haben. Jetzt aber mußt Du ihr folgen, Ihr beide habt Eure Sachen einzupacken und so Verschiedenes noch zu ordnen, auch“ – und sie wandte sich voll zu mir um „auch möchte ich Dir zu bedenken geben, daß Du Rücksichten zu nehmen hast auf Deine Mutter. Es giebt Lebenslagen, in denen man vor Schmerz und Herzeleid schreien möchte, Anneliese, und doch den Mund zum Lächeln zwingen muß, wo man um keinen Preis der Welt, den Menschen, und wären es die Nächsten, das zuckende Herz verraten darf – beiß also die Zähne zusammen, Anneliese, und lächle, wenn sie Dir Glück wünschen zu Deinem Stiefvater – um Deiner Mutter willen lächle, wenn’s auch schwer ist!“
Sie hatte mich an sich gezogen und streichelte mich, dann gab sie mir einen scherzhaften Schlag auf die Wange, räusperte sich, als habe sie etwas Unangenehmes mühsam hinuntergeschluckt, und sagte, wieder in ihren Ton gutmütiger Polterei zurückfallend: „Na, und schließlich ist es nicht zum Verzagen, dummes Gör! Die englischen Prinzessinnen haben auch unter ihrem Stande geheiratet und blieben doch, was sie waren; also brav, meine liebe Anneliese, brav sein!“
„Du denkst, ich bin unglücklich, weil er Wollmeyer heißt?“ fragte ich achselzuckend, „das wäre mir zuletzt eingefallen. Wahrhaftig, er könnte heißen wie Du, dieser Herr Stadtrat, könnte die neunzackige Krone führen wie Du, er wäre mir genau so verhaßt wie mit seinem bürgerlichen Namen. Aber habe keine Furcht, Tante, ich werde Mama nicht bloßstellen, verlaß Dich darauf, ich beiße die Zähne zusammen. Leb’ wohl, habe Dank!“
Ich ging und bereits einige Stunden später hatte ich eingesehen, daß ich meine Mutter nicht verlassen durfte. Schon als ich den Hof betrat, merkte ich an dem ungewöhnlichen Treiben, daß Mama die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Verlobung erteilt hatte, daß das große Ereignis den Hausleuten bekannt geworden war, und auch, daß Herr Wollmeyer die Verlobung auf die feinste und meiner armen Mutter sicher am wenigsten genehme Art in Scene zu setzen gedachte: keine gedruckten Anzeigen, sondern große Einladung, Knalleffekt, Kanonenschlag!
Die Hauspforte stand weit geöffnet und der Gärtner stürzte mit einem Arm voll grünen Gezweigs herein; im Flur schossen die Mägde wie Schwalben vor einem Gewitter durcheinander, die eine mit Flaschenkorb und großem Schlüsselbund in den Keller, die andere stand auf einer Leiter am Wandschrank und reichte Porzellan herunter; der Kutscher kam aus der Thür des Speisesaals, und die Stimme des Hausherrn rief ihm nach: „Um acht Uhr, Friedrich, zu einem ganz einfachen Abendessen – und mach’ Deine Sache gut!“ Friedrich nickte verschmitzt lächelnd dem Mädchen zu und ging.
Das war so die richtige Art des Herrn Stadtrats, er lud die Menschen ein, um sie zu überraschen mit seiner Verlobung. Geradezu brutal! dachte ich empört. Die Base Himmel kam mir auf der Treppe entgegen mit Tischwäsche; zum erstemal sah ich dieses sonst so unbewegliche Gesicht verändert, eine große mühsam verhaltene Aufregung zuckte darin. Als sie mich erblickte, übergoß eine jähe Röte ihre Züge. „Anneliese!“ murmelte sie.
Wir sahen uns schweigend in die Augen, und wir verstanden uns. „Wer hätt’s gedacht,“ sagte sie leise, und eilig schritt sie vorüber, denn die befehlshaberische Stimme meines zukünftigen Stiefvaters scholl durch das Haus: „Die andere Marke Sekt! Den echten – Kreuzdonnerwetter, ich werde doch heute nicht mit deutschem Schaumwein anstoßen sollen?“
Das gescholtene Mädchen flog in den Keller zurück, und ich ging nach oben. Da stand ich erst eine ganze Weile im Vorzimmer und wußte nicht, wie ich mich Mama gegenüber verhalten sollte. Endlich beschloß ich, die ganze Sache zu übersehen und die Gleichgültige zu spielen. Absichtlich betrat ich zuerst das Schlafzimmer, um meine Sachen abzulegen und mein Haar etwas zu ordnen, hauptsächlich aber, um einer Begegnung so lange als möglich auszuweichen. Da lag Mama auf ihrem Bette, die Hände an die Schläfen gepreßt, mit bläulichen Lippen und eingesunkenen Augen.
„Mama! Ach Mama!“ rief ich; und im nächsten Augenblick lag ich neben ihr auf den Knien, und mein Gesicht an das ihrige schmiegend, begann ich aufs neue zu schluchzen. Da hob sie matt die Hand und streichelte meine nassen Wangen.
„Mein Kind! Mein einziges Glück!“
„O Mama, Mama, was hast Du gethan!“ rief ich, „wir waren so glücklich zusammen!“
Sie machte eine abwehrende Handbewegung. „Hol’ mir die Tropfen, und dann – Anneliese, wenn er kommt, ich kann ihn heute früh nicht empfangen – ich – mein Kopf – – heute abend, wir werden pünktlich drunten sein, nicht wahr, Anneliese?“
In diesem Augenblick klopfte es an die Thür des Salons. Sie winkte ungeduldig, ich solle gehen, und ich ging, ihn zu empfangen.
Sein strahlendes süßes Lächeln wich bei meinem Anblick sofort und machte einer würdevollen wohlwollenden Miene Platz. „Mein liebes Kind, meine gute Anneliese,“ begann er, mir beide Hände entgegenstreckend, „es wird Ihnen nicht verborgen geblieben sein, wie teuer Sie mir und meiner lieben verstorbenen Frau immer waren; seien Sie versichert, daß ich glücklich bin, Ihnen fortan väterlich zur Seite stehen zu dürfen, seien Sie überzeugt, daß Ihr leiblicher Vater Sie nicht treuer und – und aufrichtiger –“
Er stotterte und brach ab, seine leer gebliebenen Hände legten sich auf den Rücken, er wurde sehr rot und sehr verwirrt. Was er weiter that, konnte ich nicht sehen, denn ich hatte ihm den Rücken gewandt.
„Mama ist nicht wohl, bedauert, Sie nicht empfangen zu können, Herr Stadtrat. Heute abend will sie, glaube ich, hinunterkommen.“ Damit schritt ich, echt kindisch, zum Bilde Papas hinüber, stellte mich davor und sah es an; ich wollte auf diese Weise zeigen, daß mir des Herrn Wollmeyer väterliche Gefühle und Absichten im höchsten Grade gleichgültig, ja noch mehr, unangenehm seien. Ich hörte, wie er rasch Atem holte. Er war offenbar tief beleidigt.
„Es ist nicht freundlich von Ihnen, Anneliese, mich so zu empfangen und eines Tages wird es Ihnen leid thun.“
Ich wandte den Kopf über die Schalter. „Nie, mein Herr!“
„Sie sind ein kleiner Trotzkopf,“ antwortete er mit unverkennbarer Anstrengung, so zu scheinen, als nehme er mich nicht recht ernst. „Nun, ich lasse Hel – – Ihrer Mama gute Besserung wünschen und sie bitten, heute abend schön auszusehen, sehr schön, Anneliese!“ Und er lachte sein nichtssagendes Lachen. „S’ wird eine kolossale Ueberraschung, Anneliese, ganz kolossal! Auf Wiedersehen!“
Ach, dieser Abend! Natürlich war das Gerücht dieser Angelegenheit schon ins Publikum gedrungen, keiner war verhindert zu kommen. Mama hatte sich aufgerafft und sah wunderschön aus, wie sie jetzt vor dem Spiegel in ihrer Schlafstube stand. Sie trug, wie immer, Schwarz, aber sie hatte eine purpurrote Rose im braunen Haar und einen Strauß der nämlichen Blumen im Gürtel. Ja, sie sah wunderschön aus und doch zum Verzagen elend und blaß. Schon eine Viertelstunde weilte sie da und starrte in das Glas, indes ich sie vom Wohnzimmer aus beobachtete, das schon in tiefer Dämmerung lag, während um Mamas Gestalt das rote Licht der untergehenden Sonne spielte. Von drunten scholl beständig das schrille Kling-Kling der Hausglocke, die Gäste des Herrn Stadtrats kamen heute ausnahmslos pünktlich.
Und endlich mußten auch wir gehen. Die Komtesse, die die Stelle der dame d’honneur übernommen hatte, kam herauf, uns abzuholen. Sie zog mich an das nächste Fester und besah mich vom Kopf bis zu Fuß.
„Na, das lob’ ich mir, daß Du Toilette gemacht hast, Kücken! Hättest aber immerhin noch eine rote Schleife auf das weiße Kleid stecken können. Und das Gesicht?“ Sie hob warnend den Finger. „Uebrigens hätte der gute Mann sich den Zauber heute schenken können, Lene, Du mußtest ihn zurückhalten.“
„Ich?“ fragte Mama mit sonderbarer Betonung und nahm den Arm der Komtesse, da sie schwankte wie eine, die nach langer Krankheit das Gehen wieder lernen muß. So schritten sie die Treppe hinunter. Ich folgte ihnen mit einem Gefühl, als ginge es zu Mamas Begräbnis.
In Hannchens guter Stube faud der Empfang statt. Sie waren alle da, unsere Bekannten, und über der ganzen Versammlung lag der Bann gespannter Erwartung. Sie gaben sich nicht harmlos wie sonst, vielleicht störte auch die Unruhe des Herrn Stadtrats, der wie ein betriebsamer Gastwirt Verbeugung über Verbeugung machte, seine Gäste zum Thee nötigte, die Herren animierte, einen kleinen „Schuß“ Rum hineinzuthun, „echten Jamaika, direkt [652] importiert, ein feudaler Tropfen.“ Oder machte es das entsetzlich gemalte Bild der verstorbenen Frau Stadträtin, die in Brautkleid und Myrtenkranz aus dem Rahmen schaute mit so erstaunten Augen und so blödem Lächeln, als wollte sie sagen: was soll denn das noch werden heute?
Die jungen Mädchen hatten sich in einer Nebenstube zusammengefunden. Die kleinste Tollen, der Backfisch, maß mich mit einem mitleidig hochmütigen Lächeln, die Lore saß wie ein Steinbild und starrte meine Mutter an. Der Sanitätsrat kam und klopfte mich auf die Schulter: „Wie steht’s? Sitzen wir stramm im Sattel? Halten wir unsere Zügel auch fest, damit die Schecke nicht durchgeht? Der Kopf da, dieser wilde kleine Kopf, der wird Ihnen noch zu schaffen machen, Kind! Na, nichts für ungut, Anneliese, wir sind ja alte Freunde.“
„Ich werde schon fertig mit meinem Kopf,“ entgegnete ich.
„Lieber Himmel! Wann wird denn eigentlich die Bombe platzen?“ fragte ein ältliches junges Madchen. „Vielleicht ist gar nichts daran!“ Und sie sah blaß aus wie der Tod; sie hielt die Hoffnung fest bis auf den letzten Augenblick. Sie hätte so gern dem Stadtrat das unvergeßliche Hannchen ersetzt und bot in dieser Minute den Anblick eines peinvoll gemarterten Menschenkindes.
Und endlich platzte sie, die Bombe. Beim Braten eröffnete der Hausherr, das Champagnerglas in der Hand, seinen lieben geehrten Gästen, daß das Glück eingekehrt sei in sein ödes Haus, schöner als er es je zu hoffen gewagt; ein edles Frauenherz habe sich ihm zugeneigt in aufrichtiger herzlicher Liebe. „Und so bitte ich Sie, meine Herrschaften, Ihre Gläser zu erheben und mit mir anzustoßen auf das Wohl meiner geliebten Verlobten, auf das Wohl der Frau Helene von Sternberg, geborene von Plettenhausen.“
Einen Augenblick blieb es so still, daß man das Wehen des Fächers vernahm, den die kleine Tollen, der Backfisch, schwang. Dann ertönte die Stimme der Komtesse, und ihr Stuhl fuhr mit energischem Ruck zurück: „Dein Wohl, liebe Helene, und tausendfaches Glück!“ Und „Hoch! Hoch! Hoch!“ riefen nun die anderen. Dann die üblichen Ausrufe des Erstaunens. Diese Glückwünsche, diese Küsse für meine Mutter, die bald blaß, bald rot wurde! Eine Völkerwanderung um die Tafel entstand, und ich gedachte, sie zu benutzen, um davonzulaufen, da erwischte mich die Komtesse und hielt mich am Kleide zurück.
Der Stadtrat kam jetzt, mit seinem Glas in der Hand, zu mir herüber, aber plötzlich schwenkte er ab, mein verzweifeltes Gesicht mochte ihm nichts Gutes weissagen, und wandte sich verlegen an Käthe Tollen, die während der ganzen Geschichte ruhig an ihrem Platz verblieben war. „Stoßen Sie denn nicht mit mir an?“ fragte er liebenswürdig. Aber leider machte er seine Verbeugung vor dem leeren Stuhl, denn das Kind stand plötzlich neben mir und streichelte mir die Wangen.
„Du dauerst mich, Anneliese, Du dauerst mich; ich an Deiner Stelle liefe davon!“
Ach, in mir sank der Mut zum Davonlaufen immer mehr; ich sah Mamas Augen so beständig nach mir suchen, sah sie mit einem so flehenden verzagten Ausdruck auf mich gerichtet, als saugte sie aus meinem Anblick allein die Kraft, sich aufrecht zu halten. Ich mußte sie immerzu ansehen, und unwillkürlich trat ich zu ihr und preßte ihren zitternden Arm, sie zu trösten.
Eben kam der selige Bräutigam wieder herüber zu ihr; der Champagner saß ihm im Kopf und der Stolz auf sein Glück dazu. Er nannte die Komtesse, die nicht von Mamas Seite wich, „Schwiegermamachen“, er nannte Mama „Schatz“ und schrie es über die ganze Tafel. Ich krampfte die Hände in mein Kleid; die Komtesse warf ihm einen Blick zu, der jeden andern erfrieren gemacht hätte. „Attention, mein Herr!“ sagte sie.
„Geh’ hinauf, Anneliese, Du bist noch zu angegriffen für solchen Trubel,“ flüsterte mir Mama zu, und ich ging; ich hätte sie nicht mehr ansehen können, es machte mich elend in tiefster Seele. Ach, und allein droben war es noch schlimmer! Ich lief umher mit gerungenen Händen, die Stuben wollten über mir zusammenstürzen. Und ich ging wieder hinunter und trat in die Küche und fragte nach der Base. Sie sei in ihrem Zimmer, antwortete mir das Mädchen.
Die Stube lag nicht weit von der Küche, nach der Gartenseite hinaus; sie hatte ein einziges Fenster und einen mit buntgeblümtem Kattun verhangenen Alkoven in dem das Bett der Base stand. Auf dem Tisch brannte eine Lampe; die alte Frau saß neben dem Ofen, die Hände in der weißen Schürze, und starrte ins Leere hinein. „Sie sind’s, Fräulein Anneliese?“ sagte sie, flüchtig aufsehend. „Ich ruh’ ein bißchen aus, bin selten so abgehetzt worden wie heute.“
„Darf ich denn ein wenig bei Ihnen bleiben, Base?“
„In Gottes Namen!“ antwortete sie und starrte von neuem vor sich hin.
Noch ehe ich einen Platz gesucht, ward die Thür aufgerissen, und eine Person stürmte herein, die ich ab und an schon im Hause gesehen hatte. Eine entfernte Verwandte von Herrn Wollmeyer sollte sie sein, eine Witwe in den dreißiger Jahren, der der Stadtrat in seinem allbekannten Edelmut eine Existenz verschafft hatte, indem er ihr einen kleinen Laden in der Hauptstraße einrichtete, wo sie mit Bändern und Knöpfen, Strickgarn und ähnlichem handelte und sich und ihr kleines Kind ernährte. Sie war eine hübsche rotwangige, ober gewöhnlich aussehende Frau, die Knopfmarthe, wie sie im Städtchen hieß. Heute schien sie ganz verwandelt, die Röte des Gesichtes war bedenklich gesteigert, die kleinen schwarzen Augen funkelten, als sei sie von Sinnen, das Schultertuch war ihr herabgeglitten und eine halbgelöste Flechte hing ihr über den Nacken.
„Bei Euch geht’s ja lustig zu!“ schrie sie und ihre bebenden Hände rissen das Tuch herab. „Das sind ja hübsche Geschichten, Base, in denen Sie Ihre Kuppelhände stecken haben –“
„Jesus, Marthe, sind Sie bei Trost!“ rief die alte Frau emporschnellend und wies auf mich. „Sehen Sie sich doch erst um, ehe Sie drauf losschimpfen! Was wollen Sie denn?“
„Nun, gratulieren will ich, zur Verlobung gratulieren!“ schrie die fassungslose Frau, „was soll ich denn weiter wollen? Das ist ja wohl das gnädige Fräulein Stieftochter?“ wandte sie sich an mich. „Gratuliere Ihnen auch, kriegen ja einen vortrefflichen Papa, einen ganz vortrefflichen und ’nen gescheiten dazu, einen sehr gescheiten. Ja, der versteht’s, zu – werben,“ und sie trat näher zu mir und hielt ihre große zitternde Hand vor sich hin und schlug mit der andern hinein. „Da fragen Sie nur Ihre Mutter, Fräuleinchen, wie er’s gemacht hat, daß sie Ja sagte, und wenn sie’s Ihnen nicht erzählen will, können Sie’s von mir erfahren. Leer ist ihre Hand gewesen, wie meine es war, und hungern thut weh, wissen Sie. Gott erspar’s Ihnen Ihr Leben lang, daß Sie jemand darben sehen, den Sie lieben. Und in solchen Augenblicken steht er da und legt Geld in die arme leere Hand und spricht von Menschen- und Christenpflicht und Hilfe um Gotteswillen. Ach, und das thut so wohl in der Erst, und dann – giebt er noch mehr, er giebt viel mehr, als man braucht, und er will nichts dafür, er will ja nur helfen, das ist seine Belohnung, sagt er. Ja, wer so dumm ist und glaubt’s – – Und wenn Sie mir das Kleid vom Leibe reißen, Base, ich red’ doch!“ schrie sie und stieß die alte verzweifelnde Frau zurück, daß sie fast taumelte. „Ja, reden thu’ ich! O, der Herr Stadtrat versteht’s, seine Schulden einzukassieren, ich hab’ auch bezahlt, bei Heller und Pfennig hab’ ich bezahlt, mit meinem Gewissen hab’ ich bezahlt, mit meiner Ehre hab’ ich bezahlt! Ihre Mutter zahlt auch, aber er macht’s besser mit ihr, er macht sie zu seiner Frau – ja – ja – –, mit solch armem Weib wie ich werden solche Umstände nicht gemacht. Aber ich neid’s ihr nicht, sagen Sie’s ihr, ich neid’s ihr nicht, denn ich bin frei und ich kann den Schurken von der Schwelle weisen, wenn er es wagt, zu kommen; aber sie, sie wird an ihn gekettet sein, sie wird dulden müssen, wie die geduldet hat, die draußen auf dem Kirchhof liegt, wie alle, die in seine Nähe kommen, wie die da!“ schrie sie und zeigte nach der Wand, an der einige Photographien hingen, „die darüber gestorben und verdorben und ins Elend gegangen sind! Drum sagen Sie es Ihrer Mutter, sagen Sie es ihr noch zur rechten Zeit, sie soll gehen, soweit sie ihre Füße tragen eh’ sie – –“
Die Stimme versagte der halb wahnsinnigen Frau, sie schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht, in ein bitterliches Weinen ausbrechend. Im nächsten Augenblick hatte sie ihr Tuch aufgerafft, und noch immer schluchzend lief sie hinaus.
Die Base saß auf dem Bettrand wie ein Steinbild und wagte nicht, mich anzusehen. Ich stützte mich gegen die Wand, denn vor meinen Augen drehte sich alles im Kreise. Schweigen herrschte – eine Ewigkeit, dünkte mich. Endlich murmelte die alte Frau: „Sie ist ein wütendes Ding, die Marthe, sie hat“ – sie räusperte sich – „ich glaube gar, sie hat gemeint, er soll sie heiraten. O, über das leichtsinnige Weibervolk!“
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[654] „Wenn er’s doch gethan hätte!“ dachte ich. „Ach meine arme Mutter!“
Und wieder Schweigen. Die Base war in sich zusammengesunken als läge eine Bergeslast auf ihrem alten Rücken; ihr Gesicht hatte einen unheimlich starren Ausdruck. Ich ging, von innerer Unruhe getrieben, im Stübchen umher, kaum wissend, was ich that, was ich sah. Vor der Kommode blieb ich stehen und heftete meine Augen auf die Bilder darüber, nach denen die Frau eben gezeigt hatte. Es waren einige verblichene, mit schlechten Apparaten gemachte Photographien, ein junges Ehepaar, das nebeneinander saß, die Hände verschlungen; dann das Bildchen eines kleinen Knaben, und unter diesem das Porträt eines jungen Menschen, vielleicht von sechzehn Jahren. Rein mechanisch nahm ich dieses Bild herunter und betrachtete es.
„Wer ist das?“ fragte ich über die Schulter zurück, nur um die Stimme der Base zu hören, denn mir graute fast, so unbeweglich verharrte sie.
„Das ist – das ist Robert Nordmann,“ scholl es leise herüber, und sie räusperte sich, als stecke etwas in ihrer Kehle.
Der Name tönte mir wie lange vertraut ins Herz, und lieb und vertraut sah mich das kluge fein geschnittene Gesicht an, lieb und vertraut, als hätte ich es von jeher gekannt. O, ganz gewiß, es giebt Ahnungen, es giebt ein geheimnisvolles Band, das oft die Seelen schon verbunden hat, lange bevor man die Menschen, mit denen es uns verknüpft, von Angesicht zu Angesicht geschaut, den Ton ihrer Stimme gehört hat.
„Wer ist er? Wo ist dieser Robert Nordmann?“ fragte ich fast heftig.
„Der Schwestersohn von Hannchen ist er,“ antwortete die alte Frau, und es klang, als schluckte sie Thränen. „Wo er ist? Gott mag es wissen – irgendwo in der Welt, seitdem – –“
Sie schwieg.
„Seitdem, Base?“
„Seitdem er die Heimat verlassen mußte.“
„Und wann war das?“
„Vor zehn Jahren. Aber fragen Sie nicht, Kind, es thut nicht gut, heut’ abend erst gar nicht – ich könnte mehr sagen, als ich darf.“
Armer Robert Nordmann! Ich hielt das kleine Bild liebkosend an meine pochende Schläfe. Armer Robert Nordmann – arme Anneliese von Sternberg! Es kam mir vor, als seien wir Unglücksgefährten. Ich hing die Photographie zurück an ihren Platz, ließ die Hände sinken und wußte nicht, was beginnen mit meinem wunden angstvollen Herzen.
„Anneliese, Fräulein Anneliese,“ begann auf einmal die alte Frau, während sie auf ihren weichen Filzschuhen unhörbaren Schrittes zu mir herüberkam und ihre müden hellblauen Greisenaugen in den meinen forschten, „ist’s wahr, Kind, was der – was Wollmeyer sagt – Sie wollen fort, Sie wollen die Mutter verlassen?“
Ich nickte.
„Thun Sie’s nicht!“ flüsterte sie, als stände jemand unsichtbar hinter mir, der es hören könnte. „Thun Sie’s nicht, sie wird Sie brauchen, sie würde es nicht überleben, Kind, wenn Sie gehen, denn, sehen Sie – sie thut ja alles nur, weil sie Sie behalten will. Verstehen Sie nicht? Sie sind so ein kluges Mädchen, Annelieseken – versprechen Sie’s mir, gehen Sie nicht fort! Und erzählen Sie ihr auch nichts von der Marthe – ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?“
Ach, ich verstand sie, ja ich verstand alles. Meine Mutter hatte sich verkauft, und ich wußte, daß sie es nur gethan, weil kein anderer Ausweg war. Und an wen verkauft! Wie gefoltert lief ich fort, in unser gemeinschaftliches Schlafzimmer hinauf. Dort lag ich schlaflos und zitternd und lauschte dem Gesellschaftstrubel unten. Erst als der blasse Morgenschein dämmerte, gingen die Gäste, und Mama schwankte zur Thür herein, fahl und blaß. Sie glaubte mich schlafend, trat vor mein Bett mit gefalteten Händen und sah mich an.
Da richtete ich mich auf und streckte die Arme nach ihr aus. „Mama, meine Mama!“ Und als sie sich niederwarf vor meinem Bett und mich umschlang, als wollte sie mich ersticken, da sagte ich an ihrem Ohr: „Ich bleibe bei Dir, ich will bei Dir bleiben!“
Sie antwortete nicht, sie umfaßte mich nur fester und ich fühlte, wie sie bebte, wie schwer ihr Atem ging.
Lange hielten wir uns so umschlungen, und ich gelobte still, alles, was kommen möge, gemeinschaftlich mit ihr zu tragen, und redete ihr Trost ein gegen meine Ueberzeugung.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Vorhänge lugten, da schlummerte sie süß und fest, seit langer Zeit zum erstenmal wieder, und ich dachte an das arme Weib in dem kleinen Laden, das er betrogen, und dachte an Robert Nordmann und bat Gott um ein Wunder, das uns retten solle vor jenem Mann; nur Gott allein könne es, meinte ich. Aber er that kein Wunder, und Mama ward drei Wochen später Herrn Wollmeyers Frau – meine arme geliebte stolze Mutter seine Frau! Fortsetzung folgt.
Tierische Organsäfte als Heilmittel.
Wenn in den Wildnissen des Dunklen Weltteils ein Löwe erlegt wird, dann stürzen die dunkelhäutigen Eingeborenen auf die Jagdbeute, reißen ihr das Herz aus dem Leibe und verzehren es
mit wilder Gier. Oft entspinnt sich darob ein heftiger Streit, denn das Löwenherz ist, nach dem Glauben der Schwarzen mit wunderbaren Kräften ausgestattet. Es verleiht Mut demjenigen,
der es verzehrt. Diese Art Aberglauben ist überall unter den Menschen verbreitet und Anklänge an solche Anschauungen der Naturvölker leben auch bei uns in Deutschland fort.
Schauen wir uns nur die Aelpler näher an. Da haben die Burschen und Jäger den Gemsbart auf dem Hut, weil er Kraft geben und schneidig machen soll, und auch die Gemsklaue wird als Amulett getragen, denn sie soll gegen Altersschwäche und Kraftlosigkeit schützen. In der Volksmedizin spielen vollends verschiedene Teile des Tierkörpers eine gar wichtige Rolle. Herzkranken wird empfohlen, das Herz des Hirsches zu essen, und Lungensüchtige werden mit pulverisierter Fuchslunge behandelt. Gegen Podagra, Bein- und Fußleiden gelten Hasenläufe und Hasenfett als ausgezeichnete Heilmittel, und wer ein scharfes Gedächtnis bekommen will, dem wird geraten das Hirn des braunen oder roten Eichkatzl zu essen!
In früheren Zeiten waren derartige Heilmittel allgemein anerkannt und auch in den Apotheken käuflich; nicht nur das „Volk“ benutzte sie, auch gelehrte Aerzte befaßten sich in vollem Ernst mit ihnen und brachten die Lehre von den Heilkräften verschiedener Organe des tierischen Körpers in ein, wie es ihren Zeitgenossen zweifellos erschien, lehrreiches und weisheitsvolles System. Die neuere Forschung räumte mit dieser Lehre unbarmherzig auf, und vor mehr als einem Jahrhundert verschwand sie aus den Büchern der Medizin; etwas länger hielten sich die tierischen Heilmittel in den Apotheken, da das Volk noch immer nach ihnen verlangte.
Wenn indessen die letzten Vertreter jener Lehre wieder erwachen und jetzt Umschau in der fortgeschrittenen Welt halten könnten, so würden sie Genugthuung empfinden; denn siehe da, unter den neuesten Heilverfahren giebt es eines, das gar sehr an das alte abergläubische erinnert: man hört ja heute so viel von einer „Gewebssaft“- oder „Organsafttherapie“, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts werden aus den verschiedenartigsten Körperteilen nicht nur Heilmittel, sondern sogar Verjüngungsmittel, Lebenselixiere bereitet.
Unsere Zeit steht im Zeichen der Nervosität. Man sucht den geschwächten Nerven auf verschiedenen Wegen beizuspringen, predigt die „Rückkehr zur Natur“, empfiehlt „naturgemäße Lebensweise“, verordnet die heilsame Bergluft und nimmt das Wasser zu Hilfe, indem man die Schwachen durch „Güsse“ stärkt. Die neueste der Heilarten erinnert aber sehr an die Stärkung des Gedächtnisses durch Verspeisen des Gehirns von einem „Eichkatzl“. Professor W. Babes in Bukarest und Constantin Paul in Paris wollen gefunden haben, daß man den kranken und geschwächten Nerven auf eine ganz besondere Weise beispringen könne.
Voraussichtlich vermöge der kranke Organismus nicht die nötigen Mengen der geheimnisvollen Nervensubstanz zu erzeugen; [655] man müsse ihm also helfen indem man fertige Nervensubstanz unmittelbar ins Blut bringe. Sie bereiteten also aus Kaninchen- und Schafhirn einen Extrakt und spritzten ihn den Kranken ein. Es wurden zwar nicht alle dadurch geheilt, wohl aber ein Teil der Kranken.
So versicherten wenigstens die Erfinder des neuen Heilmittels und einige andere Aerzte, welche dem Beispiele von Babes und Paul folgten. Wie weittragend mußte nicht die Entdeckung eines solchen Mittels erscheinen! Aus der Nervensubstanz unserer Haustiere konnte fortan die Kulturmenschheit Beruhigungsmittel für ihre aufgeregten Nerven schöpfen! Auf die ersten Versuche folgten aber weitere, die von Ungläubigen mit mehr Kritik ausgeführt wurden, und da zeigte es sich, daß die Besserungen und Heilungen auch dann eintreten konnten, wenn man den Kranken sagte, daß man sie mit Nervenextrakt behandle, in Wirklichkeit aber ihnen destilliertes Wasser einspritzte. Hier war also die Suggestion, die auf nervöse Personen so großen Einfluß ausüben kann, das eigentliche Heilmittel: der Glaube an die Heilkraft des Mittels hat die Besserung im Zustande der Kranken hervorgerufen.
Unsere biederen Bergbewohner, die gegen Herzleiden das Herz des behenden Hirsches empfehlen, werden als abergläubische Kinder ausgelacht. Wie ungerecht ist man gegen sie! Es wird heutzutage von angesehenen Aerzten ein neues Heilmittel gegen nervöse Herzen, Herzschwäche u. dergl. empfohlen. Es heißt Kardin, und wie wird es bereitet? Aus dem Herzen des Rindes, das – – volle acht Monate in verschiedenen Flüssigkeiten erweicht wird!
In ähnlicher Weise hat man einen Nierenextrakt, „Nephrin“, gegen Nierenleiden, einen Extrakt von Lebersaft gegen Leberleiden empfohlen. Wer an Muskelschwäche leidet, wird vielleicht in der Zukunft mit einem Extrakt frischer Muskeln, mit einem „Musculin“ behandelt werden können.
Die Zuckerharnruhr oder der Zuckerdiabetes ist ein ziemlich weit verbreitetes Leiden, dessen Natur vielfach dunkel ist. Neuere Untersuchungen scheinen darauf hinzuweisen, daß sie mit mangelhafter Thätigkeit der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) zusammenhängt. Ist da die Hoffnung nicht berechtigt, daß wir die Krankheit heilen können, wenn wir einen Auszug der Drüse Diabetikern einspritzen oder sie die Drüse genießen lassen? In der That ist man eifrig damit beschäftigt, Versuche nach dieser Richtung hin anzustellen.
Die größte Verbreitung erreichte aber die Anwendung der von Brown-Séquard empfohlenem Drüsenflüssigkeit, die bis heute von rund 1200 Aerzten etwa 200 000 Mal gegen verschiedene Leiden angewendet worden ist.
Ueber den Wert oder Unwert dieser Organsäfte bei der Behandlung der Kranken wird in ärztlichen Kreisen noch lebhaft hin und hergestritten, und wir hätten diese Frage wohl gar nicht in der „Gartenlaube“ berührt, wenn nicht wenigstens auf einem Gebiete der Organsaftbehandlung eine thatsächliche unbestrittene Errungenschaft zu verzeichnen wäre, die sogar die Heilung kretinös entarteter Menschen bis zu einem gewissen Grade in Aussicht stellt. Es ist dies die Behandlung einiger schwerer Leiden mit der Schilddrüse, auf deren Geschichte wir ausführlicher eingehen möchten.
Vor zwanzig Jahren war es, da beschrieb der englische Arzt William Gull eine „neue“ Krankheit. Die von ihr befallene, bis dahin gesunde und völlig normale Frau zeigte ein kretinenähnliches Aussehen; ihre Haut war gedunsen, der Ausdruck des geschwollenen Gesichtes apathisch, geistlos, der ganze Organismus matt und schwach geworden, die geistigen Kräfte waren geschwunden. Man fand später noch andere Unglückliche, die in dieser Art erkrankt waren, und nannte dieses eigenartige Leiden Myxoedema, was etwa „Schleimschwellung“ bedeutet, da das Gedunsensein auf Anhäufung einer Schleimsubstanz unter der Haut beruhte. Das Myxödem kommt in Deutschland sehr selten, in England dagegen häufiger vor. Der Ausgang der Krankheit war bis jetzt Tod nach jahrelangem Siechtum. Lange blieben die Ursachen und das Wesen des Leidens in Dunkel gehüllt, bis man dahinter kam, daß bei diesen Kranken ein Organ des Körpers verkümmert zu sein pflegte: es war dies die Schilddrüse, die vor dem unteren Teile des Kehlkopfes und dem oberen der Luftröhre liegt. Wozu diese Schilddrüse da ist, darüber stritt man seit jeher, und viele Aerzte neigten zu der Annahme, daß sie überhaupt ein wenig wichtiges Organ sei, daß man sie entbehren könnte.
Die Schilddrüse ist aber oft der Sitz eines anderen weit verbreiteten Leidens; krankhafte Entartungen der Schilddrüse bilden den Kropf. Diese langwierige Krankheit, die manchmal den Menschen zu ersticken droht, machte Operationen, Entfernungen der Schilddrüse nötig. Da stellte sich denn heraus, daß man die ganze Schilddrüse nicht so ohne weiteres entfernen durfte, denn die Operierten verfielen dadurch mitunter in einen beklagenswerten Zustand, der dem Myxödem sehr ähnlich war. Infolge dieser und anderer Erfahrungen drängte sich mehr und mehr die Ueberzeugung auf, daß der Schilddrüse in der Erhaltung des gesunden Lebens eine hohe Bedeutung zukomme, daß sie ein blutreinigendes Organ sei. Man suchte also in Fällen, wo die Drüse entfernt wurde, gesunden Tieren entnommene Drüsen einzuheilen. Dies gelang zwar nicht, aber schon das Aufsaugen der Schilddrüse durch den Körper zeigte einen günstigen Einfluß.
Auf Grund dieser Wahrnehmungen haben nun vor einiger Zeit Murray und Howiz versucht, das Myxödem, das aller ärztlichen Behandlung bis dahin getrotzt hatte, dadurch zu heilen, daß sie den Kranken den Saft der Schilddrüsen von Hämmeln und Kälbern einspritzten oder dieselben die Drüsen einfach verzehren ließen. Und siehe da, der Versuch gelang. Die Kranken wurden geheilt, die Schwellungen und die allgemeine Schwäche schwanden, wenn auch erst nach Wochen oder Monaten, und auch die geistigen Kräfte kehrten wieder zurück.
Man wandte hierauf dieselbe Behandlungsart auf Fälle jener myxödemähnlichen Erkrankung an, die auf die operative Entfernung der erkrankten Schilddrüse gefolgt war, und erzielte auch hier wesentliche Besserungen und Heilungen. Durch das Verzehren der Schilddrüsen von Tieren wurde eben dem Körper jenes noch unbekannte Etwas zugeführt, dessen er zu seinem Gedeihen bedarf. Es scheint aber, als ob die Heilung durch einmalige Kur keine dauernde würde. Wird das Verzehren der Schilddrüse ausgesetzt, so kann das Leiden von neuem ausbrechen, so daß für solche Kranke die Schilddrüse zu einem unentbehrlichen Nahrungsmittel wird.
Das Myxödem ist ein seltenes Leiden; die Schilddrüse scheint aber nach den neuesten Erfahrungen als Heilmittel gegen eine schlimme in verschiedenen Gebirgsthälern häufiger vorkommende Krankheit brauchbar zu sein – gegen den Kretinismus, der zur völligen Verkümmerung des Menschen in körperlicher und geistiger Hinsicht führt. Selbstverständlich erfordert diese Behandlung eine sorgfältige ärztliche Ueberwachung, denn es ist auf diesem Gebiete noch so vieles unklar und man will auch bei ihr Schattenseiten bemerkt haben.
Durch sorgfältige Forschungen wurde ferner schon früher festgestellt, daß zwischen dem Kropfleiden und dem Kretinismus ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Der Kretinismus kommt in jenen Gebieten vor, in welchen auch der Kropf einheimisch ist. Ja, man ist zu der Ansicht gekommen, daß viele der schwersten Erscheinungen des Kretinismus eben durch das Fehlen der Schilddrüsen hervorgerufen werden.
Bei einem Teil der Kretinen fehlt dieses Organ, es ist von der Geburt an verkümmert, bei anderen, die große Kröpfe besitzen, ist die Drüse krankhaft entartet und kann dem Körper nicht mehr dienen, kann nicht die blutreinigenden Stoffe erzeugen.
Es ist nun durchaus nicht ausgeschlossen, daß das konsequente, ärztlich überwachte Verzehren von Schilddrüsen seitens kretinös kranker Menschen von guten Folgen begleitet sein kann. Die ersten Versuche, die nach dieser Richtung hin gemacht wurden, sind durchaus nicht entmutigend. Alle, namentlich fortgeschrittenere Fälle des Kretinismus können natürlich durch die neue Behandlung nicht geheilt werden, wohl aber ist es eine Pflicht der Menschlichkeit, genau zu ermitteln, inwieweit man auf diese Weise den Unglücklichsten der Unglücklichen helfen kann.
Die Geschichte der Heilversuche von Kranken vermittelst der Schilddrüse belehrt uns im allgemeinen, daß in der „Organsafttherapie“ doch ein beachtenswerter Kern steckt. Wir dürfen nur nicht in den Fehler unserer Vorfahren verfallen und allen Drüsen- und Gewebssäften gleiche oder ähnliche Heilkräfte zuschreiben. Erst nach jahrelangen sorgfältigen Prüfungen wird man in der Lage sein, das Wertlose vom Nützlichen zu scheiden. J.
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Alle Rechte vorbehalten.
Der Theebau in China und Ostindien.
Tausende von kühnen Seefahrern waren im Zeitalter der Entdeckungen ausgezogen in ferne unbekannte Meere nach den Gewürzen Indiens; sie kehrten heim mit vollen Schiffsladungen kostbarer Pfeffernelken und Muskatnüsse, sie brachten aber noch mehr: Proben neuer Genußmittel, die in Europa bis dahin unbekannt gewesen waren. Der Tabak, der Kakao, der Kaffee und der Thee traten damals ihre Eroberungszüge in Europa an.
Am langsamsten von den vier Gewaltigen schritt der Thee vorwärts. Im Anfang des 17. Jahrhunderts tauchte er fast gleichzeitig auf zwei Wegen in Europa auf. Die holländisch-indische Handelsgesellschaft brachte übers Meer die ersten Päckchen und eine russische Gesandtschaft in der Mongolei erhielt einige Pfund als Gegengeschenk auf Zobelfelle. 1635 erschien der Thee zum erstenmal in Paris und 1638 in Moskau. Er hätte schwerlich Liebhaber gefunden, wenn man ihn sogleich als ein tägliches Getränk empfohlen hätte, zu seiner Einführung bedurfte er einer kräftigeren Reklame. Die Chinesen von denen man ihn kaufte, sagten: „Der Thee entfernt das Fett und macht den Menschen beweglich; er spült Unreinigkeiten fort, vertreibt die Schläfrigkeit, heilt Kopfweh und verhütet es.“ Das war ein Wink für die ersten Theehändler in Europa; sie legten die dürren Blätter Aerzten vor und siehe da, manche von den Jüngern Aeskulaps begeisterten sich für den neuen Aufguß, rühmten seine Heilkräfte und nannten ihn sogar ein untrügliches Mittel, um das Leben zu verlängern. So tranken ihn die Europäer zuerst als Medizin, bis sie sich an ihn gewöhnten und er in weiten Gebieten, in England, Holland und Rußland, zum täglichen Getränk wurde.
Während aber die Europäer in kurzer Zeit sich der Gewürze und neuen Genußmittel ganz und gar bemächtigten, sie nicht nur verbrauchten sondern auch in ihren Kolonien erzeugten, konnte man den Thee nur kaufen. Die einzigen Länder, welche damals den Thee erzeugten, China und Japan, waren für die Fremden verschlossen und so ruhte ein geheimnisvoller Schleier über der Herkunft des erfrischenden und anregenden Trankes. Der berühmte Botaniker Linné (1707 bis 1778) teilte noch die Gattung Thea sinensis in die beiden Arten Thea viridis und Thea bohea, von denen die erstere angeblich den grünen, die letztere den schwarzen Thee liefern sollte. So wenig kannte man im vorigen Jahrhundert die Bereitung der verschiedenen Theesorten. Erst allmählich drang man in das Innere Chinas vor und erfuhr nun, daß es dort nur eine Art des Theestrauchs gab, aus der im Laufe einer mehr als tausendjährigen Kultur verschiedene Varietäten hervorgegangen waren, wie dies auch bei unserem Weinstock der Fall ist. Die Mitteilungen der Reisenden reichten jedoch nicht hin, um darauf den Anbau des Theestrauchs in europäischen Kolonien zu begründen.
Da wurde zu Anfang dieses Jahrhunderts die Heimat der chinesischen Kulturpflanze entdeckt. In der Landschaft Assam, die im Thal des Brahmaputra gelegen ist, wächst der Theestrauch wild, und von hier haben ihn die Chinesen in ihre Heimat eingeführt. Nun bildet Assam einen Teil des indo-britischen Reiches, man konnte also daran denken, den Chinesen das Monopol des Theehandels streitig zu machen. In dem theetrinkenden England wurde der Gedanke mit Begeisterung aufgegriffen und im Jahre 1839 bildete sich dort eine Aktiengesellschaft, welche die assamesischen „Theewälder“ unter Kultur bringen wollte. Wohl kostete die Sache erst ein erkleckliches Lehrgeld, die Gesellschaft löste sich auf mit einem Verlust von 4 Millionen Mark; aus den Mißgriffen der Pioniere der indischen Theekultur wußten indessen andere zu lernen. Neue Theepflanzungen wurden gegründet; auch sie lieferten anfangs nur einen schlechten Thee, doch nach und nach besserte sich das Erzeugnis und fand einen immer größeren Abnehmerkreis. „Theegärten“ entstanden auch in anderen Teilen Indiens, Assam blieb aber der Mittelpunkt des neuen Unternehmens. Im Jahre 1861 waren hier 48½ qkm mit Thee bepflanzt und im Jahre 1890 war die unter Kultur genommene Fläche bereits auf 920 qkm gestiegen. Der indische Thee begann den chinesischen zuerst in England und Nordamerika zu verdrängen, bald hielten sich die Ausfuhr Indiens und Chinas die Wage und es wird sogar behauptet, daß in kurzer Frist der indische Thee dem chinesischen vollständig den Rang abgelaufen haben werde. In der That haben sich die englischen Theepflanzer Indiens zu einer großen kapitalkräftigen Vereinigung zusammengeschlossen, welche nunmehr auch auf dem europäischen Festlande ihrer Ware gegenüber der chinesischen Geltung verschaffen will. Immer mehr sieht sich der Theetrinker vor die Entscheidung gestellt, welchem von den beiden Nebenbuhlern er den Vorzug geben soll. Die Wahl ist nicht so leicht, denn die Beurteilung des Thees ist nicht jedermanns Sache; es gehören dazu Erfahrung und besondere Kenntnisse. Die Belehrungen, die von den Händlern unter das Volk gebracht werden, sind in der Regel sehr parteiisch gehalten, sie decken die Mängel des Gegners auf und verschweigen dessen Vorzüge. Es dürfte darum wohl angebracht sein, in diesem Streite zum Nutzen der deutschen Theetrinker ein unparteiisches Wort zu reden.
Warum trinkt man den Thee? Was macht ihn einem großen Teil der Menschen so besonders wertvoll? Er ist, wie der Kaffee, ein erregendes Genußmittel. In den Blättern des Theestrauches ist dasselbe Alkaloid enthalten, das wir in der Kaffeebohne finden, das bald „Koffeïn“, bald „Theïn“ genannt wird. Die Chemiker können es rein in Form kleiner farbloser Krystalle darstellen, und wenn wir es in kleinen Mengen einnehmen, so spüren wir, daß es anregend auf die Herzthätigkeit oder das Nervensystem einwirkt. Aber wenn wir ein Koffeïnpulver einnehmen, so ist seine Wirkung durchaus nicht der einer Tasse starken Kaffees oder Thees gleich. Diese Getränke wirken nachdrücklicher und beeinflussen auch unsere [657] Geistesthätigkeit, und zwar jedes in verschiedener Art. Der Kaffee soll mehr die Phantasie, der Thee mehr den Verstand beeinflussen. „Der Kaffee macht feurige Araber, der Thee ceremonielle Chinesen,“ kennzeichnet Jean Paul dies Verhältnis. Die Wissenschaft bestätigt die verschiedene Wirkung der beiden Genußmittel, aber sie ist bis jetzt nicht in der Lage, sie genauer zu beschreiben und zu bestimmen, nur so viel weiß man sicher, daß jene eigenartige Wirkung der beiden Getränke neben dem Koffeïn flüchtigen Oelen zukommt, die sowohl im Thee, wie im Kaffee enthalten sind. Diese aromatischen Stoffe werden wohl von der Pflanze während ihres Lebens vorgebildet, aber erst durch den Röstungs- und Gährungsprozeß, den die Kaffeebohnen und die Theeblätter vor dem Gebrauch durchmachen, ihrer ursprünglichen Schärfe beraubt und in angenehm erregende Mittel verwandelt. Daraus erfahren wir, daß der Wert des Thees nicht allein von der Beschaffenheit des Strauches, sondern auch von der Behandlung der Blätterernte abhängt.
In dieser Hinsicht sind nun die Chinesen bis auf den heutigen Tag Meister geblieben; selbst die Japaner, die schon im 8. Jahrhundert n. Chr. den Theestrauch aus China einführten, verstehen nicht, so edle Theesorten zu erzeugen. Die Söhne des Reiches der Mitte wissen durch Kultur des Strauches und durch die Art der Röstung den Gehalt an Theïn in den Theeblättern zu vermindern und deren Aroma zu erhöhen, und das ist sicher ein Vorteil, da das Theïn, in größeren Mengen genossen, schließlich wie ein Gift zerrüttend auf den Körper wirkt. Wer guten Thee gewinnen will, der muß noch heute bei den Chinesen in die Schule gehen.
Der chinesische Schmutz ist sprichwörtlich, allein bei der Bereitung der erste Theesorten geht es in China äußerst reinlich zu. Der Theestrauch wird drei bis viermal im Jahre abgeerntet. Die besten Blätter liefert die erste Ernte im Frühjahr. Just wenn die jungen Blätter sich aufwickeln wollen, müssen sie gepflückt werden, und zwar mit der peinlichsten Sorgfalt. Heinrich Semler erzählt in seiner „Tropischen Agrikultur“, die Sorge um die jungen Blätter gehe so weit, daß den von Jugend auf für diese Beschäftigung geschulten Arbeiterinnen verboten werde, Fische oder andere starkriechende Speisen zu genießen, damit ihr Atem nicht das Aroma der Blätter verderbe. Sie müssen auch täglich mindestens ein Bad nehmen und dürfen die Blätter nicht mit den nackten Händen pflücken, sondern müssen Handschuhe tragen. Ein Körbchen hängt ihnen an einer Schnur um den Hals, damit beide Hände frei bleiben, und sie vollziehen das Pflücken in der Weise, daß sie mit der Linken einen Zweig zu sich heran ziehen und mit der Rechten die Blätter am Stiel abbrechen; der letztere muß bei dieser wertvollsten Ernte, aus welcher die Theesorten feinster Güte bereitet werden, vollständig zurückbleiben. Die Indierin ist in der Art des Pflückens ganz dem chinesischen Brauche gefolgt, wie unser Bildchen auf Seite 656 veranschaulicht.
Die nachfolgenden Ernten werden nicht mehr so hochgeschätzt und bei ihnen wird das Pflücken allerdings sorgloser und oft sogar in roher Weise betrieben.
Aus einem und demselben Blatte kann man je nach Belieben grünen oder schwarzen Thee machen. Unsere Pflanzensammler wissen wohl, daß die Blätter verschiedener Pflanzen, z. B. der Orchideen, unvermeidlich schwarz werden, wenn man sie kurzer Hand trocknet, daß sie aber ihre grüne Farbe behalten, wenn man sie der Einwirkung heißer Dämpfe aussetzt, bevor man sie zwischen die Löschblätter legt. Ebenso ist es beim Thee. Dämpft man die frischgepflückten Blätter, bevor sie geröstet werden, so liefern sie den grünen Thee. Diejenigen Blätter aber, welche zur Bereitung des schwarzen Thees bestimmt sind, werden zunächst an der Luft getrocknet, bis sie welk werden. Dabei geht die erste chemische Umwandlung des Blattinhalts vor sich. Das Gras auf unseren Wiesen duftet nicht, mähen wir es ab und lassen es trocknen, so beginnt der Heugeruch auszuströmen; es giebt eine große Zahl von Pflanzen, die erst beim Welken Wohlgerüche erzeugen, und auch die Theeblätter werden im Welken aromatisch. Hat der Duft einen bestimmten Grad erreicht, dann sind die Blätter zum Rösten reif, welches in Pfannen aus sehr dünnem Eisen über Holzkohlenfeuern geschieht. Die gerösteten Blätter, die noch eine Menge Saft enthalten, werden alsdann auf Tischen gerollt und diese beiden Verfahren je nach Bedarf zwei- bis fünfmal wiederholt. Sind die Blätter so spröde geworden, daß sie durch einen leichten Druck zwische den Fingern zerbrechen, so gelten sie als fertig für die Verpackung.
Die gedämpften Blätter des grünen Thees werden nicht getrocknet, sondern sofort geröstet und gerollt, aber in rascherer Reihenfolge, als dies bei dem schwarzen Thee der Fall ist. Die Folge davon ist, daß der grüne Thee mehr Theïn enthält, daß seine erregenden Bestandteile durch die Gährung und Röstung nicht besonders gemildert werden, weshalb er die Nerven mehr reizt als der schwarze.
Die Verarbeitung der Theeblätter ist eine Kunst, die man nur durch Erfahrung und Uebung lernen kann; jede Aenderung in der Reihe der verschiedenen Prozesse ist auf die Beschaffenheit des Thees von Einfluß, und so entstehen je nach der Art der Blätter, der Erntezeit, der Dauer des Welkens und der Häufigkeit des Röstens verschiedene Theesorten.
[658]
Einen Uebergang von dem grünen zu dem schwarzen Thee Chinas bildet z. B. der Oulong; diese Theesorte ist mit so vielen gelblich-grünen Blättern durchsetzt, daß ihre Farbe nicht mehr schwarz genannt werden kann; die Chinesen nennen sie darum „Oulong“, d. h. „grüner Drache“. Die wirklichen schwarzen Theesorten Chinas werden unter dem Namen der „Boheas“ zusammengefaßt; das Wort ist eine Verstümmelung des chinesischen „Bow-ui“, eines Gebirges, in welchem der schwarze Thee vornehmlich erzeugt wird. Obenan unter den schwarzen Theesorten steht der „Kaper“, ein Thee, der wegen seiner Aehnlichkeit mit den Früchten des Kapernstrauches so genannt wurde. Die Chinesen nennen ihn „schwarzen Perlenthee“, weil die Blätter so rund und fest gerollt sind, daß sie wie Perlen aussehen. Eine andere Sorte heißt „Pekko“; der Name ist aus dem chinesischen „Pak-ho“, d. h. „weiße Daunen“, entstanden. Die Spitzen der Blätter dieser Sorte sind nämlich mit weißen Härchen besetzt, welche den Daunen etwas ähnlich sehen. Die dritte Sorte nennt man „Souchong“, was „kleine oder seltene Sorte“ bedeutet, weil zu ihr nur kleine Blätter der zweiten Ernte verwendet werden. Die vierte Sorte heißl „Pouchong“, d. i. „gefaltete Sorte“, ihre Blätter sind spitz, rauh und platt. Als fünfte Sorte lernen wir endlich „Kongu“ kennen, die „mühevolle Sorte“, weil auf ihre Zubereitung mehr Kraft und Zeit verwandt wird als auf irgend eine andere des schwarzen Thees. Jede dieser Hauptsorten zerfällt noch in eine Reihe Untersorten, und wer Theekenner sein will, muß einen feinen Geschmack haben, ebenso wie bei uns der Weinkenner. Das Amt des jungen Chinesen, der auf unserem Bildchen S. 659 eine Theeprobe kostet, ist äußerst verantwortungsvoll. Der Käufer in Europa bekommt übrigens nur in den seltensten Ausnahmefällen eine dieser Sorten in reinem Zustande. Jede von ihnen zeichnet sich durch einen besonderen Geschmack aus: die eine ist herb, die andere mild, die eine hat viel, die andere wenig Aroma. Man sucht nun diese verschiedenen Vorzüge dem Theetrinker dadurch sozusagen in einer Tasse zu bieten, daß man die verschiedenen Sorten mischt und die Mischung dem Geschmacke des betreffenden Landes anpaßt. Diese Mischungen werden von den Zwischenhändlern, zumeist von den Einfuhrhäusern, besorgt und sie sind wieder eine Kunst, welche die europäischen Theehandlungen ausüben. Eine gute Mischung, die ein Kaufmann nach vielen Proben gefunden hat und die dem Geschmacke seiner Kunden zusagt, wird als das tiefste Geschäftsgeheimnis nicht einmal den Angestellten des Hauses verraten. Daran denken die wenigsten, die ihren Theebedarf viertelpfundweise kaufen und auf die Marken „Souchong“ oder „Pekko“ schwören.
Man hat aber noch eine andere Unterscheidung des chinesischen Thees, was seine Güte anbelangt, eingeführt. Von dem auf überseeischem Wege eingeführten „Schiffsthee“ unterschied man als den bei weitem besseren den „Karawanenthee“, der auf dem Rücken der Kamele quer über Asien nach Rußland gebracht wird. Unser Bild S. 657 zeigt uns den Theelagerplatz eines russischen Kaufmanns in der Mongolei, wo die Theeballen in großen Haufen, mit Häuten bedeckt, für den Landtransport aufgestapelt sind. Soweit es sich um den echten Thee handelt, hat jener Unterschied bis heute Geltung; denn die Feuchtigkeit, die auf der See herrscht, beeinträchtigt den Thee während der Ueberfahrt, und dann ist die Beförderung auf dem Karawanenwege so teuer, daß man sie nur für die besten Sorten des chinesischen Thees in Anspruch nimmt.
Zweihundert Jahre lang besaß China das Monopol des Theehandels. Die Theetrinker Europas hingen sozusagen von seiner Gnade ab, und der bezopfte Mongole wußte diesen Umstand sich zu nutze zu machen, er steigerte die Preise und fälschte die Ware. Die Verfälschungen konnten in China um so leichter ausgeführt werden, als in diesem Lande die Theekultur nicht im großen von einzelnen Pflanzern, sondern von Tausenden kleiner [659] Landbesitzer betrieben wird; man begegnet hier nicht ausgedehnten Theeplantagen, sondern nur kleinen Gärtchen, in denen stets eine geringe Anzahl von Sträuchern vorhanden ist. So geht der chinesische Thee durch viele Hände, bevor er zum europäischen Kaufmann oder zum Verbraucher gelangt, und er wird dadurch sicher nicht reiner und besser.
Ein ganz anderes Bild gewährt uns die indische Theekultur. Hier wird der Theestrauch auf großen zusammenhängenden Flächen in einer Weise angepflanzt, die aus der Ferne an die Rebengelände des Rheins erinnert. Zwischen den weit sich hinziehenden Plantagen steht da und dort auf anmutigem Hügel das schmucke Pflanzerhaus, mit Rosen und Blumen aller Art umrankt, als Mittelpunkt gestaltender Kraft und verbessernden Strebens; denn man muß zugeben, die indische Theekultur wandelt bereits ihren eigenen Weg. Man hat zwar Theesträucher aus China eingeführt, aber zuletzt doch gefunden, daß man bessere Erfolge erzielt, wenn man die einheimischen assamesischen Spielarten veredelt. Wohl schreibt sich die Güte des indischen Thees erst von der Zeit her, da man chinesische Arbeiter zum Ernten und Rösten der Blätter beigezogen hat, aber die indischen Pflanzer lernten nicht blind von ihren Meistern, sondern suchten und suchen noch diese zu überflügeln. Sie lassen zwar die Kuli keine Handschuhe anziehen, aber sie sorgen für Reinlichkeit nicht nur bei der besten, sondern bei jeder Ernte. Sie haben auch gefunden, daß der Chinese zu konservativ ist, daß er oft ohne überzeugenden Grund an umständlichen Röstungsverfahren hängt, sie wiesen nach, daß man die Bearbeitung der geernteten Blätter wesentlich vereinfachen kann; vor allem aber verleugneten sie nicht, daß sie Kinder des neunzehnten Jahrhunderts sind. Bei den Chinesen ist all und jedes Handarbeit, die indischen Pflanzer verwenden auch beim Theebau Maschinen und die Folge davon ist, daß die dabei waltende Sauberkeit noch größer ist als in China. Ueberall macht sich der Einfluß des Großbetriebs geltend. Man werfe einmal einen Blick auf solch ein ostindisches „Trockenhaus“, in welchem die frischgepflückten Blätter auf Horden den ersten Welkungs- und Gährungsprozeß durchmachen; China kann solche Hallen nicht aufweisen[.] Die fertige Ware wird in die üblichen Kisten aus Teakholz verpackt und tritt auf dem Brahmaputra die Reise nach den Ausfuhrhäfen an.
Die indischen Theepflanzer haben aber auch ein Interesse daran, daß ihr Thee als solcher zur Geltung kommt und nicht gefälscht wird. Zu diesem Behufe haben die indischen Gesellschaften eine große Vereinigung gebildet, welche unter einheitlicher Leitung den fertigen Thee auf den Pflanzungen in Empfang nimmt, seemäßig verpackt und für Europa zunächst nach London schickt. Dort befindet sich eine Anzahl von Theemaklern, die seit langen Jahren das Theegeschäft nach einem bestimmten Lande – sagen wir z. B. nach Deutschland – als Specialität betreiben. Dazu gehört vor allem die genaueste Kenntnis des beliebtesten Theegeschmacks in dem betreffenden Lande. Diesen besonders gewünschten Geschmack muß, bei dem wechselnden Ausfall der Ernten, der Makler regelmäßig erst durch richtige Mischung schaffen. Diese Mischung wird aber nicht, wie dies bei dem chinesischen Thee der Fall ist, jedem beliebigen Händler überlassen, sondern durch eine Vertrauensperson der „Indian Tea Association of Calcutta“ besorgt. Dann geht sie unter Originalverpackung an die Hauptniederlage des betreffenden Landes, die für Deutschland in Hamburg errichtet ist, um von hier aus durch die verschiedenen Groß- und Kleinhandlungen endlich in die Hand des Theetrinkers zu gelangen. Durch diese Maßnahmen sind die Abnehmer des indischen Thees im großen und ganzen vor Fälschungen ziemlich geschützt.
Aber – ja, wenn man unparteiisch sein will, so muß man auch in diesem Falle auf das „Ja“ ein „Aber“ folgen lassen. Wie verhält sich der echte Indier zu dem echten Chinesen? Auf diese Frage muß man erwidern, daß die Chinesen augenblicklich den indischen Theeerzeugern noch über sind. Ihr Thee, soweit gute Sorten in Betracht kommen, ist milder, er enthält weniger Theïn und hat mehr Aroma als der indische. Dieser ist noch immer stärker, erregt die Nerven mehr als der chinesische, und noch vor kurzer Zeit pflegte man die besten indischen Sorten dadurch zu verbessern, daß man sie mit guten chinesischen vermengte. Die Stärke des indischen Thees kommt auch darin zum Ausdruck, daß man aus den assamesischen Blättern für Europa keinen grünen Thee bereitet; er würde hier entschieden als zu aufregend zurückgewiesen. Bedenkt man aber, welche Fortschritte die indische Theekultur in den letzten Jahren gemacht hat, so kann man wohl der Meinung beipflichten, daß die indischen Pflanzer in nicht langer Zeit auch in Bezug auf die Güte des Thees den Chinesen gleichkommen werden.
Allerdings trinkt man heute in Deutschland verhältnismäßig wenig Thee, und das ist zu bedauern, denn der Thee ist, wenn man ihn richtig zubereitet und namentlich nicht zu stark trinkt, durchaus nicht so aufregend, wie vielfach behauptet wird. Man hat den Hausfrauen schon viele Rezepte zum Theeaufbrühen gegeben. Wir sind nicht in der Lage, ihnen mit einem allgemein gültigen zu dienen. Verschiedene Theesorten erfordern verschiedene Zubereitung. Es ist richtig, daß das Wasser zum Theeaufguß stets weich sein und daß hartes Wasser durch Zusatz von doppeltkohlensaurem Natron (eine Messerspitze voll auf 1 Liter) verbessert werden sollte; es empfiehlt sich auch, vorher erwärmte Thon- oder Porzellangefäße zum Aufguß zu nehmen. Streitig ist aber die Frage, wie lange man den Thee ziehen lassen soll, bevor man ihn abgießt. Hier muß man sich nach der Theesorte richten. Die meisten indischen Sorten dürfen nicht länger als 5 Minuten ziehen, sonst bekommen sie einen schlechten bitteren Geschmack. Der chinesische Thee kann seiner Milde wegen ein längeres Ziehen vertragen, jedenfalls aber sollte man auch bei ihm die Dauer von 10 Minuten nicht überschreiten. Häufig entscheidet einfach der Geschmack; es giebt Theekenner, die den Aufguß nur 3 Minuten ziehen lassen, andere nennen einen solchen Thee „roh“.
Zur Wohlthat für den Menschen wird der Thee nur dann, wenn man sich gewöhnt hat, ihn leicht zu trinken; dann ist er ein durstlöschendes und angenehm erregendes, keineswegs aber aufregendes Getränk. Das ist unsere langjährige persönliche Erfahrung und darum zollen wir den Fortschritten der indischen Theekultur zwar alle Anerkennung, möchten uns aber nicht so ohne weiteres von dem echten unverfälschten, durch tausendjährige Kultur gemilderten Blatte Chinas trennen.
[660]
Ein Lieutenantsstreich.
Ja, den hättet Ihr ’mal als blutjungen Lieutenant sehen sollen,“ sagte der Major und goß sich ein frisches Glas ein. „Was das für eim bildhübscher Bengel war, der Solten! Und so voll Tollheit und Uebermut – der ,Frechling‘ hieß er schon als Fähnrich – aber trotz seines vorwitzigen Schnabels konnte ihm niemand lange böse sein – ein famoser Bengel! Ich erlebte einmal eine Geschichte mit ihm – einfach unglaublich und nur dann möglich, wenn man eben so liebenswürdig unverschämt und so unverschämt liebenswürdig war wie Solten.
Er war damals noch ein ganz junger Dachs, ich sein Premier, und wenn er im Monat einmal statt fünfzig Dummheiten nur neunundvierzig gemacht hatte, so konnte er sich bei mir dafür bedanken – ich bin immer ein sehr vernünftiger Mensch gewesen.
Aber um auf meine Geschichte zu kommen – ich entsinne mich des Abends noch, als wenn es gestern gewesen wäre! Wir hatten einen unbeliebten Regimentskommandeur ,weggegessen‘ und waren so recht, was man quietschfidel nennt. Wir warfen uns in Civil, Solten und ich – es war ein kalter windiger Märztag gewesen – und fühlten uns zu allem aufgelegt, nur nicht dazu, den Abend zu beschließen wie alle andern Abende.
,Ich muß heut’ noch eine Dummheit machen,‘ sagte Solten wohl zehnmal, während wir Arm in Arm die Friedrichstraße herunter schlenderten, ‚ich habe gerade ein rasendes Talent dazu, und solche Augenblicke muß man nicht vorbei lassen!‘
‚Da thut man ein Unrecht an sich selbst,‘ ergänzte ich ernsthaft, und wir bummelten so weiter, in der schönen Hoffnung, daß der Zufall sich ein paar lustigen Gesellen schon günstig erweisen und ihnen irgend ein Abenteuer in den Weg werfen würde. So kamen wir nach dem Bahnhof Friedrichstraße, ließen uns Fahrkarten für die Stadtbahn geben – warum, weiß ich selber nicht mehr zu sagen – und gingen durch die Wartesäle und auf den Bahnsteig hinaus. Ich, ganz zerstreut und ohne auf irgend etwas oder irgend jemand zu achten, döse so vor mich hin. Da auf einmal packt mich Solten am Arm. ‚Stehen bleibeu!‘ sagt er.
,Ja, was hast Du denn?‘ frage ich ganz verwundert.
Da winkt er mit den Augen nach dem Damencoupé hin, an dessen beiden Fenstern zwei weibliche Wesen einander gegenübersaßen, eine Alte und eine Junge; die Junge recht niedlich, das war nicht in Abrede zu stellen ,Na ja!‘ sage ich, ‚ich sehe, aber nun komm’ doch weiter!‘
Allein er kam nicht, kein Gedanke! Er zwang mich, immer zehn Schritte mit ihm zu gehen und dann wieder Kehrt zu machen, immer vor dem betreffenden Coupé auf und ab und immer nach dem Grundsatz jenes Lieutenantstoastes auf die Damen: Augen links, Augen rechts – es leben die Vertreterinnen des schönen Geschlechts! –, je nachdem wir von der einen oder von der andern Seite herkamen. Nachdem die Sache etwa fünf Minuten gedauert hatte, wurde sie mir sträflich langweilig, ich verlor die Geduld.
,Nein,‘ sagte ich, ‚nun ist’s genug. Ich bin nicht mit Dir hierher gegangen, damit wir wie die Eisbären im Käfig immer vor dem Damencoupé hin und her taumeln – das ist ja toll!‘
‚Zugestanden!‘ meinte er und lachte, ,es ist toll – aber ist sie nicht bildhübsch?‘
Ich sah mir die beiden daraufhin genauer an. ,Die Junge – ja!‘ gab ich zu, ,aber die dazu gehörige Alte sieht aus, als wenn sie auf Urlaub aus dem Pfefferkuchenhäuschen wäre! Der Zahn ist gut! Dafür, daß er der einzige in seiner Art ist, könnte er viel größer sein! Sieh nur – sie gestikuliert ordentlich damit!‘
Er lachte wieder und antwortete nichts, sondern ging nur immer ganz unverdrossen seine Patrouille vor dem Damencoupé ab. Ich kannte das schon an ihm; wenn er ein hübsches Gesicht sah, da war nichts mehr mit ihm anzufangen.
‚Du,‘ begann ich wieder, ,geh’ jetzt weg! Die Alte fletscht schon ihren Zahn – wetten, daß sie Dich nächstens stellt?‘
,Wetten, daß mir das höchst egal ist?‘ antwortete er. ,Warum fährt sie mit einer so hübschen Nichte oder Tochter oder was weiß ich auf der Eisenbahn!‘
,Hoffentlich Nichte!‘ sagte ich, ,denn sollte die Schöne ihre Tochter sein, so warne ich Dich als Freund. Denk’ Dir die Alte als Schwiegermutter! Das Blut erstarrt mir in den Adern bei der Vorstellung.‘
In diesem Augenblick, während wir noch beide lachen, stand die alte Dame auf, beugte sich zum Fenster heraus und winkte Solten mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit zu sich heran – mit einem Zeigefinger, so lang und dünn wie ein Feuerhaken. Unheimlich anzusehen! Ich, feige, wie es dem Mann geziemt, zog mich ein paar Schritte in den Hintergrund zurück, aber nicht außer Hörweite. Ich dachte: springt sie ihn an, muß ich doch zu erreichen sein! Vorläufig sprach sie ihn aber nur an, mit einer Stimme, so sanft wie die einer ungeschmierten knarrenden Thür. ‚Mein Herr, ich bitte Sie, nicht immerfort in dieses Coupé zu sehen, es belästigt uns in hohem Grade.‘
‚Da hast Du’s!‘ dachte ich schadenfroh. Solten aber sah sie ganz kaltblütig an und sagte mit größter Ruhe. ,Ich bedaure, diesem Wunsche nicht entsprechen zu können – ich revidiere den Zug.‘
Nun, diese Unverschämtheit hätte ja eben durch ihre maßlose Unverschämtheit glücken können, aber er konnte sein Gesicht nicht so vollständig beherrschen; es zuckte ihm ein ganz klein wenig um den Schnurrbart, als ob er in der nächsten Minute hinauslachen müßte – und dies Zucken sah die alte Tante da drin in ihrem Raubtierkäfig. ,So?‘ gab sie giftig zurück, ‚Sie revidieren den Zug? Und mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?‘
,Na, nun ist’s aus!‘ sagte ich vor mich hin, denn nach meiner unmaßgeblichen Ansicht blieb ihm nichts übrig als tief zu erröten und zu verschwinden. Aber der heillose Bengel macht sein feierlichstes Gesicht, nimmt den Hut ganz tief ab und sagt, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, mit einer tadellosen Verbeugung und mit großem Nachdruck: ,Ich bin der verstorbene Bahnhofsinspektor!‘ Und ehe die Alte und die Junge Zeit finden, sich über diese erstaunliche Mitteilung und die ganze Tragweite des schlechten Witzes klar zu werden, macht mein Solten kurz Kehrt, nimmt mich unter den Arm, und wir gehen nun wirklich weiter und lachen so, daß sich die einsteigenden Passagiere alle noch Zeit nehmen, sich ganz verwundert nach uns umzusehen, obwohl es schon zum zweitenmal geläutet hatte.
‚Sag’ ’mal,‘ begann ich nach einer Weile, während deren wir uns einigermaßen satt gelacht hatten, ‚eine bescheidene Frage – schämst Du Dich eigentlich gar nicht?‘
‚Keine Spur!‘ entgegnete er so recht glückselig, und dann auf einmal: ‚Vahlberg, damit darf die Sache nicht zu Ende sein! Die Alte wird weiter geärgert. Es war zu niedlich, wie sie Wut schnaubte!‘
,Laß sie doch!‘ bat ich, denn ich fühlte ein menschliches Erbarmen. ‚Sie sah so schon aus wie eine Bombe im ersten Stadium des Platzens.‘
,Nein!‘ antwortete er ganz eigensinnig. ‚Rache muß sein! Ja, wenn sie mir’s noch liebevoll gesagt hätte, aber so! Komm, Vahlberg!‘ Und eh’ ich mich’s versah, zerrte mich der Unband nach einem Coupé - erster Klasse natürlich, darunter thaten wir’s damals nicht – und wir stiegen ein.
‚Bis zum Schlesischen Bahnhof kann sie verschnaufen,‘ sagte Solten und zündete sich eine Cigarette an, ,aber da erscheine ich ich ihr noch einmal und sage ihr ’was extra Niederträchtiges; bis dahin fällt mir’s schon noch ein.‘
‚Sie hatte doch ganz recht,‘ bemerkte ich als Stimme der ruhigen Vernunft.
,Na, wenn Du soviel für sie übrig hast‘ meinte Solten und legte sich in eine Ecke, ,da will ich nicht so sein – da darfst Du ihr dann einen Kuß geben! Nun sei aber auch zufrieden!‘
Und wir fahren und fahren und fahren – endlich sage ich: ‚Hör’ ’mal, Solten, nach meiner Berechnung müßten wir schon lange am Schlesischen Bahnhof sein.‘
,Nach meiner auch,‘ antwortet er und versucht, zum Fenster hinaus zu sehen; es war aber pechfinster draußen.
In diesem Augenblick geht die Thür des Coupés halb auf und der Schaffner verlangt die Fahrkarten. Wie wir ihm nun ganz kindlich und vertrauend unsere Stadtbahnkarten entgegenhalten, wird der Mann des Gesetzes ziemlich grob. ,Ja, was gehen mich diese Karten an? Ihre richtigen Fahrscheine will ich haben!‘
Mir dämmert ein entsetzlicher Gedanke.
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[662] ,Wir wollen am Schlesischen Bahnhof aussteigen,‘ bringe ich ganz schüchtern vor.
Da grinst der Schaffner. ,Ja, das thut mir sehr leid, das müssen Sie schon morgen besorgen,‘ meint er. ‚Das hier ist der Eilzug, der hält zum erstenmal in K. heut’ nacht um zwei Uhr.‘
Na, das war ja eine allerliebste Geschichte! Nicht genug, daß wir die Karten bis K., wo wir auf Gottes Welt nicht das mindeste zu suchen hatten, nachlösen mußten, nicht genug, daß wir in unseren dünnen Civilanzügen die kalte Nacht hindurch spazierenfahren mußten - nein, obendrein hatten wir in K. nach Angabe des Schaffners vier Stunden Aufenthalt und konnten diese dazu anwenden, fern von Madrid über unser und anderer Leute Schicksal nachzudenken. Wirklich eine liebliche Aussicht! Wer sich einigermaßen in unsere Lage hineinzudenken vermag, der wird begreifen, daß ich, der so ganz unschuldig in diese Patsche gekommen war, vor Aerger zischte wie glühendes Eisen, auf das man Wasser spritzt. Kaum war der Schaffner wieder im nächtlichen Dunkel verschwunden, so hagelte es auf meinen armen Freund mit ‚Siehst Du’s‘ und ‚Das kommt davon!‘
Solten ließ denn auch ziemlich kleinlaut den Kopf hängen, ein recht ungewohnter Zustand bei ihm. ,Ich kann doch nichts dafür, daß der Zug nicht hält,‘ meinte er ganz gedrückt.
,Ach was!‘ sagte ich, schon wieder halb versöhnt, denn so eine richtige Wut tobt sich am schnellsten aus, wenn das Gegenüber sich drein ergiebt, ,ach was, als verstorbener Bahnhofsinspektor mußt Du doch wenigstens um die Züge Bescheid wissen!‘ Na, mit dieser Erinnerung war der Friede wieder hergestellt und wir fuhren, wenn auch nicht mehr sehr übermütig, doch still gefaßt, unserem unbekannten Schicksal entgegen und – froren. Solten that zwar von seinem Standpunkt als Anstifter aus, als wenn es Julihitze gewesen wäre, ich aber klapperte so recht hörbar und vorwurfsvoll, damit ihm doch das Gewissen noch etwas schlagen sollte.
Endlich, endlich hielt das keuchende Ungeheuer von Zug. Wir stiegen aus und waren beide so eingenommen von unserer Weltumsegelung wider Willen, daß wir den eigeutlichen Grund und Zweck der blödsinnigen Fahrt - die Alte und die Junge - ganz vergessen hatten und sie, die schwer genug gerächt waren, ruhig weiter in die Welt sausen ließen. Da standen wir in dem kleinen Nest nachts zwei Uhr auf dem leeren Marktplatz in der Nähe des Bahnhofs und sahen uns an. Die ganze Stadt schlief natürlich; alles war so totenstill, wie es nur in einem solch kleinen Orte sein kann, wo ,der Schöppleinschlürfer Reih’!‘ schon um acht Uhr nach Hause geht und um Zehn die Lichter ausbläst. Wenn wir beide besondere Neigung verspürt hätten, die Daumen umeinander zu drehen, so stand diesem Zeitvertreib für die nächsten vier Stunden nichts im Wege, ja es schien das einzige, was wir mit einiger Aussicht auf Erfolg betreiben konnten.
‚Ob es einen Gasthof in K. giebt?‘ Mit diesen bedeutungsvollen Worten brach ich nach einer Weile das bange Schweigen.
,Hoffen wir!‘ sagte Solten lakonisch.
,Aber wo?‘ fragte ich ebenso.
Er zuckte die Achseln. ,Das mag der Himmel wissen!‘
Der Himmel, wenn er es wußte, verriet es aber nicht; er äußerte sich uns in anderer, wenig angenehmer Weise, indem er seine Schleusen öffnete und ohne vorherige Anfrage, ob es uns passe, einen eiskalten Platzregen auf unsere Häupter niederbrausen ließ.
,Hör’ ’mal!‘ sagte ich, ,wenn das jetzt noch lange so fortgießt, gehe ich ins Asyl für Obdachlose – thu’ Du, zu was Du Lust hast!‘
Da kam es plötzlich trapp – trapp – trapp mit dem eigentümlich dröhnenden Ton, den Menschenschritte in völlig leeren Straßen haben, auf uns zu. Das einzige Wesen, das zu dieser Stunde in K. Daseinsberechtigung zu haben schien, zeigte sich – der Nachtwächter. Er betrachtete uns mit gerechtem Erstaunen und entschiedenem Mißtrauen und schien die größte Lust zu haben, sich bei uns zu erkundigen, ob wir etwa irgendwo einbrechen wollten. Ich überlegte eben, ob ich nicht mit lieblicher Gebärde mich ihm nähern und ihn nach dem ersten und einzigen Gasthof des Ortes fragen sollte, da kam mir der unverwüstliche Solten zuvor. Er zeigte mit seinem gewinnendsten Lächeln an dem Hause hinauf, vor dem wir eben standen. ‚Sagen Sie ’mal, hochverehrter Freund, wer wohnt denn da oben?‘ fragte er.
‚Da oben?‘ wiederholte der Angeredete und sah uns wieder prüfend vom Scheitel bis zur Sohle an, ,da wohnt der Hauptmann Odenstern.‘
,Was? Der?‘ Solten fuhr auf mich los. ,Nun sind wir gerettet, Vahlberg – den kenne ich, das ist ein guter Freund von mir! Den besuchen wir!‘ Und schon hatte er den Wächter dazu vermocht, daß der ihm die Hausthür aufschloß.
Ich schrie fast vor Angst. ‚Solten, Solten, Du bist wohl nicht recht gescheit!‘ rief ich, während er trotz der Dunkelheit die Treppe schon in großen Sätzen hinaufrannte. ,Du kannst doch den Mann unmöglich nachts um zwei Uhr besuchen!‘
Solten lachte seelenvergnügt. ,Gestern mittag um Zwölf wäre es freilich für ihn und für mich bequemer gewesen, aber das kann ich nicht ändern. Und wenn zwei so furchtbar nette Kerls wie wir zu Besuch kommen, da freut man sich auch nachts um Zwei. Ich besuche ihn!‘
Nun wurde es mir aber zu bunt. Ich setzte mich als gebrochener Mann auf den Treppenabsatz. ‚Nein‘ sagte ich, ,alles hat seine Grenze! Mach’ Du Deine Dummheiten fortan allein – ich gehe nicht mit! Der Mann wirft uns ja die Treppe hinunter, und das wäre noch duldsam von ihm!‘
,Fällt ihm gar nicht ein!‘ tröstete Solten und blieb stehen, um sich nach mir umzusehen. ,Er freut sich diebisch, paß auf! Wo werd’ ich mir denn die Gelegenheit entgehen lassen, einem Mitmenschen auf so billige Weise eine Freude zu machen! So bin ich nicht. Komm Du nur mit!
,Es giebt so viele Odensterns in der Armee,n‘ klagte ich, ,wenn es nun der gar nicht ist, den Du kennst!‘
,Ach was,‘ sagte Solten verächtlich, ,das ist ja Unsinn! Er muß es einfach sein, er wird gar nicht gefragt. Ich falle ihm direkt um den Hals. ,Freund meiner Kindheit!‘ Was will er da machen? Es flammte ein Streichholz auf und bim, bim scholl der scharfe, kecke Ton der Klingel durch das schlafende Haus.
,Er klingelt wirklich!‘ sagte ich dumpf vor mich hin, ‚Schicksal, nimm Deinen Lauf!‘
Es dauerte natürlich eine ganze Weile, bis jemand kam; mir wurde ganz elend in der Wartepause, während Solten von Zeit zu Zeit ein neues Streichholz anzündete und mir mit einem so sorglos vergnügten Gesicht zunickte, als wenn wir im Ballsaal wären.
Endlich schlürfte etwas den Flur entlang, ein Bursche mit gesträubten Haaren und verschlafenen Augen, in einer grauen Kommißjacke, ein Licht in der Hand, öffnete die Thür einen kleinen Spalt weit – ich hörte ein unverständliches Gemurmel aus dem Flur. Solten zog seine Visitenkarten heraus. ,Gehen Sie ’mal zum Herrn Hauptmann und sagen Sie ihm, der Herr Lieutenant von Solten wünsche, ihm seine Aufwartung zu machen!‘ begann er mit einer unbefangenen Selbstverständlichkeit, die man erlebt haben muß, um sie zu glauben.
Der Bursche starrte den Sprecher verständnis- und wortlos an.
‚Der Herr Hauptmann schlafen!‘ bemerkte er dann.
,Ach bewahre!‘ sagte Solten gemütlich, ,das kann ich mir gar nicht denken! Und wenn er schläft, dann bitte, klopfen Sie ’mal so recht herzlich und innig, als wenn Sie ihn zum Dienst weckten – das kennen Sie ja, mein Sohn! Und nun – marsch!‘ In diesem letzten Worte lag der unverkennbare, soldatisch befehlende Ton, der auf den Burschen seines Eindrucks nicht verfehlte; er machte ohne ein weiteres Wort Kehrt und verschwand im Hausflur.
‚Solten Solten,‘ stöhnte ich, ‚Deine Frechheit wird uns noch zu Grunde richten!‘
,Im Gegenteil,‘ erwiderte mein Freund sehr ruhig. ‚Paß auf, die Sache verläuft glänzend! Und für jeden Fall sitzen wir im Trocknen, denn lebendig gehe ich aus diesem Hause nicht vor morgen früh hinaus – da kannst Du Gift drauf nehmen!‘
,Weiter fehlt mir nichts!‘ knirschte ich. In diesem Augenblick erschien der Bursche wieder. Der Herr Hauptmann lassen sehr bitten, näher zu treten,‘ sagte er, und Solten warf mir einen triumphierenden Blick zu. ,Komm Du nur mit!‘ flüsterte er, und ich, steif gesessen, verlegen und wütend, wie ich war, kroch hinter ihm her und hörte noch, wie der Bursche ganz entsetzt vor sich hin murmelte: ,Noch einer!‘ und sich mit dem Licht über die Treppe bückte, ob der Segen nun wirklich ein Ende habe.
,Herr Hauptmann lassen für ein paar Minuten um Entschuldigung bitten; sie wollen nur noch Toilette machen,‘ sagte der Bursche und öffnete uns die Thür zu einer behaglichen Wohnstube. Nun, das ließen wir uns begreiflicherweise nicht zweimal sagen; in der nächsten Sekunde saßen wir uns gegenüber in ein paar bequemen Sesseln – der Bursche hatte eine Lampe gebracht – und die Sache ließ sich soweit ganz behaglich an. Nach einer Weile kamen [663] Schritte über den Flur, die Thür ging auf. Ein frisch und heiter aussehender Mann von etwa fünfunddreißig bis sechsunddreißig Jahren trat ins Zimmer, und hinter ihm – aber da schnellten wir doch nicht schlecht von unseren Sitzen in die Höhe – hinter ihm eine allerliebste junge Frau im zierlichsten Morgenkleide, beide lachend und vergnügt die späten Gäste anguckend.
Das so meuchlings besuchte Ehepaar benahm sich tadellos – einfach tadellos. Beide zeigten sich sofort als Leute von Genie, die einen tollen Streich zu würdigen wissen, und zugleich als Leute von bester Erziehung – zwei Vorzüge, die sich selten genug bei einander finden. Man hieß uns mit der größten Liebenswürdigkeit willkommen, gerade als wenn wir seit vierzehn Tagen dringend auf eben diese Stunde eingeladen gewesen wären, keines fragte auch nur mit einem Wort, was denn dieser Ueberfall bei Hochkirch eigentlich zu bedeuten hätte. Wir waren sofort im besten Plaudern drin und begannen uns riesig gemütlich zu fühlen.
Nach einer Weile erhob sich die junge Frau. ,Nun sollen aber die Herren doch ein Glas Wein haben!‘ sagte sie und griff nach dem Schlüsselkörbchen. Aber da wurde ich energisch. ,Nein,‘ sagte ich, ‚das geht nicht – das leid’ ich nicht! Daß wir hier noch mit Trank und Speise erquickt werden, die ganze Haushaltung auf den Kopf stellen und nicht einmal eine Erklärung darüber geben, was uns eigentlich hierher geführt hat und wie die Sache kam – das kann ich nicht verantworten!‘
Und nun erzählten wir denn mit lauter schlechten Witzen, immer einer den andern überbietend, unser Abenteuer und die Geschichte vom ,verstorbenen Bahnhofsinspektor‘, kurz wir leisteten das Menschenmögliche in farbenprächtigen Beschreibungen der bildhübschen Nichte und der schrecklichen Tante mit dem einen Vorderzahn.
Während wir noch so erzählten und schwatzten, bemerkte ich, daß unsere Wirte sich immer verstohlen zuplinkten und lächelten, und als Solten, der sich vorzüglich aufs Nachahmen verstand, die Scene, wie die Alte ihn anschnurrte, so recht packend vorführte, da lachte die junge Frau hell auf. ,Ja, so macht sie’s, so kann ich mir sie lebhaft vorstellen! O, sie ist’s, es ist unsere Tante Aurelie mil Ilse – da giebt’s gar keinen Zweifel mehr!‘
‚Tante?‘ stammelten wir verlegen, mit erbleichten Gesichtern; wir hätten nun natürlich am liebsten alles zurückgenommen, was wir in den letzlen vierzehn Tagen gesagt hatten und in den nächsten sagen würden – aber es war zu spät! ‚Tante!‘ wiederholte ich tonlos.
,Ja, Tante!‘ fiel der Hauptmann herzhaft lachend ein, Tante und Cousine von uns sind jene beiden, die Ihr angeödet habt, und bei uns ist die beste Auskunft über sie zu holen, denn sie sind hier ganz in der Nähe auf ihrem Gut zu Hause.‘
Solten hatte sich inzwischen schon wieder gefaßt ,Nun,‘ sagte er, ,das ist ja ein Wink des Himmels! Mir blutete ohnehin seit gestern abend schon das Herz, daß ich von der reizenden jungen Dame nichts mehr hören und erfahren sollte – von der Tante ganz zu schweigen – da kann ich wenigslens eine leise Hoffnung haben, sie ’mal wieder zu sehen!‘
Unsere Wirte hatten inzwischen ein paar Worte miteinander geflüstert, und die junge Frau wurde immer eifriger und nickte. ,Hört ’mal, Ihr Herren,‘ begann der Hauptmann, ,meiner Frau kommt ein gescheiter Gedanke!‘
,Wie nicht anders zu erwarlen war!‘ schaltete ich galant ein, während Solten nur gespannt auf den Sprecher sah.
‚Also – wir sind morgen oder besser heute abend zu einem Tanzfest bei der besagten Tante eingeladen –‘
,Und händeringend gebeten, noch ein paar flotte Tänzer mitzubringen?‘ rief Solten atemlos.
,Nun, das nicht gerade, aber wenn wir sie mitbrächten,‘ meinte die junge Frau, ,so wolllen wir schon sehen, wie sich die Sache weiter macht!‘
,Morgen ist Sonntag, da ließe es sich ja auch mit dem Urlaub machen,‘ schob der Hauptmann überredend ein.
Ich schüttelte den Kopf. ‚Solten,‘ sagte ich feierlich, ,das ist undenkbar. Nach Deinem bodenlosen Betragen von gestern abend willst Du der ehrwürdigen Anverwandten dieses gastlichen Hauses noch in ihr Tanzfest hineinplumpsen – das würde denn doch der Geschichte die Krone aufsetzen!‘
‚Sie läßt Sie am Ende gar nicht herein!‘ meinte der Hauptmann lachend.
‚Das sei meine Sorge!‘ erwiderte Solten unbekümmert, ‚die Damen erkennen mich entschieden nicht wieder –‘
,Auch meine Cousine Ilse nicht?‘ fragte unsere junge Wirtin schelmisch.
‚Das wäre allerdings tief schmerzlich, aber in diesem Falle ganz praktisch,‘ meinte Solten lachend; ‚im übrigen verlasse ich mich auf meine angeborene Liebenswürdigkeit und Unverschämtheit –‘
‚Die hast Du, das weiß Gott!‘ seufzte ich.
,Ich bin schon mit anderen Leuten fertig geworden wie mit einer alten Tante,‘ schloß Solten mit einem höchst fidelen Gesicht. ,Also, wenn wir mitkommen dürfen – sollen – können – ich wag’s!‘
,Und jetzt gehen wir in den Gasthof und lassen die Herrschaften endlich zur Ruhe kommen,‘ ergänzte ich und erhob mich.
,Ja – ins Gasthaus ‚Odenstern‘!‘ sagte der Hauptmann. ‚Macht doch keine Geschichten, Kinder! Unsere Gaststube ist, wie ich meine vorzügliche Hausfrau kenne, in zehn Minuten fertig – und wir fahren morgen abend alle zusammen zu unserer Tante!‘
Nun wurde unter Lachen und Fidelität das Nähere beschlossen, der Bursche mit dem Frühzug nach Berlin geschickt, um uns unsere Uniformen zu holen, und der Feldzugsplan für den anbrechenden Tag gemacht. Solten war in den paar Stunden des Beisammenseins schon wieder zum Schoßkind bei unserer Wirtin geworden, und als wir uns endlich in die behagliche Gaststube begaben, hatten wir das Gefühl, als seien wir mit Odensterns nicht drei Stunden, sondern drei Jahre bekannt. Wie das so absonderlichen Situationen eigen ist, daß sie die Leute rasch einander nahe bringen – wenn die Leute eben danach sind!
Nach der durchwachten Nacht schliefen wir allseitig bis tief in den Tag hinein. Zu Mittag kam der Bursche mit unseren Uniformen an, und gegen Abend saßen wir als sehr vergnügtes vierblätteriges Kleeblatt in der Eisenbahn und fuhren unserem Abenteuer entgegen. Solten, der Hauptattentäter, wieder so unbefangen und ausgelassen wie möglich – wir alle fest entschlossen, uns in jedem Fall herrlich zu amüsieren – mit der Tante oder über die Tante, wie es eben kommen mochte. Unterwegs erzählte man uns noch, daß die Tante ein altes Fräulein, die bei ihr lebende Nichte eine Waise sei – ein nicht nur bildhübsches – das wußten wir ja! – sondern auch sehr liebes und gutes Mädchen, die gut tanze, gut reite, gut plaudere, kurz alle Vorzüge und noch ein paar mehr in sich vereinige.
An der Station erwartete uns ein elegantes Gefährt, denn Odenstern hatte von K. aus telegraphiert. ‚Bringe noch zwei Tänzer mit!‘ Wir fuhren in schlankem Trabe durch den Abend dahin und hielten vor dem Gutshause, ehe wir es gedacht hatten. Die Gesellschaft war schon vollzählig versammelt, als wir eintraten. Die gefürchtete Tante, die als Wirtin Cercle hielt, nahm sich in einem lawendelfarbigen Gewande ganz menschlich aus, die Nichte im Ballslaat noch viel bezaubernder als gestern im Reisehütchen. Wir beide, Solten und ich, wechselten nur ein leises, aber bedeutungsvolles ‚Donnerweller!‘ bei dem Anblick – und dann kam der große Augenblick der Vorstellung.
Solten, in der vollen Pracht seiner Uniform, mit einem so feierlichen Gesicht wie ein spanischer Grande, der Tante die Hand küssend – das war ein Anblick, bei dem man kaum ernsthaft bleiben konnte. Die Tante, die erst in allgemeiner Menschenliebe und Gastfreundlichkeit ihn holdselig angelächelt hatte, stutzte, als sie ihn genauer ansah, wetzte den Zahn, warf einen wilden Blick um sich und schien sich zu besinnen. In dem Augenblick war Solten aber auch schon zurückgetreten, um die Nichte Ilse zu begrüßen. Diese besann sich nun ganz entschieden auf ihn; sie bekam einen roten Kopf erster Güte, wollte sehr würdig und abweisend aussehen, konnte es aber nicht übers Herz bringe, und ich sah mit Staunen und Grauen, wie Solten sie gleich en gros engagierte – und wie sie – o Weiber, Weiber! – immer nickte und nickte und in ihre Tanzkarte kritzelte. Ich dachte bei mir: ‚Die beiden werden schon miteinander fertig werden!‘, war auch nach zwei Minuten zu der Ueberzeugung gekommen, daß Fräulein Ilse sich eher würde von vier wilden Pferden zerreißen lassen, ehe sie den ‚verstorbenen Bahnhofsinspektor‘ verraten hätte.
Ich übernahm demnach mit gewohnter Herzensgüte die Rolle der zweiten Violine, machte mich an die Alte heran, die mir gegenüber nichts ahnte, und war bestrebt, ihr den Beweis zu liefern, daß ihre ungebetenen Gäste ganz nette Leute wären.
In den Pausen belustigte ich mich mit Odensterns über die fortschreitende Vertraulichkeit zwischen Solten und der hübschen [664] Nichte und über die schlangenglatte Gewandtheit, mit der er es verstand, sich um die Tante herumzudrücken, die ihn ersichtlich stellen und fangen wollte – es war die reine Treibjagd. Was der Bengel alles an- und aufstellte, um nicht Hals geben zu müssen, war einfach unglaublich. Endlich, kurz vor Tisch, fanden wir vier Spießgesellen uns in einem der Nebenzimmer wieder bei einander. Solten stürzte ein Glas Bier hinunter.
‚Ich bin ganz zu Ende!‘ rief er und warf sich neben unserer jungen Wirtin in einen Stuhl, die Thür im Rücken. ,Heut’ abend kann ich mir lebhaft vorstellen, wie einem Hasen zu Mut ist, hinter dem ein alter wütender Jagdhund her ist – Verzeihung, gnädige Frau, für die Bildersprache!‘
,Bitte!‘ sagte Frau von Odenstern lachend. ‚Aber wie steht es denn mit dem Schatz, den der ‚alte. wütende Jagdhund‘ verteidigen will?‘
Solten machte nur eine leichte abwehrende Bewegung mit der Hand – er sah ganz ernsthaft aus und schwieg. ‚Aha!‘ dachte ich bei mir, ,den Mann hat’s!‘
Während wir so im schönsten Frieden bei einander saßen und nichts Böses ahnten, raschelte es hinter uns – die Tante stand da! Wir alle fuhren zusammen wie die Kinder, die beim Aepfelstehlen ertappt werden. Solten sprang von seinem Stuhle in die Höhe. ‚Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten, mein gnädiges Fräulein?‘ und wollte rasch an ihr vorbei zur Thür hinaus. Aber diesmal war die Tante entschlossen – sie hielt ihr Opfer einfach am Rockärmel fest. ‚Einen Augenblick, Herr von Solten,‘ sagte sie mit der uns nur zu wohl erinnerlichen Flötenstimme, ,ich möchte Sie nur etwas fragen – habe ich Sie nicht schon einmal gesehen?‘ Und dabei krallte sie sich mit ihren scharfen Augen ordentlich in sein Gesicht ein – es war schauerlich!
Solten machte eine nachdenkliche Miene, dann schüttelte er langsam den Kopf. ‚Unmöglich, mein gnädiges Fräulein,‘ sagte er mit vollster Sicherheit, ‚ich würde eine solche Begegnung doch nie vergessen haben.‘ Und dazu ein Blick auf die Tante, als wenn sie eine Venus von sechzehn Jahren wäre.
Aber die Tante blieb ungerührt. ,Mir ist doch so!‘ fuhr sie fort, ‚besinnen Sie sich einmal! Auf dem Bahnhof in Berlin!‘
Solten sah sie so recht unschuldig und ehrlich an – es hatte etwas Rührendes für den unbefangenen Zuschauer. ‚Aus dem Bahnhof?‘ fragte er voll aufrichtigen Staunens.
,Ja, auf dem Bahnhof!‘ wiederholte die Tante, die nur um so ärgerlicher wurde, je unzweifelhafter sie bei der längeren Unterhaltung seine Identität feststellen konnte, ,auf dem Bahnhof – und Sie haben sich sehr ungezogen benommen!‘
,Ich?‘ sagte Solten kläglich und mit einer Unschuldsmiene. ,Aber das ist ja scheußlich von mir! Das hätte ich mir wirklich gar nicht zugetraut! Ich bin sonst immer sehr artig, mein gnädigstes Fräulein – fragen Sie nur ’mal meinen Freund Vahlberg hier!‘ Er sah dabei so unbefangen und vergnügt aus, daß die Tante wirklich anfing, zu zweifeln – aber sie wagte noch einen letzten Sturm. ‚Denken Sie einmal an gestern abend!‘ sagte sie drohend.
,Gestern abend, und auf dem Bahnhof?‘ fragte Solten wieder zurück. ‚Aber das ist ja unmöglich! Ich bin ja schon seit übermorgen bei meinem Freunde Odenstern zu Besuch!‘
Wie diese erneute Unverschämtheit, die er mit der größten Eleganz herausschmetterte, abgelaufen wäre, das kann man nicht wissen; aber der Zufall, der entschieden bei dem dreisten Schlingel zu Paten gestanden und ihn in seine besondere Obhut genommen hatte, half ihm auch hier wieder aus der Patsche. In eben dem Augenblick, in dem die Tante noch verdutzt dastand, wurde die Thür aufgerissen, der Diener erschien und rief mit Donnerstimme: ,Ich bitte zum Souper!‘ Und in der allgemeinen Verwirrung gelang es Solten, zu entkommen und sich seiner Tischnachbarin, selbstredend der reizenden Nichte, zu versichern.
Wir, das heißt Odensterns und ich, saßen ganz in der Nähe des jungen Paars, und Fräulein Ilse wurde von uns allen gemeinschaftlich in die Schandthaten ihres Tischherrn eingeweiht. Man wird sich denken können, wie vergnügt unsere Ecke dabei war. Soltens Laune sprudelte an dem Abend wie Champagner, und ich dachte heimlich bei mir: ,Wenn sich das reizende Mädel nicht in ihn verliebt, so soll mich’s wirklich wundern!‘ Es ließ sich aber nicht so an, als sollte ich besondere Ursache zum Wundern bekommen! So schien denn nun alles über Erwarten glatt und gut abzulaufen. Allein man soll den Tag nicht vor dem Abend und den Abend nicht vor dem Morgen loben. Wir tranken uns gegenseitig fleißig zu, der Sekt floß reichlich, und unser guter Hauptmann Odenstern wurde so lustig und lebhaft, daß er – weiß der Teufel warum! – alle Vorsicht vergessend, sein Glas erhob und in eine plötzlich eingetretene Gesprächspause hinein mit vernehmlicher Stimme ausrief: ‚Prosit, Solten – der verstorbene Bahnhofsinspektor soll leben!‘
Diesem überraschenden, dem größten Teil der Gesellschaft völlig unverständlichen Trinkspruch folgte naturgemäß kein allgemeines Hoch- und Hurrageschrei, sondern ein allgemeines verblüfftes Stillschweigen. Und die Tante, die uns nah genug saß, um alles zu hören, fuhr wie von der Tarantel gestochen von ihrem Ehrensitz in die Höhe. ,Also doch!‘ rief sie und schien furchtbar werden zu wollen. Aber Solten, den Stuhl zurückgeschoben, daß er umkrachte, mit dem Sektglase in der Hand über die Stube chassiert und vor der Tante auf ein Knie. ,Mein gnädigstes Fräulein, liebenswürdigste Wirtin – nun ja, ich bin’s gewesen! Ich gestehe es reumütig ein. Aber nun seien Sie mir auch wieder gut! Sehen Sie mich doch einmal freundlich an – ich bin ja doch im Grunde ein riesig netter Kerl!‘
Und die Tante, die wohl den Drachen mehr äußerlich haben mochte, warf einen Blick in das bildhübsche lustige bittende Gesicht da vor ihr und gab dem Schlingel einen kleinen Klaps mit ihrem Fächer. ,Na, dann wollen wir’s gut sein lassen!‘ sagte sie und lachte.
Da stand Solten auch schon wieder auf den Füßen. ‚Das wußt’ ich ja!‘ sagte er vergnügt, küßte ihr die Hand und kam zu uns zurück, so triumphierend, als wenn er eine Schlacht gewonnen hätte. Nach dieser Katastrophe wurde es nun erst recht animiert in der Tafelrunde. Alles wollte die Geschichte vom ,verstorbenen Bahnhofsinspektor‘ hören, alles amüsierte und freute sich darüber, und Solten war wieder einmal der Held des Tages – oder des Abends. Und dann stand er auf und schlug ans Glas. Er brachte einen Trinkspruch auf die Tante aus, in dem er sie in den feurigsten Worten pries – in Versen, bei denen sich ungefähr Herzensdrang auf Leberwurst reimte, was aber dem poetischen Wert weiter keinen Eintrag that – und seine Rede hatte ihre Wirkung! Die Tante drohte ihm noch, um den Schein verletzter Würde zu retten mit dem Finger, aber der Schlingel hatte sie doch erobert, wie er es mit allen Leuten fertig kriegte, und sie tanzte sogar nach Tische eine Extratour mit ihm. Das war denn doch der größte Triumph, den er je gefeiert hatte.
Daß die Abenteuer jener vierundzwanzig Stunden mit diesem Ball nicht zu Ende waren, daß wir beide, Solten und ich, unsern liebenswürdigen Wirten, den Odensterns, von Berlin aus einen Blumenkorb schickten, der sich sehen lassen konnte, daß wir ferner nach kurzer Zeit unsern Dankbesuch bei der Tante abstatteten und den Beweis lieferten, daß wir uns auch bei Tageslicht ganz gut präsentierten – das versteht sich eigentlich von selbst, und ich brauchte es demgemäß gar nicht erst zu erzählen. Aber daß die Sache noch ein Nachspiel fand, in dem Solten nicht nur die Tante, sondern, was ihm wohl noch lieber war, auch die Nichte bezauberte, daß er erst mit mir und dann ohne mich alle paar Tage zu den Damen hinausfuhr und durch beständiges Betteln um Urlaub seinen Vorgesetzten an den Rand der Verzweiflung brachte, daß er schließlich als strahlender Bräutigam der reizenden Ilse von einer dieser Urlaubsfahrten zurückkam und nun erst recht alle drei Tage verreisen wollte – das muß ich doch noch berichten. Und wenn meine Geschichte vollständig sein soll, darf ich nicht verschweigen, daß der Tollkopf von damals ein famoser Ehemann geworden ist, der sich aber die alte Schneidigkeit und die alte Liebenswürdigkeit bewahrt hat. Er thut jetzt, als wenn er immer so verständig gewesen wäre, und hat sogar die Stirn, seinen heranwachsenden Jungen bei ihren dummen Streichen kopfschüttelnd zu sagen: ,Ich begreife gar nicht, wie Ihr so ausgelassen sein könnt, ich war als junger Mensch viel verständiger!‘ Und die Jungen sehen ihn dann pfiffig an und glauben’s nicht, denn sie sind gerade solche Schlingel, wie ihr Herr Papa gewesen ist.
Das ist die Geschichte von Soltens tollem Streich,“ schloß der Major und goß sich ein frisches Glas ein.
„Aber eine Unverschämtheit sondergleichen war es doch!“ sagte einer der Zuhörer, „und wenn Ihr nicht ein Paar so schmucker Lieutenants gewesen wäret –“
„Wir waren es eben!“ schmunzelte der Major, „das ist ja die Sache!“
[665]
In den Hallen der vor mehreren Jahren neu hergerichteten Thomaskirche in Leipzig sehen wir den Thomanerchor versammelt zu löblichem Thun unter der kunstverständigen Leitung seines Kantors vor einem großen Publikum aus allen Ständen; denn dieser Chor erfreut sich allgemein einer ausnehmenden Beliebtheit. Es sind die Schüler, die im Alumneum der Thomasschule Kost und Wohnung erhalten gegen die Verpflichtung, sich gesanglich auszubilden und sowohl beim Gottesdienste als auch bei anderen Feierlichkeiten als Gesangchor mitzuwirken. Milde Stiftungen haben es möglich gemacht, daß auch arme Schüler sich in solcher Weise eine wissenschaftliche Vorbildung aneignen, welche durch die Pflege des Gesangs mehr gefördert als beeinträchtigt wird.
Der Thomanerchor hat eine sehr lange Geschichte, die bis auf das dreizehnte Jahrhundert zurückgeht; denn schon die Klosterschüler des Thomasklosters haben den Chorgesang gepflegt. Doch erst als mit der Reformation das Kirchenlied zur Blüte kam, gewann der Thomanerchor eine durch Jahrhunderte hindurch behauptete Bedeutung für die Stadt Leipzig. Er war ein volkstümlicher Gesangverein; in seiner Chortracht, deren wesentliche Merkmale in einem hohen Hute und schwarzen Mantel bestanden, war er bei Kindtaufen und besonders bei Begräbnissen, sowie bei jeder Kirchenfeier anwesend; man hätte ihn vermißt, wenn er nicht zugegen gewesen wäre. Seit der Vergrößerung der Stadt Leipzig mußte natürlich die Wirksamkeit des Chors immer beschränkter werden; so wurde vor allem das Begräbnissingen, obgleich es für die jungen Leute eine Einnahmequelle bildete, abgeschafft, ebenso die Chortracht. Hin und wieder wirken dafür die Thomaner in Konzerten mit, besonders bei denen des Gewandhauses, hier gewöhnlich im Neujahrskonzert, sowie bei Festen mit idealen Zwecken wie bei dem Leipziger Schillerfest. Früher befand sich das Alumneum in den oberen Stockwerken der alten von der Zeit geschwärzten Thomasschule in der Nähe der ehrwürdigen Pfarrkirche; seitdem 1877 die Thomasschule in ein neues Gebäude in dem sogenannten musikalischen Stadtviertel übergesiedelt ist, hat auch das Alumneum in einem stattlichen Bau ein neues Unterkommen gefunden.
An den Thomanerchor knüpfen sich große Erinnerungen der Musikgeschichte; von Johann Sebastian Bach bis in die neueste Zeit befanden sich anerkannte musikalische Meister unter seinen Kantoren, die sich nicht bloß um die Kirchenmusik, sondern auch um die Musikwissenschaft unvergängliche Verdienste erworben haben; wir nennen noch Moritz Hauptmann, E. F. Richter und Wilh. Rust, dem 1892 Gustav Schreck gefolgt ist. Der Thomanerchor, der außer durch seine sonntägliche Kirchenmusik auch durch die Sonnabendmotetten erfreut, hat natürlich nicht die Tonfülle der Männerchöre oder der gemischten Chöre, die ja einem aus Knaben und Jünglingen bestehenden Chor versagt sein muß; aber er wirkt desto mehr durch sein piano und pianissimo, welches der andächtigen Stimmung der Kirchengänger sich anschmiegt. Noch heute gilt von ihm, was die „Gartenlaube“ vor Jahren einmal ausgesprochen hat, damals, als das Alumneum in sein neues Heim übersiedelte: der Thomanerchor ist „ein Hort des evangelischen Kirchengesangs“. †
[666]
Ein Brief Kaiser Wilhelms I.
Aus dem Nachlaß der am 23. April 1891 zu München im hohen Alter von 82 Jahren verstorbenen Baronin v. Owen, der einstmals hochgefeierten Schauspielerin Charlotte v. Hagn, ist durch die Güte ihres mir befreundeten Bruders, des in den weitesten Kreisen bekannten und geschätzten Kunstmalers Ludwig v. Hagn, in meinen Besitz eine Anzahl von Briefschaften übergegangen, die ich als eine wesentliche Bereicherung meiner seit langen Jahren mit Liebe gepflegten, die berühmtesten Namen enthaltenden Handschriftensammlung betrachten darf.
Zu wie tiefem Danke ich mich für die Einhändigung eines so kostbaren Vermächtnisses meinem Freunde verpflichtet fühle, wird dem Leser sofort einleuchten, wenn ich hier nur einige der Persönlichkeiten namhaft mache, die, als Charlotte v. Hagn im Zenith ihrer Schönheit und ihres Ruhmes stand, sie gewissermaßen als Trabanten umkreisten und ihr in größeren oder kleineren Zuschriften, in gebundener oder ungebundener Rede ihre begeisterten Huldigungen zu Füßen legten. Es sind nicht nur ihre mit unverwelklichem Lorbeer selbst reich geschmückten Berufsgenossen beiderlei Geschlechts, wie Eßlair, Laroche, Ludwig Löwe, Eduard und Emil Devrient, Dessoir, Wilhelm Baumeister, die Haizinger, Charlotte Birch-Pfeiffer, Frau Christine Hebbel (Enghaus) u. a., die ihr neidlos den Tribut ihrer Bewunderung zollen oder in vertraulichem Erguß ihr Herz öffnen; auch die hervorragendsten Vertreter des deutschen Parnasses, die bedeutendsten Publicisten, Musiker und bildenden Künstler jener Zeit, wie W. A. v. Schlegel („William Shakespeares Waffenträger“), La Motte-Fouqué, Rückert, Eduard Mörike, Justinus Kerner, Halm (Münch-Bellinghausen), Castelli, Saphir, Fanny Lewald, Laube, Gutzkow, Emile de Girardin, Ludwig Schwanthaler, Spontini, Liszt (in besonders geistreichen französischen Briefchen) streuen ihr Weihrauch, werben um ihre Gunst, singen und beten sie an; selbst gekrönte Häupter und andere fürstliche Persönlichkeiten, wie König Ludwig I., der Prinz von Preußen, Prinz August von Preußen, Fürst Pückler-Muskau u. a. steigen herab von den Höhen des Lebens und bezeigen in Worten aufrichtigster Wertschätzung den lebhaften Anteil, den sie an Charlottens schauspielerischen Triumphen oder auch an den allerhand kleinen Widerwärtigkeiten und Kränkungen nehmen, die ihr so wenig wie irgend einem andern ihrer Kunstgenossen erspart blieben.
Wie begreiflich, ist die Mehrzahl dieser Zuschriften durchaus vertraulicher Natur, und wenn auch deren Verfasser, wie die Adressatin selbst, schon alle zur ewigen Ruhe eingegangen sind, so widerstrebt es mir doch, die nur für Charlottens schöne Augen bestimmten Auslassungen, wie interessante Schlaglichter sie auch auf das damalige Bühnen- und gesellschaftliche Leben werfen mögen, durch den Druck zur Kenntnis weiterer Kreise zu bringen, da sie neben vielem Schönen, Treffenden und Geistreichen doch auch eine Menge zum Teil recht boshafter Anzüglichkeiten enthalten, deren verletzender Stachel zum Nachteil der davon – wer mag entscheiden, ob mit Recht oder Unrecht? – Betroffenen selbst nach so langer Zeit noch schmerzlich genug empfunden werden dürfte.
Keiner Indiskretion indessen glaube ich mich schuldig zu machen, sondern im Gegenteil mir den Dank der Leser dieses weitverbreitete Blattes zu verdienen, wenn ich wenigstens einen jener Briefe aus den geheimen Schubfächern meines Handschriftenschrankes hervorziehe und ihn hiermit dem Druck übergebe.
Handelt es sich doch um ein geradezu einzigartiges, unschätzbares Schreiben das der Prinz von Preußen, damals noch fern vom Throne und seiner weltgeschichtlichen Größe stehend, am 16. Januar 1845 in einer Theaterangelegenheit an die zu jener Zeit am königlichen Schauspielhause zu Berlin als erste Liebhaberin wirkende Künstlerin gerichtet hat und in dem alle jene herrlichen Charakterzüge, durch die sich der nachmalige Kaiser Wilhelm I. ein unauslöschliches Andenken in der Verehrung jedes deutschfühlenden Herzens gesichert hat – Ritterlichkeit, Wahrheitsliebe, Milde der Denkungsart und vor allem ein strenger Gerechtigkeitssinn – in hellstem Lichte erstrahlen.
Charlotte hatte sich infolge der Besetzung einer angeblich ihr allein zukommenden Rolle durch Frl. Klara Stich (ihrer berühmten Kollegin Crelinger reich veranlagte jüngere Tochter) beeinträchtigt gefühlt und, da alle ihre Bemühungen, sich bei der Intendanz Recht zu verschaffen, fruchtlos geblieben waren, das unmittelbare Eingreifen des für das Theater bekanntlich sich lebhaft interessierenden und ihr persönlich huldvoll zugeneigten Prinzen von Preußen angerufen. Dieser antwortete ihr darauf unter der Adresse „Dem Fräulein Charlotte von Hagn hier“ mit nachfolgendem, in seinen schönen großen und klaren Zügen abgefaßten Briefe:
„Berlin, d. 16/1. 45.
Vertrauen verlangt Vertrauen: Offenheit ist in dessen Gefolge! Demnach gestehe ich Ihnen, daß ich, wie ich es Ihnen gestern bereits sagte, gewünscht hätte, daß Sie alle Leidenschaftlichkeit und Persönlichkeiten aus Ihrem mir mitgetheilten Schreiben verbannt hätten. Wäre dies geschehen, so wäre auch eine ruhigere Prüfung der Sachlage von Ihrer Seite erfolgt, und Sie würden eine Kränkung, wie Sie vermeinen erfahren zu haben, nicht so aufgefaßt haben, wie es im ersteu Moment der Nachricht, geschehen ist. Vergessen Sie nicht, daß der König nur einen vor Jahren gegebenen Befehl erneuert hat, dessen bisherige unterbliebene Ausführung, noch weiter aufzuklären bleibt. Ein directes Auftreten gegen diesen Königl. Befehl, oder was gleichbedeutend ist, Ihr Abschiedsgesuch, erscheint mir daher weder begründet noch rathsam, noch erlaubt. Alles was Sie vorschlagen könnten, wäre, daß das Alterniren der Rolle nicht Zug um Zug geschähe, sondern immer
[667] nur die 3. Vorstellung durch Mll. Stich stattfände, und daß Ihnen
das Spiel Honorar alsdann ersetzt oder entschädigt würde, da Ihr
Contract Sie auf Spiel Honorar anweiset.
Bei ruhiger und partheiloser Ueberlegung müssen Sie sich selbst gewiß sagen, daß Sie nicht gesonnen sind, aufstrebende Talente unterdrücken zu wollen, die erst durch Uebung beweisen sollen, ob sie Ihnen gefährlich werden können. Dieses Nicht-Unterdrücken, werden Sie in Ihrem Gefühl für Recht und Billigkeit am ehesten ausüben, wenn es eine Darstellerin wie Mad. Crelinger ist, so nahe berührt. Sollten Sie dereinst eine Rivalin ist (in) Mll. Stich erkennen, so kann ja dies nur zu erneuerter Kunstanstrengung antreiben, um die innehabende Stellung zu behaupten, wobei die Kunst nur gewinnen kann.
Sie kennen nun meinen Rath und meine Ansichten, und
werden aus diesen Zeilen hoffentlich ersehen, daß ich es gut mit
Ihnen meine, indem ich Ihnen meine Lebens Regeln, die auf Recht
und[1] Billigkeit basirt sind, anempfehle, mit welchen Regeln ich
mein bisheriges Leben und Wirken, glücklich vor Schiffbruch
bewahrt habe. Anders als ich bin, konnte ich mich nicht geben; und
da Ihr Vertrauen Sie zu mir führte, so müssen Sie mich nun
schon so nehmen wie ich bin und hoffe ich Ihren Dank so zu
erlangen wie Sie ihn gestern aussprachen, wenn ich Ihnen auch
nicht im ganzen Umfange, Ihre Wünsche erfüllen konnte. Und
somit bin ich überzeugt, daß Sie Ihr seltenes Talent einer Bühne
erhalten werden, deren Zierde Sie sind und in Ihrem Fache stets
bleiben werden, und sich oft noch dem gerechten Applaus dessen
ausfetzeu mögen der sich nennt
Ihren
Prinz von Preußen.
Verzeihen Sie diese schlechte Schrift, aber mein gebrochener
Arm, läßt mich nur mühsam und unter Schmerzen schreiben.“
- ↑ Im Original dreimal unterstrichen.
Jugend- und Volksspiele in Deutschland. Vor einem Jahrzehnt etwa wurde eine Bewegung eingeleitet, welche nichts Geringeres als eine vollständige Wandlung in der Jugenderziehung und im Volksleben bezweckt. Jung und alt sollte aus der Enge der Mauern mehr, als es bis dahin der Fall war, ins Freie geführt werden, um in frischer Luft, in fröhlichem Spiel Leib und Seele zu stärken. Eine solche Wandlung, welche tief in die Sitten und Gewohnheiten des Volkes eingreift, kann sich nicht rasch vollziehen; nur langsam setzt sich auf diesem Gebiete der Gedanke in die That um. Zehn Jahre sind aber immerhin auch im Volksleben eine Frist, die hinreicht, um zu zeigen, ob ein Unternehmen Anklang gefunden und lebenskräftige Wurzeln zu treiben vermocht hat. Darum in eine Rundschau über den gegenwärtigen Stand der Leibesübungen in Deutschland von großer Wichtigkeit und in Anbetracht dieser Thatsache hat der Centralausschuß zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in Deutschland in seinem „Jahrbuch für Jugend- und Volksspiele“ (Leipzig, R. Voigtländers Verlag) eine ausführliche Statistik für das Jahr 1892/93 veröffentlicht. Das Bild, das Dr. Viktor von Woikowsky-Bindau, Mitglied des preußischen statistischen Bureaus, in dieser auf Grund sorgfältiger Erhebungen entstandenen Arbeit vor unseren Augen entrollt, ist im allgemeinen durchaus erfreulich.
Im vergangenen Jahre wurde das Jugendspiel in 543 deutschen Städten gepflegt und 533 dieser Städte verfügten über besondere Spielplätze, während die Militärverwaltung 34 Exercierplätze dem Spiel der Jugend geöffnet hatte. Wenn wir bedenken, daß vor einem Jahrzehnt diese Leibesübungen der Schuljugend ganz und gar nicht gebräuchlich waren, so muß uns das bereits Errungene mit hoher Freude erfüllen. Aber von dem eigentlichen Ziele ist man doch noch weit entfernt; denn in 1380 deutschen Städten sind die Wohlthaten des Spiels im Freien der Schuljugend noch nicht zu teil geworden. Feruer ist das Spiel im Freien bis jetzt vorwiegend auf unseren höheren Schulen in Aufnahme gekommen, es ist in 156 Gymnasien, 49 Realgymnasien, 95 Realschulen und in 69 Städten auch in höheren Mädchenschulen eingeführt. Die Beteiligung der Volksschulen an diesen so ungemein nützlichen Leibesübungen läßt noch in den meisten Städten viel zu wünschen übrig oder fehlt gänzlich. Das Volksspiel, das Spiel der Erwachsenen, ist noch in den ersten Anfängen begriffen, es wurde im Jahre 1892/93 nur in 347 Orten geübt, zumeist von Turnvereinen ins Leben gerufen.
Jene Statistik verbreitet sich auch über zwei andere Leibesübungen,
die dem Spiele nahe verwandt sind, über das Baden und Schwimmen
sowie über den Eislauf. Was die erstere gesundheitlich so wichtige
Leibesübung anbelangt, so weist die Statistik leider einen großen Mangel
an Schwimmanstalten nach. Nur 319, d. h. 16,6% aller deutschen Städte
besitzen eine Bade- und Schwimmgelegenheit. Hier ist also noch die regste
Thätigkeit gemeinnütziger Vereine und ein unablässiger Druck auf die
Gemeindebehörden, die in der Erfüllung ihrer Pflichten säumig sind, dringend
notwendig. Etwas günstiger ist ea mit dem Eialauf bestellt, denn 459
oder 23,9% der deutschen Städte besaßen Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen
und 32 verfügten über künstliche Eisbahnen. Die Zahlen lehren
uns, wie viel auf diesem Gebiete noch zu thun ist; aber mit froher
Zuversicht kann das gemeinnützige Werk fortgesetzt werden, denn das in
einem Jahrzehnt Errungene ist wirklich groß. *
„Schön wart’ auf!“ (Zu dem Bilde S. 653) Hübsch ist sie nicht, die biedere Schnauzermutter, aber kunstfertig! Daß sie sich jeden Wurstzipfel, jede Brotrinde, jede Käseschnitte, jeden Bratenknochen erst durch eine turnerische Leistung verdienen muß, das ist sie gewohnt und findet sie ganz in der Ordnung. Daß man ihr aber nun einen ihrer zarten Sprößlinge entreißt und ihr zumutet, durch geduldiges Aufwarten dessen Rückgabe zu erkaufen, das erfüllt ihre Seele doch einigermaßen mit schmerzlichen Empfindungen. Zwar hat sie Beweise, daß ihre Herrin freundlicher Gemütsart ist und junge Hunde mit Liebe behandelt. Aber das ändert wenig an der Bänglichkeit des Augenblicks. Wie leicht kann eine täppische Kinderhand ungeschickt nach den zappelnden Gliedern des Neugeborenen greifen! Ja noch mehr! In den Erinnerungen ihres Hundelebens findet Mama Schnauzer unheimliche Bilder, wo auch eins, zwei ihrer kaum zum Leben erblühten Kinder in den schmeichelndsten Formen ihr entzogen wurden, auf Nimmerwiedersehen – wenn nach Ansicht ihrer Brotherrschaft des Segens zu viel war. Darum beeilt sie sich heute, ihr Kunststück „Schön wart’ auf!“ in tadelloser Vollendung auszuführen, um möglichst bald wieder in den gesicherten Besitz ihres Lieblings zu gelangen.
Pilze im Walde. (Zu dem Bilde S. 661.) Unvergeßlich ist mir die erste Pilzjagd, auf die ich vor mehr denn dreißig Jahren als Knabe in den herbstlichen Wald gehen durfte! Goldig strahlte die Sonne vom blauen Himmelszelt hernieder; weiße Schäfchen zogen langsam, hoch über den Baumkronen dahin und durch die lauen Lüfte segelten weiße Fäden, um die luftfahrenden Spinnen in sichere Winterquartiere zu bringen. Die Buchen standen bereits in purpurnem Herbstmantel, wie schlanke nordische Jungfrauen mit wehendem blonden Haar saßen auf der Höh’ die Birken mit ihrem schwefelgelben Laube, und unter ihnen verfärbten sich die Eichen, reckten sich wie vom Sonnenbrand gebräunte Kriegergestalten trotzig empor.
Ein alter Hirte, ein wetterharter Graubart, war mein Führer und Lehrer, aus seinem Munde lernte ich die Namen der verschiedenen Pilze, lernte die guten von den bösen unterscheiden. Aber er wußte im Walde noch etwas anderes als Schwämme zu zeigen. Auf einer Waldwiese führte er mich an einen gelben Kreis, in dem der Boden wie versengt oder verrottet aussah und der von einem Ringe grünen üppigen Grases umschlossen war. Da erzählte der Alte dem lauschenden Knaben, daß auf diesem Plätzchen in stillen mondhellen Nächten die Elfen sich zu belustigen pflegten und durch ihre Tänze das Gras in der Mitte niederträten, während sie es ringsum so hoch wachsen ließen, damit die neugierigen Tiere des Waldes sie nicht sähen. An Baumstämmen und knorrigen Aesten zeigte mir der Hirte sonderbare struppige Gebilde und meinte, daß seien „Hexenbesen“, auf denen die Unholdinnen ihre Luftfahrten ausführten. Und er lächelte nicht dabei, wie die Alten es zu thun pflegen, wenn sie Kindern Märchen erzählen. Der Graubart stammte noch aus dem vorigen Jahrhundert und er glaubte noch fest an Hexenspuk.
Zehn Jahre später! Durch denselben Wald schritt der fröhliche Student, er hatte an der Alma mater aus dem Quell des Wissens getrunken und klipp und klar lag vor seinen Blicken die Natur. Der Alte war nicht an meiner Seite; den Wetterharten hatte inzwischen der unerbittliche Sensenmann weggemäht; aber ich mußte an ihn denken, denn er war mir das Sinnbild einer verschollenen Zeit. Was er mir damals auf der ersten Pilzjagd als Elfen- und Hexrenspuk gezeigt hatte, das war – jetzt wußte ich es – ein Werk der Pilze. Jene Elfenringe waren weiter nichts als Fleckchen Erde, auf denen kreisförmig sich ausbreitende Pilze den Graswuchs zurückgedräbgt hattem und die „Hexenbesen“, das waren verkrüppelte Zweige an einem Baume, der von Schwämmen befallen war: in dem Kampfe mit den feindlichen Schwämmen hatte der Baum so wunderbare Zweige getrieben. „Krankheit“, „Neubildung“ nennt die Wissenschaft solche Gebilde. Im Laufe der zehn Jahre waren die Pilze des Waldes bei mir im Ansehen gestiegen. Sie wuchsen ja nicht nur im Moder des Bodens, sie griffen selbst die hohen Bäume an, und die schlimmsten waren die unmerklichsten, kaum sichtbaren; denn sie nagten am heftigsten am Marke der Riesen. Auf dieser Wanderung durch den herbstlichen Wald sah ich ein Stück des Kampfes ums Dasein in der Natur, und Baum und Schwamm erschienen mir als zwei Todfeinde.
Vor etwa zehn Jahren war es – ich wanderte wieder einmal durch den herbstlich verfärbten Wald. Ich war auf einer Pilzjagd begriffen, aber ich suchte nicht die Edelpilze, nicht die schmackhaften Fruchtträger, die Pilzhüte, die aus dem Waldboden hervorschauten. Ich wühlte in der Humusschicht und sammelte die zarten Wurzelausläufer der Eichen und Buchem um sie nach Hause zu tragen und dort mit Hilfe des Mikroskops an diesen Wurzelfäden nach dem Pilzgeschlecht zu forschen. Eine neue Kunde ging damals durch die Welt. Man hatte entdeckt, daß der Pilzkörper, der im Waldboden wächst, die Wurzeln der Bäume mit feinsten Fäden umstrickt und mit ihnen zu einem Ganzen verwächst; man hatte entdeckt, daß zwischen den Waldbäumen und Pilzen eine „Symbiose“, eine [668] Lebensgenossenschaft besteht. Pilz und Baum sind zu einem Ganzen verwachsen. Viele Pilze sind Freunde der Bäume. Die unterirdischen Pilzfäden, die Pilzmycelien, verarbeiten die rohen Stoffe des Wäldbodens zu einer kräftigen Nahrung, erzeugen mehr, als sle selbst brauchen und geben den Ueberschuß an die Wurzeln der stolzen Eiche ab, nähren die Himmelanstrebende, und diese erweist sich dankbar, indem sie einen Teil der Nährstoffe, die nur in den grünen Blättern der rauschenden Kronen im sonnigen Licht erzeugt werden können, zu ihren Wurzeln hinunter führt und ihn dem Pilze spendet. Das ist ja der Grund, warum so viele Waldbäume und Waldpflanzen verkümmern, wenn man sie ins freie Land verpflanzt, ohne in die neue Pflanzstätte den alten Waldboden und mit ihm den befreundeten Pilz zu übertragen. –
Pilze im Walde! Jahrtausendelang wurden sie von dem Menschen
nur auf den Nutzen und Schaden geprüft, die sie unserem Magen bringen.
Wie anders steht es um ihre Bedeutung, wenn sie auf ihren Wert im
Haushalt der Natur untersucht werden! Schwach und morsch erscheinen
sie dem flüchtigen Beobachter, aber in Wirklichkeit sind sie eine Macht, auf die
sich die Urbilder strotzender Kraft, die wetterfesten Waldriesen stützen. J.
Der kaufmännische und gewerbliche Hilfsverein für weibliche Angestellte in Berlin hat in seinem fünfjährigen Bestehen eine Reihe so bedeutender Erleichterungen und Verbesserungen für das Los der Laden- und Geschäftsgehilfinnen erzielt, daß eine Mitteilung darüber wohl in weitere Kreise gebracht zu werden verdient. Aus kleinen Anfängen 1889 hervorgegangen, faßte er zunächst den Wohnungsnachweis für fremd Ankommende, Erteilung von Rat und Stellenvermittlung, sowie Krankenhilfe ins Auge. Bald war er durch zahlreichen Beitritt in der Lage, auch an die bessere Ausbildung seiner Mitglieder zu denken, es wurden Unterrichtskurse kaufmännischer und allgemeiner Natur eingerichtet, Büchersammlungen und Unterhaltungsabende zur Erholung der vielangestrengten Gehilfinnen dargeboten, außerdem ihnen unentgeltlicher Rat in Rechtsfragen gesichert. Eine genaue Umfrage bei den heute auf 6000 gestiegenen Mitgliedern des Vereins lieferte die Unterlagen für die Schrift „Die Ausbildung und Stellung der Handlungsgehilfinnen in Berlin. Ein Ratgeber für die kaufmännische Laufbahn junger Mädchen“. Neuerdings wurde außer einer kaufmännischen Vorbereitungsschule noch eine Schreibmaschinen-Schule in Verbindung mit Stenographie eingerichtet, weil diese Thätigkeit für Frauen sehr geeignet und lohnend ist. Seit 1. September ist die Stellenvermittlung für weibliche Handlungs- und Gewerbegehilfen versuchsweise auf ganz Deutschland ausgedehnt worden.
Im übrigen sorgen Ferienkolonien, Nachweis billiger Sommerfrischen,
guter Mittagstisch im Vereinslokal, Theater-Vorstellungen zu niedrigen
Preisen für angemessenen Lebensgenuß. Der Verein kam einem wirklichen
Bedürfnis entgegen und hat deshalb erfreuliche und große Erfolge zu
verzeichnen. Aehnliches wäre in anderen Städten ganz wohl möglich, daher geben
wir gerne die Anregung dazu weiter. Jede derartige Schöpfung bedeutet
ein Stückchen Lösung der sozialen Frage, und der Dank von Tausenden
lohnt dem halben Dutzend thätiger und gutgesinnter Menschen, die zur ersten
Gründung eines solchen Vereins sich zusammengethan haben. Bn.
Reinstes Wasser. Wo giebt es auf der Welt ein völlig reines
Wasser? Wo schwebt ein Tropfen, der aus weiter nichts als der
chemischen Verbindung von Sauerstoff und Wasserstoff besteht? Nirgends!
lautet die Antwort. Alles Wasser auf Erden ist mehr oder weniger
verunreinigt. Die reinste Quelle enthält aufgelöste Erdsalze; im reinsten
Regenwasser sind neben Staub gasförmige Bestandteile der Atmosphäre
aufgelöst, und selbst das mit größter Sorgfalt destillierte Wasser ist nicht
rein; es enthält Spuren der Glaskolben und Schläuche aufgelöst und ist
mit Luft gesättigt. Seit Jahrzehnten sind die Physiker bemüht, reinstes
Wasser darzustellen. Jüngst berichteten F. Kohlrausch und Ad. Heydwiller
der Berliner Akademie der Wissenschaften über derartige Versuche. Zehn
Jahre lang ließen sie ihre Apparate mit möglichst reinem Wasser gefüllt
stehen, so daß die Gläser aller löslichen Bestandteile beraubt zu sein
schienen, und destillierten dann Wasser, das sie vor jeder Berührung mit
der Luft verwahrten. So erhielten sie das reinste Wasser, das bis jetzt
jemals auf Erden vorhanden war; in einem Liter dieses Wassers
betrugen die Verunreinigungen nur einige Tausendstel Milligramm!
Eigenartig ist das Verhalten eines solchen beinahe chemisch reinen Wassers gegen
die Elektricität. Eine nur einen Millimeter lange Säule dieses Wassers bietet
dem elektrischen Strom denselben Widerstand wie ein 40 Millionen Kilometer
langer Kupferdraht von gleichem Querschnitt, ein Draht also, mit dem
man etwa 1000 Mal die Erde umspannen könnte. Durch bloße Berührung
mit der Luft sinkt dieser Widerstand sofort auf ein Zehntel, und durch
weitere Verunreinigung wird das Wasser zum guten Leiter. *
Belohnung von Schulkindern für gute Blumenpflege. (Zu dem Bilde S. 649.) Ein schönes Ziel, freundlichen Blumengruß in die öden Häusermassen der Großstadt zu tragen! Auch das kargste Stübchen mutet heimlicher an, steht auf dem Fensterbrett ein blühender Nelken- oder Geranienstrauch, auch der schmalste Bodenstreifen an Haus- oder Mauerrand kann oft noch zu einer augen- und herzerquickenden Farbenquelle umgeschaffen werden. Nur muß der Bewohner von Haus und Stube ein bißchen mit den Blumen umzugehen verstehen, und woher soll diese Kenntnis kommen in Familien, die durch ganze Geschlechterfolgen hindurch nur im steinernen Meer der Großstadt gelebt haben? Da geht die Kunde von der Blumenpflege verloren und mit der Kunde auch der Sinn für den stillen erfrischenden Reiz, der von solchen blühenden Haus- und Stubengenossen ausströmt.
Der ersterbenden Neigung zur Blumenpflege aufzuhelfen, den verlorenen Sinn dafür wieder zu wecken, die abhanden gekommene Kenntnis neu zu verbreiten, haben einige wohlthätige Vereine in der Umgebung Berlins sich zum Ziele gesetzt. Auch in Frankfurt a. M. sind die Allgemeine Lehrerversammlung und due Gartenbaugesellschaft gemeinsam in derselben Richtung vorgegangen. Sie wenden sich an den Teil der großstädtischen Bevölkerung, dessen man am besten habhaft werden kann, an die Schuljugend. Jedes Frühjahr werden an eine große Anzahl Kinder gleichartige Pfänzchen ausgeteilt, gewöhnlich an je ein Kind zwei Exemplare verschiedener Sorte; dazu kommt eine zweckmäßige Belehrung über die Art der Behandlung. Ist der Sommer vorüber, so versammelt sich die ganze kleine Gesellschaft wieder und bringt die Ergebnisse ihrer Pflegethätigkeit mit, worauf die Veranstalter darüber zu Gericht sitzen und entscheiden, wer seine Sache am besten gemacht hat. Die glücklichen Sieger im edlen Wettstreit erhalten kleine Geldbelohnungen, die andern dürfen wenigstens ihre Stöckchen als Eigentum behalten. Mit einer Ansprache, worin den Kindern die Liebe zu den Pflanzen noch einmal recht ans Herz gelegt wird, schließt die Feier. Die schöne Sitte ist wohl wert, aller Orten Nachahmung zu finden.
Kleiner Briefkasten.
M. S., Professors Witwe in Belgrad. Geben Sie uns gefl. Ihre vollständige Adresse an, damit wir Ihnen auf brieflichem Wege antworten können.
J. M., Dänemark. Gewiß, Ludwig Ganghofer hat außer der „Martinsklause“, dem „Klosterjäger“ und dem „Besonderen“ noch eine Reihe von Erzählungen geschrieben: „Der Jäger von Fall“, „Sünden der Väter“, „Edelweißkönig“, „Der Unfried“, „Der Herrgottschnitzer von Ammergau“ und „Die Fackeljungfrau“; eine Reihe kleinerer Novellen sind in den Sammlungen „Aus Heimat und Ferne“, „Almer- und Jägerleut“, „Bergluft“, „Oberland“, „Es war einmal“, „Fliegender Sommer“ und „Doppelte Wahrheit“ vereinigt. In der „Gartenlaube“ sind außer „Martinsklause“ und „Klosterjäger“ erschienen „Der Unfried“, „Edelweißkönig“ und die kleinere Hochlandsgeschichte „Dschapei“.
F. N., Steiermark. Wir bedauern, von Ihren Einsendungen keinen Gebrauch machen zu können.
Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge in Heft 39/1894 ]
In dem unterzeichneten Verlag beginnt soeben neu zu erscheinen: