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Die Gartenlaube (1894)/Heft 40

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[669]

Nr. 40.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (4. Fortsetzung.)

Aus dem Hause der Tante Komtesse holte Wollmeyer meine Mutter ab zur Trauung. Unmittelbar nach der Hochzeit wollte das neu vermählte Paar abreisen; ich sollte einige Wochen später nachkommen, um mit Mama nach dem Süden zu gehen. So wurde es mir nicht geschenkt, bei dem Hochzeitsfest zugegen zu sein, so wenig wie Mamas flehentliche Bitte um eine ganz stille Hochzeit Berücksichtigung fand.

Diese paar Wochen in dem kleinen Häuschen der Komtesse waren uns zur Qual geworden durch die Besuche des Bräutigams. Er kam mittags, er kam abends; er schickte sogar eines Tages Körbe voll Delikatessen und Weine und meldete sich zum Essen an. Verlegen stand meine Mutter dabei, als die Tante dem Diener ohne weiteres die Körbe wieder an den Arm hing. „Eine Empfehlung von der Gräfin, und wenn der Herr Stadrat bei ihr speisen wolle, werde sie sich freuen, aber dann möge er die Güte haben, mit ihrer einfachen Küche vorlieb zu nehmen. Die Gräfin habe nicht die Gewohnheit, sich in ihrem eigenen Hause traktieren zu lassen“

Grinsend ging der Diener ab. Die Komtesse aber wandte sich grollend um. „Der ist ja schwerer zu dressieren als ein junger Jagdhund!“ hörte ich sie murmeln. „Na wenn’s Herz nur gut ist,“ meinte sie dann und kniff mich in die Wangen, „nicht wahr, das ist die Hauptsache, Du Kücken?“

Ja freilich, aber – war das seine denn gut?

Alle Tage hörten wir von ihm großartige Beschreibungen über die neue Einrichtung des Schlosses. „Alles in Blau, Helene, weil es Deine Lieblingsfarbe ist.“ Er verschwendete förmlich, um seiner schönen Frau ein elegantes Heim zu bieten, das Mama gar nicht ersehnte.

Und der schreckliche Tag kam und ging vorüber mit seinem taktlosen Prunk, mit den tausendfachen Martern, die er über uns verhängte. Mit Verleugnung ihrer selbst spielte die Komtesse die Hochzeitsmutter; wie im Traum stand ich hinter Mama am Altar der Marienkirche und hörte die Worte des Geistlichen, der über den Text sprach: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.“ Mama

In der Oper.
Nach einem Gemälde von Pinel de Grandchamp.

[670] hatte ihn ausgewählt. Wie aus weiter Ferne hörte ich bei Tafel die Trinksprüche und das Hochrufen, und wie ein Stich ging es mir durchs Herz, als der alte bekannte Lohndiener, der bei keiner Westenberger Festlichkeit fehlte, mir mit seiner weinheiseren Stimme ins Ohr flüsterte: „Frau Wollmeyer läßt das gnädige Fräulein bitten – –“ Um was, verstand ich nicht. Frau Wollmeyer! Das Wort hatte mir fast körperlich weh gethan. Ich kenne keine Frau Wollmeyer! hätte ich am liebsten geschrien. Ach Papa! Papa! Und ein Schluchzen hob meine Brust, das ich kaum zu unterdrücken vermochte. Ich hätte auch Mama nicht Lebewohl sagen können. Ich stahl mich nach Beendigung des Mahles aus dem Saal, obgleich mich mein Nachbar, der Herr von Brankwitz, flehentlich um den ersten Walzer bat.

Es war mir schon von vornherein ärgerlich gewesen, daß er mein Kavalier sein sollte auf dieser Hochzeit, aber die Komtesse hatte erklärt, es sei das einzig Richtige, daß die Tochter der Braut und der Neffe des Bräutigams zusammen hinter dem Brautpaar gehen, und ich schwieg. Er hatte mich in einem Wagen zur Kirche abgeholt, in tadellosem Frack und weißer Weste, hatte mir einen wundervollen Strauß überreicht aus Marschall Niel-Rosen, die zu meinem Kleide von blaßgelber weicher Seide paßten, als wären sie eigens nach der Stoffprobe gewachsen, und er lobte diese seine Gabe so sehr, wie wenn er selber der Schöpfer der wunderbaren Blüten gewesen wäre.

Als ich den Saal verlassen wollte, kam er hinter mir her mit seinem faden Lächeln und seinen dreisten Blicken. Ich verstand gar nicht, was er sagte, und warf ihm die Thür der Damengarderobe vor der Nase zu, suchte eiligst nach einem Umhang, nahm ein Spizentuch um, das der Komtesse gehörte, und lief über den Hof des Gasthauses in den dazu gehörigen Garten. Von ihm führte eine Thür in der alten Stadtmauer unmittelbar auf die bescheidene Promenade, und an diese grenzte der Kirchhof; von dem Kirchhofe aber konnte ich durch ein Privatpförtchen in den Garten der Komtesse gelangen.

Die Dämmerung des Septembertages war schon herabgesunken; kein Mensch außer des alten tauben Totengräbers Frau sah mich, wie ich hastig dahinschritt zu Papas Grab. Und da stand ich, das Herz voll Jammer, und konnte doch nicht weinen und sah die Stelle neben ihm an, wo Mama einst ruhen wollte – sie hatte so oft davon gesprochen, und nun, nun hatte sie dies Recht verwirkt! Die Monatsrosen und die Reseden dufteten so stark, von St. Marien läuteten sie zu Abend. Eine herbstlich müde Stimmung war in der Natur. Ach, wenn ich doch auch schlafen könnte, schlafen, um nie wieder zu erwachen, hier neben Papa!

Dort hinten ruhte auch Hannchen, und von ihrem Grabe leuchtete es bunt herüber, lauter frische Blumen. Die Base hatte wohl das Grab geschmückt, als könnte sie dadurch die Tote versöhnen mit dem, was heute geschah. An Papa hatte keiner gedacht, aber es war gut so, mochte er nur schlafen, schlafen, damit er nicht merkte, daß seine vergötterte Frau – mein Gott, er würde tausend Tode sterben, wenn er das wüßte! Meine arme Mutter – Frau Wollmeyer!

Auf einmal hörte ich lautes Sprechen und Tritte weit oben vom Eingang her; ein Trupp Menschen bewegte sich der Leichenhalle zu. Ich war emporgefahren aus meiner knienden Stellung, ein Frösteln rann mir über den Körper, ein unbekanntes schreckliches Grauen. Ich nahm mein Kleid zusammen und ging, so rasch ich konnte, der Gartenpforte der Komtesse zu. Dort stand die alte Dienerin der Tante und spähte mit blassem neugierigen Gesicht zu dem Totenhause hinüber.

„Gott, gnädiges Fräulein,“ stammelte sie, bin ich erschrocken – Sie stehen ja da wie ein Geist!“

„Was ist denn das dort drüben, Josephine?“ fragte ich und deutete mit dem Kopf nach den Menschen hinüber.

„Ach, es ist es ist was Trauriges, gnä’ Fräulein, die Knopfmarthe hat sich im Teich ertränkt; im Schloßgarten hat man sie herausgezogen, vorhin.“

Ich schob mich an ihr vorüber, vor Entsetzen keines Wortes mächtig. Das Herz, an das ich hätte flüchten können in der zitternden Angst vor diesen dunkeln Geheimnissen, das war nun fern, das gehörte ihm, ihm, der das junge Weib in den Tod getrieben, das Kind zur Waise gemacht hatte! Wie wahnsinnig rannte ich ins Haus, in mein Zimmer und wühlte den Kopf in die Kissen des Bettes, als könnte ich mich verbergen vor den unverständlichen Erbarmungslosigkeiten des Lebens. – 000000000000000000000

Die Komtesse fand mich in einer dumpfen Verzweiflung, schalt, weil ich fortgelaufen war, und küßte mich, weil ich so hübsch ausgesehen habe. Und jetzt sei sie meine Mutter, sie habe es versprochen und sie würde sehr böse sein, wenn ich nicht vernünftig wäre, mich auskleidete wie andere Leute mit gesunden fünf Sinnen und schlafen ginge. Und Mama lasse grüßen und der – –

Ich fuhr aus den Kissen empor mit geballten Fäusten. „Nein, ihn nicht! Nenn’ ihn nicht!“ tobte ich.

„Um Gotteswillen, Anneliese!“

„Ich haß’ ihn, o ich haß’ ihn!“

„Das ist recht hübsch von Dir,“ sagte die Komtesse trocken. „Wem verdankst Du es denn, daß Du durch Deine schwere Krankheit gekommen bist, Du wilde Katze, Du? Einzig ihm! Oder glaubst Du, daß Deine Mama allein imstande gewesen wäre, Dir auch nur den hundertsten Teil jener Pflege angedeihen zu lassen?“

Jetzt stand ich vor ihr, unfähig, mich zu beherrschen. Ich hatte es wohl geahnt, daß Mama seine Hilfe in Anspruch genommen hatte in ihrer Verlegenheit, in ihrer Sorge um mich, ich ahnte, daß er dafür den höchsten Preis, sie selbst, gefordert. Aber noch war es nicht ausgesprochen worden, noch hatte die Gewißheit „Um Deinetwillen!“ mich nicht so hart gepackt als bei diesen Worten der Komtesse. Es giebt Menschen, die das Erkennen einer schrecklichen Wahrheit zur Raserei bringt; meiner Worte nicht mehr Herr, rief ich: „Warum soll ich schuld sein an so viel Unglück, an all dem Elend meiner Mutter? Er ist ein Mörder, Tante, er ist –“

„Du bist verrückt, Anneliese!“

„Er ist ein Mörder, Tante!“ schrie ich von neuem, „er hat die Knopfmarthe gemordet!“

„Aber Kind! Aber Anneliese!“ Sie stotterte indes doch und sah mich unsicher an.

„Sie ist um seinetwillen ins Wasser gegangen,“ fuhr ich fort.

„Ins Wasser gegangen, sagst Du?“

„Ja seinetwegen.“

„Ach papperlapapp! Die Knopfmarthe wird ins Wasser gehen!“

„Ich lüge nicht! Sie ist hineingegangen, ist tot.“

„Was kann denn Dein Stief – –“

„Tante!“

„Was kann denn Herr Wollmeyer dafür? Sei nicht thöricht! Die Knopfmarthe ist immer eine überspannte Person gewesen; Gott weiß, warum die –“

„Ich weiß es, warum, ich weiß es!“ sagte ich erschöpft. „Ach, meine Mama!“

„Jetzt gehst Du zu Bett, dumme kleine Kröte,“ antwortete die Komtesse und fing an, mir höchst eigenhändig beim Auskleiden zu helfen, und dabei schalt sie, halb ärgerlich, halb zärtlich, um ihre Angst über meine Aufregung zu verbergen. „Wie ein Kind beträgst Du Dich! Dem Mann Deiner Mutter ziehst Du Gesichter, als seist Du fünf Jahre alt: es fehlte nur noch, daß Du ihm die Zunge herausgestreckt hättest! Deinem Brautführer antwortest Du nicht, sondern sitzest da, als wärst Du taubstumm. Dann sagst Du nicht einmal Deiner Mutter Lebewohl, läufst vom Tanz fort, so daß der Brankwitz herumirrt und Dich wie eine Stecknadel sucht und alle Welt anschreit, ob man Dich nicht gesehen habe!“

Ich zuckte die Achseln. Wie konnte sie von so unwichtigen Dingen reden? Sah sie denn nicht, daß ich zitterte vor Empörung? „Dieser Brankwitz ist ein gräßlicher Mensch!“ stieß ich hervor.

„So?“

„Und ich kann ihn nicht leiden.“

„Du kennst ihn ja kaum, Anneliese! Die paar Mal –“

„Er ist sein Neffe –“

„Das genügt?“

„Ja, das genügt.“

„Nun, das wird ja ein himmlisches Zusammenleben später bei Euch Dreien! Deine arme Mutter!“

„Ich will immer gut sein gegen Mama.“

„Ich sehe es kommen, sie lebt künftig zwischen zwei Feuern.“

„Ich bleibe nicht bei ihr; ich werde wieder gesund, und dann – –“ In diesem Augenblick mußte ich meine Worte Lügen strafen, denn mich überfiel ein kurzer, aber heftiger Husten, und das brachte die Komtesse außer sich.

„Da haben wir’s, Du dummes Ding!“ rief sie; das kommt von Deinem Toben! Jezt wirst Du ruhig zu Bett gehen, wirst Dich ganz still verhalten und Gott danken, daß er Dir ein Heim gegeben, Du schlimmes böses Gör Du!“

[671] Ich sah ihr die Angst an, die sie um mich hatte, ließ mit mir machen, was sie wollte, lag ganz still und dachte nur eins: vielleicht brauche ich nicht lange mehr zu leben mit dem Vorwurf in der Seele: um Deinetwillen!

Am andern Tage freute ich mich, wieder so matt zu sein, daß ich nicht aufstehen konnte, denn nun brauchte ich den Brankwitz nicht wiederzusehen, der einen Besuch bei der Komtesse machte. Ich wandte den Kopf zur Seite, als sie mir seine Empfehlungen brachte und dabei erzählte, er habe die Absicht, sich wieder anzukaufen, möglicherweise in hiesiger Gegend. „Und er läßt Dir gute Besserung wünschen.“

Ich antwortete gar nicht.

„S’ ist die Möglichkeit!“ murmelte die Komtesse, „’s ist doch nur, weil Dein – weil Wollmeyer ihn Dir als Tischnachbar ausgesucht hat!“

Ich nickte. „Vermutlich, Tante. Tante, laß doch einen Kranz bestellen für die Knopfmarthe.“

„Fällt mir nicht ein!“

„Dann steh’ ich auf und besorge ihn.“

„Na, um Gotteswillen – ich werd’s ja thun!“

Und ich blieb zu Bett, und der Sanitätsrat kam und zankte und schüttelte den Kopf. Ich hörte, wie er zur Komtesse sagte: „S’ ist rein seelisch, und es wäre gut, wenn sie bald fort könnte – andere Luft, andere Umgebung.“

„Helene geht mit ihr, sobald sie zurückkehrt von der Hochzeitsreise, Wollmeyer hat es ihr fest versprochen,“ erklärte die alte Dame.


Der Oktober kam ins Land mit wundervollen klaren Tagen, so blau und golden wie selten, und ich durfte wieder ausgehen. Schon seit einer Woche trug ich zwei Briefe in der Tasche, ohne mich entschließen zu können, sie zu öffnen, Briefe von Mama. Was sollte ich auch mit den Briefen? Ich hatte gemeint, sie müsse selbst kommen, denn ich war überzeugt, man habe ihr von meiner Krankheit geschrieben. Einmal fragte ich die Komtesse: „Tante, weiß Mama, daß ich krank bin?“ Und da war sie, die nicht lügen konnte, rot geworden wie ein Schulmädchen, als sie antwortete: „O, was denkst Du, so krank warst Du ja gar nicht – sie würde sich so ängstigen!“

Nein, so war es nicht! Man hatte ihr geschrieben, und sie kam nicht! Ich mochte auch ihre Briefe nicht. Endlich las ich sie aber doch. Aus jeder Zeile sprach die tödliche Angst um ihr Kind, und zwischen den Zeilen, da meinte ich nur immer zu lesen: um Deinetwillen! Um Deinetwillen ertrag’ ich das Leben! Und dann in dem letzten Briefe die Bitte um ein paar Worte; ein wahrhaft demütiges Bitten. Ich lief an den Schreibtisch, warf die heißesten Liebesbeteuerungen auf das Papier und sprach von meiner Sehnsucht und daß ich ohne sie nicht leben wolle und sie solle kommen! Da antwortete sie, sie könne jetzt nicht kommen, denn – sie hatte gezögert beim Schreiben, man sah es deutlich – denn er gedenke sich noch längere Zeit in Brüssel aufzuhalten, und da ich doch nun wohler sei – – aber dann, dann gehe es heimwärts und dann hole sie mich und reise mit mir.

Ich bat sie nicht wieder, sie kam auch noch lange nicht. Und eines Tages erhielt die Komtesse einen Brief und mußte abreisen; eine Kousine von ihr war gestorben, die sie sehr lieb gehabt hatte. Und da sie sich ängstigte, mich allein zu lassen, fand sie die Auskunft, mich wieder in unser altes Heim zu bringen. Die Base sei ja da, die alte Base Himmel. So packte ich denn meine Sachen zusammen und freute mich auf unsere lieben trauten Stuben und auf meinen Schutzengel. Die Base empfing mich schon unten im Hausflur. „Gottlob, Fräulein Annelieseken, daß Sie kommen!“ Sie trippelte neben mir durch den Flur und stieg die Treppe empor, mich immerfort anschauend mit einem gewissen bittersüßen Ausdruck, den ich gar nicht un ihr kannte. Im Vorzimmer blieb ich stehen und sah mich um. Mein Gott, war ich denn richtig gegangen? Mich umgab eine wahrhaft vornehme Pracht. Was war aus dem alten Zimmer geworden mit seinen vom Staub vieler Jahre geschwärzten leeren Wänden, seinem abgenutzten Parkett! Auf weiche Teppiche trat mein Fuß; köstliche Gobelins, Nachahmung alter Meisterwerke, bedeckten die Wände; vor dem Kamin standen nach alten Mustern geschnitzte eichene Möbel, und wie neu erschienen die hohen prächtigen wappengeschmückten Thüren.

„Die Mama findet ein schönes Heim, Fräulein Anneliese! Keine Ausgabe war ihm zuviel für sie. Nun kommen Sie aber, ich möchte Sie in Ihr Zimmer bringen; wie ein Käferchen in der Rose werden Sie drinnen sitzen, Fräulein Anneliese.“

Sie schritt voran nach dem Teile des Hauses, der früher unbewohnt gestanden hatte, und dort öffnete sie die Thür neben dem großen Saale. „So, Fräulein Anneliese, treten Sie ein!“ Und mich mit sich über die Schwelle ziehend, sprach sie ein lautes frommes: „Das walte Gott!“

Wie ein Käferchen in einer Rose – welch treffender Vergleich! Ich kleines braunes Ding in diesem mit blaßrosa Seide verschwenderisch ausgeschlagenen, im zierlichsten Rokokostil gehaltenen Boudoir! Geradezu feenhaft war es eingerichtet, und ebenso das Schlafzimmer mit seinem Erkeranbau. Ich sah von dem rosa Zauber weg in das Gesicht der Base.

„Hier soll ich wohnen?“

„Ja, Anneliese!“

„Aber ich denke gar nicht dran!“

„Gefällt es Ihnen denn nicht?“

„Gar nicht, Base, gar nicht! Ich stürbe hier oben vor Sehnsucht nach unseren lieben alten Möbeln. Wo sind sie? Wo ist Papas Bild?“

„Wir haben sie hinuntergeschafft, in die Zimmer neben meiner Stube.“

„Kommen Sie, Base – ich bin kein Rosenkäfer.“

„O, Anneliese, das nimmt er übel – er hat sich alles so schön ausgedacht für Sie!“

„Das ist mir ganz gleichgültig! Wenn ich hier im Hause leben muß, dann will ich unter meinen alten Sachen und mit Ihnen leben!“ Und ich lief die Treppe hinunter nach den kalten öden Zimmern, in denen man unsere alten Möbel in die Kreuz und Quere gestellt hatte, als seien sie wertloses Gerümpel. Aber wie flink die Hände der alten Frau mir halfen, wie ihre Augen leuchteten, trotzdem die Züge ernst blieben, und wie traulich wir Zwei uns da einrichteten in den paar Zimmern, fern von all der Pracht und Herrlichkeit droben! Am liebsten hockte ich im Lehnstnhl am Ofen und träumte von vergangenen Zeiten; und wenn abends die Base kam mit dem Spinnrad, so gelang es ihr mit ein paar freundlichen Worten oder mit Erzählen aus ihrer Jugend, mich aus meinen traurigen Gedanken zu reißen.

Einmal begann sie wieder zu erzählen und im Laufe des Gespräches ward sie redseliger, als sie es je gewesen. Sie sprach von Robert Nordmann; sie hatte nicht vergessen, daß ich an jenem Abend mit einem gewissen Interesse nach ihm gefragt hatte.

„Er war ein guter Junge, Anneliese, und das Hannchen hing an ihm, als wär’s ihr eigener – aber er, er! Na, er hatte des Buben Mutter auch nicht leiden können. Die Mutter von Robert war nämlich die Schwester von Hannchen, die Karoline, wissen Sie, und die beiden Schwestern hatten die Mühle zusammen geerbt. Der Karoline ihr Mann war aber Schullehrer und wollte sein Amt nicht aufgeben, er hätt’ sich wohl auch nicht gepaßt zum Müller, und der Wollmeyer, der dazumal schon festsaß in der Mühle als Hannchens Ehemann, der sollte auszahlen. So hatten’s die Schwestern ausgemacht. Der Wollmeyer aber ließ den Anteil seiner Schwägerin als Hypothek schreiben auf die Mühle und – wie das nun so gekommen ist, hm – die Nordmanns wollten nämlich eines Tages ein kleines Kapital erheben, hatten sich ein eigenes Haus gekauft, und da – – ja, sehen Sie, da fand sich’s, daß der Wollmeyer sich andern Tages bankerott erklären mußte. Die Nordmann aber nahm sich das so zu Herzen, daß sie ein hitziges Fieber bekam, und binnen drei Tagen war sie tot, und der Mann – –“

„Der Mann, Base?“

„Hm! Es war ja unrecht von ihm, ja, ja – aber er hat, er hat eine Beschuldigung gegen Wollmeyer ausgesprochen in seiner Wut, und der hat sich das nicht gefallen lassen und ’s ist an die Gerichte gekommen, und dann ist der Nordmann verurteilt worden wegen böswilliger schwerer Verleumdung, und – –“

„Aber Base!“

„Ja, ja! Und dann hat er sitzen müssen, und als er loskam, hatte er sein Amt verloren; und da ist er fort, so schämte er sich.“

Die alte Frau wischte mit dem Rücken der Hand eine Thräne aus den Augen und netzte den Flachs mit ihren Fingern. Ich schlich mich zu ihr hinüber und streichelte ihr die Wangen. „Wie traurig!“ sagie ich leise.

[672]

Die letzten Rebellen.
Nach dem Gemälde von B. Constant.

[673] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [674] „Als wenn das das Schlimmste wäre!“ fuhr sie heiser fort. „Aber sehen Sie, Anneliese, da kam ’mal ein Morgen, da lag das Kreisblatt wie sonst auf dem Tisch in der Mühle, und Hannchen hatte die Hände gefaltet und starrte darauf hin und war weiß wie das Papier. Und dann, als sie sich gar nimmer rührte und gar keine Antwort gab, da guck’ ich ihr über die Schulter und denke, mich schlägt der Blitz zu Boden, als ich da lese: ‚Steckbrief‘. Der Unterschlagung des mütterlichen Vermögens seines minderjährigen Sohnes der Lehrer Nordmann verdächtig – erst kürzlich aus dem Gefängnis zu H. entlassen – seine Beschreibung und dann die Aufforderung der Behörde, sie zu unterstützen, seiner habhaft zu werden. Ach Gott, Annelieseken –“ der Fuß der alten Frau stockte auf dem Trittbrett des Spinnrads und sie schlug die alten knochigen Hände vors Gesicht, als ob sie sich schämte.

„Und war dem so, Base, war dem so?“ rief ich erregt.

Sie ließ die Hände sinken und spann weiter. „Gott wird die Wahrheit an den Tag bringen,“ murmelte sie.

„Base, glauben Sie es denn?“

„Ich?“ Sie lachte grell auf. „Ich, das glauben? Der Nordmann sollte seinem Kinde die lumpigen paar tausend Mark gestohlen haben? Schwereren Herzens hat sich kein Vater je von seinem Kinde getrennt als er, das weiß ich. Mitgenommen hätt’ er den Buben, hätt’ er selber nur einen Fleck gehabt auf der weiten Welt, wo er sein Haupt niederlegen konnte. Es giebt aber keinen gerechten Gott, Fräulein Anneliese, wenn er das nicht ans Tageslicht bringt, und – er bringt es ans Licht, er thut’s, ich weiß es, ich weiß mehr, als mancher denkt.“

„Und der Robert?“ unterbrach ich die lange Pause, die nun entstand.

„Der Robert?“ Sie schrak empor, als müsse sie sich besinnen. „Den nahmen eben Wollmeyers zu sich und hatten selber kaum das liebe Brot damals, ja, ja.“ Die alten Lippen preßten sich aufeinander, als wollten sie keine Silbe mehr entschlüpfen lassen.

„Frau Wollmeyer hatte gewiß Mitleid mit dem Neffen?“ sagte ich.

„Das wohl! Aber sie getraute sich nicht, ihren Mann zu bitten, daß er sich des Kindes annehme. Da ging er selbst noch spät abends bei Sturm und Regen und brachte den Jungen daher und gab ihm Kleidung und Essen und schickte ihn zur Schule. Aber –“ Ein höhnisches Lächeln zuckte flüchtig um den alten eingefallenen Mund.

„Aber – Base?“

„Ja, das sind so Rätsel im Menschenherzen – der Junge konnte nun ’mal kein Herz zu ihm fassen, Gott weiß, weshalb!“

Ach, das – das kann ich verstehen, dachte ich, und meine Augen suchten das Bildchen an der Wand zu erkennen, das in der Dämmerung verschwamm.

„Nun, und weiter, Base?“

„Na, wie’s in den Wald hineinschallt, schallt’s auch wieder heraus. Der Junge war und blieb scheu, mißtrauisch und steifnackig. Da versuchte es Wollmeyer mit Strenge, mit Prügeln, mit Hunger, und dann, als wir schon hier in Westenberg wohnten, da drohte er, ihn vom Gymnasium wegzunehmen und zu einem Schuster in die Lehre zu thun. Es half alles nichts. Ja, das waren böse Zeiten, Anneliese.“

„Er war wohl faul in der Schule?“

„Der? Der beste in der Prima war er,“ antwortete die Base entrüstet.

„Nun, weshalb dann das alles?“

„Ich sagte ja schon, es sind Rätsel. Je mehr der Robert heranwuchs, desto mehr mißachtete er den Onkel, kaum daß er noch die blauweiße Schülermütze rückte, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Es gab kein Mittagbrot, an dem nicht eine böse Rede über das bißchen Essen hin und herflog. Wollmeyer schimpfte, und der Junge hatte eine Art, die Mundwinkel zu ziehen, die mehr sagte als Worte. Und dann ging’s los. Wir Frauen zitterten, doch dreinreden durften wir nicht. Hannchen versuchte es in der Erst, aber sie ließ es bald. Der Junge kam selbst zu ihr und bat: ‚Tanting, thu’ mir die Liebe und schweig’ – ich weiß, Du meinst es gut, Du machst es aber nur noch schwerer; je mehr Du verteidigst, desto schlimmer wird’s.‘ – ‚Ach Robert, Robert, Du könntest wohl dankbarer sein!‘ hat sie da geschluchzt. Und da sagte der Teufelsjunge, er sähe keinen Grund zur Dankbarkeit, er habe mehr zu beanspruchen als das, was er hier erhalte. Und die Hannchen hat dagesessen und ihn angeschaut, als habe er ihr gesagt, morgen um diese Zeit werde der Himmel einfallen oder sonst etwas. Sie hat aber gegen ihren Mann geschwiegen, um ihn nicht noch mehr aufzureizen, und –“

„Damals waren Wollmeyers wohl schon wieder zu Gelde gekommen?“ unterbrach ich die alte Frau.

„Ach mein Gott, das Geld, das kam schon gleich nach dem Bankerott in Strömen geflossen!“ rief die Base und ließ ihr Rad stehen. „Von da an ist alles gelungen – er hat einen gefunden und der hat ihm geholfen; ein Herr von Brankwitz ist’s gewesen, ist nun schon längst tot; der mit auf der Hochzeit war – das ist sein Sohn. Was der Vater von ihm war, der hat nun damals die Mühle erstanden beim Zwangsverkauf und hat den Wollmeyer als Inspektor drauf gesetzt, und keine zwei Jahre hat’s gedauert, da gehörte dem die Mühle wieder. Wo Tauben sind, da fliegen neue hinzu. Anneliese – steinreich ist er geworden da droben, es lag ein schier unheimlicher Segen auf allem, was er that, ja, ja – unheimlich, sag’ ich.“ Sie schwieg und wie gedankenabwesend setzte sie ihr Rädchen in Gang. „Ja, ja!“ wiederholte sie dann noch einmal.

„Und der Robert?“

„Fort!“ war die Antwort, „fort! Weiß nicht mehr, was es gegeben hatte vorher – fragen Sie mich nicht!“

Und als ich sie nun still ansah, murmelte sie, als spreche sie mit sich selbst: „Kam nicht wie sonst in die Küche und holte sich sein Frühstück. Ich hab’ gewartet, wie auf die liebe Gottessonne hab’ ich gewartet und endlich bin ich hinaufgegangen in sein Dachstübchen – das war leer, und sein Sonntagszeug hing nicht mehr an der Wand und in der Kommode fehlte das bissel Wäsche. Vor dem Fenster tanzten die Schneeflocken in der grauen Dämmerung des Dezembermorgens; es war so kalt, just zwei Tage vor Weihnachten. Meine alten Arme waren wie gelähmt. Hab’ keinen Christstollen backen können in dem Jahre – für wen denn auch, hab’ ich gedacht. Ist auch für mich kein Weihnachten mehr gewesen seitdem, nie mehr!“

„Base,“ sagte ich und rückte zu ihr hin, „Base – schrieb er nicht ’mal an Sie?“

Sie fuhr empor, und aus ihren alten Augen wich der Traum, sie blickte wieder so nüchtern und kalt wie immer. „Geschrieben? Wer? Der Robert? Nein, wozu soll er schreiben? Und nun ist’s spät; ich will nachsehen, ob die Mädchen die Thüren verschlossen und die Läden vorgelegt haben. Gute Nacht, Fräulein Anneliese!“

Sie schüttelte den Flachsstaub von ihrer Schürze und trug das Spinnrad hinaus. Hinter ihr schloß sich die Thür und ich blieb allein mit meinen Gedanken an Robert Nordmann, und meine Phantasie malte ihn mir, schuf mir einen ganzen Roman.


Es schien, als hätte sich die Base an jenem Abeud völlig ausgesprochen. In der Zeit, die nun folgte, saßen wir still nebeneinander, und der Sturm, der um das alte Gebäude tobte, war das einzige, was wir zu hören bekamen.

Die Bekannten gaben es nach und nach auf, sich um mich zu bekümmern. Es war auch ein undankbares Thun, zudem geschah etwas Neues, wodurch das Interesse von mir abgezogen wurde: Lore von Tollen hatte sich mit dem Adalbert Becker verlobt, von dem man eigentlich gar nichts Näheres wußte, als daß er Geld besaß und daß er sich mit unglaublicher Anmaßung in die „ersten Kreise“ der Gesellschaft gedrängt hatte.

Vor einem halben Jahre noch würde ich mich über die Nachricht gewundert haben, daß das stolzeste und schönste Mädchen Westenbergs diese Wahl getroffen; jetzt wunderte ich mich nicht mehr, nach Mamas Heirat hätte ich noch ganz andere Dinge für möglich gehalten.

Es war ein Tag zu Anfang November, da traf ein Telegramm ein mit der Nachricht, daß heute die Herrschaft zurückkehre. Ich hockte im Lehnstuhl am Ofen und rührte mich nicht, ich war müde, todmüde, hatte die ganze Nacht gehustet. Was ging auch mich das alles an? Ein ganz fremdes Gefühl überkam mich, wenn ich an Mama dachte. Im Hause war großes Getöse entstanden, sämtliche Zimmer droben wurden geheizt, die Thüren bekränzt und die Blumentische gefüllt. Die Base blieb gänzlich unsichtbar. Sie kommandierte in der Küche zwischen Konservenbüchsen und Einmachgläsern, und draußen vor dem Stallgebäude wurde der Landauer gewaschen.

Das Stubenmädchen kam gegen drei Uhr und fragte mich, ob ich nicht die Zimmer droben ansehen wolle; sie seien hergerichtet, die Herrschaft dürfe nur kommen; sehr schön sei es und furchtbar nobel, bei Beckers wäre es nichts dagegen. Ich verneinte kurz.

[675] Die Base brachte mir ein sehr verspätetes Essen. „Gott, Fräulein Anneliese, nicht böse sein! Bringe Ihnen auch Ihr Leibgericht.“

Ich mochte nicht essen. Matt und fiebernd legte ich den Kopf zurück; es war doch im Grunde recht schwach bestellt mit meiner Gleichgültigkeit.

Um halb sechs Uhr fragte die Base, ob ich die Eltern von der Bahn holem wolle, Friedrich fahre eben hin.

„Nein!“ antwortete ich kurz.

Und ich saß da in der tiefen Dämmerung und das Herz klopfte mir wie wahnsinnig bei jedem Pendelschlag der alten Uhr in dem Stübchen der Base. Die Laterne vorm Thorweg drüben strahlte rötlich im Dunst und Duft des Novemberabends, und vor dem Fenster regte es sich wunderlich, die ersten großen Schneeflocken taumelten hernieder, anfänglich einzeln und schwerfällig, dann rascher, dichter, und zuletzt ward es ein toller wilder Tanz. Weich und weiß legte sich eine schimmernde Decke auf die Aeste der hundertjährigen Linden vor den Fenstern, breitete sich ein leuchtender Teppich über den Hof. Ich konnte den wirbelnden Flockentanz vom Ofen aus sehen, in dem der heimatliche Torf langsam verglomm, aber ich hörte dieses weichen Teppichs wegen nicht den Wagen und saß da, ahnungslos, daß meine Mutter mit enttäuschter Miene eben den Fuß über ihre Schwelle setzte, und brütete und wartete. Erst als ich über mir ein Geräusch vernahm im oberen Stockwerk, schreckte ich auf. Sollte sie schon? Aber nein! Sie hätte ja zuerst nach mir gefragt, wäre zuerst zu mir gekommen!

Die Base trat herein, das alte dürre Gesicht rot vom Herdfeuer und vom Eifer. „Aber, Anneliese,“ sagte sie sanft und vorwurfsvoll, „Sie hätten doch wohl der Mama bis an die Thür entgegengehen sollen – sie hat so traurig ausgesehen, und er – er hat ein Gesicht gemacht wie drei Tage bös Wetter.“

So wird also der Kampf beginnen, sagte ich mir und stieg mit zusammengebissenen Zähnen die Treppe empor, um Mama zu begrüßen, völlig überzeugt, einem unangenehmen Auftritt entgegenzugehen. Aber es kam anders. Die Herrschaften seien noch beim Umkleiden, berichtete das Stubenmädchen und ließ mich in einen Salon treten, der wahrhaft reizend eingerichtet war. Ich hatte Muße, alles das zu betrachten, ebenso das daneben befindliche Speisezimmer, in dem sich die durch Künstlerhand aufgefrischten Ahnenbilder der Serrenburgs sehr stilvoll ausnahmen, und dann das Boudoir Mamas auf der anderen Seite des Salons, das in blassem Blau gehalten war. Nichts hatte man gespart, was Geschmack im Verein mit Kunstfleiß hervorzubringen vermag, und ich mußte mir gestehen, daß Herr Wollmeyer alles gethan habe, um seiner zweiten Frau ein wahrhaft vornehmes Heim zu bereiten.

Die Not, die Dürftigkeit war zu Ende, aber die Ueberzeugung, daß aus diesen Räumen mit der bescheidenen Einrichtung der Frau von Sternberg auch das alte Glück gewichen sei, die ließ ich mir nicht nehmen.

In diesem Augenblick hörte ich die fette, vor innerem Behagen überquellende Stimme meines Stiefvaters hinter der Portiere: „Das Töchterchen, wo ist denn unser liebes Töchterchen?“ und gleich darauf trat er über die Schwelle mit ausgestreckten Händen und glänzendem Gesicht. „Grüß Gott! Grüß Gott, meine liebe kleine Anneliese!“ rief er, als wären wir stets die besten Freunde gewesen, und trotz der Abwehr hatte er mich an seine Brust gezogen und seine Lippen auf meine Stirn gedrückt.

Mir rann es wie Eis durch die Adern. Ich blieb stumm und wich zurück, und dann kam Mama und ich flüchtete in ihre Arme und forschte in ihrem Gesicht, als könnte ich darin lesen, ob sie meinen geliebten Papa und mich ganz vergessen habe. Sie sah frisch aus und rosig und trug ein auffallend elegantes Hauskleid, so wie es erste Liebhaberinnen auf der Bühne in einem französischen Salonstück zu tragen pflegen.

„Meine liebe kleine Anneliese,“ sagte sie, „nun muß ich gleich böse mit Dir sein! Ich hatte auf der ganzen Fahrt davon geträumt, Dich auf der Schwelle des Hauses zu sehen bei unserer Ankunft, und –“ '

„Ach was, es wird nicht gescholten, Helene!“ fiel Herr Wollmeyer ein. „In dem Schnee hört man das Rollen des Wagens nicht, und in der Hausthür kann das Kind doch auch nicht stehen, um sich unserthalben der Zugluft auszusetzen. – Wie geht’s denn mit Ihrer Gesundheit, Anneliese, ist der Husten besser?“

Fabelhaft liebenswürdig und gutherzig klang es. „Ich danke, ja,“ log ich und sah meinen Fürsprecher an mit einigermaßen erstaunten Augen.

„Und Du wohnst nicht hier oben in Deinen hübschen Zimmern?“ klagte Mama weiter.

„Nein. Ich fühle mich unten gemütlicher.“

„Aber, Helene, ich bitte Dich,“ fiel er ein und schritt umher mit auf dem Rücken gekreuzten Händen und lächelndem Gesicht, „so laß sie doch! Sie wird sich schon mit derZeit herauf gewöhnen. Zeit lassen, liebe Helene, Zeit lassen! Du mußt nicht verlangen, daß der kleine Gletscher da mit einem Male schmilzt, gelt, meine liebe Anneliese? Nach und nach, wenn Sie Ihren Stiefpapa erst genauer kennen, werden Sie ihm gut werden – eh! eh!“ lachte er, als ich unwillkürlich eine abwehrende Bewegung machte – „heute und morgen freilich noch nicht – Zeit bringt Rosen!“ Und damit warf er mir eine Kußhand zu und verschwand im Eßzimmer, um die Tafel zu besichtigen.

„Du hättest wenigstens in Deinem Briefe danken können, Anneliese, für die zarte Fürsorge, mit der er in seinem Hause Dir ein Heim eingerichtet hat. Was soll werden, wenn Du so steifnackig bleibst? Wirst Du nie einsehen, wie falsch Du ihn beurteilst? Daß Du ihm sehr viel Dank schuldest?“

„Ich würde sehr glücklich sein, wenn ich es eines Tages einsehen könnte, Mama – Deinetwegen. Bitte, bitte, laß mich auf meine Façon selig werden, dort unten zwischen meinen alten Erinnerungen; ich will ja sonst alles thun, um das gute Einvernehmen, den Frieden Deines Hauses nicht zu stören.“ –

Ach, ich hätte vor der Hand den Frieden des Hauses nicht stören können, auch wenn ich gewollt. Herr Wollmeyer strahlte am Himmel dieses Hauses wie die Friedenssonne selber und überschüttete alles, was in seinen Bereich kam, mit seinen goldenen Strahlen, und meine völlige Unempfindlichkeit gegen diese Strahlen geruhte er im Vollgefühl seines Glanzes gar nicht zu bemerken, im Gegenteil, er lächelte mich nur um so huldvoller an. Für jedes höhnische Zucken meiner Mundwinkel bei einer seiner protzenhaften Taktlosigkeiten hatte er eine Liebenswürdigkeit, für jede offenbare Nichtbeachtung eines seiner Wünsche die Erfüllung irgend eines der meinigen. Ich sah mich plötzlich, als ich mich weigerte, die längst besprochene Reise meiner Gesundheit wegen zu unternehmen, im Besitze eines reizenden Ponygespanns, um so Gelegenheit zu haben, recht viel frische Luft zu schöpfen, und eines Tages stand ein neues sehr schönes Pianino in meinem Zimmer. Gottlob, das alte hatte man daneben belassen, und auch der Pony hatte Ruhe vor mir!

(Fortsetzung folgt.)


Ein entführtes Herzogskind.

Von Eduard Schulte.


Es war um die Zeit, da Kardinal Richelieu als Minister König Ludwigs XIII. seine Kämpfe gegen die einer machtvollen Monarchie in Frankreich widerstrebenden Elemente führte. Gar mannigfacher Art waren die Gegner. Die Familienhäupter des hohen Adels beanspruchten noch um diese Zeit dem Könige gegenüber nicht geringeren Rang und nicht geringere Rechte – vom Wahlrecht natürlich abgesehen – als im Deutschen Reiche die Kurfürsten gegenüber dem Kaiser; die Hugenotten, die Bekenner des Protestantismus, bildeten, auf ihre eigenen Festungen gestützt, einen Staat im Staate, die obersten Gerichtshöfe, die sich „Parlamente“ nannten, beschränkten sich keineswegs auf die Rechtsprechung, sondern griffen auch in die Verwaltung ein und wurden sogar amtlich als „souverän“ bezeichnet.

Zu den Führern sowohl der aufsässigen Adligen als der Hugenotten gehörte der Herzog Heinrich von Rohan, Fürst von Leon. Er war einer der angesehensten und reichsten Herren in Frankreich, seine Familie war mit Herrscherhäusern verwandt und fühlte sich selbst als Herrscherhaus; er würde keinem deutschen Landesfürsten den Vorrang eingeräumt haben. Aus seiner Ehe mit Margarete von Bethune, der Tochter des Ministers Herzog [676] von Sully, war ihm zu Ende des Jahres 1615 eine Tochter geboren worden, die wie die Mutter Margarete hieß. Mit dem König Heinrich IV. war er eng befreundet gewesen, aber von der Regierung Ludwigs XIII., der im Jahre 1610 auf Heinrich IV. folgte und bis 1643 herrschte, glaubte er sich als Fürst und Protestant benachteiligt; zwischen ihm und dem Kardinal bestand persönliche Feindschaft. Nach mehrjährigen wechselvollen Kämpfen, in denen Rohan sich wiederholt hervorthat, siegte die überlegene Macht und Staatskunst Richelieus. La Rochelle, die Hauptfestung der Hugenotten, mußte sich im Jahre 1628 ergeben, und der Herzog von Rohan flüchtete mit Gattin und Tochter nach Genf, der Mutterstadt des französischen Protestantismus. Im Jahre 1629 schloß König Ludwig mit dem Herzog einen Vertrag, wonach die im Bürgerkrieg verfügte Beschlagnahme des ungehenren, über ganz Frankreich verbreiteten Güterbesitzes der Rohans unter der Bedingung wieder aufgehoben wurde, daß der Herzog, der in Genf der französischen Grenze zu nahe schien, bis auf weiteren königlichen Befehl nach Venedig in die Verbannung gehe.

Im August kam die herzogliche Familie in Venedig an. In treuem Zusammenhalten und in einer glücklichen Häuslichkeit fand sie einen Ersatz für die Entsagungen, die das Fernsein von der Heimat ihr auferlegte.

Der Herzog hörte auch als Verbannter nicht auf, für seine Glaubensgenossen zu wirken. Er trat mit dem griechischen Patriarchen von Alexandrien, Cyrillus, in Verbindung, der eine Einigung des Protestantismus mit der griechischen Kirche plante. Im Einverständnis mit dem Herzog schlug der Patriarch dem Sultan Murad IV. vor, die Insel Cypern gegen ein Kaufgeld von 200000 Thalern und gegen einen jährlichen Tribut von 20000 Thalern an den Herzog von Rohan abzutreten; Rohan sollte König von Cypern werden und seinen Glaubensgenossen auf der Insel eine Zufluchtsstätte bieten. Der Sultan stimmte zu. Nun konnte der Herzog jene zumal für die damalige Zeit beträchtliche Geldsumme nur zahlen, wenn er einige seiner Güter veräußerte. Da er selbst sich in Frankreich nicht zeigen durfte, seine Gemahlin aber seine Verbannung nur freiwillig teilte, so kamen beide überein, daß die Herzogin, eine geschäftlicher Verhandlungen nicht unkundige Dame, statt seiner nach Paris reisen sollte, um den Verkauf der Güter ins Werk zu setzen. Daß das Ehepaar eben jetzt der Geburt eines zweiten Kindes entgegensah, bildete kein Hindernis: im Gegenteil wünschte sich die Herzogin nötigenfalls die Hilfe von Pariser Aerzten zu sichern.

Während der Reisevorbereitungen erinnerte ein der herzoglichen Familie befreundeter venetianischer Senator, der ein welterfahrener Mann war, daran, daß es geraten sei, die Geburt eines herzoglichen Kindes in Paris geheim zu halten; werde ein Knabe geboren und erfahre der Kardinal Richelieu davon, so werde dieser gewiß die Mittel finden, das Kind der elterlichen Gewalt zu entziehen, um es in dem katholischen Glaubensbekenntnis aufwachsen zu lassen; daß das künftige Oberhaupt des Hauses Rohan wie der Vater Protestant werde und vielleicht zum Führer protestantischer Gegner der Regierung erwachse, verstoße zu sehr gegen die Politik Richelieus, als daß dieser nicht seine ganze Umsicht und Rücksichtslosigkeit aufbieten werde, um es zu verhindern.

Die Ausführungen des Senators und das Gewicht seiner Gründe leuchteten dem Herzog von Rohan durchaus ein: wußte doch auch dieser sehr wohl, daß der Kardinal der unversöhnlichste und verschlagenste seiner Feinde war. Es wurde daher beschlossen, daß die Herzogin in Paris zunächst in der Verborgenheit leben sollte.

Im Oktober 1630 trat die Herzogin, von ihrer damals fast fünfzehnjährigen Tochter und einer Kammerfrau begleitet, ihre Reise an. Sie bediente sich einer Sänfte, die bald von zwei Pferden, bald von mehreren Dienern getragen wurde. Ein jüngerer Freund des Hauses, ein Marquis von Ruvigny, folgte der Sänfte in einiger Entfernung zu Pferde, begleitet von zwei bewaffneten Lakaien; in der Nähe von Paris ritt er um einige Stunden voraus. Die Vorkehrungen waren so getroffen„ daß die Herzogin spät abends in Paris ankam und im Hause der Dienerin einer vertrauten Freundin abstieg. Am 18. Dezember gab sie einem Knaben das Leben. Das Kind wurde mit seiner Wärterin der Obhut eines den Rohans bekannten Apothekers Namens Rose anvertraut, und in dessen Hause blieb es für die nächsten Jahre. Do es nicht eben kräftig zu sein schien, so taufte man es bald; es erhielt den Vornamen „Tankred“, und als sein Vatersname wurde, da man seine wirkliche Abstammung für jetzt überall verheimlichen wollte, „Le Bon“ genannt. Dem Herzog wurde in aller Stille von der Geburt seines Sohnes Kenntnis gegeben. Allen, die um die Geburt des Kindes wußten, auch der Schwester desselben, wurde strenge Verschwiegenheit anbefohlen. Die Herzogin siedelte nach einiger Zeit des Nachts in ihr Stadtschloß in einer Weise über, daß jedermann glauben mußte, sie lange eben erst von Venedig an.

Der nächste Zweck der Geheimhaltung wurde erreicht: die Geburt des jungen Rohan entging den Spähern Richelieus, die sonst fast alles in Erfahrung brachten, was für ihren Herrn zu wissen nötig oder wünschenswert war. Aber dieser Erfolg, der überdies durch Verrat oder Zufall jeden Tag vernichtet werden konnte, war teuer erkauft. Was geschah und über welche Beweismittel verfügte man, wenn nach Jahren die Zugehörigkeit des Tankred Le Bon zum herzogliche Hause Rohan in Zweifel gezogen wurde? Es war ja fraglich, ob der Same von Mißhelligkeiten, der hier gesät war, einmal aufgehen werde, aber gesät war er, und das war um so ärgerlicher, als die geschäftlichen Verhandlungen, deretwegen die Herzogin ihre Reise nach Paris überhaupt untermomme hatte, nun, da sie sich ihnen hätte widmen können, zwecklos wurden. Der Patriarch Cyrillus storb, und mit dem Tode dieses gewandten und einflußreichen Unterhändlers zerschlug sich der Plan, Cypern anzukaufen; die Pforte trat von dem Verkauf zurück.

Inzwischen eröffnete sich dem Herzog von Rohan ein anderes, ihm noch mehr zusagendes Feld seiner Thätigkeit. Richelieu, der im eigenen Lande die Protestanten hart bedrängte, beschloß, in die Kämpfe des Dreißigjährigen Krieges mit einzugreifen und die deutschen Protestanten gegen Oesterreich und Spanien, die alten Feinde Frankreichs, zu verteidigen. Der Herzog von Rohan wurde von ihm im Jahre 1631 beauftragt, unter den Schweizer Kantonen Bundesgenossen für Frankreich zu werben und später im französischen Heere ein Kommando zu führen. Trotz wechselseitigen Hasses und Mißtrauens that Richelieu diesen Schritt, um den Einfluß und die Thätigkeit Rohans wieder für den königlichen Dienst fruchtbar zu machen, und Rohan nahm den Auftrog an, weil er ja nun wieder für die Rechte seiner Glaubensgenossen eintreten konnte.

Er bewährte sich als Diplomat wie als General und erhielt in Anerkennung seiner Verdienste im Jahre 1634 die Erlaubnis, nach Paris zurückzukehren. Bei dieser Gelegenheit sah er, nachdem er Frau und Tochter begrüßt hatte, seinen damals vierjährigen Sohn zum erstenmal. Geflissentlich besuchte er ihn nur selten und immer nur im geheimen. Ihn der Verborgenheit zu entreißen, konnte er sich auch jetzt noch nicht entschließen. Zwar hatte der König bewirkt, daß Herzog und Kardinal sich vor seinen Augen zur Versöhnung die Hand reichten, aber Rohan wußte genau, daß gerade Richelieu durch solche Scenen nicht ungefährlicher wurde und daß die Gründe, den jungen Tankred vor ihm zu bewahren, nach wie vor fortbestanden.

In der That brach auch der alte Hader zwischen beiden bald wieder in hellen Flammen aus. Es kam so weit, daß Abgesandte des Kardinals, der seinen mächtigsten inländischen Gegnern früher oder später in der Regel doch den Kopf vor die Füße legen ließ, den Herzog mit Gefangennahme, wenn nicht mit Ermordung bedrohten. Rohan flüchtete auf deutsches Gebiet. Er begab sich zu seiuem Freunde, dem Herzog Bernhard von Weimar, der damals in französischem Solde stand, und kämpfte an seiner Seite. Bernhard hegte hochfligende Pläne; er hoffte, sich am Oberrhein ein eigenes Fürstentum zu gründen, und Rohan hatte die Absicht, nach dem Friedensschlusse seine Tochter Margarete mit Herzog Bernhard zu verheiraten.

Während nun der Herzog von Rohan an den Kämpfen in Süddeutschland teilnahm, traf es sich – es war im Jahre 1636 –, daß ein spanisches Heer von den Niederlanden aus in Frankreich einfiel. In der Befürchtung, daß es Paris besetzen könnte, flüchteten viele Einwohner der Hauptstadt. Die Herzogin, auf der während der Abwesenheit ihres Gemahls die Sorge um den jungen Tankred doppelt schwer lastete, fürchtete zunächst nicht für sich, aber sie beschloß, ihren Sohn weiter nach Westen hin irgendwo unterzubringen, wo er vor den Wechselfällendes Krieges sicher wäre. Der Vater

[677]

Blaumeisen im Bade.
Nach einem Gemälde von Marie Laux.

ihres Haushofmeisters, ein Herr von Préfontaine, besaß ein festes Schloß in der Normandie, und der Haushofmeister erbot sich, den Knaben dorthin zu schaffen. Die Herzogin hielt den Vater des Haushofmeisters für ebenso zuverlässig wie diesen selbst und nahm das Anerbieten an.

So wurde Tankred nach der Normandie gebracht und dem Herrn von Préfontaine zur Ueberwachung anvertraut. Der Herzog, mit dem die Herzogin nur unter großen Schwierigkeiten Briefe und Botschaften austauschen konnte, erklärte sich mit dieser Maßregel durchaus einverstanden.

Zu ihrer damals einundzwanzigjährigen Tochter Margarete sprach die Herzogin von der Uebersiedlung geflissentlich nicht; nach einiger Zeit erst erfuhr die Tochter davon durch eine plauderhafte Dienerin. Seit Jahren schon war Tankreds zwischen Mutter und Tochter nicht mehr Erwähnung gethan worden. Die Mutter glaubte das Geheimnis am besten gewahrt, wenn es nicht unnötigerweise erörtert wurde, die Tochter machte sich aus dem Bruder, den sie einmal in ihrem Leben gesehen hatte und der ihr also völlig entfremdet war, nicht eben viel und meinte sich etwas zu vergeben, wenn sie mehr erfragen sollte, als man ihr freiwillig mitteilte. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war, seitdem die letztere das heiratsfähige Alter erreicht hatte, überhaupt kein sehr gutes mehr. Die Herzogin wollte in der Geselligkeit noch eine Rolle spielen, die der Tochter schon etwas unzeitgemäß erschien und die Ansprüche, welche die Tochter an das Leben stellte, gingen ins Ungemessene. Hier war der Boden auf dem die Verheimlichung Tankreds schlimme Früchte zeitigen sollte.

Wuchs Tankred als der von seinen Eltern anerkannte Sproß des Hauses Rohan auf, so würde, das wußte jedermann, das ungeheure Erbe der Familie und auch die gleichfalls beträchtliche Mitgift der Mutter ihm dereinst zufallen, während für seine Schwester Margarete nur der verhältnismäßig geringe Vermögensanteil verblieb, der in den großen Familien nach altem Brauch den Brüdern und Schwestern des Haupterben ausgesetzt zu werden pflegte. Jetzt hatte man von dem Dasein eines männlichen Erben keine Kenntnis; das Fräulein Margarete von Rohan galt als die alleinige Erbin ihrer reichen Eltern und somit als die reichste „Partie“ in Frankreich. Eine Schar von armen oder überschuldeten, verwegenen, jedem Wink der jungen Dame unbedingt dienstbaren Kavalieren drängte sich um sie. Eitel und hochfahrend, wie sie war, verspottete sie das Liebeswerben dieser Leute; sie sagte ganz offen, sie werde, wenn sie sich einmal zu einer Ehe erschließe, nur einen König oder einen Fürsten heiraten. Aber es gefiel ihr, daß jene sich zum Spielball ihrer Launen hergaben. Wie angenehm war es doch, für reich zu [678] gelten! Wer von allen diesen Herren hätte sich um ein armes Mädchen gekümmert! Wie schade, daß der Bruder lebte! Wie vorteilhaft, wenn er nie wieder auftauchte! Konnte man dem Schicksal durch zweckmäßige Maßnahmen nicht etwas in die Hände arbeiten?

Fräulein von Rohan teilte ihre Gedanken und Wünsche andeutungsweise dem oben bereits erwähnten Herrn von Ruvigny mit, der unter ihren Verehrern in erster Reihe stand. Sofort griff dieser die Idee einer Entführung Tankreds auf. Was Margarete nur schwankend in Erwägung gezogen hatte, war nach Ruvignys beredten Darlegungen eine erlaubte, ja notwendige Maßregel der Lebensklugheit. Zwei seiner Freunde, die beide als Kapitäne im Heere dienten, nahmen mit Freuden die Entführung in die Hand. Das Fräulein sagte wohl, es werde nur einen Fürsten heiraten, aber man konnte nicht wissen, wie sie sich einmal entschied. Vielleicht belohnte doch die Hand der reichen Erbin den Glücklichen, der ihr das reiche Erbe erst gesichert hatte.

Den Vorbereitungen, welche nun zur Entführung Tankreds getroffen wurden, blieb das Fräulein von Rohan ganz fern; ihre Freunde handelten für sie, ohne ihre Ruhe durch Fragen und Erörterungen zu stören. Vermöge einer Willkür und eines Mißbrauchs, die in civilisierten Ländern heute nicht mehr möglich wären, erschien einer der Kapitäne mit einer Abteilung maskierter Soldaten zu Anfang des Jahres 1638 vor dem Schlosse Préfontaine und brachte den Schloßherrn durch Drohungen und durch die Auszahlung einer beträchtlichen Summe Geldes dahin, den damals in seinem achten Lebensjahre stehenden Tankred auszuliefern. Ruvigny ließ den Knaben erst nach einem Kloster Montreuil schaffen, dessen Oberin eine Verwandte Ruvignys war, und brachte ihn darauf persönlich nach einem Schlosse bei Calais. Der andere Kapitän, ein Herr von La Sauvetat, der bei einem den Holländern zu Hilfe geschickten Regimente stand, holte das Kind von Calais wieder ab und übergab es einem Dorfschullehrer im nördlichen Holland. Herr von La Sauvetat bezahlte ein bescheidenes Pensionsgeld, das jedoch nicht aus seiner, sondern aus Fräulein von Rohans Tasche floß. Tankred wurde angewiesen, fortan auf den Namen Karl zu hören. Er mußte die Frau des Lehrers „Mutter“ nennen und wurde ganz so erzogen, unterrichtet und gekleidet wie die Dorfkinder.

Wohl sträubte sich der Knabe gegen diese Aenderungen; er sagte, er habe früher seidene Kleider und einen schönen Wagen gehabt; aber nach einigen Wochen erlahmte sein Widerstand. Daß er ein Sohn des herzoglichen Hauses Rohan war, wußte er selbst nicht. Er glich einem armen Dorfjungen, und niemand in der ganzen Provinz kümmerte sich darum, ob er das echte oder das angenommene Kind des Lehrers sei. Von einem Familiennamen, der dem Knaben zugelegt worden wäre, verlautet aus dieser Zeit nichts. Dem Lehrer war die Abstammung seines Zöglings ebenfalls unbekannt; er sah in ihm nur einen von Herrn von La Sauvetat unterhaltenen Pensionär und stellte keine weiteren Fragen.

Die Entführung Tankreds war somit glücklich gelungen; es galt nun, die Herzogin von Rohan von allen Nachforschungen ein für allemal abzubringen. Von den verbündeten Freunden des Fräuleins von Rohan angestiftet und unterwiesen, sandte Herr von Préfontaine einen seiner Söhne an die Herzogin nach Paris mit dem Vorgeben, daß Tankred plötzlich schwer erkrankt sei; sie möge unverweilt einen tüchtigen Pariser Arzt senden, der den Knaben in Behandlung nehme. Sogleich kam die Mutter dieser Aufforderung nach; in Durchkreuzung der Pläne ihrer Gegner selbst an das Krankenbett ihres Kindes zu eilen, mußte sie, wie jenen sehr wohl bekannt war, auch jetzt vermeiden, wen sie nicht das so lange mit Erfolg gehütete Geheimnis der Abstammung Tankreds gefährden wollte. Der Arzt, den sie mit der dringenden Bitte, für die Rettung des Knaben sein Möglichstes zu thun, nach der Normandie sandte, stieß unterwegs infolge der von den Verbündeten getroffenen Vorkehrungen auf einen ihm entgegen gesandten Boten des Herrn von Préfontaine: die Weiterreise sei unnötig geworden, ließ der treulose Schloßherr bestellen, denn der Knabe sei bereits verstorben. Die Richtigkeit dieser Angabe in Zweifel zu ziehen, hatte der Arzt keinen Grund, und so sparte er sich weitere Reisebeschwerden und weiteren Zeitverlust und kehrte mit der Nachricht vom Tode des Knaben nach Paris zurück. Auch die Herzogin hegte keinerlei Argwohn. Nie war ihr, wenn ihr auch ihre Tochter innerlich fern stand, der Gedanke gekommen, daß diese fähig sein könnte, ein Verbrechen gegen den eigenen Bruder anzustiften oder zu begünstigen.

Beinahe wäre jedoch die Wahrheit schon jetzt an den Tag gekommen. Ein Gerücht, welches von der Entführung Tankreds durch maskierte Soldaten ungewisse Kunde gab, drang aus der Normandie bis zur Herzogin. Sie sandte darauf einen langjährigen Diener ihres Hauses ab, um an Ort und Stelle Nachforschungen anzustellen. Aber der Diener kam mit dem Bescheide zurück, daß das Gerücht irrig sei, und daß das Kind, von dessen Entführung man fabele, im Grabe ruhe. Daß der Diener nur deshalb so aussagte, weil die verbündeten Gegner durch den täglich im Hause der Herzogin verkehrenden Herrn von Ruvigny seine Absendung erfahren und ihn bestochen hatten, das ahnte die Herzogin nicht. Ueber den in ihren Augen nun nicht mehr anzuzweifelnden Verlust des einzigen Sohnes tief betrübt, schickte sie einen Boten mit der Todesnachricht an ihren im Feldlager am Oberrhein weilenden Gemahl.

Der Herzog von Rohan hatte, bevor diese Botschaft ankam, ebenfalls von jenem Gerücht erfahren, welches von der Entführung Tankreds durch maskierte Soldaten meldete. Er schrieb darüber in großer Bestürzung an die Herzogin und erbat sich genauere Nachricht; er sei überzeugt, sagte er in dem Briefe, daß nur der Kardinal Richelieu die Entführung ins Werk gesetzt haben könne. In der That ließ ja die Verwendung von Soldaten viel eher den Schluß zu, daß die Staatsgewalt, als daß eine Vereinigung von Privatpersonen die Hand im Spiele gehabt habe. Kurz darauf traf jener Bote mit der Anzeige ein, daß Tankred an einer plötzlich ausgebrochenen Krankheit schnell gestorben sei. Der Herzog, der noch nichts Näheres wußte, verband in seinem festgewurzelten Argwohn gegen den Kardinal beide Nachrichten dahin, daß der Tod seines Sohnes ebenso wie die Entführung durch Richelieu veranlaßt sein müsse. Einige Tage später fand die Schlacht bei Rheinfelden statt, in welcher der Herzog durch zwei Schüsse schwer verwundet wurde. Auf dem Krankenbett schrieb er an seine Gemahlin noch einen kurzen Brief, worin er erklärte, der Kummer um seinen Sohn verzögere die Genesung. Als er sein Ende nahe fühlte, bestimmte er durch ein Testament, daß seine Tochter, die er ja nun für sein einziges Kind halten mußte, den ganze Besitz seines Hauses erben sollte, soweit er nicht durch ausdrückliche hausgesetzliche Bestimmungen wegen Mangels eines männlichen Nachkommen an Seitenlinien fiel. Am 13. April 1638 starb der Herzog und wurde in Genf begraben.

Des Herzogs Ueberzeugung, daß der Kardinal Richelieu in die Schicksale des Kindes eingegriffen habe, war sicherlich unbegründet, aber sie war geeignet, die Aufmerksamkeit der Herzogin von den wirklich schuldigen Personen auch fernerhin abzulenken.

Im Jahre 1641 brachte Herr von La Sauvetat den nun elfjährigen Tankred nach Leiden und übergab ihn einem Kaufmann Namens Potheuck. Fräulein von Rohan, die nun reich war, scheint jetzt ein höheres Pensiousgeld bezahlt zu haben als früher, denn Tankred besuchte die höheren Schulen in Leiden. Man plante, ihn später nach Ostindien einzuschiffen.

Inzwischen wurde Fräulein von Rohan nicht nur von einer stattlichen Schar von Freiern, denen sich ein Prinz von Savoyen und ein Prinz von Lothringen zugesellt hatten, sondern auch vom königlichen Hofe aus gedrängt, sich endlich zu einer Heirat zu entschließen. Einer der Freier, ein Herr von Chabot, erfreute sich der Fürsprache des Herzogs von Orleans und des Prinzen von Condé und auf deren Verwendung hin auch der Königin Anna und des Kardinals Mazarin, der im Jahre 1642 nach Richelieus Tode die Führung der Staatsgeschäfte übernommen hatte. Auch persönlich wußte sich Herr von Chabot bei dem Fräulein in Gunst zu setzen, und so trug er über seine fürstlichen Mitbewerber den Sieg davon. Trotz des Widerspruchs der Herzogin von Rohan, ihrer Mutter, die an dem geringen Herkommen und noch mehr an dem katholischen Glaubensbekenntnis des Herrn von Chabot Anstoß nahm, heiratete sie ihn im Juni 1645; vor der Trauung ging sie die Verpflichtung ein, die der Ehe etwa entstammenden Kinder im katholischen Glauben aufwachsen zu lassen. Der Hof zeigte sich von diesem Entschlusse sehr befriedigt, und es wurde ihr im Namen König Ludwigs XIV., der im Jahre 1643 als fünfjähriger Knabe den Thron bestiegen hatte, das Recht zugesprochen, auch als Frau den herzoglichen Titel und Namen der Rohans zu führen. Dafür grollten ihr die Protestanten; entzog sie ihnen doch durch ihre [679] Heirat die mächtige SUitze, die sie seither an dem Hause Rohan gehabt hatten.

Eine besondere Gegnerschaft aber erwuchs ihr in den Freunden ihrer früheren Tage, den Mitwissern ihrer Heimlichkeiten, den Vollstreckern ihrer stillen Wünsche. Herr von Ruvigny forderte Herrn von Chabot und wurde von ihm verwundet. Obwohl Ruvigny und seine Genossen sich durch Bekanntgeben der Entführungsgeschichte selbst bloßstellten und gefährdeten, schwiegen sie, über den Undank ihrer Dame empärt, im Kreise ihrer Vertrauten doch nicht länger, und die Hochzeitsfeierlichkeiten waren kaum zu Ende, als sich alle Welt von dem in Leiden weilenden und durch die eigene Schwester um sein Erbrecht betrogenen jungen Rohan erzählte. Auch der Herzogin-Mutter blieb diese Kunde nicht mehr verborgen.

Beide Herzoginnen von Rohan bemühten sich nun, den jungen Tankred in ihre Hände zu bekommen. Wäre er in die Gewalt der jungen Herzogin gefallen, so würde er vermutlich ins Ausland geschafft, vielleicht sogar ganz aus dem Wege geräumt worden sein. Vermöge der Verwendung besserer Rechtsmittel erlangte jedoch die Herzogin-Mutter die Auslieferung Tankreds, und noch im Jahre 1645 sah sie nach neunjähriger Trennung ihren nun fünfzehnjährigen Sohn wieder. Seine französische Muttersprache hatte er, da er seit Jahren nur Holländisch sprach, fast vergessen, sein Benehmen verriet seine bäuerische Erziehung, und in der ersten Zeit zog er die ihm gewohnte grobe Kost der feinen herzoglichen Küche vor. Aber er fand sich bald in der ihm fremden Umgebung zurecht und lernte in einigen Jahren, es seinen gleichalterigen Standesgenossen in ritterlichen Uebungen und höfischer Sitte gleichzuthun. Keinen Augenblick zweifelte die Herzogin, daß er wirklich ihr Sohn sei; er hatte nicht nur Aehnlichkeit mit dem Herzog von Rohan, sondern es wiederholte sich auch bei ihm ein Naturspiel, das jenen gekennzeichnet hatte. eine Locke seines dunklen Haares war blond.

Wesentlich anders stellte sich die Frage, ob sich gerichtlich werde erweisen lassen, daß der Ehe des herzoglichen Paares überhaupt ein Sohn entsprossen und daß der junge Mensch, der jetzt plötzlich aus Holland herbeigeholt worden war, mit dem jungen Rohan eine und dieselbe Person sei. Die Rechtsbeistände der Herzogin-Mutter verschafften sich von Personen, welche um die Geburt Tankred Le Bons, seine späteren Schicksale, seine Entführung und seinen Aufenthalt in der Fremde wußten, eine Reihe protokollarischer Aussagen, mit deren Hilfe jener Beweis geführt werben sollte; aber in dieser Reihe boten einige vorläufig noch nicht ausgefüllte Lücken Raum zu rechtlichen Zweifeln und Angriffen.

Zur Sicherung der Erbrechte Tankreds wandte sich die Herzogin-Mutter an den für die Rechtsprechung über die Hugenotten besonders gebildeten, halb aus Katholiken, halb aus Protestanten zusammengesetzten Gerichtssenat und erlangte von ihm, daß ein Familienrat einen anerkannten Vormund für Tankred einsetze. Die junge Herzogin suchte diesen ersten Schritt zur rechtlichen Anerkennung Tankreds abzuwehren; sie ließ gegen den Gerichtsbeschluß Einsprache erheben und forderte, als Prozeßgegnerin ihrer Mutter zugelassen zu werden. Zugleich reichten 80 Herren des vornehmsten katholischen Adels, Herr von Chabot an der Spitze, bei der Königin die Erklärung ein, daß sie die Abstammung Tankreds von dem herzoglichen Ehepaare für unerwiesen hielten. In diesen Kreisen wurde die Auffassung vertreten, daß die Herzogin-Mutter diesen Tankred, der ein Mensch von unbekanntem und gleichgültigem Herkommen sei, nur deshalb aus dem Dunkel auftauchen lasse und für ihren Sohn ausgebe, um sich dafür zu rächen, daß ihre Tochter sich gegen den mütterlichen Rat und Wunsch mit Herrn von Chabot verheiratet habe; ein unrechter Erbe werde hervorgezogen und als der rechte bezeichnet, damit es möglich werde, der rechten Erbin die Güter der Rohans wieder zu entreißen.

Die Herzogin-Mutter wandte sich nun ebenfalls an die Regentin und überreichte die Erklärung von 42 meist protestantischen und mit den Familien Rohan und Bethune verwandten Herren, welche die Ansprüche Tankreds für begründet hielten. Diese Namen mußten um so mehr ins Gewicht fallen, als manche dieser Herren, namentlich die Häupter der Rohanschen Seitenlinien, eher ein Interesse daran hatten, Tankreds Erbrecht beseitigt als anerkannt zu sehen; denn ihnen blieben, wenn es beseitigt wurde, diejenigen Rohanschen Güter, die nur für männliche Erben bestimmt waren und deren Besitznahme zu erstreiten Herr von Chabot, dem nur das Erbrecht der Tochter zur Seite stand, sich seit Jahren vergeblich bemühte. Eine königliche Verfügung entschied, daß ein erweiterter, durch Katholiken verstärkter Gerichtssenat über Tankreds Ansprüche befinden sollte. Der Herzogin-Mutter wurde darauf von ihren Freunden geraten, bis zur Volljährigkeit Tankreds keine weiteren Schritte zu thun, da die Gegenpartei vom königlichen Hofe unterstützt werde. Das gerichtliche Verbot, den angeblichen Sohn des Herzogs von Rohan als ihren Sohn zu bezeichnen, ließ sie unbeachtet. Mit der Volljährigkeit Tankreds sollte der Prozeß von neuem beginnen.

Für unser heutiges Rechtsbewußtsein sind diese Vorgänge, diese Eingriffe adligen und königlichen Einflusses in noch unentschiedene Rechtsfragen höchst befremdlich, ja peinlich. Heutzutage hätten sich nicht nur die Tochter und ihre Helfershelfer wegen Entführung, es hätte sich auch die Mutter wegen Fälschung des Personenstandes zu verantworten gehabt, und eine Klärung und Feststellung der Rechte eines Minderjährigen hätte weder von Gunst und Haß der Mächtigen im Lande abgehangen, noch würde sie in eine ungewisse Zukunft verschoben worden sein.

Indessen erhoben sich die von Richelieu erfolgreich niedergehaltenen Gegner des schrankenlosen Königtums in Frankreich unter Mazarin noch einmal. Im Jahre 1648 begann der unter dem Namen der „Fronde“ bekannte Bürgerkrieg, der bis 1653 dauerte. Das Parlament von Paris, das nach Richelieus Willen nur noch eine Art Registratur für königliche Befehle sein sollte, war die Seele des Widerstandes. Hatte Herr von Chabot eine königliche Verfügung zu erlangen gewußt, die den seither von seiner Gemahlin allein geführten Rohanschen Herzogstitel auch auf ihn übertrug, so weigerte sich das Parlament, diese Verfügung anzuerkennen. Aehnliche Vorgänge in großer Zahl bezeugten und steigerten den wechselseitigen Groll zwischen den Parteien im Staate. Der Hof mußte aus Paris flüchten, und die königlichen Truppen wurden von einem aus Anhängern und Verbündeten des Parlaments gebildeten Heere bekämpft.

Die alte Herzogin von Rohan ließ ihren Tankred ebenfalls in das Parlamentsheer eintreten; er nahm als Freiwilliger Dienst in einem Kavallerieregiment. Sie meinte, daß die Familientradition ihrem Sohn gebiete, gegen Mazarin zu kämpfen, wie ihr Gemahl gegen Richelieu gekämpft hatte, und sie hoffte, so das Parlament für ihren Sohn zu gewinnen, da ja der königliche Hof für ihre Gegner gewonnen war.

Allein es kam anders. Am 31. Januar 1649 fiel der Truppenteil, dem Tankred angehörte, bei Vincennes in einen feindlichen Hinterhalt. Tankred wehrte sich tapfer und ergab sich auch nicht, als er bereits verwundet war. Von neuem durch einen aus nächster Nähe abgegebenen Schuß getroffen, sank er bewußtlos vom Pferde. Die Feinde schafften ihn nach Vincennes. Als seine Verwundung und Gefangennahme in Paris bekannt wurde, sandte man einen Unterhändler, um ihn loszukaufen. Der feindliche Befehlshaber von Vincennes, ein Herr von Drouet, verweigerte nun, da ihm der Name Tankreds von Rohan genannt wurde, die Freigabe und wollte erst an den Hof berichten. Er ließ jedoch für die Pflege des Verwundeten zwei Wärterinnen kommen. Aber schon am Morgen des 1. Februar starb Tankred, wenig über achtzehn Jahre alt. Die Leiche wurde erst in der protestantischen Kirche zu Charenton beigesetzt. Dem Wunsche der Mutter, ihn in Genf neben seinem Vater zu bestatten, trat ein von dem immer noch im Knabenalter stehenden Könige Ludwig XIV. unterzeichneter Brief an den Rat der Stadt Genf entgegen. Aber im Jahre 1654 erlangte die Herzogin doch noch die Erfüllung ihres Wunsches, und als sie 1660 starb, ließ sie sich ebenfalls in Genf beerdigen, und zwar zwischen dem Herzog und Tankred. Die Inschrift, welche sie diesem auf den Grabstein hatte setzen lassen und in welcher sie ihn als echten Sohn und Erben des Herzogs von Rohan bezeichnete, mußte jedoch auf Anstiften der jungen Herzogin, die wieder den König zu gewinnen gewußt hatte, entfernt werden.

Der Tod Tankreds schnitt weitere Untersuchungen über die Frage ab, ob er wirklich der war, für den die Herzogin ihn ausgab, und gerichtlich erwiesen ist seine Abstammung nicht. Die gleichzeitig lebenden Verfasser von Geschichtswerken und Denkwürdigkeiten aber erklären ihn fast einstimmig für den echten Herzog von Rohan.


[680]

Die Sklaven.

Novelle von Ernst Eckstein.


Lucius Menenius und sein einziger Sohn Cajus waren beim Quästor Camillus zu Tisch geladen. Die Hausfrau, Plotina, weilte mit ihrer Tochter zu Bajä. Auch der getreue Klient und Vermögensverwalter des Lucius Menenius war seit Vormittag abwesend.

So kam es, daß sich die Sklaven etwas ungebundner als sonst dem Genuß ihrer Feierzeit hingaben. Nicht nur der Obersklave des Atriums, Heliodorus, und der unfreie Hausarzt – die beiden vornehmsten aus der Dienerschaft – sondern auch die Sklaven zweiten und dritten Rangs machten es sich von Herzen bequem und überließen sich einer harmlosen Fröhlichkeit.

Heliodorus lag auf dem eberfüßigen Ruhebett unter dem Säulengange des Peristyliums[1] und vertiefte sich eifrig in eine Buchrolle, die den Titel führte: „Liebes- und Leidensgeschichten“. Es waren die sechsunddreißig Novellen des griechischen Dichters Parthenios, die sämtlich einen sehr tragischen Ausgang hatten, so daß die leichtblütige Kammersklavin Lucretia, die der pathetische Heliodorus mehrfach einer Mitteilung aus dem Inhalt dieser Novellen gewürdigt hatte, den Dichter Parthenios für einen unglaublichen Schwärmer erklärte, da so viel Unglück auf einmal in dieser schönen sonnigen Welt gar nicht Raum habe.

Ninus, der unfreie Hausarzt, lehnte ein wenig ermüdet in den rotledernen Kissen eines gemeißelten Marmorsessels und schloß die Augen. Er war die ganze Nacht außer Bett gewesen, da einer der Küchensklaven sich schwer verbrüht hatte. Lucius Menenius hielt darauf, daß bei derartigen Fällen die Wartung unmittelbar durch den Leibarzt gehandhabt wurde; denn er war im altrömischen Sinn ein pater familias, ein Vater nicht nur für seine Kinder, sondern für die Gesamtheit der Hausgenossen, unbekümmert um Rang und Herkunft.

Ein Teil der übrigen Sklaven hatte sich plaudernd und scherzend um den Brunnen gelagert, andere hielten im Innern des Hauses Rast; noch andere saßen im Xystus, dem gartenähnlichen Hof hinter dem Peristylium, und ergötztem sich mit Gesang und Saitenspiel oder ließen die beiben prächtigen Wolfshunde über den Stock springen.

Aus der Thüre des Bibliothekzimmers trat ein zwanzigjähriger Jüngling von schöner Gestalt und großer Lebhaftigkeit der Gesichtszüge. Zwischen den Fingern hielt er eine Papyrusrolle von der nämlichen Größe und mit dem gleichen Rotschnitt versehen wie die Novellensammlung des Dichters Parthenios, die jetzt der Obersklave so eifrig studierte.

„Hier!“ sagte der Jüngling und schritt auf den Lesenden zu. „Endlich hab’ ich gefunden, was Du begehrst – Ovids ,Heilmittel‘! Irgend wer muß ohne mein Vorwissen unter den Bücherkästen gekramt haben. Das ,Heilmittel‘ – dessen Titel doch vollständig lautete ‚Heilmittel gegen die Liebe‘ – steckte höchst komischer Weise unter den medizinischen Abhandlungen. Sollte Ninus vielleicht im Taumel seiner Gelehrsamkeit . . .?“

Der Leibarzt schaute empor. Er hatte nur halb gehört.

„Du sagst, Geticus?“ frug er mit warmer tieftöniger Stimme.

In den Zügen des Jünglings malte sich etwas wie Feindseligkeit. Die wohlwollende Ruhe des Ninus verdroß ihn. Er war überhaupt seit lange schon eifersüchtig auf das gewaltige Ansehen, dessen sich dieser asiatische Grieche nicht nur bei der Familie des Hausherrn, sondern auch bei den Sklaven erfreute, die doch sonst nicht für geneigt galten, das Verdienst eines Unfreien anzuerkennen. Er warf den Kopf in den Nacken, zeigte sein schönes Gebiß und murmelte boshaft:

„Ich unterstellte, Du seist vielleicht gestern, als man den Knaben herauftrug, insgeheim hinter den Büchern gewesen, um Dir Belehrung zu holen . . .“

„Nein,“ versetzte der Leibarzt ruhig. „Brandwunden machen dem Kundigen keinerlei Schwierigkeit. Uebrigens, wenn ich denn wirklich einmal in die Lage käme, die heilwissenschaftliche Bibliothek des Lucius Menenius in Anspruch zu nehmen – ich habe ja meine eigene – so würde ich ganz gewiß nicht verabsäumen, mich ordnungsgemäß an den Bibliothekar zu wenden oder an Dich, seinen Gehilfen.“

Das Wort „Gehilfe“ war von dem Leibarzt ohne jede verletzende Absicht gesprochen worden. Geticus aber, der eine gar heftige Gemütsart hatte, fand darin eine tückische Anspielung auf die Zurechtweisung, die ihm neulich der sonst so gütige Lucius Menenius erteilt hatte, weil sich der Jüngling allerlei Eingriffe in die Obliegenheiten seines Vorgesetzten erlaubte. Er wandte sich also wieder zu Heliodorus, legte ihm das vielbewunderte „Heilmittel“ des römischen Dichters vorsichtig auf den Schoß und sagte mit einem höhnischen Seitenblick auf den Leibarzt:

„So, mein Freund, nun erquicke Dich! Nach der Mattherzigkeit des hellenischen Märchenerzählers muß das gesunde Latein der Ovidischen Prachtverse wie ein verjüngendes Bad wirken! Ueberhaupt, weshalb mußt Du denn Griechisch knabbern? Die Wahrheit und Kernhaftigkeit des Lateiners widerstrebt doch dem attischen Lügentum!“

„Junger Mensch,“ mahnte der Obersklave mit einer Gebärde der Abwehr, „versuche nicht, wider den Strom zu schwimmen! Die wahre Bildung erheischt von uns Kenntnis beider Litteraturen. Danke den Göttern, daß auch Du Griechisch gelernt, sonst nähmest Du wohl jetzt einen minder behaglichen Posten ein! Glaubst Du nicht auch, Ninus?“

„Gewiß, Heliodorus!“ versetzte der Leibarzt. „Das Hellenische ist ebensogut Weltsprache wie das Lateinische; ja, in den Bibliotheken der römischen Großen soll das Hellenische oft überwiegen.“

„Sehr mit Unrecht!“ schrie der Jüngling so laut, daß die Sklaven am Brunnen des Peristyls aufmerksam wurden. „Wir sind leider zu duldsam gegen die Eindringlinge! Wir beugen und ducken uns! Ging’ es nach mir . . .“

„So würdest Du den Homer mitsamt den Tragödien des Aeschylus und des Sophokles in die Flammen schleudern,“ fiel ihm der Obersklave ins Wort. „Wahrlich, Du bist, was Dein Name besagt: ein schnöder Barbar!“

„Und Ihr küßt dem Hellenentum die Sandalen!“ rief Geticus. „Denkt Euch dabei, was Ihr wollt – und es giebt ja wohl Ausnahmen –: aber ich hasse die Griechen als eine Bande von Schleichern und Duckmäusern! Allezeit höflich, aalglatt, olympisch, aber im Grund ihres Herzens verlogen und niederträchtig, so hab’ ich sie kennengelernt! Du verzeihst, Ninus – aber ich fügte sehr deutlich hinzu: ,es giebt ja wohl Ausnahmen.‘“

„Das hoff’ ich!“ erwiderte Ninus unerschüttert in seinem Gleichmut. „Inzwischen – täusche ich mich? Du scheinst mir ein wenig verstimmt. Fehlt Dir etwas?“

„Fehlen? Mir? Nichts fehlt mir! Nur, daß der Mensch zuweilen den Drang verspürt, sich ordentlich Luft zu schaffen!“

„So schaffe Dir Luft, Geticus! Oder noch besser: suche Dich zu beherrschen! Du bist gar zu erregbar. Möglicherweise taugt Dir das lange Vorlesen und das Abschreiben nichts. Falls Du es wünschest, sprech’ ich darüber mit Lucius Menenius.“

„Das thu’ lieber nicht!“ erwiderte Geticus, bebend vor Ingrimm. „Ich selbst bin mir Arzt genug, und das Abschreiben treib’ ich doch nur zum Vergnügen!“

„Ja, ja, er ist sehr geschickt mit dem Schreibrohr,“ sagte der Obersklave, der ihn beschwichtigen wollte. Dann, um dem Gespräch eine Wendung zu geben, setzte er freundlich hinzu: „Uebrigens – Dank für die Mühe!“

Er nahm das Werk des Ovid und rollte es auf.

„Ich freue mich sehr, dies allerliebste Gedicht nach so unendlicher Zeit wieder einmal mit Muße zu lesen. Mich dünkt, neben der ,Kunst zu lieben’ ist es die Krone von allem, was uns der Meister geschaffen hat. Du kennst es wohl auch, Ninus?“

Der Leibarzt bejahte.

„Nun, und was hältst Du davon?“

„Betreffs des Einzelnen teil’ ich durchaus Deine Bewunderung. Nur besitzt es, als Ganzes genommen, den großen Fehler, auf einem Irrtum zu fußen.“

„Wie meinst Du das?“ frug Heliodorus, dessen Schwäche es war, litterarisch-ästhetische Auseinandersetzungen herbeizuführen.

„Die Liebe,“ entgegnete Ninus, „von der man geheilt wird, scheint mir schlechtes Korinthermetall. Echte wahrhaftige Liebe stirbt nur mit dem Liebenden!“

„O, o, welche Phantastereien! Hör’ ich den kühlen verständigen

[681]

In der neuen städtischen Sparkasse zu Berlin.
Nach dem Leben gezeichnet von A. Kiekebusch.

[682] Arzt, dem die Gemahlin des Lucius Menenius ihr Leben verdankt, oder ein schwärmendes Mägdlein?“

„Du hörst einen ruhigen erfahrenen Mann, der dies behauptet, just weil er die Menschen und Diuge eifrig beobachtet hat. Eros hat viele Stiefgeschwister, die sich als vollbürtig ausgeben.“

Heliodorus legte die beiden Buchrollen weg und hob sich ein wenig in seinen Polstern. Das Thema interessierte ihn über die Maßen. Auch Geticus hatte sich bei den Worten des Ninus ruhig verhalten wie einer, der zuhört. Jetzt plötzlich schien etwas in ihm vorzugehen, was ihn von dannen trieb. Er warf den Kopf in den Nacken und schritt durch den Schmalgang rechts nach dem Xystus, während sich Heliodorus im stillen die Phrasen zurecht legte, mit denen er – siegesgewiß schon im voraus – die seltsamen Ansichten des Ninus zu überwinden gedachte.


Im Xystus, wo die Kammersklavin Koronis soeben ein oskisches Volkslied zur neunsaitigen Kithara gesungen und schallenden Beifall geerntet hatte, hielt sich Geticus nur gerade so lange auf, bis die fröhlich bechernden Sklaven durch eine neue Leistung ihrer Genossin gefesselt schienen. Dann verlor er sich unbemerkt nach dem Park.

Zwischen zwei kunstvoll geschnittenen Buxbaumhecken dahineilend, kam er ins Rosengehege, das hier und da schon in Blüte stand. Er spähte und forschte. Hinter den mannshohen Sträuchern glänzte es krokusfarben.

„Afra!“ rief er hinüber.

Die knospenbedeckten Zweige schoben sich rauschend zurück. „Was giebt’s?“ fragte ein reizendes junges Mädchen mit großen wunderbar leuchtenden Augen.

Bei dem Klang dieser Stimme und dem Lächeln der süß schwellenden Lippen schien auch der letzte Unmut im Herzen des jungen Sklaven verraucht zu sein. Er trat einen Schritt näher, winkte ihr mit der Hand seinen Gruß und flüsterte schmeichlerisch:

„Ich such’ Dich im ganzen Hause wie ein verlorenes Goldstück. Aber ich dachte mir’s fast, Du möchtest hier wieder dem Gärtner ins Handwerk pfuschen. Was treibst Du denn?“

Sie kam jetzt hervor auf den Weg. In der Rechten hielt sie eine zierliche Schere von gelbrotem Metall, in der Linken ein Dutzend Vollblüten.

„Ins Handwerk pfuschen?“ lachte sie spöttisch. „Man darf nicht behaupten, daß Du an übergroßer Feinheit der Ausdrücke stirbst! Wenn Du den Gärtner fragst, wird er Dich aufklären. Jäten, gießen, graben und die wilden Schößlinge kappen – das versteh’ ich so gut wie irgend einer von seinen Angestellten! Uebrigens – diesmal galt es mir nur eine freundliche Ueberraschung für Lucius Menenius.“

„Ah, für den Hausherrn!“ murmelte Geticus.

Das Mädchen beschaute die Rosen, wie ein begeisterter Kenner den Wein beschaut.

„Wenn Lucius Menenius nach Hause kommt,“ fuhr sie fort, „findet er diese Blüten auf dem Einfuß[2] neben der Lagerstatt. Er war letzthin viel in Anspruch genommen und hat kaum sich die Zeit gegönnt, einmal in den Xystus zu treten, geschweige denn in den Park. Er ahnt nicht, daß sein Gehege ihm schon so köstliche Ernte liefert. Eigene Zucht aber strahlt wie Feuer. Die Hand voll Blumen da wird ihm größere Freude gewähren als hundert Körbe voll pästischer Prunkrosen, die heute vielleicht beim Quästor Camillus über die Säle verstreut werden.“

Geticus blickte ihr starr in die Augen. „Er ist ja beneidenswert, unser Gebieter!“ sprach er bedächtig. „Afra sogar, die sonst so kaltherzige, windet ihm Opferkränze!“

„Kaltherzig?“ wiederholte das Mädchen. „Wer hat das von mir behauptet? Leichtes Blut hab’ ich und nehme nicht alles so ernst – wie Du zum Beispiel. Aber von da bis zur Kaltherzigkeit ist noch ein langer Weg. Für Lucius Menenius fühl’ ich sogar . . . wie soll ich mich ausdrücken? Wenn ich mir nur sein Antlitz vorstelle, so mild, so klug, so gütig und edel – siehst Du, dann quillt es mir heiß in der Brust auf, und ich danke voll Inbrunst der Göttin Diana, daß sie uns solch einen huldreichen Herrn beschert hat.“

Geticus zuckte die Achseln. „Wäre nicht Lucius Menenius hoch in den Fünfzigen und völlig ergraut, ich dächte, Du seist in den Mann verliebt.“

„Das bin ich auch!“ sagte die junge Sklavin mit großem Ernst. „Freilich in anderer Art, als Du meinst. Ist Lucius Menenius gegen uns alle nicht weit eher ein Vater und Freund als ein Gebieter? Giebt es ein besseres liebevolleres Herz?“

„Ja, er ist gütig . . . Ganz besonders gegen die Hübschen, Blonden und Blühenden . . .“

Die junge Sklavin warf ihm einen erstaunten Blick zu.

„Schäme Dich, Geticus! Das war ein häßlicher Scherz! Freilich, mir kommt es schon lange so vor, als hättest Du für das Glück, das uns die Götter in Lucius Menenius beschert haben, kein Verständnis. Die Gewohnheit stumpft ab, das Alltägliche scheint Dir notwendig. Aber so halte doch Umschau und erzähle mir dann, ob Du in ganz Rom noch ein einziges Haus findest, wo sich der Unfreie seines Mangels an Freiheit so wenig bewußt ist wie hier!“

„Nun, nun . . .“

„Schweig'! Du findest nicht eines! Wohl aber häufen sich letzthin wieder die Nachrichten von den abscheulichsten Grausamkeiten . . . Man schaudert, wenn man dergleichen nur hört! Bald ist ein unglückseliger Fußfolger, weil er den strauchelnden Herrn nicht rechtzeitig auffing, blutig gepeitscht und dann auf ein senfüberstreutes Laken gelegt worden, bald zerhackt man den Tafelbedienten in Stücke, weil ihm ein kostbares Murrha-Gefäß auf den Estrich fiel oder ein seltner Krystallbecher. Ach, und die elenden Feldsklaven, die bei Tage im glühenden Sonnenbrand stöhnen und keuchen, um dann bei Nacht in ihren halb unterirdischen Zwingern blöd an der Kette zu liegen wie tolle Hunde! Sind wir denn besser als diese Bejammernswerten? Haben wir Tugenden oder sonstige Vorzüge, die uns auf einen Gebieter wie Lucius Menenius ein Recht geben? Ich für mein Teil bescheide mich und erkenne mein Los – da ich nun doch einmal unfrei geboren bin – als ein unverdientes Geschenk der Unsterblichen an.“

„Afra,“ sagte der Sklave, „Du bist der verkörperte Widerspruch! Du schaust so entzückend klug aus Deinen Gazellenaugen und schwatzest so thöricht! Soll ich denn wirklich ob jeder Stunde, die ich hier ungeprügelt durchs Leben wandle, in helle Verzückung geraten? Mich dünkt, Menenius thut nur gerade, was sich gebührt; die andern aber sind Schufte. Uebrigens gar so huldvoll, wie Du ihn darstellst, ist er nun doch nicht. Mir zum Beispiel zeigt er nicht immer das lächelnde Mondgesicht, das Du ihm ansinnst.“

„Ich weiß,“ erwiderte Afra. „Aber Du selber bist schuld daran. Auch ein Vater darf streng sein ... Du mißbrauchst seine Güte ...“

„Ich? Wer behauptet das?“

„Menenius selbst. Ich hörte, wie er es vor einigen Tagen dem Leibarzt bemerkte. – Aber Du regst Dich auf! Komm, sei gut! Ich muß jetzt hinein und die Rosen in Wasser stellen. . . . Horch, da singen sie wieder den attischen Chorgesang! Misch’ Dich unter die Schar dieser Fröhlichen und vergiß Deinen Aerger! Beim Castor, es thut mir leid, wenn ich hier unwissentlich eine Wunde berührt habe . . .“

„Nein, bleib’!“ sagte er heftig. „Mit Deinen Rosen da hat’s noch Zeit!“

„Gut, ich bleibe, wenn Du nicht mehr so gespenstisch dreinschauen willst. Beruhige Dich doch! Es ist ja schauerlich, wie Du die Augen rollst! Das reine Gorgonenhaupt! Und Menenius war doch im Recht, wenn er Dich damals drei Tage lang hinter Schloß und Riegel behielt. Ja, ja, darauf bezog sich’s! Hätte der Leibarzt nicht mehrfach ein gutes Wort für Dich eingelegt, Du säßest vielleicht noch heute im Strafraum. Ueberhaupt kannst Du von Glück sagen. Der Stein fuhr unmittelbar am Kopfe des Gärtners vorbei, und der Oelbaum, dem Dein cyklopischer Wurf die Rinde bis auf das Holz abschälte, legt dafür Zeugnis ab, wie toll Du gewütet hast! Um ein Haar wärst Du zum Mörder geworden!“

„Wie gut Du in dieser Geschichte bewandert bist! Eins nur siehst Du nicht oder willst Du nicht sehen: daß mich der Gärtner gereizt hat. Und ich hasse den Kerl!“

„Ein vortrefflicher Grund! Wahrhaftig, es könnte mir vor Dir grauen. Anstatt Reue zu fühlen und den Göttern zu danken, daß sie Dein Opfer beschützten, rufst Du in störrischem Trotz: ,Ich hasse den Kerl‘!“

„Das thu’ ich auch,“ murmelte Geticus. „Und doppelt vielleicht, weil Du mir’s vorhältst! Er schaut mich jetzt immer so falsch von der Seite an! Und ich weiß, er verleumdet mich. Er hetzt den Menenius wider mich auf – er und noch andere! Zum Henker, ich wollte, der Steinwurf hätte ihn kalt gemacht!“

[683] „Nun hab’ ich genug,“ sagte das Mädchen empört. „Glaubst Du denn nicht an Jupiter und sein Rächeramt?“

„Pah! . . . Ich glaube daran. Aber ich weiß auch von dem ägyptischen Priester Selencius, daß man sich loskaufen kann.“

„Loskaufen? Wieso?“

„Die Tötung eines verhaßten Gegners zählt zu den Sünden, für die’s eine Buße giebt. Weißt Du denn nicht, daß selbst Orestes, der Muttermörder, zuletzt noch den Furien entging? Ein Drittel dessen, was man besitzt, auf den Altar der Allmutter Isis gelegt und vier Wochen Kasteiung – dann spricht Selencius den blutigsten Mörder frei.“

„Und das leuchtet Dir ein?“ frug Afra entsetzt.

„Vollkommen! Weshalb nicht? Der Priester muß es doch wissen! Er trägt die Vergebung in seiner Hand. Nur eine Unthat giebt es, die er nicht lösen kann: das ist der Meineid. Alles übrige tilgt er hinweg.“

„Warum just nicht den Meineid?“

„Sehr einfach. Wer da schwört und die oberste Gottheit zum Zeugen und Rächer anruft, der spricht wörtlich oder doch nach dem Sinne zu Jupiter: ‚Strafe, hetze, jage, verfolge mich jetzt und ewig, falls ich den Schwur nicht halte!‘ Die Gottheit aber nimmt diesen Vertrag an, und so ist sie denn unauflöslich gebunden, als hätte sie selber beim Styx geschworen.“

Afra starrte zu Boden.

„Wohl, das begreife ich,“ sprach sie nach langer Pause. „Aber das andere – nein! Auch der Mord hetzt und jagt uns in alle Ewigkeit. Erst wenn die Götter zu Fall kommen, sterben die Furien. Du hast den Priester wohl mißverstanden. Was überhaupt suchst Du bei diesem Selencius? Ich bin höchlich erstaunt . . .“

„Wenn Du schweigen willst . . .“

„Ich verspreche Dir’s.“

„Ich hab’ ihn besucht im Auftrag des jungen Menenius. Eine heikle Geschichte . . . Das entzückendste junge Weib war im Spiele. Du weißt, Cajus Menenius treibt es ein wenig bunt. Er ist jung . . .“

„Und dazu giebst Du Dich her? Du kennst die unerbittliche Strenge des Vaters und schämst Dich nicht, der strafbaren Thorheit des Sohnes Vorschub zu leisten?“

„Muß ich nicht? Er ist mein Gebieter.“

„Lucius Menenius ist Dein Gebieter. Aber es scheint, es lockt Dich mehr, mit dem Sohne zu freveln, als mit dem Vater ehrbar zu leben und pflichtgetreu.“

„Ja, begreifst Du denn nicht. . . . Wenn ich den Cajus verpflichte, so weiß ich bestimmt – er hat mir’s auf Handschlag versichert – daß er mir, eh’ noch zwei Jahre vergehen, bei Menenius die Freiheit erwirkt. Und dann – ach, himmlische Afra, laß uns doch endlich zur Sache kommen! Wir streiten uns hier um die Gaiswolle, wie es im Sprichwort heißt, und stöbern Geschichten auf, die doch mit dem, was mir im Herzen brennt, gar nichts zu thun haben! Endlich muß es heraus, obgleich Du mir’s wider alle Vernunft schwer machst. Schon im verflossenen Jahr, als wir auf dem albanischen Landgut zusammen die Feigen pflückten – weißt Du noch, hinter dem Hügel des Herakles, wo Du mit Deiner ganzen Last auf den Rasen fielst und so reizend wehklagtest, weil Du Dein helles Gewand fleckig gemacht – damals schon war es bei mir beschlossen: Afra, die Blühende, Blonde wird meine Lebensgefährtin! Ich sagte nur nichts, weil Du so kindlich thatest und so schwesterlich, daß mir der Mut ausging. Später kam dann die Reise dazwischen und anderes. Jetzt aber hast Du’s gehört – und nun leg’ ’mal die Rosen beiseite und schling’ mir die Arme recht fest um den Hals und gieb mir einen recht wonnigen Brautkuß!“

„Unmöglich!“ stammelte Afra erschrocken.

„Unmöglich? Waren wir nicht befreundet von Jugend auf? Und ich will Dich doch heiraten, denn ich liebe Dich wie ein Verrückter!“

„Schlimm, sehr schlimm!“

„So verschmähst Du mich?“

„Verschmähen, das klingt so hart. Aber – wie soll ich mich ausdrücken? – Wir passen nicht zueinander!“

„Weshalb nicht? Wenn Du mich lieb hast . . .“

„Du bist zwanzig Jahre, ich sechzehn. Wir Frauen verblühen so rasch. Für Dich paßt Lydia, die zwölfjährige, oder ein Mädchen, das jetzt noch ein Kind ist. Auf so eine warte!“

„Thorheit! Vier Jahre Unterschied, das ist vollauf genug. Zudem, wenn zwei Menschen sich lieben, wär’ es da nicht die blödeste Narrheit, das Glück von der Anzahl der Lebensjahre abhängig zu machen? Ich würde Dich heiraten, Afra, selbst wenn Du noch zehn Jahre älter wärest.“

„So muß ich Vernunft haben für uns beide. Nicht nur das Alter zieh’ ich hier in Betracht: auch sonst wären wir beide ein sehr ungleiches Paar. Cajus – Du hast es ja selber gesagt – will Dir demnächst die Freiheit erwirken. Ein Freigelassener und eine Sklavin – wie fügt sich das? Nein, Geticus, gieb den Gedanken auf! Und verarge mir’s nicht, daß ich so gerade heraus bin! Da, nimm hier die Rose als Friedens– und Freundschaftszeichen!“

Geticus packte das Mädchen über dem Handgelenk. Sein Mund zuckte. „Afra“ raunte er, tonlos vor Aufregung, „Du liebst einen andern!“

„Laß doch, laß!“ wehrte sie ängstlich. „Du zerdrückst mir ja fast den Arm! Willst Du wohl aufhören?“

„Nicht eher, als bis Du mir alles gebeichtet hast!“

„Fällt mir nicht ein! Laß mich los, Du gewaltthätiger Mensch, oder ich rufe um Hilfe!“

„So also steht’s mit Dir?“ murmelte Geticus totenbleich. „Elende Gauklerin! War ich Dir gleichgültig – weshalb thatest Du früher so schön mit mir?“

„Ich? Du bist wohl von Sinnen? Es scheint, Du verträgst es nicht, wenn man freundlich gegen Dich ist und harmlos mit Dir verkehrt wie mit den übrigen! Ich sage Dir, laß mich, oder ich schreie! Diesmal ergeht’s Dir schlecht! Menenius duldet nicht, daß man im Haus hier den Frieden bricht!“

„Gut, ich lasse Dich los! Aber das schwüre ich Dir beim allwissenden Jupiter: es geschieht ein entsetzliches Unglück, wenn Du nicht augenblicklich gestehst, wer Dich so in der Stille erobert hat! Ein feiner Geselle, dessen bin ich gewiß! Vielleicht gar ein Erlauchter – wie? Cajus Menenius hat ja ein weites Herz, und er sieht nicht auf Rang und Geburt, wenn eine Blüte ihm lockend erscheint.“

„Du irrst,“ versetzte sie frostig. „Der, den ich liebe, wird mein Gemahl werden. Ich bin kein Spielzeug für den Uebermut senatorischer Jünglinge.“

„Also – wer ist’s?“ forschte er drohend. „Früh oder spät erfahr’ ich’s ja doch – und dann erwürg’ ich den Buben! Beim Jupiter, dem Rächer der Meineide, schwör’ ich Dir heilig zu: sprichst Du jetzt nicht und ich hör’ es demnächst von andern, so stirbt er durch meine Faust!“

Afra war blaß geworden. Sie überlegte. „Wohl!“ sagte sie zögernd. „Wenn Du mir bei dem nämlichen Jupiter schwörst, nie und nirgends wider den Mann meiner Wahl die Hand zu erheben, ja mehr noch, mit keiner Silbe ihn merken zu lassen, daß Du um unser Geheimnis weißt, so will ich Dir’s offenbaren. Anderenfalls tret’ ich noch heute vor unsern Herrn und fleh’ ihn um Schutz an. Lucius Menenius ist mild, aber den Frevler, der uns hier offen Gewaltthat und Mord ankündigt, wird er nicht schonen. Er verkauft Dich vielleicht nach Sardinien. Vertraure Dein Leben dann in den Bergwerken!“

„Afra!“ stöhnte der Sklave, zurückprallend. „Ich vergehe vor Liebe und Du drohst mir den Untergang!“

„Nur aus Not.“

Er wandte sich ab. Dann plötzlich wieder an sie herantretend, sprach er mit heiserer Stimme: „Also ich schwöre.“

„Nicht so!“ wehrte ihm Afra. „Leiste den förmlichen Eid! Rufe Du für den Fall, daß Du ihn brichst, den Zorn der allwissenden Gottheit auf Dich herab und den Fluch der Rastlosigkeit bis zum Tage des Weltuntergangs! Du weißt, was dieser Schwur zu bedeuten hat!“

Geticus, nur von dem einen Gedanken erfüllt, in dieser Minute noch zu erfahren, wer ihm bei Afra den Rang abgelaufen, sträubte sich nicht. Afra sprach ihm die Worte vor und er, die Rechte zum Himmel hebend, wiederholte sie eintönig.

„So!“ keuchte er, als er zu Ende war. „Du hast Deinen Willen gehabt . . . Und nun der Wahrheit gemäß – wer ist’s?

Afra drückte ihr Antlitz tief in die Rosen.

„Ninus!“

Ein wildes Gelächter scholl von den Lippen des Geticus. „Ninus!“ wiederholte er mit gemachter Geringschätzung. „Der Grieche! Der Kleinasiate! Der Halbbarbar! Vor kaum drei Monaten hat ihn Lucius Menenius gekauft, und nun bist Du schon eins mit ihm! Und so ganz ohne Aufsehen, still und geheim, wie’s [684] zu dem elenden Schleicher und Giftmischer paßt! Beim Herkules, eher hätt’ ich mir träumen lassen, Du könntest den breitnasigen Küchengesellen, der sich da gestern verbrüht hat, zum Adonis erwählen! Ein Gaukler und Komödiant, der sich mit seinem Firlefanz überall aufspielt und das Vertrauen stiehlt wie der Marder die Vögel! Und dazu noch ein grämlicher unfrischer Tropf, hoch in den Dreißigen . . .“

„Einunddreißig, wenn Du erlaubst!“ sagte die junge Sklavin, der dieser eine Punkt wichtiger schien als die maßlosen Schimpfereien, mit denen sich Geticus an den Charakter ihres Geliebten wagte. „Einunddreißig im vorigen März!“

„Auch das ist um zehn Jahre zu alt für Dich – dazu noch bei dieser Blutlosigkeit und Oede! Jämmerlich! Ein Gesicht wie ein Leichnam! Kein Hauch darin, der von Leben und Liebe spricht!“

Afra wiegte bedächtig den Kopf. Ein Zug von Mitleid spielte um ihren Mund. „Wie Du Dich erbosest, Geticus,“ sagte sie gleichmütig. „Laß es doch meine Sorge sein, ob Ninus alt oder jung, schön oder häßlich ist! Du redest ja so doch nur aus Groll- und Bitternis. Innerlich bist Du Dir vollständig klar darüber, daß unter sämtlichen Hausgenossen keiner mit Ninus sich messen kann. Ninus ist stattlich und edel wie ein Senator, dabei die Güte und Liebe selbst und ein richtiger Mann, kein thörichter Knabe, der sich vom Sturm der Leidenschaft hin und herrütteln läßt. Er hat Selbstbeherrschung gelernt und beherrscht dadurch andere. Von seinen Talenten, von seinem großen Verdienst um das Haus des Menenius will ich hier gar nicht reden . . .“

„Da steckt’s!“ rief Geticus. „Das bißchen Gelehrsamkeit, und weil er’s verstanden hat, sich bei Lucius Menenius gehörig einzuschmeicheln, das hat Dir den Kopf verdreht. So sind die Weiber! Ein Schauspieler trägt immer den Sieg davon, wo er mit einem ehrlichen Menschen zusammentrifft!“

„Du ehrlicher Mensch!“ erwiderte Afra spöttisch. „Ich bitte Dich, sei doch künftighin lieber ein Schauspieler wie dieser Halbbarbar! Dann wird Dich Lucius Menenius nicht einsperren, sondern mit Thränen im Auge Dich in die Arme schließen und Dir die Freiheit schenken, auch ohne daß Du den Umweg über die Leichtfertigkeiten des Sohnes nötig hättest . . . Ja, staune Du nur! Zum kommenden Saturnalienfeste wird Ninus, der Gaukler, nicht nur den Freibrief erhalten, sondern das volle römische Bürgerrecht!“

„Unmöglich! Wofür?“

„Du kannst noch fragen? Besinne Dich doch! Ninus allein, wie Du weißt, hat die verzehrende Sucht unserer Gebieterin richtig erkannt und die Kranke geheilt, während die übrigen Aerzte, sogar der berühmte Chaldäer des Quästor Camillus, ratlos im Finftern tappten! Das bißchen Gelehrsamkeit hat ihr das Leben gerettet – und den Menenius vor der Verzweiflung bewahrt. Und wie bescheiden, wie schlicht bleibt Ninus trotz alledem! Geh’ und bitt’ ihm Deine Gehässigkeit ab! Mich aber sollst Du nicht wieder anreden, wenn Du in dieser kläglichen Mißgunst verharrst! Merk’ Dir das, Geticus!“

Sie warf ihm einen empörten Blick zu und schritt achselzuckend an ihm vorbei. Der letzte Schimmer der Abendsonne lag breit und goldig über den Buchsbaumhecken und spielte in tanzenden Lichtern auf den schneeweißen Armen, die aus der krokusfarbigen Tunika warm und wonnig hervorblühten. Das schön geknotete Haar mit den beiden Metallreifen, die rotverschnürten Sandalen, die zierlich geformten Knöchel – alles schien herrlicher, holder, lebendiger . . .

Geticus verschlang dieses Bild mit brennenden Augen. Als sie verschwunden war, schüttelte er mit einem furchtbaren Schrei die geballte Faust. „Fluch ihm!“ knirschte er durch die Zähne. „So lang’ ich noch atme, niemals – – und müßt’ ich die Welt aus den Angeln heben!“

(Fortsetzung folgt.)


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Deutsche Städtebilder.

Arolsen.
Von J. Schwabe.
Mit Zeichnungen von Olof Winkler.

Großmächtige volkreiche Gemeinwesen mit stolzen Straßen und Palästen, mit wogendem Verkehr, Mittelpunkte der Kunst, des Handels, der Industrie, Musterstätten hygieinischer Fürsorge, Schauplätze tausendjähriger Geschichte – von Städten solcher Art pflegten sonst wohl Bilder in diesen Blättern entworfen zu werden. Gewaltiges Vorwärtsdrängen, ein reges, hastiges, modernes Leben dort – wie ganz anders das Bild, das wir heute dem Leser vor Augen zaubern möchten! Als zögen wir ein in Dornröschens verzaubertes rosenumranktes Schloß, so liegt sie vor uns, Deutschlands kleinste Residenz, so still und weltentrückt und so schön umsponnen wenn nicht von Rosen, so doch von grüner Wälder traulichem Kranz.

Das Rauchstift mit dem Rauchdenkmal.

Klein und bescheiden sind hier die Häuser der Bürger, vereinzelt nur unterbricht ein menschlicher Schritt, eines Wagens Gerassel die ländliche Stille der Straßen, hier haben die Menschen noch Ruhe und Zeit zum beschaulichen Genießen eines in seinen Grenzen zufriedenen Daseins. Große welterschütternde Ereignisse verknüpfen sich nicht mit dem Namen Arolsen, nur Idyllen und Geschichtchen genrehaften Gepräges haben seine Mauern zu erzählen. Hie und da freilich entfaltete auch hier sich lautes festliches Treiben, just wie im Märchenschlosse Dornröschens, aber nicht bloß einmal kam ein Königssohn aus der Fremde, sich aus dem altertümlichen Schlosse die Braut zu holen. Für kurze Wochen erfüllte da prunkendes Leben, rauschende Hochzeitslust die Stadt und das Fürstenhaus – dann aber wurde es wieder still und einsam wie zuvor. Und jetzt rüstet sich unser Arolsen abermals zu einem Feste, nicht, um einer Tochter seines Fürstenhauses das Geleite auf einen fremden Thron zu geben, sondern den Landesherrn selbst mit seiner jungen Gewahlin willkommen zu heißen.

Es ist erst sehr kurze Zeit her, daß der Pfiff der Lokomotive zum erstenmal in den traumhaften Märchenzauber dieses Fleckes Erde hineintönte, daß Arolsen durch eine Eisenbahn mit der übrigen Welt in Verbindung gesetzt wurde. Von der Linie Kassel-Elberfeld bei Warburg abzweigend, führt die Nebenbahn in einer kleinen [685] Stunde auf die Hochebeue, auf der Arolsen in 272 Meter Meereshöhe liegt. Das Häuflein Menschen, das in Arolsen den Zug verläßt, hat sich bald zerstreut; die meisten schlagen die vom Bahnhof schnurgerade der Stadt zustrebende Straße ein, wir aber benutzen sogleich die Gelegenheit, eine der hervorragendsten Sehenswürdigkeiten Arolsens zu schauen und zu genießen – es ist eine prachtvolle Eichenallee, die mit einem kleinen Umweg ebenfalls der Stadt zuführt; sechs Reihen uralter Eichen laufen nebeneinander her und unter dem Schutze ihrer mächtigen Hallen wandern wir langsam die fast unmerkliche Steigung hinan. Schon schlägt das Geräusch des Bahnhofs nur noch fern an unser Ohr, und noch immer wölbt sich das grüne Dach über unserem Haupte, behaglich schlürfen wir die würzige reine Luft.

Ansicht von Arolsen.

Ein Gebäude schimmert durch die Bäume, Hundegebell und das Brüllen von Kühen tönt herüber; durch das offene Thor schreitet eine Magd mit einem blanken Milcheimer – wir sind an der Meierei der fürstlichen Domäne Hünighausen. Und weiter geht’s unter den alten Eichenwipfeln. Da endlich sind wir an der Stadt. Zur Linken schaut ein stattlicher Bau durch das Grün der Bäume, umgeben von freundlichen Blumenbeeten; Diakonissen in weißen Häubchen huschen durch die Gänge, bleiche Männer und Frauen in sauberen Gewändern ergehen sich im Garten, auf der Front des Hauses steht, in Stein gehauen, „Paulinenhospital“. Es ist das Landkrankenhaus. Die verstorbene Fürstin Helene von Waldeck hat es gebaut und dem Audenken ihrer Mutter, einer Herzogin von Nassau, geweiht.

Gehen wir weiter in der Allee, so öffnet sich links eine breite Straße, der Kirchturm des Städtchens grüßt freundlich herüber, von rechts aber vernehmen wir schneidige Kommandorufe. Fast befremdend wirkt in dieser klösterlich stillen Umgebung das „Rechts – um!“ – „Links – um!“ – „Gerade – aus!“ der Unteroffiziere. Da steht sie ja auch schon, die Kaserne, in welcher die gesamte Aushebung des Fürstentums ihrer Dienstpflicht genügt, dem großen Organismus des deutschen Heeres eingefügt als III. Bataillon des Infanterieregiments v. Wittich (3. Hess.) Nr. 83.

Das Fischhaus.

Der Markusstein.

Noch immer hat unsere große Allee kein Ende; ist sie doch fast einen Kilometer lang. Wir verlassen sie aber nunmehr und schlagen den Weg zur Linken nach der schmucken Hauptstraße ein. Zierlich reiht sich Haus an Haus, oft mit hoher, terrassenartig vorgebauter Doppeltreppe, deren oberste Stufe ein eisernes Gitter schmückt; doch steht jedes Haus – und das ist charakteristisch für Arolsen – isoliert, vom Nachbarhause stets durch eine breite Thorfahrt getrennt und so, seit langer Zeit der modernen Hygieine entsprechend, Luft und Licht von allen Seiten Zugang gewährend. Unser Ziel ist die hübsche schlichte Kirche, die am unteren Ende der Straße, doch im eigentlichen Mittelpunkt der Stadt, auf freiem, lindenbepflanztem Platze sich erhebt und in der ein großer Sohn Arolsens sich ein Denkmal von wunderbarer Schönheit gesetzt hat.

Auf dunkeln Marmorsockeln stehen an den Stufen des Altars drei ideale Marmorstatuen: in der Mitte die Hoffnung, sehnsüchtig die Arme zum Himmel hebend, links die Liebe, ein flammend Herz in emporgehaltener Schale tragend, rechts der Glaube, sinnend in das Buch der Bücher vertieft. Der diese Standbilder der Kirche gewidmet hat, ist kein geringerer als Christian Rauch, der Schöpfer des Mausoleums in Charlottenburg und so vieler anderer herrlicher Werke. Christian Rauch ist am 2. Januar 1777 zu Arolsen geboren, das erzählt uns, wenn wir es noch nicht wissen, die mit seinem Porträtmedaillon geschmückte Gedächtnistafel an der Wand rechts vom Altar. In einem winzigen bescheidenen Häuschen in der Helser Allee, das zwischen Bäumen [686] und Büschen halb versteckt ist, hat er das Licht der Welt erblickt; längst ist das Haus zu einem Stift für unbescholtene arme alte Mädchen umgewandelt, auf dem Rasenplatz aber, der sich bis zur Straßenlinie vorzieht, steht, von einem Arolsener Landsmann gefertigt, die Büste des großen Bildhauers.

Rauch ist nicht die einzige Berühmtheit, welche Deutschlands kleinste Residenz hervorgebracht hat. Da ist der Dichter Stieglitz, am 22. Februar 1803 zu Arolsen geboren, dessen Name durch das tragische Ende seiner Gattin Charlotte noch mehr bekannt geworden ist als durch den Erfolg seiner Dichtungen; da ist ferner Marie Calm, die eifrige Verfechterin der Frauensache, deren Bild die „Gartenlaube“ erst kürzlich ihren Lesern vorgeführt hat (Nr. 15 dieses Jahrgangs); der Maler Ludwig Blume-Siebert, ebenfalls den Lesern der „Gartenlaube“ wohl bekannt durch manches gelungene Bild; da sind vor allem die Kaulbach, Friedrich, der Vater von Fritz August, und der große Wilhelm, der in München zu unsterblichem Ruhme gelangt ist. Etwas stattlicher als das Christian Rauchs ist das Kaulbachsche Haus in der Kreuzstraße, heute noch im Besitze der Familie, der der große Meister entstammt. Gerne wird dem Fremden gestattet, das Innere zu besichtigen, und er findet an den Wänden eine ganze Reihe von Nachbildungen berühmter Werke Wilhelm von Kaulbachs, die der Künstler hierher gestiftet hat, Goethe auf der Eisbahn, Ottilie mit dem toten Kind im Kahn, die Schwestern von Sesenheim u. a., und auch das Bild des Meisters selbst blickt aus der Mitte seiner Schöpfungen gar ernsthaft auf den Beschauer hernieder.

Das fürstliche Residenzschloß.
Vorder- und Rückansicht.

Nun von dem stillen Hause in der Kreuzstraße zurück auf die große Allee, die uns zur Stadt geführt hat. Wir wandern weiter auf dem kiesbestreuten Mittelweg, links geleitet von mauergeschützten Gärten, die zu den Häusern der Hauptstraße gehören, rechts von einem prächtigen dunkelnden Park hinter niedrigem Zaun. Jetzt durchschneidet eine breite Fahrstraße die Allee und eröffnet uns mit einem Mal einen überraschenden Ausblick auf das an ihrem unteren Ende gelegene fürstliche Schloß. In vornehmer Ruhe liegt das mächtige Gebäude da; die Sonne spiegelt sich blitzend in tausend Scheiben, zirpend schießen die Schwalben über die blauen Schieferdächer; an den Mauern klettert üppiger Epheu empor, dessen Ranken die beiden Wachthäuser am Eingang schon ganz und gar eingesponnen haben. In den Jahren 1710 bis 1720 ward der Bau errichtet nach Plänen, die der kunstsinnige Graf Anton Ulrich von Waldeck, seit 1712 Reichsfürst, eigenhändig entworfen hatte; in seinem Innern birgt er ansehnliche Schätze der Kunst und Wissenschaft, Gemälde von West, Angelika Kauffmann, Tischbein u. a. eine Bibliothek von 30000 Bänden und eine reichhaltige Antikensammlung, das Werk jenes Prinzen Christian von Waldeck, mit welchem Goethe einen Teil seiner italienischen Reise gemacht hat und der von diesem das Zeugnis eines „vollkommenen und unterrichteten Fürsten“ ausgestellt erhielt.

„Waldeck!“ Der Name ist nicht ohne Bedeutung, auch an dieser Stelle, denn fast unmittelbar stößt das Schloß an herrlichen Buchen-. und Tannenwald. Die alten Herren von Waldeck haben mit der Anlage von Alleen einen förmlichen Luxus getrieben, nach allen Seiten umziehen solche das Schloß mit ihren breiten, von Akazien, Linden, Ulmen oder Kastanien beschatteten Bahnen. Ein schöner Natursinn spricht auch aus dem prächtigen Park mit seinem tiefen Grün und dem stillen Teich, auf dem die Wasserrosen schwimmen und die Schwäne lautlos ihre Bahn ziehen über das Spiegelbild des alten Schloßbaus. Auch des „Schlößchens“ oder „Neuen Schlosses“ dürfen wir nicht vergessen, das zu verschiedenen Zeiten waldeckischen Fürstinnen als Witwensitz gedient hat.

Arolsens Stolz und köstlichster Besitz sind die Waldberge, die es umgeben und durch die man auch im Hochsommer stundenlang wandern kann, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dabei öffnen sich auf Schritt und Tritt entzückende Aussichten über Landschaftsbilder von zartem idyllischem Reiz, über Wiesenthäler mit silberklaren Flüßchen, stillen Dörfern und einsamen Mühlen. Um Durst und Hunger braucht der Wanderer sich nicht zu sorgen. Geht es auch in den dörflichen Krügen um Arolsen recht einfach zu, ein kühler Trunk und ein Bissen Brot nebst saftigem Schinken findet sich überall, und bei der Frau Hoffischerin drunten im Fischhaus, das in lauschiger Einsamkeit mitten im Walde liegt, ist gar ein gutes Weilen bei Speis’ und Trank und herrlichem Ausblick bis hinüber zu den fernen blauen Hessenbergen. Gern besucht wird auch der fürstliche Tiergarten, der sich viele Stunden weit erstreckt und in leichter Umzäunung eine Menge Wild birgt. In diesem Tiergarten, dessen Forsthäuser romantischen Gemütern als der entzückendste Aufenthalt erscheinen mögen, liegt der sagenumwobene Markusstein, auch kurzweg „Markstein“ genannt. Von der einen Seite leicht zugänglich, so daß man fast unmerklich die Kuppe erreicht, stürzt er nach der andern schroff in schwindelnde Tiefe ab; düstere Höhlen auf halber Höhe der Felswand, an der jetzt eine in den Stein gehauene Treppe hinaufführt, sollen einst einem alten Eremiten zum Aufenthalt gedient haben. Damals, erzählt man, war der Platz vor dem Felsen dicht verwachsen, himmelaufstrebende Baumriesen verdeckten völlig den tiefen Absturz. Einmal nun geschah es, daß der Fürst bei der Verfolgung eines Hirsches ahnungslos bis dicht an den Rand der Klippe sprengte; spurlos verschwand das gehetzte Tier – um eines Haares Breite, und der nachsetzende Reiter wäre samt seinem Roß in die Tiefe gesprungen. Sein treuer Hund aber hatte die Gefahr bemerkt, laut bellend trieb er das Pferd zurück und stürzte dann selbst in den Abgrund. So ward nach der Sage der Felsen entdeckt. Im Park des Neuen Schlosses zu Arolsen aber befand sich noch vor nicht allzulangen Jahren ein bescheidener Stein, auf [687] dem zu lesen war: „Hier ruht der treue Munter.“ Das soll jener Hund gewesen sein, der Retter seines Herrn.

Das Stammschloß Waldeck.

Auch weiter ins Land hinaus giebt’s noch allerorten Schönes und Merkwürdiges zu sehen, die Schlösser von Rhoden und Wildungen, das Stammschloß der Fürsten von Waldeck auf hohem Berge, den das Silberband der Eder umschlingt, Niederwerbe, die prachtvolle Klosterruine, die Kirchen von Wildungen und Corbach. Auf die Wildunger Mineralquellen brauchen wir nicht erst hinzuweisen; sie sind wohl dasjenige vom Arolsener Land, was man draußen in der weiten Welt am besten kennt, da ja jährlich über 2/3 Millionen Flaschen Wildunger Wasser hinauswandern. – Einst hat man auch Bergbau getrieben im Fürstentum Waldeck auf Eisen und Kupfer, im Ederflüßchen wurde sogar Gold gewaschen; aber heutzutage wird nur noch Eisenerz gefördert und auch dieses in unbedeutenden Mengen. Quellen des Reichtums strömen leider keine in dem kleinen Gebiet der Arolsener Fürsten, aber die höhere Bildung fand allezeit Schützer und Förderer im Waldecker Lande und Fürstenhause von den Zeiten der Reformation und der Gründung des Landesgymnasiums zu Corbach bis auf unsere Tage. Auch hat Arolsen neben seiner ordentlichen Volksschule ein städtisches Realgymnasium und eine höhere Töchterschule – bei einer Bevölkerung von 2600 Seelen! Kein Wunder, daß man im benachbarten Westfalen sagt, in Arolsen sei der Nachtwächter so gebildet wie anderswo der Bürgermeister! Treu, fleißig, ehrlich und gut deutsch sind die Leute in Stadt und Land, diesseit und jenseit der haarscharfen Grenze, die hier, mitten durch das Ländchen laufend, Sachsen und Franken scheidet, die Sachsen an Twiste und Diemel, die Franken an der Eder – beide ein Volk, von gleich echt deutschem Ursprung und durch eine tausendjährige Geschichte zusammengeschmiedet.



Blätter und Blüten.


Der „Kleine Vermittler“ der „Gartenlaube“. Eine neue Einrichtung, welche im Anzeigenteile der „Gartenlaube“ demnächst ins Leben treten wird, kommt dem Interesse unserer Leser auf einem der wichtigsten Lebensgebiete in so weitem Umfang entgegen, daß sie allgemein nur aufs freudigste begrüßt werden kann. Es handelt sich um eine Preisermäßigung für alle jene Ankündigungen, zu welchen das Familienleben unmittelbar Veranlassung bietet, für all die Stellengesuche und Angebote von Stützen der Hausfrau, Bonnen, Gouvernanten, Erziehern und Lehrern, Nachweise von Pensionen und Schulen, von Unterkunfts- und Arbeitsgelegenheit, welche die Sorge um das Wohl der heranwachsenden und herangewachsenen Kinder oder anderer Familienglieder nötig macht, und die von nun ab auch in einer besonderen Abteilung, dem „Kleinen Vermittler“, zum Nachschlagen in Gruppen geordnet, erscheinen werden. Während bisher jede Anzeige in der „Gartenlaube“ für die vierfach gespaltene Nonpareille–Zeile 1 Mark 50 Pfennig gekostet hat, tritt für die Ankündigungen im „Kleinen Vermittler“ eine Ermäßigung in der Weise ein, daß für jedes Wort in kleiner Schrift nur 15 Pfennig, in fetter Schrift 20 Pfennig berechnet werden. Eine Zeile umfaßt durchschnittlich fünf Worte, so daß also der Anzeigenpreis im „Kleinen Vermittler“ ungefähr um die Hälfte niedriger wird. Indem wir so den Charakter eines Familienblattes unmittelbar auch dem Inhalt nach auf unseren Anzeigenteil ausdehnen und den dem Familienbedürfnis dienenden Inseraten die Weltverbreitung der „Gartenlaube“ für einen so billigen Preis gewähren, daß auch dem Unbemittelten die Benutzung ermöglicht ist, bringen wir das damit verbundene Opfer in der sicheren Voraussicht, in dem „Kleinen Vermittler“ der „Gartenlaube“ ein Centralorgan für Angebot und Nachfrage auf diesem Gebiete zu schaffen, das jedem Benutzer die Gewähr bietet, daß seine Anzeige wirklich von allen denen gelesen wird, an die sie gerichtet ist. Auch diese Inserate sind wie alle für die „Gartenlaube“ bestimmten Anzeigen der Annoncenexpedition von Rudolf Mosse in Leipzig und Berlin oder deren Zweiganstalten zu übergeben.

In der Oper. (Zu dem Bilde S. 669.) Vorüber ist die Zeit der Sommerferien und Sommertheater. Die großen Tempel Thaliens in den Residenz- und anderen Städten haben ihre Pforten aufgethan und versammeln ihr Publikum in steigender Vollständigkeit; mit frischer Kraft sind Schauspieler und Sänger, mit frischer Empfänglichkeit Zuschauer und Zuhörer zur Stelle. Auch die beiden Schönen auf unserem Bildchen machen den Eindruck, als ob sie mit vollkommener Hingabe einer sanft rührenden Arie lauschten, die von der Bühne zu ihnen herauftönt in ihre Loge, und es müßte für den Vortragenden eine Lust sein, könnte er sehen, wie innig man ihm hier zuhört. Aber wenn er Zeit und Muße hätte, noch weiter mit prüfendem Auge die Insassen des Theaters zu mustern, so würde er noch eine andere, für ihn weniger erfreuliche Entdeckung machen; er würde bemerken, wie viele Operngläser sich nicht nach ihm, sondern nach jener Loge richten, wie viel Aufmerksamkeit ihm und seinem Singen entwendet wird durch das anziehende Bild holder Frauenschönheit, das dort dem Blicke sich bietet. Ja, nicht bloß die Bühne, auch der Zuschauerraum hat seine „Sterne“.

Die letzten Rebellen. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) Muß es einen „Imam“, ein Staatsoberhaupt geben, und wer ist dazu berufen? Darüber haben die Juristen und Dogmatiker des Islams gar gelehrte Bücher geschrieben. Freilich die, welche die thatsächliche Macht hatten, haben sich an die Theorien der Büchermacher wenig gekehrt. In manchen Fällen haben sie der öffentlichen Meinung, die sich ja doch auch im Orient nicht einfach durch die Behauptung, sie existiere nicht, aus der Welt schaffen läßt, durch eine freche Fälschung ein Zugeständnis gemacht, wie jener kühne Gründer der Fatimidendynastie von dunkler Herkunft, Ubaidallah, der mit einem von gefälligen Leuten wohl bescheinigten Stammbaum als Abkömmling Alis auf die Bühne trat, freilich auch, als sich Zweifel gegen die Echtheit seiner Abstammung erhoben, sein Schwert als den sichersten Beweis seines Herrschaftsanspruches selber bezeichnete. Daß unter solchen Verhältnissen der Tod eines Herrschers fast immer eine Quelle innerer Unruhen bildet, ist kein Wunder, und unsere Zeitungen belehren uns zur Genüge, daß dem Ableben eines orientalischen Fürsten nicht bloß von dessen Unterthanen, sondern auch von den europäischen Kabinetten mit ernsten Besorgnissen entgegengesehen wird. Kaum hat der Fürst, der scheinbar allmächtig geherrscht hat, in Wirklichkeit aber entweder das Werkzeug einer kleinen Schar von Intriganten war oder seine Stellung nur durch Lavieren zwischen verschiedenen Einflüssen mühsam aufrecht erhalten konnte, die Augen geschlossen, so werden die von ihm getroffenen Anordnungen über die Nachfolge von zahlreichen Personen bekämpft, und derjenige unter den Prätendenten, dem es endlich gelingt, obenauf zu kommen, hat noch lange mit zahlreichen Gegnern im Innern zu kämpfen. Nur dem Einfluß der europäischen Mächte ist es zu danken, wenn sich ein Thronwechsel im Orient so friedlich vollzieht wie der jüngste in Marokko.

In dieses Land, das Maghreb el-aksa, dessen Majestäten vor ihren Kollegen den Ehrentitel „Scherifisch“, d. h. „der Familie des Propheten angehörend“, voraushaben, und in Zeiten, wie sie eben geschildert wurden, führt uns Benjamin Constants Gemälde „Die letzten Rebellen“, dessen Original eine Zierde des Luxemburg-Museums in Paris bildet. Hoch zu Roß, und zwar allein zu Roß, beschattet von dem mächtigen Schirm, der hier [688] vielmehr Sinnbild der Würde als Schutz ist, nimmt der Gewaltige Kenntnis von den Thatsachen, welche die Sicherung seiner Herrschaft verbürgen: hingestreckt liegen vor ihm die Leichen der gefährlichsten unter den Feinden, und der Kamelreiter, der ihm gegenüber auf einer kleinen Erhöhung hält und soeben eingetroffen ist – sei es nun wirklich, sei es bloß zum Schein für den Zweck der Scene – berichtet, daß der ganze Anhang jener Gefährlichen vernichtet sei und überall eitel Begeisterung für die erhabene Person des edelsten aller Fürsten herrsche. Wer die Macher sind, wessen Hände all die Fäden gesponnen, die in dem grausigen Schauspiel einen vielleicht nicht einmal endgültigen Abschluß finden, ist aus der Darstellung nicht deutlich zu erkennen, denn mit Ausnahme einiger wenigen, die allerdings desto bösartiger dreinschauen, sind die Personen, die den Mittelpunkt umgeben, zu sehr vermummt, um einen Schluß zu gestatten. Sollte nicht der Turm rechts im Hintergrunde zur Lösung des Rätsels helfen? Es ist der einer Moschee, doch nicht von der Gestalt jener zuweilen etwas gar zu schlanken, wie sie in den östlichen Ländern des Islams üblich sind, sondern einer jener massiven, viereckigen, wie sie allein in Marokko angetroffen werden. Wie bei uns im Mittelalter, so spielt noch heute im Orient die Priesterschaft eine wichtige, ja die Hauptrolle bei allen Staatsaktionen!

Noch etwas anderes zeigt der Hintergrund: ein Stück der fernen Höhen des Atlas, an dessen Fuß die Stadt Marokko, der Schauplatz der Scene, liegt. Die Berberstämme dort waren allezeit unbotmäßig, aber man nahm es mit der Erfüllung ihrer Unterthanenpflichten nie zu genau. Jetzt aber hatten sie sich um den Prätendenten geschart, der ihnen freilich wohl nicht ernst gemeinte Versprechungen gemacht; er wurde zerschmettert, und sie mit ihm. Wer kann sagen, ob die unter ihnen, die am eifrigsten für die ihnen gut scheinende Sache gekämpft und darum am meisten gelitten haben, nicht viel vornehmer, edler waren als die „Edelsten“, denen geschicktes Ränkespiel, günstige Zufälle die Macht in die Hand gespielt haben? Wer freilich kann auch sagen, ob nicht die, die sich eben an dem Anblick der Zerschmetterten weiden, morgen selbst Augenweide für einen neuen Zerschmetterer sind? Martin Hartmann.     

Blaumeisen im Bade. (Zu dem Bilde S. 677.) Unter den guten Kameraden aus der Vogelwelt, welche die Umgebung unserer Wohnstätten auch während des Winters beleben, übertrifft die kleine Blaumeise alle anderen durch Anmut und Zierlichkeit. Ein munterer Singvogel, der in der schöneren Jahreszeit draußen im Wald mit den anderen um die Wette fröhlich sein Lied pfeift, folgt er, wenn die anderen die weite Reise nach Süden antreten, in einfacherer Weise dem Zuge nach Wärme und siedelt sich in gutem Vertrauen auf die Gastfreundschaft des Menschen in Dorf und Stadt an, wo nur immer ein paar Obst- und Alleenbäume den Häusern benachbart sind.

Und wenn die Freigebigkeit der Bewohner eine anhaltende ist, so wird sich ein größerer oder kleinerer, aus verschiedenen Arten sich zusammensetzender Stamm die ganze rauhe Jahreszeit hindurch zu regelmäßigen Stunden am Fenster einfinden, um die ihnen gestreuten Brosamen dankbar zu verzehren. Aber dann, wenn der Frühling wiederkommt, da lösen sich diese Genossenschaften, welche die Not zusammengeschart, in Sippen und Pärchen auf und es geht munteren Fluges wieder hinaus in den Wald, wo erst der Besitz eines eigenen Nestes die gefiederten Sänger wiederum seßhaft macht. Die reinen Freuden, welche jetzt die Beobachtung der munteren Geschöpfe gewährt, belohnen dann reichlich die im Winter geübte Wohlthätigkeit. Eine Scene aus dem ersten Frühling, aus der Zeit der Schlehenblüte, führt uns die Künstlerin in dem beigegebenen Bilde vor, in dem sie eine kleine, der Natur abgelauschte Episode aus dem Vogelleben zu einem artigen, lebenatmenden Phantasiestück erweitert.

Das Interesse an der einheimischen Vogelwelt hat aber nicht nur seine ästhetische, sondern auch eine naheliegende praktische Seite. Gerade die Meisen gehören zu unsern wichtigsten und nützlichsten Insektenvertilgern, und schon aus diesem Grunde sollte die Kenntnis dieser überall verbreiteten Wohlthäter, die sich, wie erwähnt, vor allem am gastlichen Fenster mit Leichtigkeit erwerben läßt, wo es nur möglich ist, gefördert werden. Es sind vorzugsweise drei Meisenarten, welche sich bei uns mit Sicherheit als Wintergäste einfinden. Die größte unter ihnen, die Kohl- oder Spiegelmeise, ist durch die auffallende Zeichnung des Kopfes, welcher bis auf einen dreieckigen weißen Fleck unter dem Auge glänzend schwarz ist, sowie an einer die Mitte der gelben Unterseite durchziehenden breiten, schwarzen Längsbinde unzweideutig charakterisiert. Sie ist die stärkste unter den Meisen und zeigt sich auch am Fensterbrett als die gewaltthätigste, wie sie denn auch in ihrem sonstigen Leben, zumal im Verhalten gegen junge, schwache und kranke Vögel der eigenen oder anderer Arten, keineswegs einen tadellosen Leumund besitzt. Noch mehr als sie fesseln die beiden kleineren Arten, die Sumpf- und Blaumeise, den Beobachter durch ihr Aeußeres und ihr keckes, flinkes Wesen. Die erstere, die wegen ihrer schwarzen Kopfplatte nicht selten mit der schwarzköpfigen Grasmücke, dem „Schwarzkopf“, verwechselt wird, hat im übrigen ein einfach mäusefarbenes Gefieder, während die Blaumeise in ihrem lebhafteren Farbenschmuck als überaus anziehende Erscheinung auffällt: der Scheitel, ein Halsband, ein Teil der Schwungfedern und die Steuerfedern zeigen verschiedene Schattierungen von Blau, einer Farbe, die nur bei wenigen andern einheimischen Vögeln und niemals in so ausgiebigem Maße auftritt. Auf unserem Bilde tritt diese Zeichnung und nicht minder die zierliche Gestalt unserer Meise naturgetreu hervor. H.     

Die neue städtische Sparkasse in Berlin. (Zu dem Bilde S. 681.) Seit dem Jahre 1892 erhebt sich in Berlin auf den Grundmauern der alten städtischen Wassermühlen an dem seither wesentlich erweiterten Mühlendamme ein stattlicher Neubau. Zwar etwas kasernenartig nüchtern, aber doch recht eindrucksvoll schaut er über die neue breite Spreebrücke hinweg, zu deren Verbreiterung die alten Häuserbaracken des Mühlendammes mit ihren berühmten Trödelgeschäften fallen mußten. Jenes Gebäude ist die neue städtische Sparkasse, eine der segensreichsten Schöpfungen der an gemeinnützigen Anstalten gewiß nicht armen Reichshauptstadt.

Von ihrer Volkstümlichkeit kann sich derjenige eine Vorstellung machen, der am Ersten eines Quartals, etwa am 1. Januar oder 1. April, die Sparkasse besucht. Dichtgefüllt sind die weiten Räume mit Männern und Frauen jeglichen Alters und jeglichen Standes, die meisten den kleinbürgerlichen Familien, Handwerkern, Subalternbeamten, Handlungsgehilfen angehörend. Sie sind gekommen, um einen Teil ihrer Spareinlagen zu erheben, da ja am Quartalsersten zu Hause größere Geldbeträge gebraucht werden. Oft ist an solchen Tagen der Andrang zu den Zahlstellen so groß, daß die Leute nur truppweise eingelassen werden können, so geräumig das neue Gebäude auch ist. Es giebt da bereits zehn Zahlstellen, binnen kurzem soll eine neue eingerichtet werden. Denn die Anzahl der ausgegebenen Sparkassenbücher hat die 600 000 bereits überschritten. Die Gesamtsumme der Spareinlagen erreicht die Höhe von 165 Millionen Mark! Und jeder Erste des Monats zeigt, daß auch dauernd gespart wird, nicht bloß von einem Monat zum andern oder von Vierteljahr zu Vierteljahr; denn ein wesentlicher Teil der eingezahlten Ersparnisse bleibt in der Regel unerhoben.

Die Sparkasse nimmt von ein und derselben Person Einlagen bis zum Gesamtbetrage von 1000 Mark an, und schon von einer Mark ab, und verzinst sie zu einem Zinsfuß, der gegenwärtig 3% beträgt. Ueber die gemachte Spareinlage erhält der Zahler ein Sparkassenbuch, das er vorlegt, wenn er Geld zurückhaben will. Aber er bekommt nur bis zu 100 Mark innerhalb des ersten Monats ohne vorherige Aufkündigung zurück. Bei Erhebung eines Betrages bis zu 500 Mark ist eine zweimonatige, über 500 Mark hinaus eine vierteljährige Kündigung erforderlich. Doch werden, wenn der Besitzer eines Sparkassenbuchs die Dringlichkeit einer größeren Abhebung darthut, auch ohne vorherige Kündigung größere Beträge sofort bei der Vorlage des Sparkassenbuchs ausgezahlt. Mit dieser entgegenkommenden Handhabung der Paragraphen über die Rückzahlungsbedingungen will man es vermeiden, daß der Sparkassenbuchbesitzer im Falle einer augenblicklichen Notlage sich gezwungen sieht, sein Buch vielleicht mit Verlust einem dritten zu verkaufen oder zu versetzen. Daß die ganze Einrichtung vorzüglich dem minder Bemittelten zugute kommen soll, geht aus der Bestimmung hervor, daß in demselben Monat auf ein Sparkassenbuch nur höchstens zusammen 300 Mark zur Einzahlung gelangen können, und daß die Kasse größere Summen als 1000 Mark nicht mehr verzinst, sondern nur noch zinslos in Verwahrung nimmt. Andererseits hat der Sparende nicht die geringsten Unkosten, nicht die mindesten Gebühren oder dgl. zu bezahlen. Einzig wenn er das Sparen aufgiebt, den ganzen ersparten Betrag erhebt und sein Buch abliefert, werden ihm – 10 Pfennig abgezogen. An etwas muß er doch merken, daß er nicht recht daran thut, die Tugend der Sparsamkeit nicht mehr länger üben zu wollen.

Die Einzahlungen können außer in dem Gebäude der Sparkasse selbst auch an einer der 75 über ganz Berlin verteilten Annahmestellen erfolgen. Zwei der Kasse gehörige Fuhrwerke holen die Gelder von dort zweimal in der Woche ab. So finden auf der Sparkasse am Mühlendamm fast nur die Auszahlungen statt. Das charakteristische Treiben, das sich dort täglich von 9 bis 2 Uhr entwickelt, ist auf unserem Bilde von dem Maler Kiekebusch anschaulich wiedergegeben.

Irrlicht. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wie die gespenstische Erscheinung des Irrlichts bald unruhig hin und her über dem moorigen Boden seines Ursprungs hüpft, bald wie festgewurzelt an eine Stelle gebannt oder langsam in bestimmter Richtung über das grüne Sumpfwasser hinschwebend angetroffen wird, so hat auch die Sage seiner menschlichen Verkörperung sehr verschiedenartige Gestalt gegeben. Von dem Aberglauben, daß die Irrlichter böse Geister seien, welche verführerische Gestalt annehmen, um den Wanderer von der Straße ab in den Sumpf zu locken, wo er ihnen nachstrebend elend untergeht und ihrer Macht verfällt, ist grundverschieden der andere, welcher in den Irrlichtern die Seelen ungetaufter Kinder erblickt. Wieder eine andere Auffassung sieht in den rätselhaften Lichterscheinungen, deren mutmaßliche Erklärung darin besteht, daß sich die den Fäulnisstoffen der Moräste entströmenden Gase an der Luft selbst entzünden, die abgeschiedenen Seelen solcher, die keines natürlichen Todes starben. Eine solche arme Seele ist auch der Gegenstand der poetischen Vision, welche unsere diesmalige Kunstbeilage darstellt. Ein tiefer Gram lastet auf den Zügen des schönen bleichen Mädchens, das, die Hände reuevoll über der Brust gekreuzt, die Augen starr ins Weite gerichtet, über den dunklen Weiher stumm und langsam dahinschwebt. Ein ähnliches Bild hat Goethe gezeichnet, als er im „Faust“ in der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg den Geist Gretchens vor das Auge des mit den Hexen tanzenden Faust heraufbeschwor: „Sie schiebt sich langsam nur vom Ort, sie scheint mit geschlossenen Füßen zu gehen.“ Ein Zauberbild, von dem Mephistopheles sagt: „Ihm zu begegnen ist nicht gut; vom starren Blick erstarrt des Menschen Blut.“


manicula0 Hierzu Kunstbeilage XI: Irrlicht. Von Otto Lingner.

Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (4. Fortsetzung). S. 669. – In der Oper. Bild. S. 669. – Die letzten Rebellen. Bild. S. 672 und 673. – Ein entführtes Herzogskind. Von Eduard Schulte. S. 675. – Blaumeisen im Bade. Bild. S. 677. – Die Sklaven. Novelle von Ernst Eckstein. S. 680. – In der neuen städtischen Sparkasse zu Berlin. Bild. S. 681. – Deutsche Städtebilder. Arolsen. Von J. Schwabe. S. 684. Mit Abbildungen S. 684, 685, 686 und 687. – Blätter und Blüten: Der „Kleine Vermittler“ der „Gartenlaube“. S. 687. – In der Oper. S. 687. (Zu dem Bilde S. 669.) – Die letzten Rebellen. Von Martin Hartmann. S. 687. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) – Blaumeisen im Bade. S. 688. (Zu dem Bilde S. 677.) – Die neue städtische Sparkasse in Berlin. S. 688. (Zu dem Bilde S. 681.) – Irrlicht. S. 688. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Der mit Säulen umgebene innere Hof des römischen Hauses.
  2. Tischchen mit einem Fuße, Konsolentischchen.