Die Gartenlaube (1894)/Heft 43
Um fremde Schuld.
Wollmeyers drohende Zumutung, mich für Brankwitz zu entscheiden, hatte mir die Zunge gelähmt. Ich griff mir an die Kehle – es war, als ob mich jemand erdrosseln wollte – und schwieg weiter.
„Also, bis übermorgen mittag erwarte ich Ihre Antwort,“ wiederholte er dringend.
„Mit welchem Interesse – – ich wollte sagen, was kann Ihnen daran liegen, ob ich Brankwitz heirate oder ob ich mich auf irgend eine andere Weise versorge, da ja doch die Versorgung ein Hauptgrund zu dieser Heirat sein soll, wie Sie selbst betonen.“
„Ich ein besonderes In – – Interesse?“ fragte er betroffen, „wie kommen Sie darauf? Lediglich Ihr Wohlergehen, Ihre gesicherte Zukunft – Ihre Mutter – –“
„Nun, ich dachte, es müsse Ihnen ganz besonders daran liegen, mich auf die genannte Art versorgt zu sehen. Um so besser, wenn es nicht der Fall ist; dann wird es Ihnen ja auch nicht schwer werden, wenn Sie Herrn von Brankwitz in meinem Namen danken und sagen, es bleibe bei der Abrede. Ich werde mir schon ganz allein durchs Leben helfen, und zwar so gut, daß Mamas Sorgen bald aufhören sollen und die Ihrigen dazu, Herr Wollmeyer.“
Er faßte plötzlich mein Handgelenk. „Haben Sie eine andere Neigung?“ fragte er hastig.
Ich fühlte, wie ich purpurrot wurde. „Ich habe noch nie an so etwas gedacht,“ stotterte ich. Aber vor meiner Seele stieg ein Bild auf, ein Phantasiebild, das Bild eines großen schönen Mannes mit treuherzig und fest blickenden Augen, und stolz und hoch, wie ein Mädchenkopf sich wohl heimlich den Einen ausmalt, und wär’s ein noch so vernünftiger Mädchenkopf; ein Bild, das so verzweifelt wenig Aehnlichkeit hatte mit dem verlebten Brankwitz, dessen Auge blöde durch das Monocle schaute und desseb Haarwuchs so sehr spärlich war.
„Eine so grundlose Ablehnung lasse ich nicht gelten,“ sagte er, gänzlich aus seiner bisherigen Liebenswürdigkeit heraustretend, „die Zeiten sind nicht danach. Ich habe als Ihr Vormund das Recht, Ihre Zukunft sicher zu stellen, und solche Aussichten wie jetzt bieten sich nicht zum zweitenmal. Ich sage Ihnen hiermit, daß diese Verlobung wünschenswert ist und mehr als das, daß sie notwendig ist. Ich lasse Ihnen Zeit bis übermorgen, zu trotzen – bis übermorgen mittag, verstanden? Dann bitte ich mir ein Ja aus, ein ganz kurzes sachgemäßes Ja! Ich habe durchaus keine Lust, mich auf lange und kindische Erörterungen einzulassen. Gute Nacht!“
Als die Thür hinter ihm ins Schloß gefallen war, blieb ich sitzen, als sei ich gelähmt. Irgend etwas Unheimliches spürte ich, eine Macht, die stärker war als ich, und eine zitternde Verzweiflung überkam mich. Herr von Brankwitz hatte den Rat seiner Schwester pünktlich befolgt, die Wirkung war da. Was sollte ich thun? Konnte man mich denn zwingen? Aber nein, ich würde noch vor dem Altar schreien: „Ich will nicht, ich will nicht!“ Wie unheimlich das alles war! O wäre doch wenigstens die Base hier!
Es schlug elf Uhr, da raschelte es leise an meiner Thür und nun kam Mama. Ich saß noch immer mit angstverzerrtem Gesicht da – im Grunde meines Herzens war ich ebenso scheu, ebenso weich wie andere junge Mädchen. „Ach Mama, Mama!“ stammelte ich.
Sie sah sehr blaß aus und müde, als sie vor mir saß. „Du bist noch so fleißig?“ fragte sie. „Warum sagtest Du uns denn gar nicht Gute Nacht?“
Weißt Du denn nichts? wollte ich rufen. Die übersprudelnden Worte, die sich mir auf die Lippen drängten, erstarrten aber, denn sie schien nichts zu wissen. Und wozu auch – sollte ich ihr noch mehr Sorgen schaffen? „Ach ja,“ stotterte ich, „es ist wahr, aber ich fühlte mich so müde nach dem Hochzeitslärm und überhaupt, ich bin so viel jetzt auf den Füßen.“
„Ja, wir sind das bunle Leben nicht gewöhnt, Anneliese.“
„Ich möchte einmal so recht, recht stillsitzen, Mama, gar keinen Menschen sehen.“
„Ach Kind, Du bist so jung, genieße doch Dein bißchen Jugend! Die paar Jahre gehen rasch dahin, und dann – – Du sahst so hübsch aus in dem gelben Kleide mit dem roten Anemonenkranz, Liebling! Olga Sellmann sagt es auch; sie wollte Dir übrigens noch Gute Nacht sagen, Anneliese. Ich glaubte, ich würde sie hier treffen.“
„Herr Gott, bin ich denn nirgends mehr sicher vor diesen Menschen!“ murmelte ich.
„Anneliese, wenn Du doch weniger schroff sein wolltest!“ klagte sie. „Woher hast Du dieses barsche Absprechen? Wir beide, Papa und ich, waren doch nicht so!“
„Woher? Ich weiß es nicht, Mama. Meine Zunge ist eben meine einzige Waffe und mein einziger Schutz.“
„Das klingt, als wärst Du fortwährenden Angriffen ausgesetzt. Es thut Dir doch niemand etwas, Anneliese, Dir doch nicht!“
Sie erhob sich seufzend. „Gute Nacht, mein Kind! Steh’ fröhlicher auf morgen, als Du Dich heute hinlegst.“
„Gute Nacht, Mama!“
Ich begleitete sie bis in das vordere Zimmer und sah ihr nach, wie sie durch den Flur schritt und im Treppenturm verschwand. Sie ging mit gesenktem Kopf, als grüble sie noch immer über ihr halsstarriges widerspenstiges Kind.
„Ach!“ rief da die Flötenstimme Olga Sellmanns durch die Halle, und ihr blonder Kopf schaute aus der gegenüber liegenden Thür, „sind Sie noch wach, Fräulein Anneliese? Ich komme einen Augenblick zu Ihnen, ich muß Ihnen noch Gute Nacht sagen.“ Sie verschwand für ein paar Sekunden und kam dann, ein Tuch über das weiße theatralische Negligé werfend, quer durch den Flur zu mir herüber. „Darf ich eintreten?“ Ich sagte nicht: „Bitte!“, ich ging nur langsam zurück und sie folgte mir.
„Ah! Hier wohnen Sie? Wie gemütlich, wie himmlisch altmodisch! So schaute es aus bei meiner Schwiegermutter; sehr nett zum Ansehen, aber nicht für lange – wie?“ Und sie stand mit der Lorgnette vor Papas Bild.
„Ich wünsche mir nichts Besseres,“ antwortete ich und dachte: was will sie denn nur? Sie wandte sich um, sah mich prüfend an auf die Aehnlichkeit mit dem Bilde, schüttelte den hochfrisierten Kopf, in dessen duftigem Haar noch der Goldstaub flimmerte, den sie zur Erhöhung des rötlichen Glanzes für die Hochzeitsfeier hineingethan und sagte. „Keine Spur von Aehnlichkeit!“
„Ich weiß es.“
„Aber setzen wir uns ein wenig,“ rief sie und sank in einen Lehnstuhl. „Plaudern wir ein bißchen! In diesem gottgesegneten Nest geht man ja schon mit den Hühnern zu Bette; ich bin gewohnt, um zehn Uhr erst aufzuleben. Kinder, was seid Ihr hier spießbürgerlich! Nein, diese Hochzeit, diese Toiletten – die Brautmutter voran – und die gute Komtesse! Die einzige wahrhaft elegante Erscheinung war – Anwesende sind immer ausgenommen, meine Kleine – war die Braut; in der That königlich, königlich! Hätte sie nur nicht ein so sentimentales Gesicht gemacht, als würde sie begraben anstatt gefreit.“
„Sie hatte vielleicht Ursache – es war so eine Art Begräbnis für sie,“ sagte ich.
„Puh!“ rief die rosige Frau, „zu gräßlich! Das klingt ja wie bei Heine! Wie heißt’s doch da?“ Sie schnippte mit den Fingern, kam aber nicht darauf, „so was von einer gestorbenen Liebe war’s und einem Leichenschrein! Ach, das ist ja alles Modesache, heut’ ist’s eben nicht mehr Mode. Wenn man einen Mann heiratet, den man nicht liebt, so ist doch lange noch nicht alles verloren! Sehen Sie mich an, ich nahm auch einen Gatten, der mir nichts bedeutete. Der Mann, den ich liebte, hatte nicht einen roten Dreier, um mich zu heiraten. Was thun? Ich war gescheit, ich nahm den Reichen. Der andere? Nun -“ sie lächelte, an mir vorübersehend, „wir blieben gute Freunde – man ist heutzutage ganz tolerant, und mein Mann war es auch.“
Ich sah sie verständnislos an. Ich war viel zu arglos dazu, um den vollen Sinn des Geschwätzes zu fassen, aber ich fühlte den schwülen ungesunden Hauch, der von der leichtfertigen Rede dieser großen üppigen Person ausging, die sich nun erhob und mit ihrem Lächeln und den eigentümlich flimmernden grünlichen Augen an mich herantrat. „Ich sehe, Sie sind müde, Anneliese, ich will gehen – also Gute Nacht! Ja, ja, es ist gar nicht so entsetzlich, verheiratet zu sein,“ sagte sie, mich am Ohre zupfend, „und wenn man’s vernünftig anfängt, so ist’s erst das wahre Leben. Man lebt ja nicht mehr in den Zeiten der Komtesse, wo es gleichbedeutend war mit dem Ende aller rosigen Jugendfreude und Freiheit – nein, [727] so sind wir nicht mehr, und die Männer auch nicht – bange machen gilt nicht, Sie kleiner reizender Wildfang! Gute Nacht!“
Sie hauchte einen Kuß auf meine Stirn und rauschte der Thür zu. „Gute Nacht!“ dann noch ein Kußhändchen, und sie war verschwunden.
Ich strich mir langsam über die Stirn. „Allmächtiger!“ sagte ich halblaut, „und in diesen Schmutz wollen sie mich ziehen, und ich soll es mir gefallen lassen? Und keiner, keiner ist da, der mir beisteht. Und wenn es ihnen gelänge, wenn meine Widerstandskraft erlahmte, wenn ich so leben müßte wie diese Frau, so lächeln, so denken lernte – –“ Ich lief im Zimmer umher, in dem Gefühl erstickender Angst, schlug die Läden zurück und riß die Fenster auf, damit das entsetzliche süße Parfüm entweiche, das mir übel machte.
Ach, nur ein Herz, dem ich’s sagen könnte! Bis übermorgen mittag Frist! Nein, ich wollte mich nicht dazu hergeben, ich wollte nicht!
Mit der kalten Luft kam wieder etwas Ruhe über mich. Ich schloß die Fenster und Läden und suchte mein Lager auf.
Am andern Morgen wurde ich nicht geweckt; man wollte mir wahrscheinlich Zeit lassen zum Ueberlegen und verzichtete auf meine Gesellschaft am Frühstückstisch. So schlief ich, bis um zehn Uhr Mama an die Thür klopfte, die ängstlich frug, ob ich nicht wohl sei. Als ich sie einließ, starrte sie mich an. „Um Gott, Du bist krank!“
„O nein, Mama, ganz gesund. Was wünschest Du?“
„Ich wollte Dich sehen. Wie Du nur fragst!“
„Liebe Mama, ich wäre in einer Viertelstunde hinaufgekommen und hätte Dir Guten Tag gesagt. Uebrigens will ich nachher die Komtesse besuchen; hast Du Lust, mich zu begleiten?“
„Ich weiß nicht, ob es geht.“
„Und dann auf den Friedhof zu Papa.“
Sie sah traurig zu Boden.
„Laß nur, Mama, die Lebenden haben das Recht. Ich grüße ihn von Dir.“
„Warum denn heute gerade, in dem Schnee, Anneliese?“
„Ich habe Sehnsucht, und Du weißt ja, von Tante aus ist’s so bequem und immer Bahn gefegt durch den Garten.“
„Der alte Herr von Tollen ist tot,“ sagte Mama nach kurzer Pause, „und die Lore ist wieder da.“
„Arme Lore!“
Sie nickte. „Grüße die Komtesse, Anneliese.“
„Danke!“
Ich hatte mich während dieser Worte angekleidet, hastig eine Tasse Thee getrunken, und dann gingen wir beide zusammen aus dem Zimmer; sie die Treppe hinauf, ich aus dem Hause.
Es war wunderbarer Schwee gefallen, das kleine Westenberg sah aus wie eine Braut in weißem silberfunkelnden Kleide. Hier und da klingelte ein Schlitten durch die Straßen, der mich zwang, auf das schmale Trottoir zu flüchten; auf den Rinnsteinen schlitterten die Jungen in ihren Holzpantoffeln und unter den Lastwagen knirschte der Schnee. Jedes Giebelchen, jedes Türmchen trug eine köstliche Zipfelmütze und die Dachrinnen waren mit funkelndem Eisbehang geziert. Es lag ein weihnachtlicher trauter Hauch über dem Ganzen; es erinnerte mich an ferne glückliche Tage, als ich noch mit Papa, dem Eislauf huldigend, auf dem stillen Flüßchen dahingefahren war, weit, weit, bis ins Hannoversche. O ihr schönen Zeiten! Und jetzt?
Ich dachte vor der Hand nicht daran, zur Komtesse zu gehen; ich suchte den Kirchhof auf. Hier schien heute erst ein einziger Mensch gegangen zu sein. Der große Mittelweg war in aller Morgenfrühe vom Schnee befreit worden, aber doch wieder leicht überschneit, und diesem Flimmer waren die Spuren von Füßen eingeprägt, von Männerfüßen, jedenfalls aber von feinem Schuhwerk. Der Totengräber konnte es nicht gewesen sein, der trug fürchterliche Nägelstiefel; vielleicht jemand von Tollens, der die Grabstelle ausgesucht hatte. Es war mir ein unangenehmer Gedanke, diesen jemand – es mußte doch einer der Söhne sein – hier zu treffen; ich kann so schlecht kondolieren, auch wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist, so will doch kein Wort über die Lippen. Ich schwenkte also links ab und ging durch tiefen Schnee zwischen den eng aneinander liegenden Gräbern hindurch zu Papas Ruheplatz hinüber. Ich hatte weiter nichts für ihn als einen Stechpalmenzweig mit roten Beeren; den legte ich auf den verschneiten Holzkasten, der als Schutz gegen Wintersunbill den Marmorstein bedeckte, schüttelte von den Zweigen der Cypresse die Schneelast ab und fühlte mich in dieser stillen toten winterlichen Umgebung verlassener denn je. Man kann lange fragen und klagen – so ein Grabhügel läßt keine Antwort durch; man kann lange wünschen: ich wollt’, ich läge da drunten statt deiner! und man muß doch leben, so lange Gott es will.
Ich ließ mein Auge von dem Grabe über die vielen andern Hügel schweifen bis zum Garten der Komtesse hinüber, deren hübsches kleines Haus so behaglich unter den zwei hohen Linden lag.
„Ich will doch hinüber,“ sagte ich halblaut, bückte mich noch einmal, um eine Epheuranke aus dem Schnee zu graben, und ging. Ich mußte an Hannchens Grab vorüber und sah hier dieselben Fußspuren und da stand auch jemand vor dem Hügel, ein Mann – anscheinend ein junger Mann. Er drehte mir den Rücken zu, hatte einen Fuß auf die Einfassung gesetzt und sah unbeweglich zur Marienkirche hinüber. Ich zögerte einen Augenblick, überlegend, wie ich dem Fremden ausweichen könne, da wendete er sich kurz um und wir standen uns in dem engen Pfad gegenüber.
„Verzeihung!“ sagte er, in eine Querreihe zurückweichend, und lüftete den Hut.
Einige Sekunden lang sahen wir uns an. Ein schönes junges Gesicht leuchtete mir entgegen, von braunem Bart umrahmt, und ein Paar lebhafter Augen betrachtete mich, die zuerst gleichgültig neben mir hin sahen, dann einen unendlich freundlichen Schimmer bekamen.
„Es ist ein wenig eng hier,“ sagte er, „ich hoffe, Sie werden vorbei können, mein Fräulein. Aber zuvor gestatten Sie mir wohl eine Frage – wer liegt unter dem Grabhügel, vor dem ich soeben stand?“ Und er wies zurück auf Hannchens Ruhestätte.
„Frau Stadtrat Wollmeyer,“ antwortete ich.
„Danke tausendmal!“ sagte er, mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der bestätigt findet, was er zu hören gewünscht hat.
Wieder eine Pause. Unwillkürlich umfaßte ich seine ganze Erscheinung mit meinen verwunderten Augen. Er erschien mir so ungewöhnlich – in Westenberg war so etwas noch nicht gesehen worden – schon sein Anzug, der Reisemantel von grauem Stoff, ein Hut von gleicher Farbe, eine höchst elegante Ledertasche über der Schulter und feine wildlederne Handschuhe – –
„Guten Tag, mein Fräulein!“ hörte ich ihn sprechen, und er lüftete den Hut über dem braunen glänzenden Scheitel.
Ich nickte nur stumm und verfolgte ihn mit meinen Blicken, so lange er auf dem Mittelweg zu sehen war. Auf einmal kam mir blitzartig ein Gedanke. „Robert Nordmann!“ schrie ich auf. „Robert Nordmann, der Base ihr Robert!“ und ich begann zu laufen wie ein wildes Schulmädchen, daß mir das Pelzkäppchen über die Stirn zurückrutschte. Dann überfiel mich eine glühende Scham. Um alles in der Welt, was ging mich Robert Nordmann an?
Ich zog die Pelzkappe zurecht und schritt langsam weiter. Lächerlich! Wie sollte Robert Nordmann hierher kommen! Das zu glauben, weil zufällig ein fremder Mann vor Hannchens Grabe gestanden hatte! Da hatte mir meine Phantasie wieder einen Streich gespielt! – „Annelieseken!“ würde die Base kopfschüttelnd sagen.
„Ach Base, Base, wärst Du hier!“ jammerte ich, und während all mein Leid mir doppelt schwer aufs Herz fiel, klinkte ich das Pförtchen auf zum Garten der Komtesse und trat ins Haus mit einem so niedergeschlagenen Ausdruck im Gesichte, daß selbst die alte Josephine sagte: „Sie sind keine richtige Gesellschaft heute für gnädige Komtesse, Fräulein von Sternberg; gnädige Komtesse macht alleweil’ auch so ein Gesicht wie Sie.“
Ich wagte nur ganz schüchtern anzuklopfen, und das überlaute zornige „Herein!“ weissagte mir nichts Gutes. Die alte Dame hatte sich in ein dickes Tuch vermummt und sah so giftig aus wie ein Bullenbeißer. „Guten Morgen, Tante!“ sagte ich kleinlaut.
„’n Morgen! Auf die nächste Hochzeit kannst Du allein gehen, mein Kücken! Wie jetzt die Hochzeiten sind, mag ich nichts mit zu thun haben, und wenn’s selbst Deine eigene wäre!“
„Hast Du Dich erkältet, Tante?“ stotterte ich.
„Erkältet? Ich erkälte mich nie. Alteriert habe ich mich, Leberkolik hab’ ich bekommen und – na, ’s ist nicht mehr zu ändern. O Ihr Heutigen, Ihr Heutigen! Mit Dir hab’ ich auch ein Hühnchen zu pflücken,“ schrie sie mich plötzlich an, „der sogenannte Herr von Brankwitz hat sich auf eine Weise Dir genähert, die Ohrfeigen verdient! Der Kerl sieht aus wie ein Käsematz mit einer Sirupssauce darüber. Aber nicht wahr, wenn ’s nur überhaupt einer ist!“
„Ach, Tante Komtesse, Tante Komtesse,“ bat ich, „höre mich doch nur an!“
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[729] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [730] „Ich will nichts hören, ich will Dir nur sagen, wenn Deine Mutter zu ihrer ersten Dummheit noch eine zweite macht und duldet, daß diese Spatzenscheuche, dieser – na, ich will lieber schweigen – ihre Tochter erschnappt, so sind wir geschiedene Leute – bestell’ ihr das! Bei aller Hochachtung vor Herrn Wollmeyer – sein Neffe ist ein – –“ Sie bekam einen Hustenanfall.
„Tante, darf ich Dir denn erzählen?“
„Nein!“ donnerte sie mich an, „ich will nichts erzählt haben!“
„Du sollst mir aber helfen,“ rief ich jetzt noch lauter als sie, „ich soll ihn nehmen und ich will nicht, Tante.“
Sie war auf einmal ganz still. „So, so?“ kam es endlich heraus, „Du sollst, aber Du willst nicht? Wer will denn, daß Du sollst? Len’ wird doch nicht?“
„Meine Mama weiß nichts,“ stieß ich schluchzend hervor, „sie soll es auch nicht wissen, weil es sie so sehr aufregt, sagte man mir. Er, Wollmeyer, will bis morgen mittag die entscheidende Antwort haben; es giebt gar kein Nein, hat er gesagt, Tante.“
„Ach was, Schnack!“ antwortete sie; „das sind ja Redensarten, um Dir angst zu machen.“
Ich schwieg und kämpfte mit mir, ob ich ihr von dem Gespräch erzählen dürfe, das ich belauscht hatte. Aber das dumpfe Gefühl, irgend etwas Schreckliches, die bewußte Skandalgeschichte heraufzubeschwören, hielt mich davon ab. „Er hat so gesagt, Tante,“ stotterte ich nur, „und ich habe Angst vor ihm. Wenn ich nur mit Mama reden dürfte – Mama würde mir recht geben, sie kann ja gar nicht anders.“
„Es kommt mir sonderbar vor, daß Len’ nichts davon wissen soll,“ murrte sie; „Schwiegersöhne sind Angelegenheiten mit denen sich keine Mutter gern überraschen läßt, da will jede ihren Senf dazu geben.“ Und plötzlich warf sie mit einem Ruck ihr Tuch ab. „Streiten kann ich mich nicht mit ihm,“ rief sie, „er ist Stadtverordneter, und diese Sorte redet unsereinen in Grund und Boden, aber seinen Willen bekommt er nicht, Anneliese. Ernsthaft gesprochen, Kind, jetzt beichte, denn klar muß ich sehen, weil ich die Geschichte für ein Unglück halte. Wie ist’s gekommen? Heraus mit der Katze aus dem Sack!“ Sie saß kerzengerade da, mit der Miene eines Untersuchungsrichters.
„Hat er, der Brankwitz, sich Dir denn selbst schon erklärt?“
„Ja, Tante, bei der Wagenfahrt letzthin – und dann fing er gestern abend noch einmal an – nach dem Diner.“
Sie blickte starr vor sich hin. „Nu sieh, nu sieh das Kücken,“ sagte sie und machte jetzt ein Gesicht, als denke sie nach, ob ihr jemals etwas Aehnliches begegnet sei. „Daran bist Du selbst schuld,“ fuhr sie mich dann an, „allemal sind die Frauenzimmer schuld, wenn die Männer von Liebe zu schwatzen wagen und unverschämt werden, allemal, sag’ ich Dir. Mir ist keiner so unverschämt gekommen, ich kann’s beschwören.“
Ich blinzelte sie von unten herauf an, diese übergroße häßliche und doch so liebe Person, und meine Blicke blieben schließlich an der zur Faust geballten mannsgroßen Hand hängen, die sie auf den Tisch gelegt hatte. Ach ja, sie besaß etwas Achtunggebietendes, die Tante Komtesse.
„Was siehst Du mich denn so an mit Deinem Spitzbubengesicht, unter den Krokodilsthränen hervor, Du Krott?“ schalt sie. „Meinst wohl gar, die Trauben seien sauer gewesen? Hör’, ich könnte Dir Geschichten erzählen – es gab mehr wie einen, der die lange Komtesse gern gefreit hätte, aber – das ist altes Eisen wie ich selber. Ich spreche jetzt von Dir! Du bist schuld, Anneliese, und nun muß man Dich aus der Patsche ziehen – – wenn ich nur wüßte, wie!“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Du sagst einfach Nein!“ entschied sie endlich.
„Ja, das habe ich schon gethan und werde es wiederholen, Tante. Wenn Du – –“
„Wenn Du weiter nichts weißt – willst Du sagen? Sehr freundlich! Aber ich gebe Dir die Versicherung, Kücken, wenn Ihr Euch beide zusammenthut, Du und die Len’, da kann der Wollmeyer gar nichts durchsetzen, gar nichts; Du kennst die Macht noch nicht, die unsereiner auszuüben vermag durch passiven Widerstand. Ich sage Dir, Napoleon selber wäre mir gegenüber nicht Sieger geblieben – den Ersten meine ich – der Dritte ist ja ein glänzendes Beispiel für meine Behauptung, denn den hat seine Eugenie links und rechts gebracht, wie sie wollte.“
„Tante,“ sagte ich traurig, „Du weißt nicht, wie Mama sich geändert hat.“
„Aber nicht in der Liebe zu Dir, denn hier spricht ihr Mutterherz. Laß den Mut nicht sinken, Kind!“
„Und wenn – wenn Du Dich täuschest, Tante, wenn auch sie es wünschen sollte – was würdest Du thun an meiner Statt?“
„Ausreißen!“ sagte sie schnell, „das heißt,“ verbesserte sie sich, dunkelrot vor Aerger über sich selbst – „mach’ nicht solche Augen, als ob Dir ein Talglicht aufginge, Du Naseweis – ich meine damit, ob Du nicht vielleicht einmal verreisen willst, etwa nach Hamburg, wohin ich Dich damals schon bringen wollte, als Len’ sich verlobte. Wie? Ich werde mit Len’ sprechen und auch mit Wollmeyer; Du bist ja noch viel zu jung zum Heiraten. Ich treffe Deine Mutter heute abend beim Superintendenten, da red’ ich ihr ins Gewissen. Vielleicht sind die beiden auch dabei, der Brankwitz und die fragwürdige Schwester – hör’, Kücken, laß Dich mit der nicht ein, sie sieht gefährlich aus! Na, wie gesagt, das verstehst Du nicht, aber ich kenne Berlin, ich kenn’ es – aber das verstehst Du nicht. Also, ich thu’, was ich kann, Kleine; laß die Ohren nicht hängen! Jetzt kannst Du gehen, ich will mir einen frischen Kamillenumschlag machen, damit ich heute nachmittag zu der armen Tollen kann, und dann abends zum Whist. Ich darf sie nicht im Stich lassen mit ’nem Strohmann können sie ja wohl spielen, aber der Postdirektor fehlt heute, und mit Zweien, das kann hier keiner, denn, lieber Gott, dazu gehört Finesse, große Finesse!“
Ich küßte ihr die Hand und ging, aber mit ganz verwirrtem Kopf. „Ausreißen!“ hatte sie gesagt. Wenn alles nichts half, alles Weigern nicht, wenn Mama mich auch verlassen sollte, dann – – ich war jetzt ganz beruhigt.
Als ich nach Hause kam, lag ein Brief von der Base da, ein großer dicker Brief, er enthielt ihr Sparkassenbuch und die Bitte, ihr hundert Mark zu erheben und hinzuschicken. Ein lieber fehlerhafter alter Basenbrief, vor dessen Herzensgüte und Treue alle seine stilistischen Fehler in nichts zerflossen.
„Herzliebes wertes Fräulein Anneliese! Wenn Sie wollen so gütig sein, mich hundert Mark herunterzuholen und per Post an mich gelangen zu lassen; Adresse Dorothea Himmel in Langenwalde bei Quersleben, abzugeben bei Herrn Inspektor Hübner daselbst. Ich würde sehr dankbar sein, wenn Sie dazu schreiben wollen, ob Sie gesund und wohl auf seien und wie es sonstig geht, und ob die gnädige Frau Mama nicht gar soviel Plag’ hat mit die alten Küchengeschichten und ob die neue Köchin eiugeschlagen ist – ich habe soviel Herzbangen nach Ihnen, sonst geht’s mich gut. Ich wünsche immer, Fräulein Anneliese wär’ hier, so schön ist’s hier und so friedlich. Ich konnt’ auf der Mühle nicht wohnen, weil der Pächter so viel Platz braucht für seine große Familie, da bin ich im Schlößchen untergekommen, und was die Frau Inspektorin ist, giebt mir Essen für ganz billig. Um Weihnacht herum bin ich immer so traurig, dies Jahr besonderlich; ich habe gar zu wenig zu thun, immer bloß spinnen, da spinnen die Gedanken mit und im Kopf drinnen dreht es sich wie ein Rädchen.
Wenn’s Mai wird, sollten Fräulein Anneliese ’mal kommen, jetzt ist’s aber auch schön, so schöne Schlittenbahn wird Ihnen
gewiß gefallen. Leben Sie wohl, Fräulein Anneliese! So gewiß der Himmel über uns ist, so gewiß hat Sie bis zum Tode liebP. S. Wenn Sie’s nicht übel nehmen – sollten Sie in Verlegenheit kommen mit Geld, so holen Sie sich man ruhig was auf dies Buch – man kann ja nicht wissen. Ich brauche ja nicht viel, nur so ein bissel vor Weihnacht, sonst bekomme ich alles, und alles bekommt ’mal Robert Nordmann, aber wer weiß, ob er noch lebt.“
Alte gute Base! Ich saß da mit dem Schreiben in der Hand, als das Stubenmädchen erschien und im Auftrage meines Stiefvaters fragte, ob ich oben speiseu wolle mit der Herrschaft oder ob ich vorziehe, hier unten zu essen.
„ Bitte, hier unten!“ entschied ich. Und ich dachte, als ich da allein saß, ob es Zartgefühl sei, das ihn veranlaßte, mich hier unten zu lassen, oder Angst vor mir.
Was aber mochte man Mama vorgeredet haben? Sie kam nach Tische ganz blaß und aufgeregt herunter. Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen und hätte ihr alles gesagt, aber dicht hinter ihr war diese Olga Sellmann, und die setzte sich auf den Fenstertritt und redete lauter Unsinn, nannte mich „Kleiner Eigensinn“, „Eremitin“ und dergleichen und that, als ginge diese Zurückgezogenheit nur von meinen Launen aus. Sie wich und [731] wankte nicht, obgleich Mama wie auf Kohlen stand und obgleich ich deutlich merken ließ, daß eine zuviel da sei.
Die berühmte Köchin rief Mama ab mit der Frage, ob sie die Gänseleber- oder die Krammetsvögelpastete in den Korb packen solle, der zu Superintendents geschickt werde.
Des Herrn Stadtrats gebildete Zunge sorgte, daß sie auch an dem Tische der minder bemittelten Bekannten etwas für ihren ausgezeichneten Geschmack vorfinde, und bei Superintendents war nicht zu fürchten, daß der Korb zurückkam wie einst bei der Komtesse. Die viel geplagte Frau Superintendent hieß stets die Sendung willkommen, die ihr und ihrer Wirtschaftskasse eine Last abnahm.
„Gehst Du mit heute abend, Anneliese? Du gehst doch mit?“ fragte Mama, im Begriff, mich zu verlassen.
„Nein,“ sagte ich, denn ich mochte der Komtesse nicht hinderlich sein, falls sie ihr Vorhaben, Herrn Wollmeyer ins Gewissen zu reden, ausführen wollte. Meine Mutter verabschiedete sich schweigend.
„Da kommen Sie vielleicht mit uns?“ fragte Frau Sellmann, „Otto und ich wollen uns den Jux machen, ins Theater zu gehen; ich sah noch nie eine solche Wandertruppe, die in Romanen immer so köstlich geschildert werden – ich möchte ’mal lachen. Kommen Sie mit?“
„Es wird ja gar nichts zum Lachen gegeben,“ antwortete ich. Ich hatte die Ankündigung der Eröffnung des Westenberger Stadttheaters im Saal zu den „Drei Pappeln“ heute schon an den Straßenecken gelesen. „‚Don Carlos‘ wird ja gegeben.“
„Als ob gerade das nicht zum Lachen sein wird,“ meinte sie. „Denken Sie, welch eine Eboli hier auftreten wird!“
„Nein, ich danke,“ sagte ich, „ich habe Kopfschmerzen und bleibe zu Hause.“ Da stand sie plötzlich dicht neben mir; sie hatte ein rotes Juchtenetui in der Hand, und an der Feder drückend, daß es aufsprang, hielt sie mir etwas Sprühendes, Flimmerndes unter die Augen. „Ist es nicht entzückend?“
Ein reich mit Brillanten geschmückter Armreif blitzte mir entgegen, in seiner Mitte ebenfalls aus Brillanten das Emblem unseres Wappens, die Greifenklaue, die eine Kugel in den Fängen hält; diese Kugel war eine wundervolle große Perle. „Nun?“ fragte sie.
„Es ist recht hübsch, aber Mama macht sich gar nichts daraus,“ antwortete ich, in der Meinung, es sei ein Weihnachtsgeschenk Wollmeyers für meine Mutter.
„Das kommt hier nicht in Betracht,“ erklärte sie leichthin, „dies da will mein Bruder verschenken.“ Und sie verwandte kein Auge von den funkelnden sprühenden Steinen.
Ich wandte mich achselzuckend ab. Wie plump und dumm! Man spekulierte darauf, daß mich die große Aufmerksamkeit, mein Wappen in Brillanten zu sehen, rühren würde.
„Reizender Geschmack!“ sagte sie und ließ das Etui wieder in ihrer Tasche verschwinden.
Ich hatte mich indes vor den Ofen gesetzt und stocherte in der Glut herum, eine Lieblingsbeschäftigung von mir, aber heute rein mechanisch geübt, denn meine Gedanken hatten plötzlich einen wunderlichen Seitensprung gemacht; sie waren auf etwas gekommen, das mich unangenehm, peinvoll berührte. Ich dachte nämlich, ob etwa der Fremde vom Kirchhof zu der Schauspielertruppe gehörte, die heute ihren Musentempel eröffnete. Es war, als ob mir mit dieser Annahme etwas sehr Wehes geschehe, ich mußte Gewißheit haben.
„Ich komme wahrscheinlich mit,“ sagte ich plötzlich zu Olga Sellmann, „das heißt, ich werde mir schon meinen Platz besorgen, Sie sollen sich nur nicht wundern, wenn Sie mich dort sehen – ich hole meine alte französische Lehrerin ab, das wird Mama erlauben.“
Frau Sellmann lachte eigentümlich. „Ich habe schon eine Karte für Sie, Anneliese, Sie werden uns doch nicht allein gehen lassen?“
„Ich habe mich doch anders besonnen, ich gehe nicht hin,“ stotterte ich, dunkelrot vor Zorn. Es stand ja auf diesem vollen, rosig lächelnden Gesicht so deutlich ein Triumph, ein Triumph, den sie mit ihrem Armband erreicht zu haben glaubte.
„Ich muß Briefe schreiben“ setzte ich kurz hinzu und ging zum Schreibtisch hinüber. Sie lächelte wieder, siegesgewiß. „Ich will nicht stören,“ lispelte sie und schwebte hinaus, als ob ich ein Fischlein wäre, das den Köder erschnappte und das sie aus grausamem Mitleid noch ein wenig in seinem Lebenselement lassen wollte. Für wie gewöhnlich mußten diese Leute mich halten!
Blut und Eisen.
Wie herrlich ist das frische Rot, das die Wangen, die Lippen der Menschen färbt! Es ist die frohe Farbe der Gesundheit und des blühenden Lebens. Kein Wunder, daß das Schwinden derselben ohne sonst erkennbare Ursache schon frühe zur Untersuchung des im Blut enthaltenen Farbstoffs und zu Versuchen geführt hat, wie die krankhafte Abnahme desselben bekämpft werden könne. Die Erkenntnis, daß dieser Farbstoff mit dem Eisengehalt des Blutes identisch sei und die Bleichsucht aus einer fehlerhaften Beschaffenheit des nie rastenden Umwandlungsprozesses von Nahrung in Blut beruhe, hat dann die Erfindung von Eisenpräparaten veranlaßt, die schon seit uralten Zeiten zu dem Zwecke verabreicht werden, den Mangel an ausreichender Eisenzufuhr auf künstlichem Wege zu heben.
Die Zahl dieser Präparate ist ungemein groß. Man hat Bleichsüchtigen reines metallisches Eisen als Pulver im Zustande feinster Verteilung verabreicht, in der Annahme, daß die Magen- und Darmsäfte das Metall zu den für unsern Körper nötigen Verbindungen verarbeiten würden. Man hat zu den verschiedensten Eisenverbindungen, zu Oxyden und Salzen, seine Zuflucht genommen und kohlensaure, phosphorsaure, sowie pflanzensaure Eisenpräparate hergestellt; man hat das Eisen mit anderen Heilmitteln wie Chinin, Jod und Brom gemengt und es selbst unter Genußmittel wie Wein und Chokolade gemischt. Blutarme und Bleichsüchtige pflegen auch Kurorte aufzusuchen und trinken dort „Brunnen“, in welchen kohlensaures Eisenoxydul oder schwefelsaures Eisen, also Eisensalze, aufgelöst sind, und für diejenigen, die nicht reisen können, werden künstliche eisenhaltige Mineralwässer hergestellt, die man zu Hause trinken kann.
Aber wie groß auch die Zahl der Eisenpräparate war, sie genügten nicht den an sie gestellten Anforderungen; stets wiesen sie Schattenseiten auf. Die Eisensalze haben eine ätzende Wirkung, erregen vielfach bei längerem Gebrauch Störungen in der Magenthätigkeit, so daß sie von vielen Kranken nicht vertragen werden. Ferner hat man sich durch genaue Untersuchungen überzeugen müssen, daß die gebräuchlichen Eisensalze vom Körper nicht gut verarbeitet werden und den Leib zum allergrößten Teil verlassen, ohne ins Blut aufgenommen worden zu sein.
Inzwischen war die Chemie fortgeschritten und man ging daran, neue Eisenpräparate herzustellen, welche in ihrer Zusammensetzung denjenigen Eisenverbindungen, die im Körper vorkommen, möglichst ähnlich oder gleich sein würden. Auf diese Weise wollte man dem kranken Organismus die Aufnahme des Eisens leichter machen; man verband also das Eisen mit Eiweißstoffen, bereitete Blutextrakte, in welchen der eisenhaltige Blutfarbstoff des tierischen Blutes enthalten war. Als aber auch diese Neuerungen die Aerzte nicht voll befriedigten, wurde noch ein anderer Weg eingeschlagen.
Der gesunde Mensch erhält das Eisen, das er braucht, in verschiedenen Nahrungsmitteln. Eier und Fleisch, pflanzliche Nahrungsmittel sind eisenhaltig und das Eisen ist in ihnen in einer Verbindung vorhanden, welche vom menschlichen Körper leicht aufgenommen wird. Es war aber nicht bekannt, wie reich an Eisen unsere verschiedenen Nahrungsmittel sind und aus welcher Verbindung die tägliche Eisennahrung des Menschen besteht. Dies mußte zuerst ermittelt werden. Professor Bunge fand, daß der Eidotter verhältnismäßig viel Eisen enthält, und es gelang ihm, aus demselben einen Stoff zu gewinnen, der Eisen enthielt und den er „Hämatogen“, d. h. „blutbildenden Stoff“, nannte, da ja aus ihm das Blut des Hühnchens im Ei entsteht. Professor O. Schmiedeberg in Straßburg ging weiter, er untersuchte verschiedene Nahrungsmittel und es gelang ihm, aus der an Eisen besonders reichen Schweinsleber eine Verbindung von Eisen und Eiweiß zu gewinnen, die er „Ferratin“ nannte. Es ist dies eine hellbraune Masse, die bis 7% Eisen enthält, das an einen eiweißartigen Körper organisch gebunden ist. Durch zahlreiche Versuche wurde Professor Schmiedeberg zu der Ueberzeugung geführt, daß dieses Ferratin gerade diejenige Eisenverbindung sei, die wir in unseren Nahrungsmitteln dem Körper zuführen und aus der die eisenhaltigen Bestandteile des Blutes gebildet werden. Anfangs war diese Entdeckung praktisch nicht verwertbar; denn eine Schweinsleber enthält nur 5 bis 6 Gramm Ferratin, es wäre also zu kostspielig gewesen, das Ferratin zum Gebrauch für Kranke aus den tierischen Organen zu nehmen. Im Verein mit Dr. Pio Marfori ging nun Professor Schmiedeberg daran, das Ferratin künstlich herzustellen, und nach jahrelangen Bemühungen erhielt er schließlich ein Präparat, das dem natürlichen Ferratin durchaus gleich ist. Zahlreiche Versuche, die mit ihm angestellt wurden, haben gezeigt, daß es keinerlei störenden oder gar schädlichen Einfluß auf Magen und Darm ausübt und jedenfalls zu den mildesten der bisher bekannten Eisenpräparate zählt. Verschiedene Aerzte bezeugen, daß es sich bei der Behandlung der Bleichsucht nützlich erwiesen und auch den Appetit der Kranken belebt und gesteigert hat. Im Vergleich zu ähnlichen Verbindungen des Eisens mit Eiweißkörpern zeichnet es sich noch durch seinen hohen Eisengehalt aus. Das vorhin genannte Hämatogen enthält nur 0,29% Eisen, das Ferratin dagegen 7%!
Soweit man aus verschiedenen bisherigen Erfahrungen schließen kann, ist das Ferratin eine wesentliche Bereicherung unseres Arzneischatzes, dabei aber auch ein Nahrungsmittel. Wer sich den Zusammenhang der Ernährung und Blutbildung vergegenwärtigt, wird ja zugeben, daß das Eisen für uns ein Nährstoff ist, ebenso unentbehrlich wie Eiweiß oder Fett. Ist nun das Eisen in unseren Nahrungsmitteln immer in genügenden Mengen vorhanden? Man kann auf Grund unseres bisherigen Wissens die Frage wohl verneinen. Es treten an den Körper oft höhere Ansprüche heran, in den Entwicklungsjahren muß z. B. mehr Blut als sonst gebildet werden. In solchen Fällen reicht der natürliche [732] Eisengehalt der Nahrungmittel nicht aus, um dem Körper die nötigen blutbildenden Stoffe zuzuführen. Da kann man die Nahrung durch Zusatz von Ferratin eisenreicher gestalten, und zwar nicht durch Zugabe von Eisensalzen, die nur schwer oder gar nicht dem Blute einverleibt werden, sondern durch ein Mittel, das der natürlichen Eisennahrung des Menschen durchaus gleich ist. Nach der Ansicht verschiedener Aerzte ist die Hoffnung durchaus berechtigt, daß durch das Ferratin in Zukunft die Bleichsucht nicht nur bekämpft, sondern auch im Keime unterdrückt wird, wenn man anscheinend gesunden jungen Leuten, sobald sich die ersten Erscheinungen einer wenig befriedigenden Ernährung und Blutbildung bemerkbar machen, dieses neue Mittel verabreicht. Das Ferratin hat keinen unaugenehmen Geschmack und kann entweder als Pulver oder in Chokoladeplätzchen eingenommen werden.
Wir müssen jedoch hervorheben, daß das Ferratin sich im Augenblick einer allgemeinen Anerkennung in ärztlichen Kreisen noch nicht erfreut. So hat Professor Kobert auf Grund von Versuchen die Meinung ausgesprochen, daß dieses neue Präparat mit dem natürlichen in der Leber vorhandenen Eisen nicht identisch sei und daß es durch die Magenverdauung zersetzt werde. Welche der beiden Ausichten die richtige ist, wird erst die Zukunft lehren. Darum sollte auch das Ferratin wie jedes andere Eisenpräparat nur auf ärztliche Anordnung genommen werden. Es giebt ja eine ganze Reihe von Krankheiten und Schwächezuständen, in welchen das Einnehmen von Eisenpräparaten nicht nützt, sondern schadet.
Man kann jedoch auch mit vollem Recht die Frage aufwerfen, ob es nicht angezeigt erscheine, dem Mangel an Eisen im Blute durch reichliche Zufuhr solcher Nahrungsmittel abzuhelfen, die besonders reich an Eisenverbindungen sind. Eine derartige Kur gegen die Bleichsucht wird, wie wir beiläufig erwähnen möchten, von den Tataren ausgeführt. Diese Nomaden lassen Bleichsüchtige Früchte der Wassernuß (Trapa natans) verzehren, die nach verschiedenen Untersuchungen besonders reich an Eisenverbindungen sind. Die Wassernuß ist bei uns im Aussterben begriffen; einst diente sie wohl den Urbewohnern Mitteleuropas als Nahrungsmittel, heute aber kommt sie als solches nicht mehr in Betracht.
Was nun unsere gewöhnlichen Nahrungsmittel anbelangt, so ist deren Gehalt an Eisen äußerst verschieden. So enthalten z. B. von pflanzlichen Nahrungsmitteln 100 Gramm Reis etwa 2 Milligramm Eisen; 100 Gramm Weizen 45 bis 55 Milligramm, Kartoffeln 64, Erbsen 66, weiße Bohnen 83, Linsen 95 Milligramm. Von Früchten zeichnen sich die Aepfel durch einen hohen Eisengehalt aus; denn in 100 Gramm getrockneter, wasserfreier Aepfel sind etwa 13 Milligramm Eisen vorhanden, in einer gleichen Menge Spinat sogar 32 bis 39 Milligramm. In einem Liter Weißwein sind 14 Milligramm, in gleicher Menge Rotwein 23 bis 24 und in einem Liter Aepfelwein sogar 206 Milligramm Eisen enthalten.
Vo Nahrungsmitteln, die aus dem Tierreich stammen, sind als besonders eisenhaltig Milch, Eier, Leber und Blut zu erwähnen. Was die Milch anbelangt, so enthalten 1000 Gramm, also etwa 1 Liter Kuhmilch nur 3 Milligramm Eisen, während 1 Liter Pferdemilch 15 Milligramm Eisen bietet. In den Eiern ist, wie oben gesagt, das Eisen im Dotter enthalten.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der gesunde Mensch seinen Bedarf an Eisen aus diesen Nahrungsmitteln bezieht; nur ist es leider bis jetzt noch nicht erwiesen, welches dieser Gerichte die zuträglichsten Eisenverbindungen enthält. Wohl aber dürfte es sich empfehlen, beim Eisenmangel im Blute auch den Speisezettel der Kranken eisenreich zu gestalten. Spinat und Eier, Leberspeiseun, Blutsuppen und Blutwürste würden somit geeignete Gerichte für Bleichsüchtige und Blutarme abgeben.
Wie erfreulich übrigens die neuesten Errungenschaften der Medizin in der Herstellung von Eisenpräparaten sind, wie wertvoll die Enthüllungen über den Eisengehalt der Nahrungsmittel erscheinen, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß Arzneien allein nicht ausreichen, um die Bleichsucht und verwandte Leiden zu bekämpfen. Stets werden wir gegen diese auch die allgemeinen Heilkräfte zur Geltung bringen müssen.
Die Bleichsucht ist den Aerzten seit uralten Zeiten bekannt. Sie scheint bei Blondinen häufiger zu sein als bei Brünetten, bei den Völkern des Nordens häufiger als bei denen des Südens, und Wunderlich, der berühmte Leipziger Arzt, meinte, man begegne ihr in Norddeutschland weit öfter als in Süddeutschland. Wird ihre Entstehung durch klimatische Einflüsse begünstigt? Professor Rosenbach in Breslau machte jüngst darauf aufmerksam, daß das Auftreten der Bleichsucht auch an Jahreszeiten gebunden zu sein scheine, indem namentlich im Hochsommer besonders viele Mädchen und junge Frauen bleichsüchtig werden. Er hat aber zugleich darauf hingewiesen daß eine große Zahl der Bleichsüchtigen auch ohne Darreichung von Eisenpräparaten, lediglich durch gesundes Leben geheilt wird.
In der That dürfen wir niemals vergessen, daß der Mangel an Eisen in der Nahrung nicht die einzige Ursache der Bleichsucht bildet. Durch ungeeignete Lebensweise etc. wird vielmehr oft der Körper der Kraft beraubt, das Eisen in der Nahrung zu verarbeiten und in genügendem Maße neues Blut zu bilden. Alsdann gilt es, die Lebensweise zweckmäßig zu verändern, den Kranken den Genuß frischer Luft zu ermöglichen, die Ernährung zu heben und den schwachen Körper zu schonen. Diese Heilmittel sind nicht minder wichtig als das Eisen.
Ein Gedenkblatt von Hans Boesch.
Die Stadt Nürnberg hat für den 5. November dieses Jahres zur Feier des vierhundertjährigen Geburtstages von Hans Sachs ein Fest vorbereitet, bei dem sich die ganze Bürgerschaft vereinen wird im Ausdruck der Freude, daß neben dem größten deutschen Maler der Reformationszeit, Albrecht Dürer, auch der größte deutsche Dichter dieser gewaltigen Epoche deutschen Geisteslebens ein Sohn und Bürger ihrer ruhmreichen Vaterstadt gewesen ist. Und auf allen deutschen Bühnen von künstlerischer Bedeutung wird an diesem Tage durch die festliche Aufführung Hans Sachs’scher Schwänke daran erinnert werden, daß derselbe Hans Sachs der erste hervorragende deutsche Dramatiker von nationalem Charakter war.
Freilich sind diese kleinen, in der Form eckigen und spröden, im sprachlichen Ausdruck veralteten, im ihrem frischen Geist und Humor jedoch noch urlebendigen Scherzspiele auf der heutigen Bühne und im modernen Bildungsleben nur Fremdlinge. Einst, wie die erzählenden Gedichte und die poetischen Flugschriften, mit denen Hans Sachs im Geiste der Reformation wirkte, für die breite Masse des Volkes geschrieben und auch ihrer Verbreitung und Beliebtheit nach von der umfassendsten Volkstümlichkeit, sind sie heute meist nur noch der Gegenstand gelehrter Liebhaberei und historischen Interesses. Und doch ist das Bild des kernhaften Nürnberger Volksdichters, der Werktags mit Pechdraht, Hammer und Pfriem dem ehrsamen Schusterhandwerk oblag, um sich den Sonntag durch treue Pflege der Poesie zum Festtag werden zu lassen, auch heute jedem Deutschem gegenwärtig, der sich für die ideale Seite unserer Geschichte ein Interesse bewahrt hat. Nicht nur durch die Gestaltung, welche die neuere Kunst, vor allem die Schöpfer des Hans Sachs-Denkmals in Nürnberg, Kraußer und Lenz, und Richard Wagner in seiner Bühnenfigur seiner Erscheinung gegeben. Wer auch von Hans Sachs unmiltelbar nichts gelesen haben sollte, Goethes Gedicht „Hans Sachsens poetische Sendung“, das durch Form und Inhalt uns dessen kraftvolle Dichterart verauschaulicht, hat er gelesen. Und die schöne Thatsache, daß die hohe Blütezeit der deutschen Poesie, deren machtvollstes Werk Goethes „Faust“ ist, durch dieses Dichters jugendfrische Begeisterung für die naive Dichtung des Hans Sachs befruchtet wurde, ist für uns eine lebendige Beziehung zu diesem selbst. Das Vorbild für die schlichten Reimzeilen, die im „Faust“ für das Innigste und Erhabenste zum schmiegsamen Gewand wurden, entnahm Goethe unmittelbar den Dramen des Meisters, zu dem er in seinem Gedicht die Muse im Kornährenkranz sagen ließ:
„Ich habe dich auserlesen
Vor vielen in dem Weltwirrwesen,
Daß du sollst haben klare Sinnen
Nichts Ungeschicklichs magst beginnen.
Wenn andre durch einander rennen,
Sollst du’s mit treuem Blick erkennen
Wenn andre bärmlich sich beklagen,
Sollst schwankweis deine Sach’ fürtragen;
Sollst halten über Ehr’ und Recht,
In allem Ding sehn schlicht und schlecht,
Frummkeit und Tugend bieder preisen,
Das Böse mit seinem Namen heißen,
Nichts verlindert und nichts verwitzelt,
Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt;
Sondern die Welt soll vor dir steh’n,
Wie Albrecht Dürer sie hat geseh’n,
Ihr festes Leben und Männlichkeit,
Ihre innere Kraft und Ständigkeit.“
Der Hinweis auf den großen Maler Albrecht Dürer, der, auch aus dem Handwerkerstande hervorgegangen, in der Zeit von Nürnbergs höchster Blüte dort gleichfalls seiner Kunst obgelegen hat und mit dem Sachs die schönsten Züge seines Charakters teilte, darf uns aber nicht zu der Vorstellung verleiten, daß der Aufschwung der bildenden Kunst in Nürnberg, dessen unvergängliche Denkmäler wir in den Meisterwerken von Albrecht Dürer, Adam Krafft, Peter Vischer und Veit Stoß bewundern, ohne weiteres der deutschen Poesie zugute gekommen wäre. Wie die Gedichte und Dramen des Hans Sachs in Bezug auf Kunstvollkommenheit nicht an die Werke dieser bildenden Künstler heranreichen, so hatte sich der Poet keineswegs der gleichen Gunst der Zeitumstände wie sie zu erfreuen. Jene gelangten unter dem Einfluß der Renaissance und des Humanismus zu ihrer Größe – dieser zu der seinen unter dem Einfluß der Reformation. Die unmittelbare Wirkung des Humanismus entfremdete die Poesie in Deutschland der eigenen Sprache und dem eigenen Volkstum und machte sie zum Privilegium der Latein und Griechisch schreibenden Gelehrten, die voll Ueberlegenheit und Verachtung auf das dichterische Treiben der Meistersinger und Schwankdichter ihrer Zeit herabsahen. Auch im Rat der Stadt Nürnberg saßen Patrizier von humanistischer Bildung, denen Dürer reiche Förderung zu danken hatte, von diesen Humanisten aber hat Hans Sachs nie Förderung, vom Rat seiner Vaterstadt nur Maßregelungen erfahren.
Erst die Reformation, welche gleich dem schlichten sächsischen Bergmannssohn, der ihr mächtigster Führer war, aus der Tiefe des Volkes entsprang, machte in Deutschland die Poesie wieder volkstümlich, aber auch nur in den schlichten Formen, welche dem Volke geläufig waren. Unter dem Aufschwung des bürgerlich kritischen Geistes, den sie in jeder Richtung hervorbrachte, wurde die kräftige und deutliche Aeußerung des Gedankens, der Drang nach Wahrheit und Bekenntnis der Wahrheit in so ausschließlicher Weise zur Hauptsache in der Litteratur, die sich nun ans Volk in seiner weitesten Ausdehnung wandte, daß der Kultus der schönen Form darüber vernachlässigt wurde. Als einen solchen, dem besten Kern des Volkes entsprossenen Bekenner des protestantischen Geistes und des von diesem geweckten bürgerlichen Selbstbewußtseins in allen Gewissenssachen muß man Hans Sachs auffassen, um ihm gerecht zu werden. Und seine Bedeutung begreift man erst ganz, wenn man die Bedeutung erwägt, die der Verbreitung dieses Geistes gerade dadurch erwuchs, daß er ihn den schlichten, derben Formen einflößte, in denen damals die Poesie beim Volke beliebt war, daß er die Nutzanwendung der Reformation auf das bürgerliche Leben nicht nur ernst, sondern – wie es oben in Goethes Gedicht heißt – „schwankhaft“ vorzutragen verstand. Die verkünstelten Strophengedichte, die er als „Meistersinger“ zum Vortrag in der Nürnberger Meistersingschule brachte, waren zwar das Werk eines eifrigen Strebens nach Formvollendung, blieben aber in ihrem Wesen und Kern von echter Poesie sehr weit entfernt; als echter lebensfrischer Poet dagegen bewährte er sich zu allermeist in seinen Schwankgedichten und dramatischen Schwänken; sie wandten sich ans Volk und drangen ins Volk; in ihnen bethätigte er sich als der große Volksdichter, als den wir ihn noch heute feiern und lieben.
Am 5. November 1494 ward Hans Sachs als Sohn eines ehrsamen Schneidermeisters in einem bis jetzt noch nicht festgestellten Hause der damaligen Koth-, jetzt Brunnengasse bei der Lorenzkirche geboren. Obgleich für das Handwerk bestimmt, ließ ihn sein Vater vom siebenten bis zum fünfzehnten Jahre die lateinische Schule besuchen, was einen guten Grund für seine spätere Bildung legte. Dann erlernte er die Schuhmacherei. Hans Sachs muß sich in dem erwählten Berufe hervorgethan haben, denn schon nach zwei Jahren, als Siebzehnjähriger, durfte er sich auf die Wanderschaft begeben. Und da sah er sich in unserem deutschen Vaterlande nun recht tüchtig um. In Oesterreich und in Tirol war er, wandte sich dann vom Main aus an den Rhein und besuchte die Kaiserstadt Aachen, zog dann weiter durch Westfalen und Niedersachsen, hatte in Lübeck Gelegenheit, Vergleiche zwischen dieser mächtigen Seehandelsstadt und seiner nicht minder rührigen Vaterstadt im Binnenlande anzustellen, und lenkte über Leipzig und Erfurt seine Schritte der Heimat zu. Von der fünfjährigen Wanderschaft hat der aufgeweckte Jüngling, der regen Geistes und klaren Auges in die Welt schaute, einen reichen Schatz von Kenntnissen und Erfahrungen heimgebracht, von dem er bis in [734] sein hohes Alter zehrte, den er mit zähem Lerneifer durch das Studium der ihm zugänglichen Litteratur unermüdlich zu erweitern suchte und in seinen Dichtungen reichlich verwertet hat.
Gleich anderen Handwerkern machte Sachs nach der Rückkehr von der Wanderschaft sein Meisterstück und nahm sich 1519 in Kunigund Creutzerin ein „Gemahel“. Aber noch eine andere Lebensgefährtin begleitete ihn, nun er als junger Schuhmachermeister sein eigen Heim bezog, die Muse. Sie breitete über den aufblühenden Hausstand Glanz und Segen. Schon bevor er in die Fremde gegangen war, hatte er sich von Lienhart Nunnenbeck in die löbliche Kunst des Meistergesangs einführen lassen, der er auch auf seiner Wanderschaft „mit hertzenlicher Lieb und Gunst“ zugethan blieb. In München half er 1514 die Singschule verwalten und hielt in den Städten, in die er kam – das erste Mal zu Frankfurt a. M. – selbst „Schule“. Aber in der Vaterstadt erst wurde seine Zugehörigkeit zur Zunft der Meistersinger für ihn von einer Bedeutung, die sehr bald weit über deren ursprüngliches Wesen hinausragen sollte.
Thatsächlich war ja die schul- und zunftmäßige Pflege des Meistergesangs in den deutschen Städten des 15. und 16. Jahrhunderts eine Stufe des Verfalls der Poesie. Aeußerlichkeiten, die dem kunstreichen „Singen und Sagen“ der Minnesänger einst angehaftet hatten, wurden von ehrsamen Handwerksmeistern sehr handwerksmäßig nachgeahmt und als das Wesentliche poetischen Schaffens behandelt. Das Gepränge mit Rangstufen und Förmlichkeiten, das sich im Zunftwesen des Mittelalters ausgebildet hatte, war auch auf die zunftmäßigen Vereinigungen der „Liebhaber des deutschen Meistergesangs“ übergegangen. Alle Mitglieder einer „Singeschule“ hießen „Gesellschafter“. Ihre unterste Stufe waren die „Schüler“, die nach bestandener Lehrzeit zu „Schulfreunden“ aufstiegen. In der „Schule“ ging wie in den Zeiten des Minnegesangs das Dichten und die musikalische Komposition Hand in Hand. Man ahmte überlieferte Formen sowohl in dichterischer als in musikalischer Beziehung nach, trug Musterbeispiele vor und strebte danach, ihnen ebenbürtige Melodien (Töne) und Strophen (Gesätze) zu erfinden. Den Stoff boten Legenden und Historien, nach Luthers Bibelübersetzung vor allem biblische Stoffe. Wer die Töne und Gedichte anderer korrekt vortragen konnte, ward Sänger, wer nach den Tönen anderer Lieder zu machen verstand, Dichter, wer selbst Töne zu erfinden vermochte, fand Aufnahme unter den „Meistern“. Das alles unterlag feierlichen und strengen Prüfungen, sie waren neben dem Wettsingen der Meister der Gegenstand in den Zusammenkünften, wenn Schule gehalten wurde. Den Vorsitz hatte dabei das sogenannte „Gemerk“, bestehend aus dem Büchsenmeister (Kassierer), dem Schlüsselmeister (Verwalter), dem Merkmeister und dem Kronmeister, der die Preise verteilte. Mit diesen zusammen in einem verhängbaren Verschlag oder Seitengemach, und zwar neben dem Merkmeister, saßen die Merker, denen im besonderen die Begutachtung der Vorträge oblag, die jeweils von dem Singestuhl, einer Kanzel, herab gehalten wurden. Der Inhalt der Regeln hieß die „Tabulatur“ und die Merker mußten scharf auf die Fehler passen, mit denen der Sänger im Ton oder Text gegen die Tabulatur verstieß; das Ergebnis ihrer Notierungen entschied Sieg oder Niederlage.
In Richard Wagners Oper „Die Meistersinger“ ist die ganze Feierlichkeit ziemlich getreu nachgebildet und die Satire, welche dort die dem Merkertum mit seiner Tabulatur anhaftende Pedanterie trifft, ist nicht weniger berechtigt als das Lob, das dabei der rühmlichen Ausnahmestellung des Hans Sachs gezollt ist. Dessen veredelter Kunstsinn und mächtiges Beispiel brachte die Nürnberger Singschule zu ihrer höchste Blüte. Sie umfaßte damals über zweihundert Gesellschafter, die alle ihrem Beruf nach Handwerker waren. Da der Inhalt der „Schul“-Vorträge vornehmlich religiösen Inhalts war, wurde nach Einführung der Reformation in Nürnberg den Meistersingern eine Kirche zur Verfügung gestellt für ihre Uebungen sowie für ihre Haupt- und Preissingen, die einzigen, welche öffentlich waren. So kam bei Sachs’ Lebzeiten neben dem Schulhaus zu St. Lorenzen das Predigerkloster in den Dienst der „Schule“. Erst später wurde die Marthakirche, dann die Katharinenkirche den Meistersingern überwiesen, in welche Richard Wagner seine Oper verlegt hat und die zu Ehren des Dichters jetzt in einen würdigen Zustand versetzt wird. Denn da sich später die lebendigen Erinnerungen in Bezug auf die Meistersinger vornehmlich an diese knüpften, so blieb bis in die heutige Zeit die Meinung bestehen, daß sie auch zu Hans Sachs’ Zeit die Heimstätte der Meistersingschule gewesen sei. In die Katharinenkirche ist auch auf unserer Abbildung (S. 733), die Hans Sachs auf der Kanzel als Sänger zeigt, die Handlung verlegt. Denn das Tafelgemälde im „Germanischen Museum“, das ihr zur Vorlage gedient hat, stammt aus dem 17. Jahrhundert und ist eine Art Apotheose des Hans Sachs, wobei die Rolle der Merker die legendären Begründer des Meistergesangs, Frauenlob, Regenbogen, Marner (wie statt des vom Maler gebrauchten „Wörner“ richtig zu lesen ist) und Mügling, übernommen haben, die als die „gekrönten Töne“ gleich Schutzheiligen der Schule verehrt wurden. Daher die Kronen auf ihren Häuptern. Im Vordergrunde sehen wir Zuhörer, Männer und Frauen, und in der Mitte zwei Schüler, die der Aufnahmeprüfung harren.
Es war des Hans Sachs Verdienst, daß diese Art Kunstpflege, welcher der beste Kern des Volks ergeben war, noch bevor die Stadt Nürnberg sich offen zur evangelischen Lehre bekannte, hier im Geiste der Reformation ausgeübt ward. Der mächtige Eindruck, den er selbst von Luthers ersten Schriften, von dessen Wesen und Lehre empfing, war es auch, der ihn weiter anregte, die Gedanken, die ihn bewegten, außer in den kunstreichen Strophen des Meistergesangs in volkstümliche Verse zu kleiden und diese, mit kräftigen Holzschnitten verziert, als fliegende Blätter drucken und unter das „gemeine“ Volk zu „gemeinem Nutz“ gehen zu lassen; auch ihn ergriff der Drang, mit seinem Wissen und Können im Sinne der Aufklärung der Geister reformatorisch zu wirken. Aehnlich wie er alte Mären und Schwänke um einer neuen kernigen Moral willen in solche volksmäßige schlichte Reime brachte und diesen in Form solcher fliegenden Blätter, wie wir eines auf Seite 737 abbilden, die weiteste Verbreitung gab, so that er auch, als es galt, sich zu Luther und zur Reformation zu bekennen, mit seinen heiligsten Ueberzeugungen. Das Gedicht „Die Wittenbergisch Nachtigall“, in dem er das Auftreten des Reformators als das Tagen einer neuen besseren Zeit begrüßte, machte ihn dank dieser Form und der sich daraus ergebenden Wirkung zuerst zu einem populären Dichter für ganz Deutschland. Nun wurde sein Dichten [735] auch von seiten des Nürnberger Rats der Beachtung gewürdigt, aber freilich nur in Form einer Maßregelung. Als er 1527 wieder eine poetische Streitschrift zu gunsten des Luthertums hatte ausgehen lassen, ließen ihm die „Ehrbaren“, weil sie fürchteten, daß das aufgeregte Volk noch mehr verbittert werden könnte, bedeuten, daß das Versemachen seines Amtes nicht sei, und befahlen ihm ernstlich, seines Handwerkes und Schuhmachens zu warten und solche Büchlein oder Reime künftig nicht ausgehen zu lassen. Die Mahnung „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ mag Hans Sachs tief verstimmt haben; er ließ sich aber nicht einschüchtern. In den Dichtungen der folgenden Jahre erging er sich vielfältig in Klagen über die Tyrannei der Obrigkeiten, welche die Einführung der reinen Lehre zu verhindern suchten, und es dauerte nicht lange, so ließ er weitere Flugschriften und Blätter im Geiste der evangelischen Lehre in die Lande gehen; meist Gedichte zu drastischen Holzschnitten, die auch für die nicht des Lesens Kundigen eine sehr beredte Sprache führten. Inzwischen war auch Nürnberg offiziell zum Protestantismus übergetreten. Besondere Beliebtheit gewannen die Einblattdrucke, große Bogen festen Papiers, die nur auf einer Seite mit Bild und Gedicht bedruckt wurden und bestimmt waren, im Hause des Bauern und Handwerkers als Zimmerschmuck verwandt zu werden. Viele dieser Einblattdrucke trugen als Unterschrift nur die drei Buchstaben H. S. S., was so viel hieß wie „Hans Sachs Schuhmacher“; auch dafür ist unsere verkleinerte Abbildung auf S. 737 mit dem weltlichen Text eine Probe.
In allen seinen Streitschriften wie in seinen Werken überhaupt, hat Sachs immer den richtigen, das Volk packenden Ton getroffen; er hat sich dabei von aller Gehässigkeit frei gehalten, sich ruhig und mild erzeigt und sich trotz seiner große Schlagfertigkeit durch besonnenes Maßhalten ausgezeichnet. An derben Worten, von denen uns manches unpassend erscheint, fehlt es auch bei ihm nicht; aber diese waren durch das Wesen der Zeit bedingt, die keinen Glacéchandschuh kannte und ungeniert das Kind beim richtigen Namen nannte. Von Gemeinheiten und Unflätigkeiten, wie sie in den Schwänken seiner Vorgänger und Rivalen mit unterliefen, von der Freude daran, hat sich Hans Sachs immer frei gehalten.
Mit der innigen Religiosität vereinigen sich bei Hans Sachs die sittlichen Grundsätze zu einem schönen Bunde. Wie in Beziehung auf Luther, so ward er auch im übrigen ein getreuer Eckhart der deutschen Nation, die er zu allen Tugenden aneiferte, vor Lastern warnte. In keiner seiner Dichtungen fehlt die Nutzanwendung, die treuherzige, oft etwas hausbackene, aber durch und durch gesunde Moral, immer und überall giebt er gute Lehren, ist er bestrebt, den „gemeinen Mann“, dessen große Unwissenheit er tief bedauert, auf den richtigen Weg zu leiten, belehrend, bildend und veredelnd zu wirken. Er preist in warmen Tönen die eheliche Liebe und warnt vor „abenteuernder“, die er ein „verfluchtes Kraut“ nennt. Er fordert zur Freundschaft, Nächstenliebe, Versöhnlichkeit und Friedfertigkeit, zur Gewissenhaftigkeit, Ehrbarkeit, zur Mäßigkeit und Sparsamkeit auf, preist das Glück der Zufriedenheit und ist überhaupt unerschöpflich an guten, die höchsten Tugenden preisenden Lehren. Anderseits beklagt er, daß die Wahrheit verschwunden, die Lüge sich allerwärts breit mache, Frau Treue gestorben sei. Er geißelt Neid und Verleumdung, Falschheit und Treulosigkeit, Zweizüngigkeit, lügnerische Prahlerei und Selbstüberschätzung, Völlerei und Prasserei. Ganz besonders verhaßt ist ihm Müssiggang und Faulheit. Der Satz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" ist ihm, dem rastlos thätigen Manne, in Fleisch und Blut übergegangen, faule Menschen sind ihm ein Greuel.
Mit aufrichtiger Liebe hing er an seiner Vaterstadt, der er ein großes „Lobgedicht“ widmete, in dem auch ihre „sinnreichen Handwerker“ gepriesen sind –
„Dergleich man find in keinen Reichen
Die ihrer Arbeit thun geleichen,
Als da man köstlich Werk gezeiget.
Wer dann zu Künsten ist geneiget
Der find allda den rechten Kern!“
Sein Herz gehörte seinem Vaterlande. Mit Schmerz empfand er die Uneinigkeit und den Mangel an Gemeinsinn im Deutschen Reiche. Eindringlich fordert er zur Einigkeit auf und ruft den Fürsten zu:
„Derhalb wacht auf, ihr deutschen Fürsten!
Laßt euch nach Treu und Ehren dürsten
Und streit mit ritterlicher Hand
Für euer aigen Vaterland!
Einmütiglich halt ob einander
Eh euch der Tyrann nach einander
Durch seinen Gewalt thu ausreuten
Das ganz deutsch Land einnehm und erb
All euer armes Volk verderb.“
Er fordert die Fürsten (1562) auf, sich die Opferwilligkeit jenes Römers, der sich, um sein Vaterland zu retten, in einen Erdschlund gestürzt, zum Beispiel zu nehmen:
„Wollt Gott, daß alle deutschen Fürsten
Auch so herzentreulich wären dürsten
Zu thun so treulichen Beistand
Auch ihrem lieben Vaterland;
Beide mit Ehren und mit Gut,
Mit Leib und Leben bis aufs Blut.“
Er sehnt einen Hercules herbei,
„Der sich seines Vaterlands annehm
Und säubert alle Straßen frei
. . . . . . . . . . . . . .
Ein solcher Held wär Ehren wert.“
Die „Unterthanen“ aber fordert er auf, die Obrigkeiten „weils Schutz und Wohlfahrt von ihn (ihnen) han“, zu ehren, Aufruhr und Empörung zu meiden und dem „gemeinen Wesen“ Nutzen zu bringen.
Trotz aller seiner Moralpredigten ward Sachs kein Kopfhänger. Seine frische Lebensauffassung, der eine tüchtige Portion Mutterwitz zur Verfügung stand, sein heiteres Gemüt, das Freude an einem Scherze hatte und sich gern harmloser Fröhlichkeit hingab, blieben ihm treu bis ins Alter. Nicht die schlechtesten seiner Gedichte sollten erheiternd, andere tröstend und erhebend wirken. Wie bei den religiösen Streitgedichten war es auch bei den übrigen sein Bestreben, niemand zu kränken; er dichtete
„Niemand zu Leid oder Undank
Sondern zu einem fröhlichen Schwank.“
Das war im besonderen auch sein Wahlspruch als Dichter der Fastnachtsschwänke, deren naive knorrige Form er vorfand, aber aufnahm, um sie mit dramatischem Leben zu füllen, durch einen guten sittlichen Kern zu veredeln. Wenn wir uns den Charakter des Singschulwesens der Meistersinger, dessen ehrbaren Ernst, vergegenwärtigen, so erscheint es befremdlich, daß dieselben Männer auch die Aufführung dieser Scherzspiele als Angelegenheit ihres Verbandes betrieben. Aber wie sie auch in der übrigen Zeit neben der „Schule“ die „Zech“ abhielten, d. h. Kneipabende, die zwar nach einem festen Ceremoniell verliefen, aber doch auch dem geselligen weltlichen Lied und fröhlicher Unterhaltung geweiht waren, so ward von ihnen das Narrenrecht und die Narrenfreiheit, welche die Fastnacht als kurze Unterbrechung des ehrbaren Lebens unter Zunftzwang und Zunftwürde gewährte, als eine Verpflichtung empfunden, in möglichst sinnreicher, aber auch echt volkstümlicher Weise ihren Mitbürgern Proben ihrer Verskunst zu bieten. Hans Sachs war als gereifter Mann lange Jahre hindurch nicht nur der Hauptdichter, sondern auch Mitspielender, vor allem aber der Direktor dieser theatralischen Veranstaltungen in Nürnberg. Die Bühne für diese war von einfachster Art, oft nur eine Estrade in einem größeren Gasthofszimmer; bei Aufführungen im Freien ein erhöhtes Podium (die Brücke) mit einem Verschlag für etwa notwendigen Kostümwechsel. Außer dem Predigerkloster und der [736] Marthakirche waren die ansehnlichen Wirtshäuser, in denen auch die „Zechen“ der Singschule stattfanden, insbesondere der „Heilsbrunner Hof“, als Schaustätten bevorzugt. Bei der wachsenden Beliebtheit der Sachs’schen Stücke entstand dann das Bedürfnis nach größeren Schauplätzen. Es ward Sitte, die großen Höfe dieser Gasthäuser dafür zu benutzen, wo die bedeckten Galerien an deren Rückseiten vortreffliche Plätze für die Zuschauer boten. Besonders der Hof des bereits genannten Gasthauses, des Heilsbrunner Hofs, erfreute sich großer Gunst. Ein alter Kupferstich, der uns eine Ansicht desselben bei besetzten Galerien übermittelt, hat einem unserer künstlerischen Mitarbeiter die Grundlage geboten für eine Darstellung des frohen Treibens und der drastischen Spielweise, wie sie sich dort zur fröhlichen Fastnacht während der Aufführung eines Schwanks von Hans Sachs im Publikum und auf der Bühne geltend gemacht haben. Man spielt gerade eines der hervorragendsten geistvollsten Fastnachtsspiele, die uns der Dichter hinterlassen hat: das Spiel von der „Frau Wahrheit, die niemand herbergen will“. Ein armes Weib sucht Schutz bei Bauersleuten, die auch arm sind. Sie erzählt, wie sie überall vergeblich, bei Fürsten, Priestern, Richtern, Kaufleuten, Bauern, Unterkunft gesucht, aber keine gefunden habe. Sie wird von den armen Leuten freundlich aufgenommen. Es ist die Wahrheit. Als sie aber nunmehr ihr Wesen enthüllt, d. h. ihren Wirten die Wahrheit sagt, werden auch diese sehr bald gegen sie aufsässig und jagen sie mit derben Grobheiten und Schimpfreden davon.
Die Stoffe zu seinen Dichtungen entnahm Sachs übrigens nicht nur dem täglichen Leben, der Bibel und seinen Erlebnissen, er war auch in der Geschichte des Altertums und den klassischen Dichterm wohl bewandert, kannte die deutsche Heldensage und war im Alter wohl überhaupt einer der belesensten Menschen seiner Zeit. –
Die äußeren Lebensumstände des Dichters waren von Gott gesegnet. Als 1561 seine erste Frau von dieser Welt abberufen wurde, fand der hohe Sechziger in der schönen gutherzigen Jungfrau Barbara Harscherin eine zweite liebevolle Hausfrau, die sein Alter verschönte und deren Lob er mit jugendfrischer Begeisterung sang. Er überlebte auch diese. Gewohnt hat er als selbständiger Bürger nacheinander in drei Häusern, die ihm zu eigen gehörten. Zuletzt, seit 1542, lebte er nach einer Darlegung, die wir in Mummenhoffs reich illustrierter Festschrift finden, in dem Hause „sant Sebalds Pfarr an der Spitalgassen vornen im Eingang gegen Mittentag“ „und hinten am Kappenzipfel stoßend.“ Unsere Abbildung desselben nach einer Radierung aus dem Jahre 1832, in welcher Zeit es noch das Gasthaus zum güldenen Bären war, zeigt seine äußere Erscheinung noch wenig verändert. Jetzt trägt es eine Gedenktafel und die Gasse führt den Namen des Dichters.
Im Jahre 1554 war er des Dichtens müde geworden und wollte seine Thätigkeit beschließen: da erschienen ihm im Traume die neun Musen, und Melpomene wies auf die himmlische Gabe hin, die sie ihm verliehen:
„Deshalb bistu aufs Mindst
Dieweil du lebst in unserm Dienst
Verbunden und verpflicht.“
Und er dichtete in seltener Regsamkeit bis an sein seliges Ende. Am 19. Januar 1576 beschloß Hans Sachs, „der weitberühmt Dichter“, sein arbeitsvolles fruchtbares Leben, tief betrauert von dem Volke, auf das nach Luther keiner einen solch gewaltigen Einfluß ausgeübt hatte wie er. Die Liebe und Verehrung des Volkes waren wohl die einzige Anerkennung, die Hans Sachs für sein Wirken gefunden. Die Gleichgültigkeit des Rats und der Honoratioren seiner Vaterstadt wird er mit philosophischem Gleichmut getragen haben; wenn Albrecht Dürer aus Venedig schreiben konnte: „Hie bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer,“ so darf dieses Uebersehen dem Schuhmacher gegenüber noch weniger auffallen.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ward des Dichters noch ziemlich lebhaft gedacht; die Jämmerlichkeit des Dreißigjährigen Krieges, die allenthalben sich breit machende Verwelschung aber brachte Hans Sachs bald in Vergessenheit. Die mit französischen und italienischen Brocken übersättigten Dichter vermochten den urdeutschen Geist dieser Dichtungen nicht mehr zu verstehen – sie hatten nur Spott für Hans Sachs. Der abgeschmackteste aller Verse, von dem „Schuh–Macher und Poet dazu“, stammt aus dieser traurigen Epoche. Noch im 18. Jahrhundert ward Sachs so verkannt, daß der sittlich strenge, aller Völlerei abholde Dichter von einem englischen Künstler als „lustiger Niederländer“, seine Frau als eine ausgelassene Grete dargestellt wurde.
Da brachte Goethe unseren Dichter wieder zu Ehren. Gerade 200 Jahre nach dem Tode von Hans Sachs schrieb Wieland an Lavater, um ihm das Erscheinen von Goethes „Erklärung eines alten Holzschnittes vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung“ anzukündigen: „Haben Sie schon gewußt, daß Hans Sachs würklich und wahrhaftig ein Dichter von der ersten Größe ist? Ich weiß es erst seit 6 bis 8 Wochen. Wir beugen uns alle vor seinem Genius, Goethe, Lenz und ich. O die Teutschen, die stumpfen, kalten, trägherzigen Teutschen! … Doch noch wollen wir sie nicht schimpfen; den meisten ist’s mit Hans Sachsen wohl wie mir gegangen – sie haben ihn nie gekannt, nie gelesen, nie gesehen. Aber Wahrheit muß doch endlich durchbrechen; in weniger als 4 Monaten a dato soll keine Seele, die Gefühl und Sinn für Natur und Empfänglichkeit für den Zauber des Dichtergeists hat, in Teutschland seyn, die Hans Sachsens Nahmen nicht mit Ehrfurcht und Liebe aussprechen soll.“
Und dank diesem gewaltigen Fürsprecher sieht man seit dieser Zeit in Hans Sachs nicht mehr den Schuster, der auch Reime schmiedete, sondern den gottbegnadeten Dichter, den liederreichen Sprossen des thatkräftigen deutschen Bürgertums, der den größten Einfluß auf sein Volk nur in allerbestem Sinne ausübte und immer größer und liebenswerter wird, je näher man ihn kennenlernt.
Die Vaterstadt des Hans Sachs erfüllt daher nur eine Ehrenpflicht, wenn sie im Begriff steht, die vierhundertste Wiederkehr des Geburtstages ihres große Sohnes, „des größten deutschen Dichters jener ganzen Epoche“, „eines der fruchtbarsten überhaupt, unter dessen heiteren Stücken nicht wenige zu dem Gelungensten gehören, was die deutsche Poesie in dieser Art aufzuweisen hat“ (Koberstein), des Dichters, „dessen Poesie eine humanistische Volkslehre ist“, der „ein Reformator in der Poesie so gut wie Luther in der Religion, wie Hutten in der Politik ist“ (Gervinus), dessen „Poesie zur Ehre Gottes, zum Nutzen des Nächsten, zu Lob und Preis der Tugend und zum Troste trauriger Herzen“ (Gödeke) dienen soll – festlich zu begehen. Der Mann verdient es, daß das ganze deutsche Volk, das ganze Bürgertum an dieser Feier teilnimmt.
[737]
Vor Jaren wont in einem Wald |
In dem begegnet jhn ein Pawer H. S. S. |
Verkleinerte Nachbildung.
[738] Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Sklaven.
(3. Fortsetzung.)
Afra stand wie eine versteinerte Niobe auf dem sonnüberstrahlten Parkweg. Alles rings um sie her war so unheimlich still geworden. Der Wind selbst in den Zweigen der hundertjährigen Ahornbäume klang wie gedämpft. Was hier geschehen war, schien die Unmöglichkeit selbst, und doch sah sie es greifbar vor Augen: Geticus, der wahnwitzige Mörder, tot auf dem Kies, das Gesicht grausig entstellt, die Fäuste geballt, die Stirne von Blut überströmt und dort, den matt hingesunkenen Kopf wider die Bank geschmiegt, schwer atmend, der unglückliche Menenius!
Menenius atmete noch. Und jetzt zuckte er mit der Schulter und bewegte den linken Arm und schien sich aufrichten zu wollen.
Diese Wahrnehmung brachte das junge Mädchen sofort zur Besinnung. Wie ein Wirbelwind flog sie an Lucius Menenius vorüber und schrie in den Xystus hinein, daß die Kolonnen von ihrem Angstrufe widerhallten.
Der Erste, der auf sie zukam, war Nonus Quintilius, der alte Klient. Ihm folgte Ninus, dessen Hilfe ja hier am nötigsten war, und die eben zum Ausgang gerüstete schleifengeschmückte Coronis nebst einigen Kammersklaven. Der Worte unfähig, geleitete Afra die tödlich Erschreckten nach dem Schauplatz der unheimlichen That.
„Geticus . . .“ brachte sie endlich über die Lippen. „Er überfiel ihn . . . der Bube!“
Nun kniete sie neben Lucius Menenius nieder und schluchzte, die Hände ringend. „Ach, mein geliebter Herr! Sprich nur ein Wort! Ein einziges Wort nur, das uns verrät, ob Du noch bei Bewußtsein bist!“
„Gutes Kind!“ hauchte Menenius.
Von allen Seiten strömten die Unfreien jetzt in den Park. Zu Dutzenden umstanden sie, Statuen gleich, den Verwundeten. Geticus, ihr Mitsklave, war der Mörder! „Weh uns, wir alle werden die Missethat büßen!“ Diese Empfindung prägte sich unverkennbar auf den ratlos verstörten Gesichtern aus. Hier und da indes malte sich deutlicher noch das herzinnigste Mitleid. Welch eine Laune des Schicksals! Ein so gütiger und gerechter Herr ward hier vom Lose jener Tyrannen ereilt, die ihre Sklaven wie Tiere behandelten! Er, der Beste, Edelste und Vollkommenste! Er, der treusorgende Vater auch für den Geringsten!
Manch eine drohende Faust hob sich voll Wut gegen den toten Geticus, dessen Frevel so unverständlich, so gegen alle Natur schien.
Einzelne maßen mit unsicheren Blicken den Park, als dächten sie, sich dem drohenden Unheil durch die Flucht zu entziehen. Aber wie aussichtslos war die Flucht eines Sklaven in dieser tausendfach überwachten Weltstadt, wo jeder Freigeborene ein Interesse daran besaß, daß man des Flüchtlings sofort habhaft wurde; wo es neben den zahllosen Polizeisoldaten noch Privatunternehmer gab, die aus dem Einfangen der Entflohenen ein hoch bezahltes Gewerbe machten! Und das alles kam ja so plötzlich! Die Ungeheuerlichkeit des Vorfalls wirkte so lähmend! Kurz, sie verharrten alle wie regungslos, bis auf zwei blutjunge Griechen, die sich am Leichnam des Geticus langsam vorbeischlichen, im Strauchwerk verschwanden und dann, von rasender Angst gehetzt, die Mauer des Parks überkletterten, wo sie alsbald von einigen Schergen des Stadtpräfekten, die eben des Wegs kamen und bei dem Anblick dieser verhetzten Gesichter Verdacht schöpften, angehalten, zur Rede gestellt und verhaftet wurden.
Während der Leibarzt die knieende Afra langsam hinwegschob und mit Hilfe des Heliodorus und des Proviantmeisters den Verwundeten nach dem Schlafgemach trug, hatte sich Nonus Quintilius, der Vermögensverwalter des Hausherrn, hastig entfernt. „Ich gehe den Cajus holen!“ sprach er mit dumpf bebender Stimme.
Diese Absicht jedoch beschäftigte sein erregtes Gemüt erst in zweiter Linie. Wichtigeres für die Interessen des Staates und der Gesellschaft, Bedeutsameres schwebte ihm vor. Er, als ein Freigeborener, hatte von dem Gesetz, das so bedrohlich über den Häuptern der Sklaven schwebte, nichts zu befürchten. Um so mehr lag ihm die Sühnung dieser unglaublichen Missethat und die Bestrafung derer am Herzen, die sich vielleicht mit Geticus heimlich verschworen hatten, jedenfalls aber der gröbsten Versäumnis gegen die Hauptpflicht der Unfreien schuldig waren. Diese Hauptpflicht bestand darin, das ruchlose Vorhaben ihres Mitsklaven rechtzeitig zu entdecken und die That zu vereiteln. Von der Anschauung, diese Vereitlung sei bei redlichem Wollen jederzeit möglich, ging ja die Gesetzgebung aus, wenn sie die Gesamtheit der Sklaven für das Verbrechen des Einzelnen mit so barbarischer Härte verantwortlich machte. Afra zumal schien dem Klienten durchaus nicht so unbeteiligt. Wer, beim Herkules, konnte denn wissen, ob nicht ihre Verzweiflung elende Schauspielerei war? Nonus Quintilius, ein ehrlicher aber beschränkter Mensch, hatte gegen das Mädchen ein Vorurteil. Afra, im Uebermut ihrer Jugend, war unvorsichtig genug gewesen, den wackeren Vermögensverwalter manchmal zu hänseln, besonders seitdem sie wahrgenommen, daß er ihr ab und zu einen zärtliche Blick zuwarf. Der Klient verschmerzte das nicht. Auch für den Leibarzt hegte er keinerlei Sympathie. Als eingefleischter Latiner, der seine Ahnen bis in die Zeit des ersten punischen Krieges zurückführte, konnte sich Nonus Quintilius nicht mit dem Umstand befreunden, daß hier ein Grieche – dazu noch ein Mann aus Kleinasien – so plötzlich ins Haus geschneit kam und sich alsbald in der Gunst des Menenius den vornehmsten Rang sicherte. Auch hielt der Klient sich insgeheim überzeugt, der Leibarzt sei ein durchtriebener Ränkeschmied, der mit den Isispriestern und Mathematikern am nämlichen Seil ziehe. Die Vorgänge heute morgen im Atrium, das unverhoffte Erscheinen des Isispriesters, sein kurzes Zwiegespräch mit Menenius, die eigentümliche Art, wie sich Selencius mit Cajus benahm – alles das war dem Klienten Beweis für die Richtigkeit seiner Vermutung. Einem Asiaten jedoch, der gegen den eigenen Herrn intrigierte, war das Verwerflichste zuzutrauen, selbst eine Blutthat. Geticus spielte vielleicht nur die Rolle des Werkzeugs. Diese Verschwörung mit all ihren Einzelheiten mußte enthüllt werden! Und dann freie Bahn für den zermalmenden Gang des Gesetzes!
So hatte sich Nonus Quintilius denn aufgemacht, um die Soldaten der Stadtwache zu holen. Das Haus sollte umzingelt, sämtliche Sklaven in Haft genommen, der Folter unterworfen und schließlich dem schmählichen Tod überantwortet werden. So heischte es die Gerechtigkeit und die staatserhaltende Klugheit; Nonus Quintilius wollte sich nicht bis ans Lebensende den Vorwurf machen, etwas versäumt zu haben, was für die Sicherheit der Gesellschaft und ihrer Ordnung notwendig schien.
Zweihundert Schritte nur von dem Hause des Lucius Menenius befand sich ein Standplatz der Sänftenträger, die hier für wenige Silberstücke zu mieten waren. Nonus Quintilius wählte sich rasch ein leichtgezimmertes Langbett, das vier stämmige Aethiopier auf die lederbekleideten Schultern nahmen.
„Lauft! Rennt! Fliegt!“ rief er den Leuten zu. „Ich zahle Euch dreifach!“ Die krauslockigen Schwarzen sprengten dahin wie jagende Hirschhunde. Nach sechs Minuten waren sie schon am Ziel. Nonus Quintilius setzte den Polizeikommandanten des Viertels mit hastig hervorgestoßenen Worten von dem Verbrechen in Kenntnis. Die nötigen Maßnahmen wurden alsbald angeordnet. Quintilius hatte nachdrücklich betont, daß hier Gefahr im Verzug sei.
Hierauf ließ der Klient sich mit der gleichen Geschwindigkeit nach dem Vicus Adoricus tragen, wo Cajus Menenius ahnungslos bei dem Quästor Camillus zu Tisch lag. Mitten aus dem vergnüglichen Uebermute des Mahles heraus rief er den Sohn an das Schmerzenslager, vielleicht an das Sterbebett seines Vaters.
Es war ein erschütternder Augenblick, als Cajus, im faltigen Umwurf, das Haupt noch mit Rosen bekränzt, von persischer Koston-Salbe und griechischem Wein duftend, zu Nonus Quintilius ins Ostium trat und hier die furchtbare Botschaft vernahm. Kein Wort brachte er über die Lippen; Totenblässe umflorte sein marmorstarres Gesicht. Die Hand griff mit der Unsicherheit eines Gelähmten nach dem Blumengewinde und zog es langsam aus dem Gelock herab. Das war nun zu Ende für ewig! Ach, und nie, nie würde der Sohn sich verzeihen, daß er geschwelgt und gejubelt hatte, während sein Vater unter dem Dolche des Mörders dahinsank! Dies alles lag in der einen trost- und hoffnungslosen Gebärde.
[739] „Fasse Dich, Cajus!“ stammelte Nonus Quintilius. „Noch ist ja vielleicht Rettung möglich! Sollten aber die Götter es anders beschließen, so stärke Dich im Gedanken, daß Du ihm allzeit ein guter Sohn gewesen, treu und ehrlich und eines so glorreichen Vaters würdig!“
Ninus, der Leibarzt, hatte sich unterdes, ohne des Schicksals zu denken, das ihm als einem unfreien Hausgenossen des Ueberfallenen ebenso unabweislich bevorstand wie dem geringsten der Untersklaven, eifrig um Lucius Menenius bemüht, ihm einen kühlenden Trunk bereitet und ihn mit schonendster Vorsicht dann untersucht. Die Wunde war höchst gefährlich. Ninus trug ernste Bedenken, die Waffe herauszuziehen, ehe Cajus zur Stelle war; denn die Wahrscheinlichkeit einer sofortigen inneren Verblutung lag außerordentlich nahe. Eine Zeitlang schien Lucius Menenius besinnungslos. Dann schlug er, schwer seufzend, die Augen auf und drückte dem Ninus, der sich gerade über ihn beugte, kaum bemerkbar die Hand.
„Er lebt!“ jubelte Afra.
„Dank, Ihr Getreuen!“ hauchte Menenius. „Ich lebe . . . gerade noch lange genug . . . um Euch ein Wort des Abschieds zu sagen . . . Nochmals, ich danke Euch . . . Allmächtiger Jupiter – was that ich dem Geticus, daß er . . . Arme Plotina! Ach, und mein Töchterchen! Und Cajus, Cajus!“
„Gieb nicht die Hoffnung auf!“ sagte der Leibarzt mit erkünstelter Gleichmütigkeit. „Dein Sohn Cajus wird im Augenblick hier sein. Liege nur ruhig, Herr! Ganz still! Rege auch keinen Finger! Wenn uns die Götter beistehen . . .“
„Nicht doch!“ seufzte Menenius. „Ich fühl’ es . . . der Tod. Keine Stunde mehr, Ninus . . . O, dieser Knabe! Der Gottlose! Euch alle ... stürzt er ins Elend. Wenn ich nur ahnte, weshalb!“
„Herr,“ wimmerte Afra, „wenn Du es hören willst: ich, ich trage die Schuld daran.“
„Du?“
„Ja, Herr, und so sterb’ ich mit Freuden.“
Kurz und in fliegender Hast erzählte sie nun, was Geticus ihr gedroht und in welcher unglaublichen Absicht er die Unthat vollführt hatte. Lucius Menenius schloß wieder die Augen. „Der Unglückselige!“ raunte er durch die Zähne. „Seine Vernunft war umnachtet ...“
Es entstand eine lange Pause. Dann beugte sich Afra dicht an das Ohr des Verwundeten und flüsterte bebend:
„Herr, gedenke des Ninus! Ich bitte ja nicht für mich, Herr! Ich war die heimliche Ursache dieser That und will gerne als Opfer bluten. Ach, wenn nur er dem furchtbaren Schicksal entgeht! Gnade, Herr, für den Mann, der Plotina gerettet hat und auch Dich retten wird, wenn ihm die Götter die Kraft verleihen! O, das grauenhafte Gesetz! Vielleicht, vielleicht wird ihn der Kaiser begnadigen, wenn Du ein Wort hier in die Tafel schreibst!“ Sie hatte dem Ninus mit zitterndem Griff die Tabellä aus dem Gewandbausch genommen und hielt sie nun flehentlich dem Verwundeten hin. Ninus aber zog die Geliebte zurück. „Nicht jetzt,“ sagte er halblaut. „Hier handelt es sich zunächst um das Wohl des Menenius, nicht um das meine!“
„Es wäre auch fruchtlos,“ stöhnte Menenius. „Kein Cäsar begnadigt, wo ein Sklave die Hand wider den Herrn erhob. Weh’ mir, daß ich so in Verzweiflung dahinfahre . . . und verflucht bin ... sterbend ... ich ... ich ...“
Da erscholl vom Atrium her Waffengerassel. Die Stadtsoldaten!
Afra warf sich mit einem ächzenden Aufschrei in die Arme des Ninus und legte den Kopf schauernd an seine Brust.
„Armes Kind!“ flüsterte Ninus und strich ihr liebevoll über das quellende Blondhaar. „Wie Du erzitterst! Freilich, Du bist noch so jung! Aber was grämst Du Dich? Deine Seele ist rein, Dein Gemüt ohne Makel, Du hast vom Totenrichter nichts zu befürchten. Stirb mutvoll, teure Afra! Daß wir auf Erden Hand in Hand giugen, hat nicht sein sollen. Weine Du nicht! Jenseit des Todes giebt es ein Land der Freiheit, wo wir uns wiedersehen!“
Er küßte sie heiß auf die zuckenden Lippen.
In diesem Augenblick fuhr Lucius Menenius, der Wunde uneingedenk, heftig auf. Erschreckt schob ihm der Leibarzt den Arm unter den Rücken, um ihn sanft wieder zurück zu betten.
„Nein!“ rief Menenius mit einer Stimme, die kräftiger klang als bisher. „Ich rette Euch ... Euch und die andern. Horch ... sie kommen, Euch abzuführen ... Reich’ mir die Hand, Ninus! Afra, bete zu den Unsterblichen, daß sie mir noch so viel Atem gönnen, bis ich gesprochen habe.“
Das Mädchen sank in die Knie. Schluchzend stammelte sie zusammenhangslose Worte, den wirren Ausdruck ihrer unsäglichen Angst.
Gelles Jammergeheul tobte jetzt grauenerregend durch alle Räume des Hauses. Die Sklaven und die Sklavinnen, wo man sie fand, wurden von den Soldaten der Stadtkohorte gefesselt und in der Mitte des Atriums wie eine Tierherde zusammengetrieben.
„Ruft mir den Anführer!“ sagte Menenius. Sein bleiches Gesicht hatte sich machtvoll belebt. Es war wie das letzte Aufflackern eines Holzstoßes, eh’ er in Asche sinkt.
Afra sprang auf. An der Schwelle jedoch prallte sie wider den blutlosen Cajus, der mit verglastem Blicke hereintrat und einer Bildsäule gleich am Fußende des Lagers stehen blieb. Hinter dem Jüngling erschien ein Centurio mit zwei Bewaffneten. Ehrfürchtig kam der Stadtoffizier näher.
„Hochedler Menenius,“ sprach er mit sorglich gedämpfter Stimme und neigte sein Haupt, „ich komme im Namen des Kaisers und des Gesetzes! Bist Du imstande, auf einige Fragen Auskunft zu geben?“
„Ja,“ versetzte Menenius, „und zwar eine Auskunft, die jede Erörterung unnötig macht. Du hast Dich umsonst bemüht, wackerer Centurio! Wer hat Euch hergerufen?“
„Dein Klient Nonus Quintilius.“
„Ich danke ihm für den rühmlichen Eifer, aber der Mann irrt. Ein Verbrechen, wie es Quintilius vermutet, liegt keineswegs vor, sondern ein Unglück, ein Zufall, ein Mißverständnis. Cajus, mein Sohn, tritt heran! Höre mich – und sorge dafür, daß hier kein Unrecht geschieht! Der Irrwahn des Nonus Quintilius würde mein Andenken schmählich entweiht und mir die Ruhe im Grabe geraubt haben! Centurio der Stadtwache! Wie Du siehst, hab’ ich nicht lange mehr bis zu dem Augenblick, der mich von dannen ruft. Um so weniger wirst Du bezweifeln, daß ich die Wahrheit rede. Hör’ und bewahre das Wort eines Sterbenden! Ich schwöre hier bei dem allwissenden Jupiter, dem ich zeitlebens in Treue gedient habe, der Dolchstoß des verblendeten Geticus galt nicht mir, sondern dem Leibarzt!“
Lautlose Stille folgte auf diese Eröffnung. Afra, die Hände gefaltet, regte unmerklich die Lippen. Unter den thränenumflorten Wimpern hervor richtete Ninus einen nur für Menenius erkennbaren Blick unendlicher hingebungsvollster Dankbarkeit auf das Angesicht seines Retters.
„Ja,“ fuhr Lucius Menenius fort und raffte noch einmal die sinkende Kraft zusammen, „wahrlich, so ist’s! Ninus und Afra lieben sich . . . Geticus war tollwütig aus verzehrender Eifersucht ... er wollte dem Ninus ein Leids thun.... Hörst Du, Centurio? Dem Leibarzt Ninus! Das Gesetz also greift hier nicht Platz! Nimm nur den Schuldlosen schleunigst die Fesseln ab! Unter den Leuten des Lucius Menenius findet sich kein Verräter! Cajus, mein Sohn . . . in Deine Obhut befehle ich Deine Mutter und Deine Schwester . . . und all die Genossen des Hauses! Schirme und schütze sie! Euch aber, Dir, Ninus, und Dir, meine Afra schenk’ ich die Freiheit . . . und mein albanisches Landgut. Cajus, Du wirst diesen letzten Willen des sterbenben Vaters . . . ehrlich vollstrecken! Das gelobe mir in die Hand!“
„Ich gelob’ es Dir!“ schluchzte Cajus verzweiflungsvoll.
„Weine nicht, Cajus! Sieh’, wer weiß, wozu das alles Dir gut ist. ... Wenn Dich der vorzeitige Tod Deines Vaters zum Manne schmiedet, dann . . . hat das Wort vielleicht doch einen Sinn . . . das Wort . . . von dem ,Besten‘. . . . Sei ein getreuer Sohn . . . ein milder gerechter Herr gegen die Deinen . . . und ein tüchtiger Staatsbürger . . .“
„Vater, Vater, mein letzter Blutstropfen soll in Zukunft der Pflicht gehören . . .“
Das Antlitz des Jünglings flammte bei allem Schmerz heilig und wie in wundersamer Verklärung auf. Es hatte sich auf dem Grund dieser tief erschütterten Seele eine Wandlung vollzogen für immer; sie war erstarkt in dem männlich festen Entschluß, dem Vorbild nachzueifern, das so herrlich und rein vor ihr her geleuchtet und das jetzt erlöschen sollte für immer.
„Geh’, Centurio, und laß die Gefangenen los!“ flüsterte Lucius Menenius. „Schnell, damit sie noch aufatmen, ehe ich dahinscheide ...“
[740] Der Centurio wollte noch an den Sterbenden eine Frage richten. Lucius Menenius aber winkte ihm ab. Er war zu hinfällig, um weitere Auskunft zu geben. Die Hauptsache stand ja nun über jeden Zweifel erhaben: auf das Einzelne kam es nicht an. Der Polizeioffzier entfernte sich schweigend. Als dann fünfzehn Minuten später Lucius Menenius mit einem klagenden Seufzer hinsank und seinen Atem verhauchte, trug keiner von seinen Sklaven mehr Fesseln, sondern mit freien Händen und mit freien Gemütern vereinigten sich alle im frommen Gebet für den Abgeschiedenen.
Cajus aber vollzog den letzten Willen des teuern Vaters mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit und erfüllte auch sonst die Hoffnungen, die Lucius Menenius auf eine gedeihliche Zukunft gesetzt hatte. Er kehrte seinem bisherigen Treiben den Rücken, vermählte sich noch im folgenden Jahr mit der jüngeren Paulina und ward ein mustergültiger Hausvater, Beamter und Patriot. Im Senate griff Cajus die Traditionen des verewigten Lucius auf und machte sich so zum Haupturheber jener Gesetze, die dem Uebermut der „Chaldäer und Mathematiker“ Einhalt geboten.
Ninus und Afra verblieben nach wie vor im Verband der Menenischen Häuslichkeit – ein glückliches und Glück verbreitendes Paar. Ninus aber konnte es nicht übers Herz gewinnen, dem edleu Cajus, der ihn, wie einst der Vater, mit Güte und Wohlwollen überhäufte, den wahren Sachverhalt zu verschweigen. Cajus, aufs tiefste erschüttert, staunte, wie klar und wie sicher dem unvergleichlichen Manne in jenem entsetzlichen Augenblick das Herz eine Lösung zeigte, die dem Verstand und dem klügelnden Scharfsinn vielleicht entschlüpft wäre. Die Wahrheit, die Lucius Menenius unter Anrufung der unsterblichen Götter beteuert hatte, war nicht die kleine alltägliche Wahrheit gewesen, die mit den Steinen des Abacus rechnet, sondern die Wahrheit im höheren ewigen Sinne, die vielleicht mit den Ergebnissen eines gewöhnlichen Zahlenexempels in Widerspruch steht, aber eins ist mit dem allwaltenden Willen der Vorsehung.
Hermine Spies. Zwei Sommer sind über das Grab von Hermine Spies hingezogen, über das Grab, das einem Schicksal von wunderbarer Glücksfülle und Schönheit jäh und erschütternd ein Ziel setzte. Ein Jahrzehnt lang hatte Hermine mit ihrer Lieder Zaubermacht die Herzen von Hunderttausenden entzückt, hatte Licht und Sonnenschein um sich verbreitet und Licht und Sonnenschein genossen – und dann, als sie in der Ehe mit dem Amtsrichter Hardtmuth in Wiesbaden die reine volle Befriedigung gefunden, als das letzte, beseligendste Glück des Weibes vor ihr aufstieg, das Mutterglück, da hat sie Abschied nehmen müssen von der Erde, die ihr so schön gewesen.
Der Ruhm einer Sängerin, wie schnell pflegt er zu verhallen! Aber Hermine Spies ist ein besseres Los zu teil geworden. Sie war eben nicht bloß eine große Sängerin, sie war auch so reich an Gaben des Geistes und Gemütes, so gewinnend in ihrem Wesen, daß sie überall, wo sie auf ihren Künstlerfahrten hinkam, nicht nur Bewunderer, sondern auch Freunde hinterließ, treu ergebene Freunde. Die hervorragendsten Geister, Kunstgenossen und Kunstliebhaber, Dichter, Gelehrte, Männer und Frauen aus allen Kreisen, zollten ihr begeisterte Huldigung, und tausendfältig ward es deutlich und im vertraulichen Gespräche bestätigt, daß neben der vollendeten Kunst ihres Gesanges es noch etwas sei, was ihr Macht gebe über die Gemüter und zu ihr hinziehe mit unwiderstehlicher Gewalt. Schon als Hermine noch ein sechzehnjähriges Mädchen war, hat das Emil Rittershaus, der sie bei einem Ausflug an den Rhein hatte singen hören – und zwar noch vor ihrer eigentlichen künstlerischen Ausbildung durch Ferd. Sieber und Julius Stockhausen – in einem schönen Widmungsgedicht ausgesprochen:
„Nicht nur der Wohllaut Deiner Kehle
War’s, der zu meinem Herzen sprach,
Es war das Feuer Deiner Seele,
Das Bahn sich hier in Tönen brach.“
Und als sie auf der Höhe ihrer Kunst stand, schrieb der „gefürchtete“ Hanslick in Wien, nachdem er sie zum erstenmal gehört: „Die künstlerische Bildung dieser Stimme ist vollkommen und ihre Beseelung durch die Mächte Geist und Gemüt macht sie unwiderstehlich.“ Und als Klaus Groth, der Dichter des „Quickborn“, sie die Rhapsodie von Brahms hatte singen hören, jene Komposition eines Textes aus Goethes „Harzreise“ mit der schönen Stelle: „Ist aus deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmbar, o, so erquicke sein Herz!“ – da verglich er sie mit jenen Engeln, die einst „in olen Tiden“ vom Himmel herabstiegen, den Menschen den Frieden zu bringen, da nannte er auch die Sängerin einen Himmelsboten:
„De hett op eren Psalter
Vör jede Ohr den Lut,
De lös’t int Hart de Thran’n,
De makt dat Elend gut.“
Wie viele wird es freuen, das Lebensbild Herminens in ausführlicher Darstellung zum dauernden Gedächtnis zu besitzen und in der Betrachtung ihrer herrlichen Künstlerlaufbahn sich die Genüsse noch einmal zu vergegenwärtigen, die sie gespendet hat! Dieser Gedanke, der so nahe liegt, hat die Schwester Herminens, ihre treue Begleiterin auf ihren Weltfahrten veranlaßt, aus eigenen Erinnerungen, aus Briefen, Tagebuchblättern etc. der Heimgegangenen ein schlichtes biographisches Denkmal aufzurichten, das jetzt unter dem Titel „Hermine Spies. Ein Gedenkbuch für ihre Freunde“, von Heinrich Bulthaupt mit warmen Worten eingeleitet, bei Göschen in Stuttgart erschienen ist. Ein Bild von Hermine ist ihm beigegeben aus derselben Zeit, aus der auch dasjenige stammt, welches die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1887 (Nr. 13) ihren Lesern mit einer kurze Würdigung dieser gottbegnadeten Künstlerin vorgelegt hat.
Eine hochherzige Stiftung. Frau Elise Wentzel, geborene Heckmann, hat der kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin die namhafte Summe von anderthalb Millionen Mark überantwortet mit der Bestimmung, daß mit dem Erträgnis vor allem umfassende wissenschaftliche Unternehmungen, die einen größeren Aufwand verlangen, gefördert werden sollen. Seit Werner Siemens durch seine Freigebigkeit die Gründung der „Physikalisch-technischen Reichsanstalt“ ermöglichte, ist der deutschen Wissenschaft eine solch großartige Zuwendung von privater Seite nicht gemacht worden; und wenn Siemens noch die Förderung gerade seiner Wissenschaft im Auge hatte, so gilt die neue Stiftung ganz allgemein und ohne Beschränkung der Wissenschaft als solcher. Darin liegt ein großer Zug und ein schönes Vertrauen, daß die Mitglieder der Berliner Akademie das Rechte und Sinngemäße jederzeit schon finden werden. Und es ist zu hoffen, daß sie es finden werden, zu Nutz und Frommen der Wissenschaft und des Fortschritts unserer Kultur.
Frau Elise Wentzel hat mit dieser Stiftung eine Absicht verwirklicht, die schon ihr Gatte Hermann Wentzel gehegt und die nur infolge des raschen Ablebens dieses treffliche Mannes (1889) unausgeführt geblieben war. Auch der Vater der Frau Elise, der im hohen Alter von 92 Jahren verstorbene Fabrikbesitzer Karl Julius Heckmann, gehört mit zu den geistigen Urhebern der Stiftung. Beide Männer haben klein augefangen, Heckmann als Kupferschmiedemeister, Wentzel als Maurer. Aber Fleiß und höheres Streben brachten sie vorwärts und Wentzel hat als Schüler Stülers einen hochgeachteten Namen unter den Berliner Architekten erworben. So hinterließen Vater und Gatte der Frau Elise Wentzel die reichen Mittel, mit denen sie jetzt die Berliner Akademie und damit die deutsche Wissenschaft beschenkt hat. Die „Elise Wentzel, geborene Heckmann-Stiftung“ wird zu allen Zeiten ein Ruhmesblatt in der Geschichte unseres Bürgertums bleiben, ein leuchtendes Beispiel selbstloser schlichter Hingabe an ein großes ideales Ziel.
Elisabeth Louise Lebrun. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die Künstlerin, deren Selbstbildnis wir in unserer heutigen Kunstbeilage vorführen, ist den Lesern der „Gartenlaube“ schon bekannt durch jenes anmutige Bild „Die Dame mit dem Muff“, daS wir als 13. Kunstbeilage im Jahrgaug 1891 veröffentlicht haben. Wenn dort von ihr gesagt wurde, daß sie nicht bloß ein außerordentliches, frühreifes, durch glänzende äußere Verhältnisse begünstigtes Talent, sondern auch eine schöne liebenswürdige Frau gewesen sei, so finden wir diese letztere Angabe vollauf bestätigt durch das Selbstbildnis, aus dem uns ein Antlitz von entzückender Lieblichkeit entgegenschaut. Kein Wunder, daß überall, wo auch ihr vielbewegtes Leben sie hinführte, die Herzen ihr zuflogen und Ehren und Auszeichnungen ihr reichlich gezollt wurden. Elisabeth Louise Lebrun ist 1842 im hohen Alter von 87 Jahren zu Paris gestorben. Das Selbstbildnis, das unsere Kunstbeilage wiedergiebt, befindet sich heute in der Galerie der Uffizien zu Florenz.
Kleiner Briefkasten.
P. Fr. in Camburg. Die Erforschung der Ortsnamen und ihre Deutung ist ein sehr lebhaft angebautes Gebiet der Alterthumskunde. Für Ihre engere Heimath finden Sie genaue Auskunft in dem Buche von Hofrath Dr. G. Jacob „Die Ortsnamen des Herzogtums Meiningen“ (Hildburghausen, Kesselringsche Hofbuchhandlung).
„Offzier.“ Wenden Sie sich an das preußische Kriegsministerium.
Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (7. Fortsetzung). S. 726. – Blut und Eisen. Das Ferratin. S. 731. – Hans Sachs. Ein Gedenkblatt von Hans Boesch. S. 732. Mit Abbildungenn S. 725, 728 u. 729, 732, 733, 734, 735, 736 und 737. – Die Sklaven. Novelle von Ernst Eckstein (Schluß). S. 738. – Blätter und Blüten: Hermine Spies. S. 740. – Eine hochherzige Stiftung. S. 740. – Elisabeth Louise Lebrun. S. 740. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 740.