Die Gartenlaube (1894)/Heft 42

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 42.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (6. Fortsetzung.)

Nun fing Brankwitz gar an, von der Höhe seines Kutschersitzes herab zu renommieren – von seiner Reise, von Nizza, Cannes, Rom, Neapel, Palermo, Alexandrien. „Ja, der Süden, der berauschende Süden! Andere Menschen; temperamentvoller, anmutiger, schöner! Man begreift nicht, wie man im Norden leben konnte, wenn man einmal dort drunten war. Es ist auch kein Leben hier, nein – leben thut man nur dort. Möchten Sie es nicht kennenlernen, gnädiges Fräulein, Sie, die Sie aussehen, als hätte Ihre Wiege direkt am Golf von Neapel gestanden? Sie, die eigentlich Gemma oder Viktoria oder Beatrice heißen sollten anstatt Anneliese?“

„Es ist gewiß sehr schön dort,“ unterbrach ich ihn, „aber ich habe keine Sehnsucht danach, ebensowenig wie ich anders heißen möchte. Ich interessiere mich für den Norden mehr und würde,


Ein Matrosenskat.
Nach einer Originalzeichnung von Alex. Kircher.

[710] wenn einmal gereist sein muß, Schweden und Norwegen diesem Italien bei weitem vorziehen“

„Man könnte ja das eine thun und das andere nicht lassen,“ flüsterte er und suchte, indem er sich zu mir herunterbog, einen Blick zu erhaschen.

„Ich habe weder Aussichten auf das eine, noch das andere und bin vorläufig mit dem melancholischen Reiz meiner lieben Mark völlig zufrieden,“ schloß ich ärgerlich. Die Tochter des preußische Offiziers regte sich in mir. „Die Mark ist meine Heimat, ist ein Teil meines Vaterlandes, dieses großen herrlichen Preußen, und wenn jemand sagt, er begreife nicht, wie er wieder in seinem Vaterlande leben könne, nachdem er fremde Schönheit geschaut, so thut er mir leid, denn er beweist mit diesem Ausspruch, daß er keine VaterlanDsliebe unb kein Heimatsgefühl besitzt. Er thäte Deutschland sicher einen Gefallen, wenn er fürder im Auslande leben wollte.“

Nun wird er dich wohl zufrieden lassen, dachte ich und setzte mich gerade, im Gefühl, ihm einen gründlichen Abfall bereitet zu haben.

„Sie sind hinreißend, Anneliese,“ klang es aber schon wieder an meinem Ohr, „wirklich bezaubernd in Ihrem jugendlichen Patriotismus. Ich stimme also mit ein in Ihren Ruf: es lebe Deutschland, es lebe Preußen, es lebe die Mark, die Wiege Preußens! Und noch mehr – ich glaube fast, ich würde diese Mark lieben können, wenn Sie –“ und wiederum bog er sich zu mir herunter, – „wenn man mit Ihnen –“

„Herr von Brankwitz, Sie sind ein miserabler Kutscher, wollen Sie umwerfen?“ rief ich, und im nämlichen Augenblick hatte ich in die Zügel gegriffen und das Tier links geleitet, wir wären sonst unfehlbar an eine Holzbeuge angefahren. „Ein Kutscher soll nicht nach rechts oder links sehen, sondern einfach vor sich auf den Weg,“ setzte ich verächtlich hinzu.

Er war verlegen, soweit ein Mann seines Schlages verlegen werden kann. „In Ihrer Nähe ist eine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen,“ verteidigte er sich. „Ach, Sie glauben nicht, Anneliese –“

„Bitte, geben Sie mir doch einmal die Peitsche,“ bat ich. Ich nahm die lange Fahrpeitsche und hielt sie über den Rand des Wagens hinaus.

„Fahren Sie gern?“ flötete er.

„Versteh’ ich gar nicht.“

„Möchten Sie es lernen, Anneliese?“

„Nein!“

„Aber es ist ein herrliches Vergnügen, ein feuriges Tier selbst zu lenken, von ihm gezogen so dahin zu fliegen, so – so –“

„Sie sind wohl ein großer Fahrkünstler?“ fragte ich. „Na, da zeigen Sie doch ’mal, was Sie können!“ Und damit gab ich in meinem Aerger dem ruhig dahinschreitenden ahnungslosen Tier einen orbentlichen Hieb, daß es, rasend ausschlagend, in einen heftigen Galopp verfiel, der zweifellos Aehnlichkeit mit einem richtigen Durchgehen hatte und den leichten Wagen im Sturm mit sich fortriß, so daß er jeden Augenblick umzustürzen drohte. Und Brankwitz, der von dem heftigen Anspringen des Tieres fast vom Wagen geschleudert war, hatte Mühe und Not, den feurigen Ausreißer wieder zu kriegen; oder vielmehr, er kriegte ihn gar nicht, sondern das wohlerzogene schöne Pferd besann sich nach einigen Minuten eines Besseren und fiel in eine ruhigere Gangart.

„Aber, ich bitte Sie,“ keuchte er endlich, „wie konnten Sie – – das hätte fast ein Unglück gegeben auf diesem schlechten Wege! Sie sind eine schneidige kleine Dame, Anneliese, aber Sie spielen mit der Gefahr. Ich schösse mir eine Kugel vor den Kopf, wenn Sie, Anneliese –“

„O, ich werde noch ganz anderes thun, sobald Sie wagen, mich noch einmal Anneliese zu nennen, Herr von Brankwitz. Ich bin kein Kind mehr, merken Sie sich das! Sie sind mir gänzlich fremd und werden es immer bleiben, also bitte!“

Er biß sich auf die Lippen, und als wir bald darauf einen Feldweg erreichten, der auf Westenberg zuführte, lenkte er dort hinein, ohne ein Wort weiter zu reden. Stumm hielten wir nach einer Weile vor unserer Thür, und ohne seine dargebotene Hand anzunehmen, sprang ich vom Wagen und suchte meine Stube auf.

Ach, wäre die Base noch da! Wie kalt, wie öde war es, obgleich man geheizt hatte und obgleich ich sah, daß Mama hier gewesen. Sie hatte mir ein Briefchen auf den Tisch gelegt, es lautete:

„Beckers haben Frau Sellmann und Brankwitz noch in aller Eile zu der Hochzeit geladen. Du sollst mit den Herrschaften heute nachmittag bei Beckers und Tollens Besuch machen, richte Dich danach mit dem Anzug!“

Ich kam zu Tische mit der kecken Sorglosigkeit, die ich von Papa ererbt hatte unb wie sie Leuten eigen ist mit gutem Gewissen und furchtlosem Herzen, schon deshalb furchtlos, weil es die Gemeinheit der lieben Mitmenschen noch nicht begriffen hat, nicht ahnt. Den bist du los, hatte ich mir gesagt, und in dieser Ueberzeugung benahm ich mich den Geschwistern gegenüber unbefangen wie sonst, und da ich heute früh hervorragend unartig gegen Brankwitz gewesen war, so ließ ich das Essen vorübergehen, ohne ihm mit einer neuen Abweisung zu dienen, schon Mamas wegen. Leider verstand er das ganz falsch, wie ich bald darauf zu bemerken Gelegenheit hatte. Um vier Uhr nämlich mußte ich mit den Geschwistern zu den Besuchen. Frau Sellmann hatte ein halbes Dutzend Depeschen fortgeschickt, wegen ihrer Toilette, wegen Geschenken und Gott weiß, wegen was noch. Sie hatte sich entschieden vorgenommen, Westenberg zu imponieren. Jetzt schritt sie, auf hohen französischen Absätzen balancierend, über unser halsbrecherisches Pflaster, und das schwarze nach neuester Mode gefertigte Sammetkleid, der gleichfalls schwarze federgeschmückte riesige Rembrandthut, unter dem das goldblonde Titianhaar und das rosig weiße Gesicht wirkungsvoll zur Geltung kamen, sie machteu berechtigtes Aufsehen, wenigstens bei Frau Becker, die uns mit einem furchtbaren Wortschwall empfing.

Sie hätte sich nicht versagen können, einen so lieben Freund von Adalbert einzuladen, und überdem, an liebenswürdigen jungen Männern und an schönen Damen sei in einer kleinen Stadt ja immer Mangel, und sie danke Gott von Herzen, daß er zwei so reizende Menschen hergesandt. „Und wie geht’s Ihnen denn, Fräulein von Sternberg? Haben Sie sich mit Käthe Tollen verabredet wegen der Toilette? In New York haben sämtliche Brautjungfern gleiche Toilette, das sieht so reizend aus. Ich bedauere so ganz von Herzen, daß wir nicht das Vergnügen haben dürfen, Herrn Stadtrat Wollmeyer und seine junge Frau hier zu sehen, aber – wir haben gegenseitig nie Besuche gemacht. Nun, die Kinder müssen nachholen, was die Eltern versäumten! Sie wollen recht gesellig leben, die Zwei! Und Sie, Fräulein von Sternberg, haben sich unter den Schutz der Komtesse gestellt? Reizende Dame! Kennen Sie die Komtesse, Frau Sellmann? Ich habe nicht zuviel gesagt, nicht wahr? Sie wollen schon aufbrechen? Ah, Sie wollen auch bei Tollens einen Besuch machen – grüßen Sie mein Töchterchen von mir!“ Mir wirbelte der Kopf. Eine furchtbare Frau! Und ich fragte mich im stillen, warum Beckers eigentlich nicht mit meinem Stiefvater Verkehr gesucht hatten. Wäre ich weltkluger gewesen, so hätte ich natürlich herausgefunden, daß die übergroße Gleichheit der Gesinnungen sie gegenseitig abstieß – die Emporkömmlinge hatten sich erkannt! Ich war nur eingeladen worden als Freundin der Tollenschen Mädchen, als Brautjungfer, und Lores wegen ging ich hin, obgleich es mir widerstrebte, einer Hochzeit beizuwohnen, die in meinen Augen fast ebenso traurig war wie die meiner Mutter.

Bei Tollens wurden wir nicht angenommen; es herrschte in dem kleinen Hause eine wahre Grabesstille, nichts deutete auf den Vorabend eines solchen Festes. Nun bestand Frau Sellmann darauf, auch noch zur Komtesse zu gehe, die ich eigentlich allein besuchen wollte, und da ich die Geschwister nicht abschütteln konnte, so kamen wir zu Dreien in das Heim der alten Dame. Sie war zu Hause, saß auf ihrem Fenstertritt und heftete sich uralte Spitze auf ein uraltes graues seidenes Kleid, das sie morgen der Lore zu Ehren tragen wollte. Auch sie nahm nur Tollens wegen teil an der Feier.

„Freut nach sehr!“ begrüßte sie uns. „Nehmen Sie Platz, meine Herrschaften! Anneliese, heb’ die Schleife auf! Verzeihen Sie, ’s ist meine Wohnstube; das bessere Zimmer lasse ich für gewöhnlich nicht heizen.“ Ueber das volle Antlitz der Frau Sellmann huschte ein spöttisch mitleidiges Lächeln. Die Komtesse bemerkte es und sagte: „Ja, das versteht man heutzutage nicht mehr, meine liebe Frau Sellmann. Sie lassen wahrscheinlich täglich Ihre sämtlichen Zimmer erwärmen und die der Dienerschaft dazu. Wir von damals kennen noch nicht das Jagen nach Ueberfeinerung; zu meiner Zeit lebte die ganze Familie in einer Stube, natürlich den Hausherrn ausgenommen. Da saßen wir bei drei dünnen Kerzen und machten die feinsten Arbeiten, oder besserten Wäsche aus, und das war überall so, in unseren Kreisen wenigstens. Mein Vater war Minister, meine liebe Frau Sellmann,“ setzte sie hinzu, „und wir sind bei unserer Lebensweise gesund und froh gewesen. Sie lächeln? Glauben Sie, es sei mir deshalb eine Perle aus der Krone gefallen? Dem heutigen Protzentum gegenüber bleibt uns kein anderes Mittel der Unterscheidung als unsere alte Einfachheit„ in der [711] der vornehmste Mann des Reiches, der vornehmste auch der Gesinnung nach, unser teurer alter Kaiser, ein so leuchtendes Beispiel giebt.“

„Aber das geistige Leben kam doch wohl etwas zu kurz, Komtesse, bei den Talglichtern und der Stopferei?“ entgegnete Frau Sellmann.

„In der Zeit, wo ein Goethe lebte, das geistige Leben zu kurz gekommen? Ich kenne kein Geschlecht, in dem die Frauen thätiger daran Anteil genommen hätten!“

„Aber es war alles so gräßlich sentimental und überschwenglich,“ erklärte die junge Frau.

„Französische Sittenstücke waren es freilich nicht, die wir lasen, das stimmt,“ sagte die Komtesse trocken, „gegenwärtig ist der Geschmack anders. Welcher der bessere ist – das steht dahin. Die Welt kämpft sich durch alle möglichen Veränderungen. Aus unglücklicher Liebe vertrauert kein Mädchen mehr sein Leben heutzutage, sie tröstet sich und heiratet einen reichen Mann, ohne an gebrochenem Herzen zu sterben. Ich weiß nicht, was ich vorziehen würde – –“

Und nun kam das für mich sehr peinliche Gespräch in andere Bahnen, man wechselte ein paar Gemeinplätze, und endlich sagte die Komtesse: „Apropos, wo in aller Welt brannte es denn heute mittag, Herr von Brankwitz? Sie sind ja mit der Anneliese wie ein Wetter hier durch die Straßen gefahren!“

„Ach, haben das die Komtesse auch bemerkt? Ich wollte nach Damnitz – ich wollte – –“

„Nach Damnitz?“ fragte ich, „davon haben Sie ja kein Wort gesagt.“

„Eh, ich durfte ja überhaupt nichts sagen. Das gnädige Fräulein war in einer sehr wenig zugänglichen Laune, Komtesse, und somit kam ich unverrichteter Sache nach Hause.“

„Wollen Sie etwa Damnitz kaufen?“ fragte die alte Dame.

„Nun, Onkel Wollmeyer wenigstens wünscht es sehr,“ antwortete er, „wir sahen uns das Gut schon im Herbst einmal an. Na, man braucht ja schließlich dort nicht ewig zu kleben, man hat seine Wohnung noch in Berlin oder sonstwo in einer großen Stadt, wenn man einen ordentlichen Inspektor hat, geht es ja. Ich wollte das Schloß heute früh Fräulein Anneliese – pardon – Fräulein von Sternberg zeigen, man hört doch gern – hm – das Urteil einer Dame. Für das Interieur – Sie verstehen, Gräfin – sind Frauenaugen maßgebend. Aber, wie gesagt, man war sehr ungnädiger Laune, und ich ziehe vor, eine bessere Stimmung abzuwarten.“

Die Komtesse hatte den Kopf gewandt und sah mich groß und erstaunt an. Ich wurde dunkelrot unter diesem Blick.

„Mich interessiert das Schloß Damnitz nicht ein bißchen, und für Interieurs habe ich gar kein Verständnis,“ sagte ich.

„Du bist ja sehr streitbar, Anneliese,“ lächelte die Komtesse.

„Sehr!“ stimmte Brankwitz bei und strich den blonden Bart, „aber das liebe ich, da giebt’s niemals Langeweile.“

Frau Sellmann unterbrach dieses Gespräch, indem sie die Komtesse mit schüchterner Miene und in sanftem Flötenton bat, auch sie auf der morgenden Hochzeit als zweites Töchterchen unter ihren Schutz nehmen zu wollen.

Die alte Dame lachte auf. „Nanu, meine Beste! Ich dächte, als Frau und – ich glaube doch, Sie werden ohne meinen Schutz fertig werden! Anneliese und ich bleiben auch nicht etwa bis zum Kehraus, wir verschwinden beim Nachtisch, gelt, mein Kücken?“

„O, das wäre grausam!“ rief Herr von Brankwitz. „Sie müssen länger bleiben, und überdies – Fräulein Anneliese steht auch noch unter unserem Schutz, selbstverständlich!“

Ich nickte der Komtesse zu. „Ich gehe mit Dir, Tante.“

Danach ließ die alte Dame eine Pause eintreten, die sehr deutlich sagte: Ihr könnt Euch nun empfehlen und nachdem man eine Weile stumm dagesessen hatte, begriff Frau Sellmann endlich und stand auf. „Auf Wiedersehen morgen, Komtesse!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte diese, küßte mich auf die Stirn, und ich erzählte ihr noch mit fliegenden Worten und feuchten Augen, daß die Base fort sei.

„Komm zu mir, so oft Du willst, mein Kücken,“ erwiderte sie und klopfte mich auf die Schulter.


Lores Hochzeitstag kam und endete sehr traurig; den alten Major von Tollen rührte der Schlag. Just als die Komtesse und ich die Treppe hinunterschritten, um heim zu gehen, hörten wir Thüren zuschlagen und angstvolle Ausrufe, und die alte Dame kehrte auf der Stelle wieder um, der Frau von Tollen ihre Hilfe anzubieten. Ich stand einen Augenblick überlegend auf der windigen verschneiten Straße, aber schließlich – warum sollte ich denn nicht allein heimgehen? Ich war so froh, aus diesem Trubel fortzukommen, zudem hatte mich der Anblick der blassen Braut aufs tiefste bewegt, und anderseits – ich zitterte bei jeder neuen Liebenswürdigkeit des Herrn von Brankwitz; fortgesetzter Kampf macht müde.

So nahm ich denn, so gut es ging, die Robe zusammen, die ich schon auf Mamas Hochzeit getragen, und wanderte durch die Straßen. Im Hause des Doktor Schönberg war kein Licht, es lag so finster da unter den hohen Bäumen, als berge es einen Toten, und ich glaubte auch zu wissen, wen. Es war ein großes, großes Glück dort gestorben.

Arme Lore! Falsche Lore! Wie konnte sie – ja wie konnte sie! Wenn Gründe plötzlich menschliche Gestalt annehmen könnten, welches Brautgeleite würde da manches Mädchen, manche Frau haben? Welches zum Beispiel hätte Mama gehabt? Ein bleiches elendes Weib wäre ihr zur Seite geschritten – die Not. Bei wie wenigen folgt die schöne blühende rosenbekränzte Liebe! Bei Lore von Tollen war es auch nicht die Liebe, sie hätte anders ausgesehen sonst – nicht so starr und bleich; Genußsucht und Selbstsucht, diese beiden häßlichen Zwillingsschwestern, hatten sie sicher auch nicht dem unangenehmen Menschen zugeführt – vielleicht war es die Not auch hier! Die Komtesse hatte bei Tische so liebevoll mit Lores Vater gesprochen und hatte ein paarmal den Lieutenant von Tollen mit sehr mißliebigen Blicken gestreift, den jüngsten Bruder der Braut, der von ihr als Tollenscher „Familienwindhund“ bezeichnet wurde. Ja, wer weiß, wer weiß, welche Mittel das Schicksal hat, ein armes Menschenkind zu zwingen, den Weg zu gehen, den es nicht gehen will!

Ich war während dieser traurigen Gedanken rasch vorwärts geschritten und in die Kirchgasse eingebogen, die zwischen der Mauer des Schloßgartens und der Marienkirche hinführt und eng, dunkel und menschenleer ist; sie kürzte aber meinen Weg bedeutend ab, und ich fürchtete mich nicht. Plötzlich hörte ich Tritte hinter mir, eilige Tritte, mehr ein Laufen und dann rief eine fast atemlose Stimme: „Aber, mein gnädiges Fräulein, wie können Sie – – weshalb denn nur? Sie dürfen nicht allein gehen!“

Unwillkürlich schritt ich rascher aus, aber natürlich holte Brankwitz mich ein, und dicht an meiner Seite gehend, versuchte er, meinen Arm in den seinen zu ziehen, was ich energisch verhinderte. Da hielt er mich, gerade an der dunkelsten Stelle des Gäßchens, am Mantel fest, und sein Gesicht so dicht zu dem meinen beugend, daß ich seinen heißen Atem spürte, fragte er fast tonlos: „Anneliese, meine wilde süße Anneliese, warum quälen Sie mich so – warum?“

„Herr von Brankwitz!“ sagte ich laut und riß an dem Mantel, doch ohne Erfolg.

„Schenken Sie mir ein paar Minuten!“ bat er flehend. „Sie müssen es ja wissen, Sie müssen es ja fühlen, wie lieb ich Sie habe, Anneliese! Sie dürfen mir nicht alle Hoffnung rauben. Können Sie mich denn nicht ein bißchen, ein ganz klein wenig wiederlieben? O ich will damit zufrieden, will selig sein!“

„Ich Sie lieben? – Lassen Sie den Mantel los! Niemals kann ich das, also sprechen wir nicht mehr darüber. Ich mag solche alberne Späße nicht, Sie vergessen, wen Sie vor sich haben!“

Dabei strebte ich so rasch als möglich vorwärts, denn ich zitterte vor Angst, ich glaubte, er sei berauscht und könne noch zudringlicher werden.

„Aber ich begreife nicht, wie können Sie nur von Spaß reden? Sie thun mir weh, Anneliese!“

In diesem Augenblick hatte ich das Hofthor erreicht, öffnete die kleine Pforte desselben, da die großen Flügel schon geschlossen waren und schlüpfte hindurch. „Bekümmern Sie sich doch lieber um Ihre Schwester!“ rief ich ihm zu. „Sie ist in dem Wirrwarr zurückgeblieben, ein Wagen ist nicht dort – wie soll sie heimkommen?“ Damit lief ich über den Hof, und einmal im Hause, war ich auch bald an meiner Thür. Ich fühlte mich, als ich in dem finsteren Raume stand, hochaufatmend, die Hand auf die Brust gepreßt, so sicher wie ein Wild, das müde gehetzt endlich einen sicheren Schlupf gefunden vor der suchenden Meute.

Langsam ging ich von der einen Thüre zur andern und drehte die Schlüssel herum, dann schlug ich die schweren eichenen Läden zu, die im Innern des Zimmers angebracht waren, und nun erst überließ ich mich der Empörung über diese zudringliche Werbung. Ich hockte auf dem Fenstertritt und wußte nicht, was beginnen. Eine lange Zeit überlegte ich, mit Mühe meine aufgeregten Sinne [712] zusammenhaltend. Sollte ich Mama alles sagen? Aber hatte sie denn noch einen Willen? Ich bezweifelte es. Alles, was ich von ihrem Leben seit der Verheiratung mit Wollmeyer wußte, war eine völlige Unterordnung unter seinen Willen, ein rückhaltloses Anerkennen seiner Meinung. Wenn ich nur gewußt hätte, wie Wollmeyer über diese Werbung dachte! War er auf Seite des Neffen, dann standen mir noch harte Qualen bevor, unausgesetzter Kampf. Aber kämpfen werde ich, Papa! sagte ich und nickte dem Bilde zu, das im trüben Schein einer einzigen Kerze zu mir herniederblickte. Lieber tot als die Frau von solch albernem nichtssagenden Menschen sein, von einem, der, wie die Base behauptete, dem Herrgott seine Tage stiehlt, dessen einziges Lebensereignis von Bedeutung war, daß er seines Vaters Geld geerbt hatte. Nicht einmal in den Krieg war er mitgegangen, hübsch daheim hatte er gesessen hinterm Ofen während Papa und alle die vielen braven Männer da draußen sich die Kugeln um die Köpfe sausen ließen. Und der wollte Anneliese Sternberg heiraten! So einer, der selig sein wollte, wenn er nur „ein bißchen“ wiedergeliebt ward! Auch ein Standpunkt! Der wollte ein richtiger Mann sein! Ein richtiger Mann würde sagen „Lieben Sie mich, Anneliese, lieben Sie mich mit Ihrer ganzen Seele, mit jeder Faser Ihres Herzens oder – bleiben Sie mir gewogen! Für so ein bißchen danke ich! Ganz oder gar nicht, wie unser Wappenspruch heißt!“

Während dieses Selbstgesprächs hatte ich mein seidenes Festgewand abgestreift und ein dunkles Hauskleid angezogen; nach einem Blick auf die Uhr schickte ich mich an, Mama Guten Abend zu wünschen. Die mit dunkelrotem Smyrnastoff belegte Treppe in dem runden Turm mit den schiefen Fensterchen wand sich mehrfach, ich konnte also nicht sehen, daß vor mir Menschen waren, der Teppich dämpfte auch ihre Schritte völlig, ich hörte nur plötzlich die Stimme Olga Sellmanns. Sie sprach ganz unbekümmert und laut: „Der Plan ist ja recht hübsch, mein Ottochen, und gewiß auch recht praktisch, nur fängst Du die Sache gänzlich verkehrt an. Geh’ doch einfach zu Wollmeyer und halte an! Du spielst ja eine greulich unglückliche Rolle als Schmachtlappen!“

„Ach, der Onkel weiß ja alles,“ antwortete verdrießlich mein Anbeter. „Aber, siehst Du, Olga, die Frau Mama – sie hat erklärt, zu einer Heirat zwinge sie Anneliese nicht, ihr Herz solle wählen, na, und bis jetzt scheint es –“

„Ach, diese Frau, diese Null!“ sagte sie spöttisch, „Du mußt nur dem Wollmeyer Ernst zeigen.“

„Die Frau hat mehr Einfluß, als Du denkst, Olga; sie ist eine kluge taktvolle Frau.“

„Nun, in diesem Fall wird ja Dein altes Mittel auch helfen. Hol’ nur den Butzemann hervor – vor dem grault er sich ja so furchtbar! Nur nicht zaghaft! Als Schwiegersohn hast Du dann immer eine ganz andere Stellung! Denke, wenn Anneliese anderweitig heiratete – es wäre doch in mehr als einer Beziehung unangenehm, um nicht zu sagen schlimm.“

„Das leid’ ich nicht!“ rief er mit einem Ton, der mir das Herz auf einmal wie rasend pochen ließ, „dann – dann, Olga –“

„Pst! Schrei’ doch nicht so! Wenn das jemand hörte, das gäbe eine nette Skandalgeschichte. Na, mach’, was Du willst, mein Junge,“ setzte sie hinzu, „ich mische mich nicht drein; schmachte weiter oder – brauche Ernst!“

„Du könntest mir in betreff der Kleinen wohl ein wenig helfen, Olga,“ schmollte er.

„Nein!“ antwortete sie kurz. „Irgend so einen sentimentalen Backfisch gewöhnlichen Schlages, den hätt’ ich auf mich genommen; man giebt ihm ein paar französische Romane, erzählt ihm irgend etwas Großartiges, Romantisches von Dir, und die Liebe ist da! Aber der kleine schwarze Irrwisch, der guckt einem mit seinen großen dunklen Augen gleich bis auf den Grund der Seele; mir sind diese Augen ordentlich unheimlich. Außerdem – sie ist sehr skeptisch veranlagt und hat Logik, so jung sie ist, und dabei steht sie hoch auf dem Schild ihrer Ahnen, konservativ von der Fußspitze bis zu ihrem dunklen Wuschelkopf! Die fängst Du nicht mit der Aussicht auf stilvolle Equipagen, auf Ballrobeu und Badereisen, Du mußt das anders anfangen, Kleiner. Mir aber ist die Sache zu uninteressant und zu mühsam, ich sehne mich nach Berlin zurück. Doch nun komm, unser liebenswürdiger Wirt kann es sicher nicht erwarten, die Beschreibung der Hochzeit zu hören. Ich bin überzeugt, Deine Zigeunerin ist schon oben.“

Er antwortete nicht. Ich hörte das Rauschen von Frauenkleidern, dann ging die Thür und es war still.

Wie betäubt stand ich an der Biegung der Treppe, den Kopf an die Wand gelehnt, mit beiden Händen mich am Geländer haltend. Es war von mir die Rede gewesen und ich hatte gehorcht – etwas, das ich verabscheute gleich der Lüge. Und ich war doch nicht gegangen, meine Glieder hatten mir einfach den Gehorsam versagt, in meinem Kopf war in den paar Minuten kein Wille gewesen. Und nun wußte ich – nein – wußte ich doch nicht alles. Was sollte seine Drohung bedeuten? Womit wollte er mich zwingen, womit Wollmeyer? Was war da verborgen, das, an die Oeffentlichkeit gezogen, eine Skandalgeschichte werden mußte?

Wenn ich doch Mama sprechen könnte!

„Ach, da sind Sie ja, gnädiges Fräulein,“ sagte in diesem Augenblick das Stubenmädchen, das die Treppe herabgehuscht kam. „Sie möchten den Thee einschenken, läßt gnä’ Frau bitten.“

Ich fand sie alle im Salon. Ein Serviertischchen war hereingebracht mit Tassen und dem silbernen Kessel, unter dem die zartblaue Spiritusflamme brannte. Einige rot verschleierte Lampen gaben dem schönen Raum ein trauliches zum Plaudern geschaffenes Dämmerlicht. Mama saß in einem tiefen Sessel, ihr gegenüber im vollsten Erzählen Frau Sellmann, die ihre kostbare blaßgrüne Brokatrobe mit einem hellen Hauskleid vertauscht hatte. Mein Stiefvater stand, auf den Fußspitzen wippend, die Daumen in den Aermellöchern seiner Weste, den Klemmer auf der Nase, vor Otto Brankwitz, der ein ziemlich mürrisches Gesicht machte. „Wir müssen alle sterben,“ bemerkte er eben philosophisch; und das war das Ganze, was er über den jähen Tod des alten Herrn von Tollen redete. „War ein wunderlicher Heiliger, meine liebe Frau Olga,“ setzte er dann hinzu. „wie es so alte Soldaten werden, die auf den Rest ihrer Tage in knappem Futter stehen. Er biß um sich wie ein verdrießlicher alter Kettenhund, und wenn er nicht biß, so knurrte er.“

„Er war ein Ehrenmann durch und durch,“ sprach Mama warm. „Es liegt für mich etwas Erhebendes in solchem einfachen pflichttreuen Leben. Gehorsam, Genügsamkeit und Treue bis zum Tode! Ich bin fest überzeugt, wäre jetzt ein neuer Krieg ausgebrochen, der alte Mann hätte seinen Waffenrock über der eingesunkenen Brust zugeknöpft und hätte gesprochen: ,Hier bin ich, Majestät, was kann ich noch helfen mit meinen müden Gliedern?‘“

„Ja, Mama!“ rief ich, „und darum ist unser Vaterland so groß geworden, darum haben wir unsere Feinde schlagen können!“

Frau Sellmann lächelte. „Wie schade, daß Sie ein Mädchen sind!“

„Das hat Papa auch immer gesagt,“ antwortete ich.

„Sie wären gewiß Offizier geworden!“

„Ich weiß nicht, ob Berufsoffizier; im Blute steckt mir’s ja. Jedenfalls aber wäre ich irgend etwas geworden, und das mit Einsatz aller meiner Kräfte. Es muß schrecklich sein für einen Mann, ohne Beruf, ohne Beschäftigung dahin zu leben!“

„Sie gehen am Ende noch unter die Emancipierten?“

„Ich sehe nicht ein, warum ich als Mädchen zusehen muß, wie alles um mich her arbeitet, strebt, schafft –“

„Was möchten Sie denn werden?“ fragte die schöne Frau lächelnd und spielte mit der Schleife ihres Kleides.

„Irgend etwas, wobei man sich rühren muß, wobei einem die frische Luft um die Ohren weht; nur nicht in der Stube sitzen über Büchern, nur nicht als Lehrerin – –“

„Wie schade, daß wir kein Amazonenkorps haben!“ fiel Herr von Brankwitz ironisch ein, „das wäre so etwas: Uebungsmärsche, Felddienst, hin und wieder ein kleines Biwak – kurz, das Vaterland verteidigen mit Zunge und Schwert. Die Schneid’ wäre ja da.“

Herr Wollmeyer fand darin einen ausgezeichneten Witz, er lachte übermäßig laut. „Ich will Ihnen etwas sagen, mein Töchting,“ rief er und ließ seine Hand schwer auf meine Schulter fallen, „heiraten Sie einen Gutsbesitzer, da haben Sie frische Luft die Hülle und Fülle, können auf die Felder fahren, den Erntestand betrachten, können reiten, auf die Jagd gehen, und Tinte, Bücher und Gelehrsamkeit brauchen Ihnen nicht in die Quere zu kommen, wenn Sie nicht wollen!“

Ich antwortete nicht gleich, denn ich hatte sein Blinzeln zu Brankwitz hinüber gesehen. „Ich heirate nicht,“ antwortete ich kurz.

„Ja, das sagen sie alle!“ lachte er und rieb sich die Hände, „und wenn dann einer kommt, wenn überhaupt erst ’mal einer ein Wörtchen von Ring und Ehe spricht, dann sind sie alle dabei, alle, eine wie die andere. Was sagst Du dazu, Helene? Sieht sie aus wie ledigbleiben, wie Körbe geben? Ha! ha!“

„Aber wirklich, Bernhard,“ unterbrach ihn Mama, der meine

[713]

Die Vorstellung der Braut.
Nach einem Gemälde von C. Pujol.

[714] eiskalte Miene auffallen mochte, „sie denkt nicht an dergleichen – schone sie doch!“

„Na, wenn man achtzehn Jahre alt ist, kann man den Gedanken schon ins Auge fassen. Was meinen Sie dazu, Olga? Heutzutage, wo die Mädels so wohlfeil sind wie Heidelbeeren – denken Sie doch, meine Damen, es giebt in Deutschland nahezu eine Million Frauen mehr als Männer – da sollte doch jede froh sein, wenn einer kommt und – – Sie nehmen es doch nicht übel, Olga? Natürlich, es giebt immer Ausnahmen, es giebt Frauen, denen trotz der Minorität der Männer zwanzig auf einmal zu Füßen liegen. Ich hab’ Ihre Erfolge nicht vergessen; ich meine nur, wenn man so ein kleines unbedeutendes Käferchen, so ein Fräuleinchen von Habenichts ist und es bietet sich da – es wäre einfach eine Vermessenheit, Nein zu sagen. So ’was wird auch nicht passieren, wird nicht passieren, Helene, kann’s gar nicht!“

„Wenn das Fräulein von Habenichts seine gesunden fünf Sinne hat und überhaupt sich bewußt ist, keine Handelsware zu sein, sondern ein selbständig denkendes Geschöpf, kann’s doch passieren,“ sagte ich keck, „und ist sogar schon passiert im Laufe der Zeit.“ Mit diesen Worten beendete ich siegreich – wie ich meinte – das Wortgeplänkel, und das Gespräch kam in andere Bahnen, bis man sich nicht allzuspät trennte. Ich war froh, endlich allein zu sein.

Ein paar Minuten später klopfte es an meine Thür. „Mama, Du?“ fragte ich erstaunt.

„Nein, ich!“ rief Wollmeyers Stimme, „öffnen Sie, ich habe mit Ihnen zu reden.“

Er trat ein, sichtlich aufgeregt. „Erlauben Sie, daß ich mich setze,“ begann er und zog einen Stuhl zu dem Tisch, den ich mir an den Ofen geschoben hatte, um in dessen behaglicher Nähe an die Base zu schreiben. Dann eine Pause; einigemal setzte er zum Sprechen an und verstummte wieder. Ich hatte mich soviel als thunlich in den Lehnstuhl zurückgelegt, um möglichst viel Raum zwischen ihm und mir zu schaffen. Was ums Himmels willen sollte nun kommen?

„Ich mache mir gar keine Illusionen über Ihre Gefühle gegen mich,“ begann er endlich. „Sie lieben mich nicht, und ich, ich hätte eigentlich auch keinerlei Grund, mich zu Ihnen hingezogen zu fühlen. Aber trotzdem – die herzliche Zuneigung für Sie ist nun einmal da seit jenen Tagen, da Sie in kurzem Röckchen zu Hannchens Füßen mit den Puppen meines verstorbenen Töchterchens spielten.“

Was nun? Dachte ich befremdet.

„Ja, ja, so ist’s, liebes Kind,“ fuhr er fort. „Ich habe Sie väterlich lieb, und Sie – vermeiden mich, wo Sie können, und thun mir bei jeder Gelegenheit weh. Aber in einem Punkt, meine ich, werden wir uns doch finden, und das ist in der Liebe zu Ihrer Mutter. Diese Mutter beherrscht der einzige Gedanke: wie wird sich die Zukunft meiner Tochter gestalten? Sie verzehrt sich in Gram und Kummer darüber, sie weiß so gut wie Sie und ich, daß Sie nicht gerade die Allerstärkste an Gesundheit, daß Sie ganz arm sind und außerdem einen Charakter besitzen, der Sie wahrlich nicht befähigt, auf eigenen Füßen durchs Leben zu gehen. Sie sind eine stolze kleine Dame, meine gute Anneliese; ich gebe ja zu, daß Ihr Name recht wohlklingend ist, aber, sehen Sie, davon kann man doch nicht leben. Und wenn ich Sie sonst recht verstehe, so sind Sie auch nicht allzugern abhängig von einem Menschen, dem Sie so wenig Sympathie entgegenbringen wie mir?“

„Sicherlich!“ schaltete ich gelassen ein.

„Und wenn man dies alles nun ruhig erwägt, so ist es nahezu unbegreiflich, aus welchen Gründen Sie einen Antrag zurückweisen, der aus wahrer Neigung und Achtung hervorgegangen ist und der Sie nach jeder – aber auch nach jeder Richtung hin zufriedenstellen muß. Sie sollen nicht denken, Anneliese, daß ich Ihnen zureden will. Sie mögen mir’s glauben oder nicht – es wird mir schwer, ein Wort zu gunsten des Mannes zu sprechen, der Sie uns entführen will, aber ich halte es für meine Pflicht, dies zu thun, denn ich habe Ihr Glück im Auge, und zudem bestimmt mich der Wunsch Ihrer Mutter dazu. – Ich habe nun Brankwitz, der ganz verzweifelt ist, gesagt, es sei ein bißchen Koketterie von Ihnen; Ihr angeborener Widerspruchsgeist lasse Sie so spröde thun, und ich denke, damit werde ich nicht weit vom Ziel getroffen haben.“

Er machte eine Pause, putzte den goldenen Klemmer und sah mich an, als erwarte er eine Aeußerung. Aber ich schwieg und begann, unartig genug, meinen Bleistift zu spitzen.

„Ich wiederhole jetzt den Antrag, Anneliese, im Namen Ottos von Brankwitz, und füge noch hinzu, daß es nach jeder Richtung hin wünschenswert ist, Sie nehmen denselben an. Sie würden auf Damnitz leben in der Nähe Ihrer Mutter, und diese würde endlich in Ihrem Geborgensein die Beruhigung finden, die ihr, weiß Gott, sehr nötig ist.“

Mein Bleistift war gespitzt und ich wischte mir die Fingerspitzen an einem Stückchen Löschblatt ab, das ich aus der Briefmappe riß. Ich zitterte innerlich vor Angst und machte doch ein möglichst gleichgültiges Gesicht.

„Sie brauchen sich heute abend nicht zu entscheiden, Anneliese,“ fügte er freundlich hinzu, „sagen Sie mir bis übermorgen mittag Antwort und regen Sie, bitte, mit der ganzen Angelegenheit Ihre Mutter nicht auf!“

(Fortsetzung folgt.)


Der letzte Lieutenant der Großen Armee.

Von Paul Holzhausen.


Vor einigen Monaten durchlief heimische und ausländische Blätter die überraschende Kunde, daß in der an der unteren Wolga gelegenen russischen Gouvernementsstadt Saratow ein 126jähriger Greis Namens Nikolai Andrejewitsch Sawin lebe, welcher noch als Offizier an den napoleonischen Feldzügen teilgenommen habe. Dieser Mann sollte am 17. April 1768 geboren sein und am 21. Mai d. J. seinen 126. Namenstag gefeiert haben. Die Sache kam mir zu fabelhaft vor, um ohne weiteres geglaubt zu werden. Ich wandte mich daher, in einer jener Stimmungen, die uns für das Fremde, Ungewöhnliche und Romantische ganz besonders empfänglich machen, an den alten Herrn selber, um festzustellen, ob er denn wirklich noch existiere oder vielmehr unter die mythologischen Persönlichkeiten gerechnet werden müsse. Für den ersteren Fall ersuchte ich ihn recht freundlich, mir durch eine ihm nahestehende Person über sein, wie ich voraussetzen zu dürfen glaubte, jedenfalls recht interessantes Leben einige nähere Auskunft erteilen zu wollen. Eine kurze Zeit verging, da erhielt ich auf meinen – ich gestehe es selber – recht sonderbaren Brief eine ausführliche Antwort. Der Schreiber derselben, ein ebenfalls in jener fernen Stadt Saratow lebender russischer Gelehrter, Mitglied der dortigen archäologischen Gesellschaft, Herr Constantin Woensky, hatte seinem Briefe ein umfangreiches, in vortrefflichem Deutsch geschriebenes Manuskript beigefügt, welches einen nach den eigenen Erzählungen jenes merkwürdigen Greises abgefaßten Lebenslauf des 126jährigen Kriegers enthielt. Mein liebenswürdiger russischer Korrespondent bat mich, was inzwischen geschehen, einen kurzen Auszug aus dem Manuskripte an eine verbreitete Tageszeitung zu übersenden, dagegen den ausführlichen Lebenslauf des uralten Soldaten einer gediegenen deutschen Zeitschrift zur Verfügung zu stellen. Sind auch die Mitteilungen des Alten über verschiedene hervorragende und längst bekannte Ereignisse der Vergangenheit begreiflicherweise verhältnismäßig dürftig, enthalten sie auch geschichtlich wenig Neues, so wird es doch für den heutigen Leser einen eigentümlichen Reiz gewähren, dieselben von einem Manne erzählen zu hören, der das hundert Jahre und länger Zurückliegende noch selbst erlebt hat. Ich komme deshalb dem Wunsche meines russischen Gewährsmannes nach, wobei ich nur bemerken möchte, daß ich die Erzählung des alten Kriegers etwa zwei oder dreimal unterbrochen habe, um einige notwendig erscheinende historische Bemerkungen einzuflechten. Zur vorläufigen Orientierung des Lesers mag dann noch gesagt werden, daß Nikolai Sawin richtig Nicolas Savin heißt, kein Russe, sondern ein geborener Franzose ist, und daß dieser Zeitgenosse der Königin Marie Antoinette und der großen Revolution als Offizier Napoleons I. im Jahre 1812 an der Beresina gefangen genommen worden und seither in Rußland geblieben ist.

Aber hören wir ihn jetzt selber, den wunderbaren Greis von der Wolga:

„Ich bin geboren in Paris den 17. April 1768; mein Vater André Savin war Oberst im Regiment der Gardes Françaises zur [715] Zeit Ludwigs XV. Meiner Eltern kann ich mich fast gar nicht erinnern, da ich als ganz kleines Kind nach Tours geschickt wurde, wo damals ein Bruder meiner Mutter wohnte. Anfangs zu Hause unter der Aufsicht meines Oheims unterrichtet, wurde ich später in das Collège académique der Jesuiten zu Tours gebracht, in welchem die Kinder der Edelleute, überhaupt der wohlhabenden Stände, erzogen wurden. Soviel ich mich erinnere, war es gegen das Ende des Jahres 1792, als ich mich nach Paris begab, um meine Eltern und meinen jüngeren Bruder wiederzusehen, welche bis dahin in Versailles gelebt hatten. In Paris floß das Blut schon in Strömen. Es war zu der schrecklichen Zeit, wo niemand seines Lebens bis zum nächsten Tage sicher war. Es sind seit dieser Zeit mehr als hundert Jahre vergangen; ich habe vieles gesehen und erlebt; ich habe in Aegypten die Pest mitgemacht; ich habe die Schrecknisse des Krieges in Spanien ausgestanden, ich war Augenzeuge und Teilnehmer des Dramas, welches in der Geschichte unter dem Namen des ‚Rückzuges der großen Armee‘ bekannt ist – das ist aber alles nichts im Vergleich zu den blutigen Tagen der Schreckenszeit.

Der erste Kummer, welcher mich in Paris traf, war die Nachricht vom Tode meines Vaters, der, wie man glaubt, am 10. August umkam.“ – Beiläufig bemerkt, der 10. August 1792 war der Tag des zweiten Volkssturms auf die Tuilerien, infolgedessen die königliche Familie in die Nationalversammlung flüchtete, welch’ letztere bekanntlich die Königsgewalt suspendierte und Ludwig XVI. mit seiner Familie als Gefangene in den Temple abführen ließ.

Aber lassen wir dem Greise wiederum das Wort! „Wo meine Mutter geblieben, ist mir unbekannt. Ich fand eine Zuflucht bei den Freunden meines Vaters und blieb bis zum Jahre 1794 in der Hauptstadt. Am 21. Januar 1793, dem Tage der Hinrichtung Ludwigs XVI., wollte ich, zusammen mit einigen Freunden, zum letztenmal den unglücklichen König sehen. Gemäß einer Verordnung der Municipalität wurde aber niemand, mit Ausnahme des Militärs, auf die Straße gelassen. Da ich weder zur Nationalgarde gehörte, noch Bekannte im Sicherheitskomitee besaß, auch nicht ständiger Bewohner von Paris war, so wurde meine Lage mit jedem Tage gefährlicher. Der einzige Ausweg wäre der Eintritt in die Armee gewesen. Um diese Zeit erhielt ich einen Brief von meinem Bruder, der in Rouen lebte und mich zu sich einlud. Ich verließ Paris im Jahre 1794 und lebte in Rouen bis 1798. Da erfuhr ich, daß General Bonaparte in Havre für eine Expedition gegen England Freiwillige annehme. Ich entschloß mich ohne Zögern, in die Reihen der Armee einzutreten, und begab mich nach Havre. Da ich als Kavallerist zu dienen wünschte, wurde ich dem 2. Husarenregimente zugeteilt, mit welchem ich in der Folge die Hauptfeldzüge des Konsulats und Kaiserreichs mitmachte. Wir Freiwilligen wurden nach Toulon befördert, wo sich das Regiment bereits befand. In Toulon stand auch unser Geschwader. Der Zweck der Expedition wurde vorläufig noch geheim gehalten, und erst nach der Einnahme von Malta erfuhren wir, daß Aegypten unser Ziel sei. Nach drei Wochen waren wir unter den Mauern Alexandrias, welches wir mit stürmender Hand nahmen. Auf dem Marsche nach Kairo hatten wir zum erstenmal Gelegenheit, mit den Mamelucken zusammenzutreffen, welche unser Carré angriffen, aber nach kurzem Kampfe von uns vernichtet wurden. Unsere Kavallerie litt übrigens recht stark durch die fortwährenden Ueberfälle der Mamelucken, von denen namentlich die Nachzügler und die Kranken unbarmherzig niedergemetzelt wurden. In der Schlacht bei den Pyramiden stand ich in der Eskorte des Hauptkommandierenden (Bonapartes). Hier befand sich, bei der Einnahme des ägyptischen Lagers, unter der Menge der Trophäen auch der prächtige Säbel Murad Beys, welchen Napoleon seit dieser Zeit als Ehrenwaffe mit sich zu führen pflegte, bis zu seiner Erhebung zum Kaiser der Franzosen.“

Zur Geschichte dieses merkwürdigen Säbels kann ich aus meinen eigenen Reiseerlebnissen einen kleinen Beitrag liefern. Napoleon schenkte ihn dem bekannten General und späteren Generalpostdirektor Grafen Lavalette. Aus dessen Familie kam er in den Besitz des Barons Larrey, eines Sohnes von dem noch später zu erwähnenden Generalarzte Napoleons I.; Baron Larrey, der Sohn, war gleichfalls Generalarzt in der französischen Armee, Leibarzt Napoleons III. und ärztlicher Leiter des großen Pariser Militärhospitals Val de Grâce. Ein hoher Achtziger, lebt der Baron noch heute in Paris; er ist Besitzer einer äußerst wertvollen Sammlung von Erinnerungen aus der Zeit des ersten Kaiserreichs, die der alte Herr mit liebenswürdiger Zuvorkommenheit seinen Besuchern zeigt. In dem Salon des alten Barons sah ich auch jenen berühmten Säbel Murad Beys.

„Von den Generälen,“ erzählt der alte Savin weiter, „welche an diesem Zuge teilnahmen, erinnere ich mich sehr genau Berthiers (des späteren Fürsten von Neuchâtel, Herzogs von Wagram, Generalstabchefs des Kaisers) und Lannes’ (des Herzogs von Montebello, der bei Aspern tödlich verwundet wurde), unter dessen Kommando ich im Jahre 1808 in Spanien diente. 1801 kehrten wir nach Frankreich zurück. Ungeachtet der glänzenden Siege, welche wir über die ägyptische Armee davongetragen hatten, war ja der Ausgang der Expedition nicht glücklich. Wir sahen das alle ein, vom General bis zum gemeinen Manne, und kehrten daher in einer nicht übermäßig freudigen Stimmung in die Heimat zurück. Hier aber erwartete uns ein Triumph. In Lyon bereitete der erste Konsul der ägyptischen Armee einen so glänzenden Empfang, daß wir in den Augen ganz Frankreichs als Helden dastanden. Bei dieser Gelegenheit zeigte Napoleon so recht jene Eigenschaften eines Heerführers, durch die er sich die Herzen der Soldaten zu gewinnen wußte. Zwanzig Jahre lang gingen diese mit dem Rufe „Vive l’Empereur“ in den sichern Tod, nur um einen zufriedenen Blick von dem Kaiser, ihrem „Petit Caporal“, wie er scherzweise genannt wurde, zu ernten.

Im Jahre 1805 war ich bei Austerlitz, im folgenden Jahre machte ich die Schlacht bei Jena mit, welche das damalige Schicksal Preußens entschied. Auf dem Marsche nach Berlin gehörte ich wiederum zu der Eskorte, welche den Kaiser begleitete. In Potsdam, bei dem Besuche des Grabes von Friedrich dem Großen, sprach der Kaiser, wie man damals sagte, folgende Worte, nachdem er den Degen des Königs genommen und seinen eigenen an dessen Stelle gelegt hatte: „Ich nehme den Degen Friedrichs und lasse Preußen den meinen; der eine ist so viel wert wie der andere.“ Ich weiß nicht, inwieweit dieses wahr ist; persönlich habe ich die Worte nicht gehört, aber in der Armee war diese Aeußerung in aller Munde.

Im Jahre 1808 befand sich das 2. Husarenregiment unter der Zahl derjenigen Regimenter, welche unter dem Kommando Lannes’ in Spanien kämpften. Unter allen Kriegen des Kaiserreichs war der spanische durch besondere Härte und Grausamkeit ausgezeichnet. Von der Geistlichkeit angestachelt, erhob sich das ganze Volk. Einem solchen Widerstande begegneten wir später nur noch einmal – in Rußland, auf dem Rückzuge von Moskau. Die Belagerung von Saragossa, bei dessen Einnahme ich verwundet wurde, ist mir besonders im Gedächtnisse geblieben. Der Heldenmut der Spanier erreichte hier seinen höchsten Grad; an der Verteidigung beteiligte sich die gesamte Bevölkerung, vor allem die Frauen. Jede Straße, jedes Haus war eine fast unüberwindliche Festung, welche nur mit ungeheurem Verluste erstürmt werden konnte. Für die Teilnahme an diesem Kampfe wurde ich mit dem Orden der Ehrenlegion belohnt.

Bald stieß mir ein Unglück zu, welches sich gleichfalls meinem Gedächtnisse tief eingeprägt hat. Dies ist meine Gefangenschaft in einem spanischen Inquisitionskerker. Mit zehn anderen Gefährten wurde ich damals in eine ziemlich große Kasematte gesperrt, welche wahrscheinlich noch zu jener Zeit als Folterkammer diente und in der wir einige Eisengeräte vorfanden, die wir zur Bewerkstelligung unserer Flucht benutzten. Es gelang uns, eine Höhlung in die Wand unseres Gefängnisses zu machen, durch die wir, unter dem Schutze der Nacht, entflohen. Ungefähr vier Wochen lang irrten wir in den Bergen umher, wo wir uns fast ausschließlich von Salat und Apfelsinen nährten, bis wir endlich wieder unser Regiment erreichten. Von jenen elf Genossen sahen aber nur drei die Heimat wieder; die übrigen waren dem Hunger und den Strapazen erlegen.“

Hier kommt eine Lücke in dem Berichte, die aber Herr Woensky in liebenswürdiger Weise in dem seine Mitteilungen begleitenden Briefe ergänzt hat. Savins Regiment gehörte zu jenen, welche im Jahre 1809 Spanien verließen, um in dem Feldzuge gegen Oesterreich verwendet zu werden. So kämpfte Savin auch auf den Schlachtfeldern von Aspern und Wagram, um dann im Jahre 1812 gegen Rußland geschickt zu werden. Hier setzt der Bericht des Alten wieder ein:

„Im russischen Feldzuge von 1812 gehörte unser Regiment zum dritten Corps der Großen Armee und stand unter dem Kommando des Marschalls Ney. Mit ihm machte ich den ganzen Feldzug mit vom Niemen bis zur Moskwa und wieder zurück bis zur Beresina. In der Schlacht bei Krasnoi, wo mir mehrere Pferde unter dem Leibe [716] erschossen wurden, ward unser Corps vollständig vernichtet. Zur Beresina kamen nur einige hundert Mann, ohne Artillerie, ohne Pferde, dazu vollständig ermattet und gequält von Hunger und Kälte.“

Aus dieser Stelle geht unzweifelhaft hervor, daß Savin auch jenen in der Kriegsgeschichte geradezu einzig dastehenden Marsch Neys über den Dniepr mitgemacht hat. Der Sachverhalt war kurz folgender: Bei Krasnoi am 17. November fast vollständig aufgerieben und von der „Großen Armee“ abgeschnitten, war Ney mit den Ueberbleibseln seines Corps zur Nachtzeit mit unerhörter Kühnheit über den halbzugefrorenen Dniepr marschiert und auf langem Umwege und nach Aufopferung seiner sämtlichen Bagage, Artillerie und Pferde mit noch 600 Mann wieder zu dem Hauptheere gelangt. Napoleon hatte ihn verloren gegeben und war in äußerst niedergeschlagener Stimmung nach Orscha weitermarschiert. Der kaiserliche Geheimsekretär Baron Fain schildert uns in seinem „Manuscrit de 1812“ die ungemein dramatische Scene, wie die Rettung Neys zu den Ohren des Kaisers gelangte. Dieser saß gerade in dem Oertchen Baranoui mit den Marschällen Berthier und Lefebvre zu Tische, als sein Generaladjutant Gourgand (sein späterer Gefährte in der Verbannung von St. Helena) mit der Meldung hereinstürzte, der Marschall Ney wäre da. Der Kaiser sprang vom Tische auf, faßte den Arm des Generals und stieß in tiefer Bewegung nur die Worte hervor: „Ist das auch wirklich wahr?“ Gourgand antwortete, polnische Offiziere, die dem Marschall vorausgeritten, seien soeben in Orscha eingetroffen und der Vicekönig Eugen sei dem Neyschen Corps entgegengerückt. Da rief der Kaiser aus: „Ich habe zweihundert Millionen in den Kellern der Tuilerien, ich hätte sie hingegeben, um den Marschall Ney zu retten.“ Der General Gourgand hat diese Einzelheiten in seiner kritischen Besprechung des bekannten Ségurschen Werkes über den Feldzug von 1812 selbst mitgeteilt.

Der alte Savin gedenkt in seinen Erzählungen mit besonderer Rührung eines Mannes, der in jener entsetzlichen Zeit Unendliches geleistet, der durch seine unausgesetzten Bemühungen Tausende vor dem schrecklichen Tode des Erfrierens gerettet habe. Es war dies der bereits genannte Larrey, der erste Doktor der „Großen Armee“, dem auch Nicolas Savin selbst in jenen Tagen das Leben verdankte.

Nicolas Savin,
der letzte Lieutenant der Großen Armee.
Nach einer Zeichnung von J. Grothe.

Sehr interessant sind des Alten Erinnerungen an den Uebergang über die Beresina. Noch einmal wollen wir dem Erzähler selber das Wort geben: „An der Beresina angekommen, versammelten sich die verschiedenen Corps bei dem kleinen Dörfchen Studianka, wo sich schon der Kaiser mit dem Reste der Garde befand. Mit fieberhafter Hast schritt man zum Bau zweier Brücken, die eine für die Infanterie und Reiterei, die andere für die Artillerie und das Fuhrwerk. Da man keine Pontons hatte (ein mitgenommener Brückentrain war, wie so vieles andere, auf dem Rückzuge vernichtet worden), so baute man die Brücken auf Pfählen, welche unsere braven Pioniere, bis unter die Arme zwischen treibenden Eisschollen im Wasser stehend, einrammten. Man mußte sich beeilen, da der Feind uns auf den Fersen folgte. Vor seinem Uebergange auf das jenseitige Ufer vertraute mir der Marschall Ney die Aufsicht über das Fuhrwerk mit der Kasse des Hauptstabes an. In der Kasse befanden sich mehr als vier Millionen Franken. Dabei befahl er, die Fuhren über die Brücke zu führen, welche für die Geschütze und das schwere Fuhrwerk bestimmt war. Ungeachtet meiner Vorstellungen über die Gefährlichkeit eines solchen Unternehmens, blieb der Marschall bei seinem Befehle, und ich mußte gehorchen. Ich sollte mit der Arrieregarde des Marschalls Victor die Brücke passieren. Das Hauptkommando und die Marschälle befanden sich schon auf der anderen Seite des Flusses. Die Ordnung schwand zusehends. Befehle wurden nicht mehr beachtet. Gerade hatte die Artillerie mit dem schweren Geschütze, mit uns zusammen, den Uebergang begonnen, als man von weitem die Piken der Kosaken auftauchen sah. Nunmehr wurde das Gedränge entsetzlich. Unser Fuhrwerk kam nicht einmal mehr bis zu der Mitte der Brücke, als diese unter der Last der Kanonen und Munitionswagen zusammenbrach und alles, was auf ihr war, Menschen, Pferde, Geschütz und Fuhrwerk, im Wasser versank. Vom Pferde abgeworfen, mit knapper Not dem Tode entgangen, wurde ich von dem übriggebliebenen, rückwärts flutenden Teile der Menge wieder mit auf das diesseitige Ufer gezogen, wo die Unsrigen bald von einem Kosakenhaufen umringt waren. Wir wären verloren gewesen, wenn nicht ein Mann in Generalsuniform die Kosaken aufgehalten und uns zur Ergebung aufgefordert hätte. Das war Platow selbst, der Hetman (Führer) der Kosaken, welchem auf diese Weise viele von uns die Rettung ihres Lebens verdanken.“

Mit dieser Erwähnung Platows, des berühmten Reiterführers der Jahre 1812 bis 1814, schließen, nach dem Berichte meines russischen Korrespondenten, die Erzählungen Savins. Als Gefangener an die Ufer der Wolga gebracht, ist dieser seit dem Feldzuge in Saratow verblieben, hat sich dem Lehrfache gewidmet und ist in diesem noch über 60 Jahre thätig gewesen. Er hat sich auch in Rußland verheiratet und lebt gegenwärtig mit seiner Tochter, einem gleichfalls schon recht alten Fräulein – Oedipus und Antigone – in einem bescheidenen Häuschen in einer der Nebenstraßen jenes halbasiatischen Ortes. In dem engen Stübchen, das der Greis bewohnt, hängen an der Wand zwei Aquarellbilder, die er selber gezeichnet, kostbare Erinnerungen aus den längst entschwundenen Tagen von 1812. Das eine hat er einst in Moskau gefertigt; es stellt ihn selbst dar als schneidigen Reiteroffizier in der Uniform des 2. Husarenregiments. Das andere ist der Kaiser Napoleon in der historischen Tracht, dem grauen Ueberrocke und dem dreieckigen Hütchen, den Blick sinnend in die Ferne gerichtet. So war er im Jahre 1812, und so hat ihn Savin fünfundzwanzig Jahre später nach dem Gedächtnisse gezeichnet, „sprechend ähnlich“, wie Herr Woensky mir mitteilt. Dieser besucht den uralten Krieger sehr gerne, und wir vermögen ihm nachzufühlen, wenn er versichert, daß er bei dem Eintritte unter das Dach des ehrwürdigen, von den großen Tagen der Vergangenheit gern plaudernden Alten „ein unerklärliches Gefühl empfinde, jenes geheimnisvolle Erzittern, welches der Wanderer empfindet, wenn er in die Gewölbe des Pantheons oder unter die Säulen des Kolosseums tritt, nur mit dem Unterschiede, daß hier nicht ein schweigendes Grab steht, sondern ein lebender Mensch weilt, der von der Geschichte eines ganzen Jahrhunderts zu berichten weiß“.

Unter dem Volke an der Wolga genießt der alte Savin jene Art schwärmerischer Verehrung, welche die Phantasie des Slaven dem Märchenhaften, Unbekannten in so reichem Maße entgegenzubringen pflegt. Der „Lieutenant der Großen Armee“ heißt er in dem Lande seiner einstigen Gegner, das ihm seit mehr als achtzig Jahren eine zweite Heimat geworden. Auch der Zar, der von der dürftigen Lage des Greises erfahren, hat ihn vor einiger Zeit mit einem Geschenke bedacht.

Aber im eigenen Valerlande blieb Savins Name vergessen, vergessen, wie so mancher von dem raschlebigen Volke vergessen wurde, der die „große Nation“ in den Tagen der Väter hat groß machen helfen. Die Franzosen, wenigstens die heutigen Republikaner, haben sich überhaupt verzweifelt wenig um die Veteranen des „großen Heeres“, die „ruhmvollen Trümmer“, wie man sie freilich nannte, gekümmert. Erst im verflossenen Jahre sind zwei hundertjährige Kriegskameraden des alten Savin, Louis André Manuel Cartigny, der Letzte von Trafalgar, und Constantin Denis, ein Mitkämpfer von Ligny und Waterloo, beide in großer Armut in ihrem eigenen Vaterlande gestorben. Wenn neuerdings der Pariser „Figaro“, von Herrn Woensky auf dessen Schützling aufmerksam gemacht, für den greisen Krieger eine Sammlung veranstaltet hat, so ändert das daran wenig. Der ganze Ertrag belief sich auf hundert Rubel, die man dem alten Veteranen zugesandt hat, der noch heute von der großen Revolution, von Jena und Eylau, von dem mörderischen Kriege in Spanien und den eisbedeckten Fluten der Beresina als Augenzeuge erzählen kann!


[717]
Afrikanische Haartrachten.
Von C. Falkenhorst. Mit Abbildungen von G. Mützel.

Chanca, ein Arzt aus Sevilla, der Christoph Columbus auf seiner zweiten Reise nach Westindien begleitet hatte, beschrieb in einem später berühmt gewordenen Briefe ausführlich die Lebensgewohnheiten der Eingeborenen auf den Antillen und äußerte unter anderem: „Ihren Kopf rasieren sie an verschiedenen Orten, dann lassen sie wieder Haarbüschel stehen – es ist unmöglich, ihre Frisuren zu beschreiben; nur soviel läßt sich sagen, daß, was man in Spanien auf den Kopf eines Wahnsinnigen zusammemhäufen könnte, man hier auf den Köpfen der Vornehmsten als höchsten Schmuck sieht.“

Aehnliche Beobachtungen werden fast überall gemacht, wo Europäer mit Naturvölkern zusammentreffen. In den Augen der großen Masse der daheimsitzenden Europäer ist der „Wilde“ ein glückliches anspruchsloses Geschöpf, das sich weder um Kleidung, noch um die neuesten Moden zu bekümmern braucht, das nichts von sogenannten Sitten der Gesellschaft gehört hat und sein Haar wachsen läßt, wie es ihm beliebt. Das ist aber in Wirklichkeit durchaus nicht der Fall. Die Ceremonien der Naturvölker sind viel umständlicher als die unsrigen, und Eitelkeit ist ihnen ebensogut bekannt wie uns, nur mit dem Unterschied, daß sie mehr Zeit haben, ihr zu frönen.

So hat auch das sonst so kleiderarme Afrika seine Stutzer und seine Salondamen, und manches Fräulein, welches das Näschen rümpft, wenn man es tadelt, weil es zu viel Zeit vor dem Spiegel verbringt, würde mit heller Befriedigung die Schilderungen lesen, welche Afrikaforscher von den oft sehr langwierigen Toiletten der Negerinnen gegeben haben.

Manjema-Frauen.

Auch das krause Wollhaar auf dem Kopfe des Negers sowie sein Bart erfreuen sich einer ausgezeichneten „Pflege“. Man kann mit Chanca sagen, daß es unmöglich ist, alle ihre Frisuren zu beschreiben, immerhin aber dürfte es interessant sein wenigstens einige hervorzuheben. Unsere Friseure mud Friseusen sind manchmal in Verlegenheit um neue Haartrachten. Der dunkle Weltteil bietet ihnen einen unerschöpflichen Brunnen, einen Füllkorb, aus dem Haarfrisuren ohne Ende zu Tage gefördert werden können. Vielleicht verlegen sie sich auf solche anthropologische Studien.

Wir wollen uns gleich in das Herz des Dunklen Weltteils versetzen und unweit von Njangwe an dem Riesenstrom Lualaba das menschenfressende Volk der Manjema aufsuchen, das durch seine Grausamkeiten, sowie durch die Helfershelferdienste, die es arabischen Sklavenjägern leistet, eine traurige Berühmtheit erlangt hat. Als Stanley auf seinem Zuge durch den Dunklen Weltteil im Jahre 1876 die Manjema besuchte, hefteten sie sich Knöpfe, kleine Kegel und Kuchen von Schlamm wie Schönheitspflästerchen an ihre Bärte, hinten an die Haare und hinter die Ohren. Der alte Häuptling Mwana Ngoy hatte seinen Bart in einen Ball schwarzen Schlammes zusammengerollt, seine Kinder trugen ihr Haar in Flechten mit daran hängenden Schlammfransen. Sein Trommler hatte eine große halbmondförmige Masse Schlamm am Hinterkopfe befestigt.

Einige hatten Hörner und Spitzen von Schlamm auf ihren Kopfscheiteln; andere, die noch stutzerhafter waren, bedeckten gleich den ganzen Kopf mit einer Krone von Schlamm. Die mit einer Fülle von Haar gesegneten Weiber gestalteten dasselbe vorn mit einem eingeflochtenen Gestell von leichtem Rohre zu einer damenhutförmigen Frisur und ließen es hinten bis auf die Taille in Massen von Locken herabfallen.

Häuptling Kitete von Mpungu.
Neger von Qua am Tanganjika. („Schneckenkopf.“)
Eine Frau des Königs Tschumbiri. („Das Schöpsköpfchen.“)

Ein anderer Häuptling, Kitete von Mpungu, der als Abzeichen seiner königlichen Würde eine im Feuer geschwärzte Herkuleskeule oder einen tüchtigen Knüttel führte, zeichnete sich durch einen 50 Centimeter langen geflochtenen Kinnbart aus, der an der äußersten Spitze mit einer Menge blauer Glasperlen verziert war. Sein[1] Haar war auch auf dem Wirbel seines Kopfes zu einer formlosen Masse in die Höhe gezogen.

Dieser Kitete begrüßte sechs Jahre darauf auch Wißmann und erschien vor ihm mit einem alten Ziegenbock zum Geschenk. „Sein Bild aus Stanleys Reisewerk,“ schreibt Wißmann, „erkannte er und war sehr entzückt, als ich es ihm schenkte. Was mußte er für ein Mann sein, daß sich die Weißen so mit ihm beschäftigten!“

Ja, so findet die afrikanische Reiselitteratur selbst im dunkelsten Afrika ihren Absatz, wenn auch nur blattweise.

Um aber auch die Frisur einer Häuptlingsfrau kennenzulernen, wollen wir rasch den Kongo hinabfahren und beim König von Tschumbiri verweile. Seine Damen sollen von schöner Gestalt sein, sie sind aber leider nicht nur Sklavinnen des Mannes, sondern auch Sklavinnen der Mode. Sie tragen Halsbänder von gar absonderlicher Art. Nicht einmal diejenige junge Europäerin, die bescheiden von Talmischmuck träumt, würde die Frauen von Dschumbiri darum beneiden; denn deren Schmuck besteht aus Messing, und die Halsbänder, die schon mehr auf den Schultern ruhen, sind bis zu drei Zoll stark und wiegen bis zu dreißig Pfund. Aber die schwarzen Schönen tragen diese Last mit stolzer Freude, denn auch ihre Weiberherzen sind eitel und von der Modethorheit befangen. Die Frisur dieser Tschumbiri-Damen ist sehr interessant. Die Haare werden zu drei oder vier Locken zusammengedreht und steif gemacht, so daß dann die Locken, wenn man sie so nennen darf, gekrümmten Spitzen oder Hörnern gleich das Haupt umgeben. Ein solches Porträt nannte ein Afrikaschwärmer einen „Poseidonkopf“, indem er an den Dreizack des Meergottes dachte, während ein anderer nüchternerer Mann auf die richtigere Bezeichnung „Schöpsköpfchen“ verfiel.

Gehen wir aber einmal nach Deutsch-Ostafrika! Halten wir an dem herrlichen Tanganjika! Eine große Zahl von Stämmen hat sich hier niedergelassen, und ebenso bunt sind die Haartrachten.

Wir finden hier die Widderhörner in den prächtigsten Exemplaren vertreten, und der englische Reisende Cameron versichert uns sogar, daß von den Wagguhha der Natur durch Anwendung falscher Haare nachgeholfen werde. Wir möchten aber aus diesem Gebiet nur zwei bezeichnende [718] Modelle hervorheben. „Pelzmütze“ können wir das eine nennen. Die Anfertigung desselben ist sehr einfach; man bindet um den Kopf ein starkes Perlenband und schert alle Haare weg, die darunter liegen, darüber läßt man aber einen tüchtigen Busch wachsen. Diese Frisur tragen vor allem die Frauen. „Schneckenkopf“ dürfte die zweite genannt werden. Man kann sie auf dem Markte von Udschi-udschi sehen, wenn die Eingeborenen von Rua mit den Erzeugnissen ihres Landes erscheinen Die Haare werden dabei zu recht starken Flechten geflochten, die, mit der nötigen Thonpomade steif gemacht, in ungeheuerlicher Länge wie die Fühlhörner einer Schnecke vom Kopf abstehen. Am Tanganjika ist übrigens ein besonderes Haaröl in Gebrauch, welches dem meisten Leuten das Ansehen giebt, als ob sie mit blutigen Köpfen umherliefen. Das Oel, mit welchem man das Haar einreibt, wird nämlich mit roter Erde vermengt. Manche schmieren auch gleich die Flechten mit roter Erde ein und glätten sie dann mit Oel, „aber wie schlagend auch der Effekt ist, es bleibt doch eine schmutzige Mode“, bemerkt Cameron dazu.

Wagogo-Neger

Unermüdliche Haarkünstler sind auch die räuberischen Wagogo, welche den Karawanen den Weg von Mpwapwa nach Tabora verlegen und sich jeden Schluck Wasser teuer bezahlen lassen. Auch bei ihnen gilt es für besonders schön, wenn das Haar in möglichst vielen Spitzen vom Kopfe absteht; um dies zu erzielen, greifen sie zu allerlei Hilfsmitteln; sie stecken Fasern des Affenbrotbaumes in die einzelnen Flechten hinein, oder umwickeln dieselben mit Eisen- oder Messingdraht. Andere rasieren sich das Haupt, lassen aber einige Haarbüschel stehen, welche alsdann als Stoff zu den sonderbarsten Figuren verwertet werden. In die Spitzen der Flechten werden noch farbige Glasperlen, Messingkugeln und dergleichen gesteckt. „Je toller, desto schöner“, ist hier der Wahlspruch.

Frauen von den Teitabergen.

Auf dem Wege von Mombas nach dem Kilimandscharo liegen die Teitaberge. Die Damen, die in denselben wohnen, sind sehr niedlich, aber auch putzsüchtig; wenn sie es „haben“, dann tragen sie Perlen über Perlen, nichts als Perlen, 20 bis 30 Pfund, auf ihrem mit Ruß und Kastoröl noch mehr geschwärzten Körper. Perlen setzen bei ihnen auch der Haarfrisur die Krone auf. Alles Haar um die Schläfen etc. wird wegrasiert und nur in der Mitte ein kreisrunder Fleck von 7 bis 10 cm Durchmesser gelassen. Mit großer Mühe ist es dort in Stränge geflochten, bis es aussieht wie ein Fegewisch. Auf jedem Strabg besonders sind Perlen von verschiedener Farbe eingeflochten. Um den geschorenen Teil des Kopfes ist ein 5 cm breites Perlenband gewunden, und von ihm hängen drei lange lose Stränge über die Ohren bis zu den Schulterm herunter. Was würden wohl die Glasperlenfabrikanten in Thüringen und in Venedig darum geben, wenn diese Perlenköpfe auch in Europa in Mode kommen wollten!

Wo die Neger mit Arabern zuammengekommen sind, haben sie auch deren Sitten zum Teil angenommen. Im Norden Afrikas werden Haare oder mindestens Bärte fleißig gefärbt, und zwar mit dem aus Blättern des Hennastrauches gewonnenen Farbstoff, den schon der Prophet Mohammed zum Färben seines Bartes benutzt haben soll. Mit Indigo vermischt, verleiht Henna dem menschlichen Haar eine schöne schwarze Farbe, und diese Mischung hat vor vielen europäischen Haarfärbemitteln den Vorzug, daß sie unschädlich ist. Unter dem Namen „persische Haarfärbung“ ist sie in Europa wiederholt versucht worden. Henna ist in Deutsch-Ostafrika, namentlich in Sansibar, bekannt und wird dort von den Negerinnen des Suahelivolkes als Schminke benutzt.

Doch genug der Beispiele! Afrika ist in der That das Land der Frisierkunst, und wir müssen sagen: „Alle Achtung vor diesem afrikanischen Haar!“ Was ihm zugemutet wird, das dürfte ein europäisches schwerlich vertragen. Wen aber ein stiller Neid um den starken Haarwuchs der Afrikaner beschleichen sollte, der kann sich trösten: ein starker Haarwuchs soll keineswegs ein Zeichen hoher geistiger Entwicklung sein! Im Gegenteil! Wenn das wahr sein sollte, so brauchten wir die Naturvölker um ihren Haarwuchs und ihre Frisuren nicht zu beneiden. Ich glaube aber – trotz aller Hochachtung vor der Wissenschaft würde sich mancher ein recht urwüchsiges Haar wünschen. Und der wesentliche Unterschied zwischen den Afrikanern und Europäern besteht eben darin: jene mißhandeln ihr Haar, das noch viel verträgt, diese pflegen recht sorgfältig das schwindende.




„Versalzen!“
Eine küchenwissenschaftliche Skizze.

Das Salz ist die wichtigste aller Speisezuthaten und die Kunst zu salzen bildet die Grundlage aller Küchenfertigkeit. Köchinnen, die diesen Namen in der That verdienen, verstehen auch diese Kunst ausgezeichnet – ein Blick auf die Masse des Gerichts, ein Griff in den Salznapf, und das Richtige ist getroffen! Wie lachen sie, wenn sie in Büchern lesen, man solle das Salz mit einer Wage oder mit einem „graduierten Gefäße“ abmessen! Aber auch die geschicktesten Köchinnen haben ihre Unglückstage. Da blutet ihr Herz, von Amors Pfeil getroffen, oder sie sind sonst „in Gedanken“, und mit einem Male ist die Suppe – versalzen! Selbst in dem weisesten Rate der Kochfrauen wußte man kein Mittel, das den Schaden wieder gut machen würde; denn wie sollte man das in der Suppe aufgelöste Salz wieder herausziehen! Da kamen die Naturforscher den Hausfrauen zu Hilfe und zeigten ihnen, wie man das überschüssige Salz in höchst einfacher Weise aus der Suppe entfernen kann, ohne diese ihrer sonstigen wertvollen Bestandteile zu berauben.

Unsere Leserinnen kennen gewiß das Pergamentpapier, das in der Speisekammer zum Verbinden von Büchsen verwendet wird. Dieses Papier ist nun ein ausgezeichnetes Entsalzungsmittel. Davon kann sich jeder leicht durch einige einfache Versuche überzeugen.

Wir nehmen ein viereckiges Stück Pergamentpapier, etwa so groß wie das Blatt eines gewöhnlichen Schreibheftes, und biegen seine Ränder nach oben, so daß daraus ein viereckiges Kästchen entsteht: um ihm Halt zu geben, stecken wir die vier Ecken oben mit Nadeln fest. Nun haben wir ein Gerät, das in der Wissenschaft ein „Dialysator“ genannt wird.

In diesen Pergamentkasten gießen wir starkes Salzwasser, d. h. gewöhnliches reines Wasser, in dem wir möglichst viel Salz gelöst haben, und stellen den Kasten in ein kleines und flaches Gefäß, etwa einen Suppenteller, der bis zur Hälfte mit reinem Wasser gefüllt ist. Kosten wir nun von Zeit zu Zeit von dem Wasser in dem Teller, so werden wir bemerken, daß es einen immer stärkeren salzigen Geschmack annimmt. Die Salzlösung dringt durch das Pergamentpapier in das Wasser im Teller, während dafür reines Wasser in den Kasten hineinwandert, gleichfalls durch das Papier hindurch. Der Kasteninhalt wird also entsalzen, und der Vorgang dauert so lange, bis das Wasser im Teller und das im Kasten einen [719] gleichen Gehalt an Kochsalz aufweisen. Nehmen wir an, daß dies in einer bestimmten Zeit, z. B. in zwei Stunden, geschehen ist.

Wenn wir darauf denselben Versuch mit einer Zuckerlösung ausführen, so werden wir wahrnehmen, daß auch in diesem Falle der Zucker durch die Wände des Pergamentpapierkastens hinauswandert; aber es wird bei weitem länger dauern, bis das Wasser im Teller und das in unserem Versuchskasten gleich süß schmeckt, d. h. den gleichen Gehalt an Zucker aufweist.

Wir lernen daraus, daß nicht alle im Wasser gelösten Körper mit gleicher Leichtigkeit durch Häute wie das Pergamentpapier hindurchtreten. In der Wissenschaft wird der Austausch verschiedener Flüssigkeiten durch Membranen oder Häute mit dem Namen „Osmose“ bezeichnet. Die Naturforscher haben nun das Verhalten der einzelnen Körper genau studiert und gefunden, daß die Unterschiede sehr groß sind, und die Techniker und Industriellen haben diese Eigenart der Körper für ihre Zwecke ausgebeutet. Um z. B. die Melasse in der Zuckerfabrikation von den Salzen, die im Rübensafte enthalten sind, zu reinigen, behandelt man sie in ähnlicher Weise, wie wir es mit der Salzlösung gethan haben. Die Salze gehen rascher durch das Pergamentpapier als der Zucker und so kann die Melasse gereinigt werden.

Unsere Suppen enthalten, je nach ihrem Ursprung, verschiedene gelöste Stoffe; wir finden in ihnen Fleisch- und Pflanzensalze, Extraktivstoffe, welche ihnen den Wohlgeschmack verleihen und anregend auf den Körper wirken, und nährende Stoffe wie Stärke und Eiweiß; dazu kommt noch das Kochsalz. Von allen diesen Bestandteilen der Suppen wandert nur das Kochsalz mit Behendigkeit durch das Pergamentpapier, während die anderen nur äußerst langsam oder auch gar nicht hindurchdringen.

Entsalzungs-Apparat.

Gießen wir also eine versalzene Suppe in einen Kasten, wie wir ihn oben beschrieben haben, und stellen diesen in ein mit reinem Wasser gefülltes Gefäß, so werden in der ersten Zeit große Mengen Kochsalz aus der Suppe hinauswandern, von den wohlschmeckenden und nährenden Bestandteilen jedoch nur Spuren durch die Pergamenthaut dringen können. Es liegt auf der Hand, daß wir auf diese Weise eine versalzene Suppe wieder entsalzen können. Nur ist ein mit Stecknadeln zusammengehefteter Kasten für den praktischen Gebrauch selbstverständlich zu schwach; er muß für Küchenzwecke durch einen Apparat ersetzt werden. Ein solcher ist von Dr. G. Fr. Meyer in Braunschweig zusammengestellt worden und in den Haushaltungsgeschäften zu haben. Er besteht, wie unsere Abbildung zeigt, aus zwei ineinander passenden siebartigen Gefäßen, zwischen die ein Bogen Pergament- oder Osmose-Papier hineingefaltet ist. Stellen wir nun den Entsalzungsapparat in reines heißes Wasser und gießen die versalzene Suppe hinein, so wird der letzteren in kurzer Zeit der Ueberschuß an Kochsalz entzogen.

Aber das Entsalzen der mißlungenen Suppe wird nicht so häufig nötig sein, daß die Hausfrauen bloß deswegen einen eigenen Entsalzungsapparat sich anschaffen würden.

In der Küche muß jedoch noch vieles andere entsalzen werden.

Seit uralten Zeiten benutzen die Völker das Kochsalz als Konservierungsmittel. Wir salzen und pökeln das Fleisch ein, bereiten Salzfische, z. B. Heringe, legen Bohnen und Gurken in Salz ein. Diese Konserven müssenm, bevor wir sie kochen, entsalzen werden, und dies geschieht in der Regel dadurch, daß man sie auswässert. Das Wasser entzieht ihnen das Kochsalz und den Salpeter, der vielfach zum Pökeln mit verwandt wird, aber es löst auch viele der nahrhaften und wohlschmeckenden Bestandteile des Fleisches, der Fische und der Gemüse auf. Diese wertvollen Stoffe gehen dann verloren, denn sie werden mit dem Salzwasser fortgeschüttet. Auch diesen Uebelstand beseitigt nun der Meyersche Osmose-Apparat für Küchenzwecke.

Bei seiner Benutzung waschen wir das betreffende Nahrungsmittel, z. B. Salzfleisch, gut ab, legen es in den Apparat, übergießen es mit Wasser und stellen den Apparat in ein größeres mit reinem Wasser gefülltes Gefäß, wobei wir darauf achten, daß die Flüssigkeit in beiden Gefäßen gleich hoch steht. Das Wasser im Apparat laugt nun das Salzfleisch aus, durch das Pergamentpapier gehen aber nur das Kochsalz und der Salpeter in das Wasser des größeren Gefäßes über, die schmackhaften und nährenden Stoffe bleiben zum allergrößten Teil in dem mit Pergamentpapier ausgekleideten Behälter zurück. Ist nun die Entsalzung vollendet, so kocht man das Fleischstück in dem Saft, der im Apparat zurückgeblieben ist, und erhält auf diese Weise ein Gericht, das viel wohlschmeckender und auch nahrhafter ist als ein durch die gewöhnliche Entwässerung hergestelltes.

Das Entsalzen in dem Meyerschen Apparate dauert etwas kürzere Zeit als das gewöhnliche Auswässern; im übrigen hängt die Dauer von dem Salzgehalt der Konserven und der Geschmacksrichtung ab. Der Apparat wird in verschiedenen Größen von 2 bis 20 Liter Inhalt hergestellt, so daß er in kleinen wie in großen Küchen gebraucht werden kann. Er verdient wohl die Beachtung der Hausfrauen; denn er vermag nicht nur eine versalzene Suppe zu „retten“, sondern er hat auch gesundheitliche Vorzüge, indem er die Schmackhaftigkeit und Nahrhaftigkeit vieler unserer gebräuchlichsten Konserven erhöht. J. 


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Die Sklaven.

Novelle von Ernst Eckstein.

 (2. Fortsetzung.)

Seit dem Zwiegespräche mit Afra, das ihm klar gemacht hatte, wie schwer er sich in den Gesinnungen dieses Mädchens täuschte, war Geticus nur von dem einen Gedanken beseelt: wie hintertreib’ ich, was Afra plant? Denn daß sie um keinen Preis die Gattin jenes verhaßten Ostländers werden dürfe, das stand ihm so fest wie der Glaube an das Rächeramt Jupiters.

Sonst nicht eben boshaft geartet, kannte er jetzt in seiner schäumenden Wut gegen den Leibarzt kein Maß mehr. Abergläubisch bei all seiner Schlauheit, gab er dem Ninus schuld, durch unlautere Kunstgriffe, Liebestränke und sonstige Zaubermittel bei Afra erreicht zu haben, was er, Geticus, nun vergeblich anstrebte; denn nur so schien es ihm faßlich, daß seine Jugendgespielin einem so ernsten und schweigsamen Manne, der fast doppelt so alt war als sie, den Vorzug gab. Im Kampfe mit einem so schmachvollen Gaukler jedoch war jedes Mittel erlaubt. Geticus befand sich im Zustand der Notwehr: thöricht, wenn er da irgend welches Bedenken trug!

Sein erster Einfall war der gewesen, dem Nebenbuhler unvermerkt Gift in den Wein zu mischen. Der wütende Grimm und die wahnwitzige Sehnsucht nach dem Besitze Afras, die ihm jetzt doppelt begehrenswert schien, da er sie fast schon dem Gegner verfallen sah, raubten ihm jede Fähigkeit, das Schurkische dieses Planes klar zu beurteilen. Ninus war für seinen erbitterten Haß kein menschliches Wesen mehr, sondern ein tückischer Dämon, nicht viel besser als das Geziefer in Kammer und Keller, dem der Proviantmeister schierlingdurchtränktes Brot streute. Auch für die große Gefahr, die ihm selber aus dieser Unthat erwachsen mußte, war er jetzt vollständig blind.

Plötzlich jedoch fiel ihm der Eid aufs Herz, den ihm die bangende Afra, wie in Voraussicht seiner unglaublichen Niedertracht, in so furchtbarer Form abgenommen. Er hatte geschworen dem Manne, den sie ihm nennen würde, nie und nirgends feindlich entgegenzutreten, niemals die Hand wider ihn zu erheben oder sonstwie eine gewaltsame That an ihm auszuüben. Jupiter selbst sollte ihn friedlos machen in Zeit und Ewigkeit, wenn er den Schwur brach! Das überkam ihn jetzt wie eine vollständige Lähmung. Alles, was ihm die Unabwendbarkeit dieses Fluches bestätigen konnte, tauchte in bunter Verworrenheit aus der Erinnerung empor und erschreckte ihn mit den furchtbarsten Larven. Die Furien sterben nicht! Am Grabmal des Gnejus Vitruvius, der vor mehr als neunzig Jahren zu Pästum verstorben war, ging es noch heute allnächtlich um und erfüllte die Gärten der Via Appia mit dem entsetzlichen Klageruf: „Wehe dem Meineidigen!“ Und dann klirrten die Ketten, und ein Stöhnen erscholl, herzzerreißend wie der Sterbelaut eines Gefolterten. Auf der Insel des Tiberstroms, unweit des Hafens, stand ein verfallenes Haus, das der Eigentümer, ein Ritter aus Corduba, weder neu aufzubauen noch vollständig niederzureißen wagte; denn ein Blitz, der nicht zündete, hatte die Rückwand just an dem Tage in Trümmer gelegt, da dreißig Jahre verstrichen waren seit dem entsetzlichen Meineid des Tullius Celer, der vor dem Prätor unter Anrufung der rächenden Gottheit die Richtigkeit eines von ihm gefälschten Testamentes beschworen hatte und, auf der Stelle von einem Blutsturz niedergeworfen, im Angesichte des Tribunales verstorben war. Am Tage nach jenem zermalmenden Blitzstrahl fand man auf einem Kalkstück, das von der berstenden Wand losgebröckelt war, seltsame Schriftzeichen, die von den Kundigen als die Kürzung eines unheimlichen Bekenntnisses ausgelegt wurden. Dies Bekenntnis lautete: „Den verwaisten Kindern des Bruders, denen dies Haus gehört, wollte ich Meineidiger ruchlos entziehen, wo sie ihr Haupt hinlegen könnten. Nun hetzt mich die furchtbare Hekate durch die Schlünde der Unterwelt.“

Diese und andre Erinnerungsbilder jagten sich in dem aufgeregten Gemüte des Sklaven wie unheilverkündende Wolken. Vornehmlich jedoch hallten die Worte des Isispriesters in seinem Ohr, die ihm so grausenhaft und so überweltlich geklungen hatten wie nichts zuvor. Daß der Aegypter ihm diese Lektion nur in sehr eigensüchtiger Absicht erteilt hatte, um ihn demnächst desto sicherer zu [720] binden, wenn er ihn bei seinen Plänen gegen den isisfeindlichen Lucius Menenius gebrauchen würde, das benahm der Lektion nichts von ihrer gewaltigen Wirkung; denn Geticus ahnte nicht den Zusammenhang, und so war diesmal ein überzeugungsloser Verächter der Wahrheit ihr starker Prophet gewesen.

An dem Vormittage, an dem Lucius Menenius den großen Empfang hatte, war bei Geticus nachgerade ein Zustand eingetreten, welcher an Irrsinn grenzte. Immer und immer wieder drehten sich seine Gedanken im nämlichen Kreislaufe: Ninus darf die holdselige Afra niemals besitzen – aber er wird sie besitzen! Ich, Geticus, will und muß ihm gewaltsam den Weg verlegen – aber ich kann nicht! Den Mord würde der Totenrichter verzeihen, wenn er in mein zerrissenes Herz blickte. Für den Meineid jedoch giebt’s keine Sühne, bis dereinst nach Aeonen die uranfängliche Nacht zurückkehrt.

Dabei malte sich seine selbstquälerische Einbildungskraft vorschauend die ganze Entwicklung der Zukunft – die Freilassung des Ninus sowohl wie der Afra; den unerschöpflichen Dank der Plotina, die es natürlich für ihre Pflicht hielt, der Braut ihres vermeintlichen Retters eigenhändig die Hochzeit zu rüsten; das Festmahl im Xystus, an dem die ganze Familie, vom Hausherrn bis herab zu dem niedrigsten Kehrsklaven, teilnehmen würde; den Hochzeitsgesang und den Reigen der Tänzerinnen; die Wegführung der verschleierten Braut, deren rosige Glut durch das leichte Gewebe von Kos hindurchflammte wie die Sonne durch Nebelrauch. ... Und er, Geticus, würde das alles mit ansehen, den Stachel der Qual im Herzen, ohnmächtig, in starrer Verzweiflung!

Nein, das war undenkbar!

Vorübergehend schwebte ihm eine Lösung vor, die zwar beinahe so fürchterlich wie der Meineid, aber immer doch eine Lösung war . . . Er mußte die treulose Afra töten und dann sich selbst. Kaum aber hatte er diesen Gedanken gefaßt, als er ihn auch mit Ungestüm über Bord warf. Die Vorstellung, dies bezaubernde Mädchen, das ihm der Inbegriff alles Holden und Wonnigen war, grausam dahinzuschlachten, flößte ihm den unsagbarsten Schauder ein. Beide Hände streckte er von sich, als nahe ihm die Versuchung in Gestalt einer grausenhaften Lemure. „Nie, nie!“ stöhnte er durch die Zähne. „Fluch mir, daß ich’s auch nur sekundenlang denken konnte!“

Und dann, von dieser Unmöglichkeit abgesehen: Ninus würde sie überleben, würde ihr Grab pflegen, ihrer verewigten Seele Totenopfer und Kränze darbringen! Das wäre ein schlechter Trost für den Verzweifelten, der sie getötet hätte. Nein! Er gönnte dem Nebenbuhler nicht einmal den Schmerz um die Abgeschiedene. Ninus selbst mußte fallen, das war der einzige Ausweg! Und dieser einzige Ausweg schien ewig versperrt.

Zwei Stunden vor Mittag, nachdem sich die Scharen der Morgenbesucher im Atrium längst schon verlaufen hatten, befand sich Geticus allein im Bibliothekzimmer. Der Bibliothekar hatte ihm den Auftrag erteilt, die letzten Nummern des römische Nachrichtenblattes, der „acta diurna“, die hier bunt durcheinander auf einem der broncenen Tische lagen, chronologisch zu ordnen und in die eigens dazu bestimmten Kästen zu legen.

Die „acta diurna“, das offizielle Amtsblatt der Stadt und des Staates, das, teils durch die sogenannten Diktiersklaven, teils durch Privatunternehmer vervielfältigt, bis in die fernsten Provinzen des Weltreichs versandt wurde, brachten die wichtigsten Mitteilungen aus dem Gebiet des politischen, gesellschaftlichen und litterarischen Lebens; die Erlasse der Verwaltungsbeamten, die Senatsverhandlungen unter wörtlicher Wiedergabe einzelner besonders interessanter Reden, bedeutsame Botschaften aus allen Weltgegenden, Prozeßverhandlungen; und schließlich eine bunte Rubrik, in der bemerkenswerte Ereignisse aus dem öffentlichen Verkehr, Unglücksfälle, Naturerscheinungen, Heiraten hervorragender Persönlichkeiten, Verbrechen, sowie die Programme der Wettrennen, der Gladiatorenkämpfe und sonstiger Schauspiele mitgeteilt wurden.

Die Exemplare, die Lucius Menenius unmittelbar von der Expedition empfing, waren, ungleich den für die große Masse bestimmten, von besonders geübten Schreibern auf das feinste alexandrinische Pergament geschrieben, schwarzbraun auf hellgelb, und ganz nach Art größerer Manuskripte je um ein Stäbchen gerollt, dessen hervorstehende Knöpfe in Pupur und Silber glänzten.

Geticus, dem diese Arbeit erwünscht kam, denn sie lenkte ihn einigermaßen von seinen hirnzerwühlenden Selbstbetrachtungen ab, rollte die Exemplare einzeln auf, um nach dem Datum zu schauen.

Da fiel ihm, als er die Nummer vom siebenten Mai in der Hand hielt, gleich auf der Titelseite der mehrfach wiederholte Name des Lucius Menenius ins Auge. Es handelte sich um eine Senatssitzung, die sich vorwiegend mit der Anklage wider einen ungetreuen Provinzbeamten beschäftigt hatte. Die Spitzbübereien, die hier zur Erörterung gelangten, waren so überraschend, daß Geticus weiter las. Und wie er so unter dem Lesen merkte, daß die bohrende Pein seines Gemüts nachließ, fuhr er mit Lesen und Blättern fort und griff in die anderen Rubriken hinüber, wo von der Freisprechung eines Aedilen die Rede war. Und dann kam eine Angelegenheit der spanischen Provinz Bätica und eine Nachricht von der germanischen Grenze ...

Er las und las. Da plötzlich stutzte er. Eine glühende Blutwelle stieg ihm jäh in die Stirne. Er mußte sich mit der Hand auf die Tischplatte stützen. Gierig, zitternd, mit vorquellenden Augen verschlang er nun jede Silbe. Dann glitt der Ausdruck eines wilden Triumphes über sein Antlitz. Er rollte das Pergament zusammen und schwang es in seiner Faust wie eine Waffe.

Das war’s! Das mußte alles ins rechte Geleis bringen – wenn anders sich Afra nicht völlig verblendet und jeder Furcht vor dem Zorn eines Verzweifelten unzugänglich erwies. Und blieb sie dauernd verstockt – gut! Hier hatte er, was ihn rächen würde! Auf jeden Fall war nun das Schicksal des Ninus endgültig besiegelt. Der elende Schleicher würde niemals die reizende Blume pflücken, an deren Duft er sich so glühend berauscht hatte! Niemals! Und Geticus brauchte trotzdem seinen Eid nicht zu brechen.

Er unterdrückte kaum einen Jubelschrei. All die Bilder, mit denen er sich noch eben gequält hatte, waren nun hinfällig. Kein trautes Familienfest und kein prangendes Hochzeitsmahl! Kein Hymenäus für den widerlichen Asiaten und keine verschleierte Braut mit schmachtenden Glutaugen! Es war ein Umschwung wie vom Elysium zum Tartarus!

Geticus überlegte. Die Drohung, mit der er nun Afra in seine Gewalt bekam, würde wohl ausreichen, den Barbaren hinwegzudrängen. Aber was dann? Durfte er sich mit der Hoffnung tragen, ihr Herz zu erobern, wenn er sie auf diese Weise von dem Mann ihrer Wahl riß? Ihr Herz! Was lag ihm daran! Zunächst galt es, ihren Besitz zu erlangen. Sie mußte ihm ihre Hand zuschwören bei dem nämlichen Jupiter, bei welchem er ihr geschworen hatte. Nur dann, wenn sie sich ihm feierlich angelobte, würde er von der Verwirklichung seiner Drohung zurückstehen! Pah, und wenn er sie erst besaß, sie selbst vom Scheitel zur Sohle, dann wollte er mit der Zeit auch ihr Herz gewinnen!

Verzerrten Gesichts ging er ans Werk, die „acta diurna“ in die Buchkästen zu verteilen. Die eine Nummer jedoch hielt er zurück und barg sie im Bausch seiner Tunika. Hiernach verließ er den einsamen Raum und begab sich nach dem Speisegemach der „Ordinarii“, wo man für die bevorzugten Sklaven eben das Mahl verabreichte.

Da saßen nach altlatinischer Weise auf Holzstühlen Heliodorus und Ninus, Afra und die kunstbegabte Coronis, der Bibliothekar und der feiste Proviantmeister – und mit ihnen wohl noch ein Dutzend der „Angeseheneren“, plaudernd, essend und trinkend, formvoller im Verkehr, als neulich die buntgemischte Gesellschaft der Xystus-Zecher, aber doch weit entfernt von jener nachäffenden Vornehmheit, wie sie dem Sklaven eignet, der sich beständig als willenloses Besitztum seines Gebieters fühlt. Auch ward kein unwirsches Wort gegen die Kleinsklaven laut, welche bei Tisch bedienten.

Geticus warf dem Leibarzt einen verschleierten Blick zu. „Warte nur!“ stand in dem Blicke zu lesen, „eh’ noch die Sonne sinkt, wird sich Dein Uebermut abkühlen!“ Dabei wunderte sich Geticus über die Maßen, wie wenig Ninus und Afra ihre Beziehungen merken ließen.

Als die Mahlzeit beendet war, fand sich für Geticus die Gelegenheit, unbemerkt an Afra das Wort zu richten.

„Mädchen, ich habe mit Dir zu reden! Ganz unter vier Augen! Beim Jupiter, es handelt sich um Dein Leben! Du weißt, Afra, ich schwöre nicht falsch! Wo und wann bist Du zu treffen?“

Afra, die schon im Begriff war, ihm spöttisch den Rücken zu kehren, stutzte bei diesem Ton.

„Wo und wann?“ wiederholte er unheimlich.

Die Sklavin starrte ihm ratlos in die wild funkelnden Augen. Sie zögerte, dann sagte sie achselzuckend:

„In anderthalb Stunden. Hinter dem Rosengehege.“

„Gut! Sei pünktlich!“


[721]

Aufstieg zur Kirchweih.
Nach einem Gemälde von A. Hengeler.

[722] Bis zu der Frist, die Afra ihm festgesetzt hatte, trieb sich Geticus, dessen Obliegenheiten im Hause erledigt waren, ruhelos unter den Säulengängen des Peristyliums und des Xystus umher. Als er für einen Augenblick sich auf die polsterbelegte Bank gestreckt hatte, wo ehvorgestern der Obersklave das „Heilmittel“ des Ovid in Empfang genommen, kam der Leibarzt vorüber und grüßte ihn.

Geticus gaffte ihm breit ins Gesicht, ohne den Gruß zu erwidern.

„Ist Dir nicht wohl?“ frug Ninus, da ihn der glanzlose Blick des Jünglings befremdete.

Die Lippen geschlossen, wandte sich Geticus ab, während der Leibarzt kopfschüttelnd seinen Weg fortsetzte. . Geticus hörte noch, wie der Verhaßte beim Durchgang zum Atrium ein paar freundliche Worte mit der Sklavin Coronis wechselte. Der Ton, in dem Coronis dem Leibarzt antwortete, klang so lebendig und warm, daß Geticus wütend emporfuhr. Wie mochte erst Afra zu diesem verwünschten Gaukler sprechen, wenn schon dies Mädchen da, dem er doch gleichgültig war, so unwiderstehlich von der einschmeichelnden Art seines Wesens bethört wurde! Der niederträchtige Komödiant, der sich mit seiner geschraubten Bedächtigkeit und dem pfiffigen Lächeln überall wichtig machte! Wie jetzt Coronis ihm nachschaute! Dankbar und voll abgeschmackter Bewunderung, als schreite ein gnadenspendender Gott über die Fliesen! Beim Herkules, man mußte die Blütezeit hinter sich haben und auf die steif pathetische Haltung des opfernden Agamemnon geschult sein, wenn man den Weibern von heute noch gefallen wollte!

„Nun Coronis, was treibst Du hier?“ fragte er ingrimmig, da sich die junge Sklavin noch immer nicht rührte.

„Geticus! Du erschreckst mich zu Tode!“ sagte Coronis, aus ihrer Verträumtheit erwachend. „Was ich hier treibe? Du siehst, ich stand just im Begriff, den Blumen da Wasser zu geben.“

Ein leichtes Rot stieg ihr jetzt warm ins Gesicht. Geticus stutzte. Hatte er sich am Ende getäuscht, als er Coronis für gleichgültig hielt? Diese fliegende Glut – kam sie nicht einem Geständnis gleich? Der verlogene Halbbarbar machte also Eroberungen, wo er nur hintrat! Er winkte – und alles, was lange Haare trug, lag ihm girrend zu Füßen, während er, Geticus, nicht einmal das erreichte, was ihm doch einzig auf dieser Welt noch von Wert erschien! Wer konnte denn wissen, ob der Asiate nicht heimlich auch mit Coronis getändelt hatte und sich nur deshalb für eine Verbindung mit Afra entschied, weil Afra vor allen übrigen Sklavinnen bei Lucius Menenius in Gunst stand?

Kaum gedacht, schien ihm diese Erklärung auch zweifellos. Das Ganze war elende Berechnung! Nun, um so rückhaltsloser mußte er durchführen, was er sich vorgesetzt!

Er tastete mit der Hand nach der Stelle der Tunika, wo er die „acta diurna“ verwahrt hielt. Was Afra für Augen machen, wie sie sich bäumen und winden und wehren würde! Aber was half’s ihr! Diesem entscheidenden Schlag konnte sie nicht widerstehen; sie mußte sich fügen wie einer Bestimmung des Schicksals. Und wenn sie trotz alledem Nein sagte? Wohl! Dann mochte alles toll über den Haufen stürzen und zwar sofort!

Jetzt erst kam ihm zu Sinne, daß er für diese Möglichkeit noch nicht gerüstet war. Einen Augenblick überlegte er. Hiernach rief er der Kammersklavin Coronis ein spaßhaftes Wort zu, als gelte es ihm, die Harmlosigkeit seiner Gemütsverfassung recht glaubhaft zu machen. Während Coronis, die jetzt eifrig am Werk war, die Blumen und Blattpflanzen des Peristyls mit frischem Quellwasser zu begießen, ihm lachend antwortete, schritt er ins große Eßzimmer und kehrte nach zwei Minuten zurück, um dann abermals mit Coronis einige Scherzreden zu wechseln. Seine Stimme jedoch hatte sich eigentümlich verändert. Sie klang so unsicher und gedrückt, daß Coronis, in ihrer Beschäftigung innehaltend, die Frage that: „Wie bist Du nur, Geticus! Hast Du ’was auf dem Herzen?“

Geticus lachte. „Wie käm’ ich dazu? Nun vollends Dir gegenüber! Oder erwartest Du gar eine Liebeserklärung?“

„Da müßt’ ich verrückt sein!“

„Weshalb hältft Du das für so unmöglich?“

„Pah! Eine Liebeserklärung von Dir! Da doch alle Welt weiß, daß Du für Afra glühst.“

„So? Das weiß alle Welt?“ stammelte Geticus. „Nenne mir doch die verlogenen Schufte, die dergleichen in Umlauf setzen!“

„Niemand setzt das in Umlauf, aber man hat seine Augen . . . Ja, beim heiligen Feuer, weshalb wirst Du so blaß, Geticus? Mich dünkt, es ist doch just keine Schande, die Afra bezaubernd zu finden. Wir alle schwärmen für sie. Ich glaube, sogar Ninus, der Leibarzt, giebt ihr den Vorzug.“

Geticus wandte sich ab; er schäumte. Jetzt kam zu allem, was ihn zerfraß, noch die wühtende Eitelkeit und der Zorn über sich selbst, daß er, der Verschmähte, seine Empfindungen so schlecht zu verbergen gewußt, während doch Ninus, der Glückliche, sich so meisterhaft in der Gewalt hatte.

„Weibergewäsch!“ knirschte er vor sich hin. Dann verließ er das Peristyl. Die anderthalb Stunden waren jetzt nahezu um. Er schritt nach dem Park.

Dort angelangt, ging er in keuchender Unrast hinter dem Rosengehege auf und ab, immer von Zeit zu Zeit nach der Pergamentrolle und dann weiter links nach einem andern, ebenso vorsichtig eingebauschten Gegenstand fühlend.

Afra kam. Sie hatte sich umgekleidet. Eine lichtblaue Tunika schmiegte sich fest um die schlanke Gestalt. Lichtblau waren die Bänder im Haar, das überdies noch mit einer tiefdunkeln Mohnblume geschmückt war, und lichtblau die schöngezackten Sandalenschnüre.

„Ich habe nur wenig Zeit,“ sagte sie schon von weitem. „Lucius Menenius schickt die Lysandra und mich zur jüngeren Paulina, um eine Botschaft seiner Gemahlin auszurichten. Also beeile Dich!“

„Ein paar Minuten wirst Du wohl opfern können. Ich sagte Dir schon, wie viel von dem, was ich Dir mitteilen muß, abhängt. Dein Leben und meines – und mehr noch, wie Du sofort begreifen wirst. Afra, aus Deiner Heirat mit Ninus kann unter keiner Bedingung etwas werden. Trittst Du nicht freiwillig sofort zurück – – Aber gestatte mir, daß ich zunächst Dir ein fesselndes Bruchstück der ‚acta diurna‘ vom siebenten Mai vorlese!“

„Und darum bestellst Du mich hier in den Park?“

„Just darum. Du wirst mir einräumen, daß die Neuigkeit, die Du hören sollst – oder vielleicht ist es für Dich keine Neuigkeit mehr – eng im Zusammenhang steht mit der Unmöglichkeit Eurer Hochzeitspläne.“

„Du sprichst wie ein Prätor, so kühl und so siegesgewiß. Ich bitte Dich, laß doch die Possen und sag’ mir kurz und bestimmt . . .“

„Hör’ zu!“

Er nahm die Rolle aus seiner Tunika und las mit gedämpfter Stimme:

„Gestern wurden die sieben Sklaven des Ritters Tullius Corvinus, der, wie man weiß, auf seinem Landhaus zu Alsium von einem der Sieben meuchlings ermordet wurde, zum Anger der Frevler geführt und dort durch den Beilhieb des Henkers dem Tod überantwortet. Die Unthat des Mörders fand somit ihre gesetzliche Sühne. Seit Anfang des laufenden Jahres ist dies nunmehr schon der zweite Fall, daß unser altes Gesetz über die Mitschuld der Nichtthäter in Anwendung kommt.“

Afra rückte mit ihren rosigen Fingern das überquellende Haar zurecht.

„Was soll’s damit?“ fragte sie gleichmütig, als Geticus geendet hatte.

„Das rechne Dir aus, mein Kind!“

„Ich bin auf solche Exempel nicht eingeschult.“

„So wia ich Dir’s klar machen. Beim Rächer der Meineide hab’ ich geschworen, dem götterverhaßten Buben, der Dich gekirrt hat, nicht an die Gurgel zu springen. Auf diese Art also kann ich das zärtliche Bündnis, das ihr Euch vorgesetzt, nicht vereiteln. Dich selbst zu erdolchen – wie Du’s verdient hättest – dazu fehlt mir der Mut. Wenn Du mich ansähest mit Deinen verschwimmenden Rehaugen, dann würd’ ich den Stahl wider mein eigenes Herz kehren – und dann bliebet ja Ihr beide übrig und könntet Euch ungestört Eurer Liebe freuen, während ich moderte. Aber es giebt hier ein Drittes, und dieses Dritte – das schwör’ ich Dir abermals bei dem allrächenden Jupiter – dieses Dritte führ’ ich Dir aus, falls Du nicht jetzt, in dieser Minute noch, Dein verruchtes Verhältnis zu Ninus lösest und mir gelobst, mein zu sein mit Leib und Seele bis an mein Ende!“

„Geticus!“ schrie Afra entsetzt, denn sie hatte den Dolch gewahrt, dessen vergoldeten Knauf er jetzt mit der Hand berührte.

„Du hast nichts zu besorgen!“ raunte er, tonlos vor Leidenschaft. „Ich sagte Dir schon: Dich zu töten, fehlt mir der Mut! Tritt nur heran! Beim Jupiter (Du nötigst mir Eid um Eid auf) beim Jupiter sei Dir beteuert: wie Dein Entschluß auch ausfalle, [723] diese Faust wird Dir kein Haar krümmen! Afra, Du siehst doch, wie die Verzweiflung mir die Nerven zerwühlt! Sprich ein vernünftiges Wort, eine Silbe nur, die mir Hoffnung giebt . . .“

Afra hatte sich wieder gefaßt. „Was soll ich Dir sagen?“ murmelte sie, beinahe von Mitleid ergriffen. „Ich bin doch für mein Herz nicht verantwortlich. Siehst Du, Geticus, wenn Du den Ninus kenntest, wie ich ihn kenne …“

„Schweig’! Nenne mir diesen verruchten Namen nicht! Ich Narr, daß ich nochmals in diesen kläglichen Ton zurückfiel! Ich konnte es vorher wissen, daß ich in Güte hier nichts zu erwarten habe! Aber ich will nicht – hörst Du, ich will nicht, daß er Dich je besitzt, und da nur der eine Weg mir noch übrig ist, so beschreite ich ihn! Schau’ Dir die Klinge hier an! Syrischer Hartstahl! Sie zerschneidet ein Gitter! Wohl denn, Afra: mit dieser Klinge durchbohr’ ich die Brust des Lucius Menenius, wenn Du mir nicht sofort als mein ewiges Eigentum in die Arme sinkst. Starr’ Du nur wie betäubt! Ich halte Dir Wort! Und was diese That Dir besagt, Dir und dem heuchlerischen Barbaren, das weißt Du!“

„O Du Erbärmlicher!“ stöhnte das Mädchen, die Hand vor die Augen pressend. „So also meinst Du mich um mein Glück zu betrügen? Und Du redest Dir ein, ich würde aus Furcht nun die Deine werden, nachdem Du dies ruchlose bübische Wort gesprochen? Siehst Du, wenn mich in dieser Minute der Mann, den ich anbete, treulos im Stich ließe und ich stünde allein und verwaist und hätte kein lebendes Wesen, das meiner sich annähme. ich stürzte mich lieber zwischen die Bestien des Amphitheaters, als daß ich mit Dir, dem Verworfenen, alle Genüsse der Welt teilte! Wahrlich, fein und überachlau hast Du das ausgeklügelt! Kein Missethäter, seitdem die Erde steht, hat es Dir gleichgethan …“

„Rede nicht, sondern entscheide Dich! Du kennst das Gesetz. Du weißt, daß es hier kein Erbarmen giebt. Sämtliche Sklaven, die sich zur Zeit der Ermordung im Hause befinden, fallen dem Henker anheim! Dein angebeteter Ninus wird ebenso zuverlässig dahingeschlachtet wie Du und die abgeschmackte Coronis, die ihn so herrlich und hehr findet! Alle, alle sterben den qualvollen Tod gemeinschaftlich mit dem Thäter! Nur ich selbst komme dem Henker zuvor, denn mit der nämlichen Klinge, die den Mord vollführt, bring’ ich dies pochende Herz für ewig zur Ruhe! Schmerzlos und rasch werd’ ich hinabsinken, während Ihr übrigen … Afra, denk’ an die Folter! Denk’ an den himmelschreienden Jammer so vieler Schuldlosen!“

„Ich denke daran und verfluche Dich!“

Sie war auf ihn zugesprungen. Eh’ er sich dessen versah, hatte sie ihm das Handgelenk fest umklammert. Mit übermenschlicher Anstrengung suchte sie ihm den Dolch zu entwinden, während sie laut und verzweifelt um Hilfe rief.

„Närrin!“ ächzte der Sklave, der sich ersflglos mühte, seine Hand zu befreien. „Das also ist Deine Antwort! Nun, Du hast es gewollt!“

„Was geht hier vor?“ klang eine ernste Stimme vom Hause her.

Es war Lucius Menenius, der, seine Wachstafel zwischen den Fingern, höchst erstaunt in den Park trat.

„Hüte Dich, Herr!“ schrie Afra, deren Kraft zu erlahmen begann. „Geticus droht Dir mit Mord!“

Eh’ noch Menenius Zeit hatte, über den Sinn des befremdlichen Ringkampfes und die Berechtigung dieses Warnrufs klar zu werden, hatte sich Geticus losgerissen. Mit einem kräftigen Stoß vor die Brust warf er das junge Mädchen zurück, daß sie taumelte.

„Du hast es gewollt!“ knirschte er wie ein Rasender.

Im nächste Augenblick hatte er sich mit voller Gewalt auf den Hausherrn geworfen und ihm den haarscharfen Dolch bis ans Heft in die Brust gebohrt. Gleichzeitig aber war ihm der eiserne Griffel des Ueberfallenen, der sich zur Wehr gesetzt, zolltief in die linke Schläfe gedrungen.

Wie vom Donner gerührt, stürzte Getikus über den Haufen, die syrische Waffe in der Brust des Menenius zurücklassend.

Ein paar Schritte noch wankte Menenius in der Richtung einer moosüberkleideten Bank. Er besaß noch die Kraft, sich würdevoll in die Toga zu hüllen, die ihm bei dem bestialischen Angriff des Geticus von der Schulter gesunken war. Dann glitt er leise und langsam auf den geschorenen Rasen.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.

Für die darbenden Weber im Glatzer Gebirg, die droben im „böhmischen Winkel“ von Preußisch-Schlesien in Elend und Not dahinsiechen, weil ihre Handweberei schon lange nicht mehr der wirtschaftlichen Uebermacht des Maschinenbetriebs Stand halten kann, hat vor dreieinhalb Jahren die „Gartenlaube“ einen Hilferuf erlassen, der im Kreise unserer Leser die wärmste Aufnahme fand. Durch einen Vertrauensmann, der zur Feststellung des Thatbestands eigens für uns die Gegend bereiste, erhielten wir bestätigt, mit wie großer Berechtigung Herr Pfarrer Klein in Reinerz die öffentliche Aufmerksamkeit auf den damaligen akuten Notstand gelenkt hatte, für dessen Linderung wir so erfolgreich die Mildherzigkeit unserer Leser in Anspruch nehmen durften.

Die Untersuchung der in den Weberdörfern der Grafschaft Glatz herrschenden Zustände ergab aber auch, daß dem akuten ein chronischer Notstand zu Grunde lag, daß die Privatwohlthätigkeit keine Besserung von Dauer herbeiführen könne, ohne organische Reformen, zu deren Durchführung die Hilfe des Staates nötig sei. Den Wünschen und Forderungen, wie sie von ortskundiger, sachverständiger und dabei uninteressierter Seite in der Gegend selbst zum Ausdruck gelangten, haben wir daher schon damals (in Nr. 10 und 16 des Jahrganges 1891) unsere Teilnahme zugewandt und neben den an die Privatwohlthätigkeit gerichteten Hilferuf die Forderung der Staatshilfe gestellt.

Jetzt wird nun wieder die öffentliche Aufmerksamkeit auf die stillen Thäler zwischen Mense- und Eulengebirge gelenkt, durch Nachrichten, die sich mit der dort herrschenden Webernot beschäftigen. Und diesmal sind es glücklicherweise solche, die uns bestätigen, daß die so dringend erforderliche Staatshilfe sich wirklich an der Arbeit befindet und der preußische Handelsminister, Freiherr von Berlepsch, sich neuerdings persönlich an Ort und Stelle begeben hat, um mit eigenen Augen die Verhältnisse zu prüfen. Freilich, die seit jenem Hilferuf verstrichene Zeit von dreieinhalb Jahren ist eine lange Frist, aber aus der Rede, welche der Minister nach Beendigung seiner Inspektionsreise auf einer von ihm in Reichenbach zusammenberufenen Konferenz von Beamten und Industriellen gehalten hat, geht wenigstens hervor, daß in dieser langen Zwischenzeit die Regierung doch nicht müssig gewesen ist. Und zu unserer Genugthuung sehen wir, daß die seiner Zeit in der „Gartenlaube“ in Vorschlag gebrachten Maßregeln, wenn auch nur zum Teil, in Ausführung begriffen sind, so die Verbesserung und rationelle Ergänzung der Handwebestühle, die Auszahlung von Prämien für diejenigen Söhne der darbenden Familien, welche einen anderen Beruf ergreifen, die Ueberweisung von Staatsaufträgen an solche Unternehmer, welche Handweber beschäftigen, und die Einführung lohnender Industriezweige in die landwirtschaftlich unergiebige Gegend.

Aber wenn man dem ausführlichen Berichte der „Schlesischen Zeitung“ über diese Konferenz entnimmt, mit welcher Langsamkeit bisher die Auf- und Verbesserung der Handwebestühle in den Hütten der Darbenden durchgeführt worden ist, so daß von 11369 Familien, die damit unbedingt zu bedenken sind, erst 1472 diese Hilfe empfingen, wenn man weiter liest, daß dabei das für eine Beschleunigung nötige Geld bis zu einer gewissen Grenze zur Verfügung war, so steht man vor einer Unbegreiflichkeit. Es ist dringendst zu wünschen, daß die vom Minister für die völlige Durchführung dieses Hilfewerks als erforderlich bezeichnete Summe von 97000 Mark umgehends aus Staatsmitteln flüssig gemacht wird und schleunigst zur Verwendung gelangt. Und in gleicher Weise müssen wir aufs lebhafteste befürworten, daß endlich auch die von allen uninteressierten Sachverständigen der Gegend für so dringend nötig erklärte Webschule errichtet werde, auf daß ein neues Webergeschlecht unabhängig von seiner Verwendung in den Fabriken die einkömmlicheren Betriebsweisen seines Handwerks erlerne. Der Minister erklärte ja selbst in jener Konferenz, daß auch er seinerseits die Errichtung einer solchen Webeschule für höchst wünschenswert halte. Auch sind zur Durchführung des Projektes von der Regierung Verhandlungen mit der Stadt Reichenbach gepflogen worden, welche zur unentgeltlichen Hergabe eines Bauplatzes und einer einmaligen Zahlung von 75000 Mark bereit ist. Nur an der Zögerung der Regierung, den von ihr dagegen geforderten weit geringeren Zuschuß zu übernehmen, liegt es, daß die Frage der Ausführung noch immer eine offene ist. Ganz ebenso ist der Ausbau der Zweigbahn Glatz-Reinerz bis zur österreichischen Grenze, obgleich seit 15 Jahren bereits im Prinzipe genehmigt, bis zur Stunde an der Kostenfrage gescheitert. Und doch – hier handelt es sich eingestandenermaßen um rund 12000 Familien notleidender preußischer Staatsbürger, die trotz Arbeitsamkeit und nüchternster Lebensführung unverschuldet ein Dasein in Elend verbringen, das nach Abhilfe schreit; darf da, wenn es zu helfen gilt und man die Notwendigkeit dazu auch eingesehen hat, in solcher Weise gespart und gezögert werden?!

[724] Ernst Keils Witwe †. Die treue Lebensgefährtin Ernst Keils, des Begründers der „Gartenlaube“, Frau Lina Keil, ist ihrem im Jahre 1878 verstorbenen Gatten in einem Alter von 72 Jahren am 1. Oktober in die Ewigkeit nachgefolgt. Lina Aston aus Zorge im Harz war eine anmutige Erscheinung, als sie Ernst Keil in Leipzig kennenlernte und mit ihr 1844 den Bund fürs Leben schloß. Aber nicht diese Aeußerlichkeit, sondern ihre inneren Vorzüge, die er sehr bald erkannte, waren es, die ihn zu dieser Wahl bestimmten. Und er sollte sie nicht bereuen. Sie war ihm ein treues und liebendes Weib, dem kein Opfer zu groß erschien, wenn es sich um das Wohl des Gatten handelte. Alle Widerwärtigkeiten, die ihm das Leben brachte, suchte sie ihm durch verdoppelte Liebe vergessen zu machen. Und wenn er abends überanstrengt von des Tages Mühen und Sorgen an ihrer Seite saß, dann wußte sie ihm sein Heim durch liebevolles Eingehen auf allerlei kleine Wünsche oder Eigenheiten zu einer wahren Stätte der Erholung zu gestalten. Aber nicht allein das – Lina Keil besaß nicht nur Gemüt, sie verfügte auch über seltene Geistesgaben, welche es ihr ermöglichten, den Ideen und Zielen, denen Ernst Keil nachstrebte, das vollste Verständnis entgegenzubringen. Ja, sie stand mit ihrer Begeisterung für alles Gute und Schöne, mit ihrem festen klaren Urteil und dem warmen richtigen Empfinden, das doch frei von aller Empfindelei war, ihrem Manne als echte und rechte Beraterin zur Seite, der er gern seine Ansichten mitteilte, seine Pläne anvertraute. Und so hat sie auch bei der Begründung der „Gartenlaube“ eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Es war im Jahre 1852. Keil war – ein Opfer der zu jener Zeit herrschenden Censur – als „Staatsverbrecher“ wegen Preßvergehens nach Hubertusburg gebracht worden, sein Weib war ihm mit den Kindern bis ans Thor des Gefängnisses gefolgt und hatte sich, um ihm nahe zu sein, in dem unfern gelegenen Wermsdorf niedergelassen. Mit umsichtiger Sorglichkeit war sie von hier aus bemüht, dem Gefangenen sein Los zu erleichtern, sie ermöglichte es mit Ueberwindung der größten Schwierigkeiten, ihm durch Lektüre und Briefe sowie andere Liebesbeweise die trüben Tage zu erhellen, und vermittelte die ersten Schritte zur Verwirklichung des in dieser Haft von ihm gefaßten Planes der Gründung der „Gartenlaube“. Was sie damals gethan, das ist von ganz entscheidendem Einfluß auf Ernst Keil und sein Blatt gewesen und ihr von ihrem Manne nie vergessen worden.

Eine schwere Zeit brach mit dem Weihnachtsfeste 1871 über die Familie herein, an dem die Nachricht von dem Tode des einzigen Sohnes, der sich auf einer Forschungsreise im Orient befand, in die Heimat gelangte. Da galt es, dem Vaterherzen über den ersten großen Schmerz hinwegzuhelfen und die verzweifelten Gedanken in ruhigere Bahnen zu lenken. Aber auch diese Aufgabe vollbrachte – ungeachtet der eigenen Herzenswunde – die treue Gattin durch die Liebe. Und sieben Jahre später traf sie das Schwerste, das ihr das Schicksal bringen konnte. Auch ihr Gatte, mit dem sie 34 Jahre hindurch Freud’ und Leid geteilt, sank in das dunkle Grab hinab. Das war ein harter Schlag, der sie tief daniederbeugte. Aber ihr Pflichtbewußtsein ließ sie nicht in thatenloser Trauer ihre Tage verbringen, sie raffte sich zu neuem Leben empor und betrachtete es fortan als ihre Aufgabe, ganz in dem Andenken des teuren Entschlafenen aufzugehen und im Sinne desselben weiter zu wirken. Und so nahm sie seine stille Wohlthätigkeit, die Einfachheit und Schlichtheit nach innen und außen und die Sorge um die geliebte „Gartenlaube“ auf sich.

Aber bald sah sie doch ein, daß die „Gartenlaube“, sollte sie das, was Keil aus ihr gemacht, auch in Zukunft bleiben, einer festen leitenden Manneskraft bedurfte, die sich ihr voll und ganz widmen konnte. Und so gab sie das geliebte Blatt im Jahre 1884 wohl aus der Hand – die „Gartenlaube“ erschien von da ab im neuen Verlage – aber aus den Augen, aus dem Herzen hat sie es nie gelassen und bis an ihr Ende ein warmes Interesse für das aus dem Bunde mit ihrem Gatten hervorgegangene Geisteskind bewahrt. Und darum steht auch die „Gartenlaube“ heute unter den nächsten Leidtragenden am Grabe der seltenen Frau und trauert um ihre treueste Freundin.


Ein Matrosenskat. (Zu dem Bilde S. 709.) An Bord eines Kriegsschiffes ist eigentlich niemand – am allerwenigsten der Kommandant – zu irgend einer Zeit dienstfrei. Selbstverständlich fehlt es nicht an den nötigen Pausen zum Schlafen und Essen, und es sind auch die sogenannten „Freizeiten“ da, an denen in der Regel der allgemeine Dienst ruht. Aber niemals sind Offiziere und Mannschaften sicher, daß sie nicht im nächsten Augenblick durch irgend ein unvorhergesehenes Ereignis zur Arbeit gerufen werden. Um so höher schätzt der Matrose die kargen Stunden der Freiheit, die ihm vergönnt sind, und jeder beeilt sich, denjenigen Gebrauch von ihnen zu machen, der seinen Neigungen oder Bedürfnissen am meisten entspricht. Dabei entstehen dann solche Bilder wie das, welches unser Zeichner festgehalten hat. Der eine schläft, der andere liest, ein dritter holt einen Brief aus der Heimat hervor, andere rauchen oder thun gar nichts oder „kibitzen“ bei dem Skat, den ein paar Kameraden zusammen „schmettern“. Denn der unvermeidliche Skat macht nicht bloß auf dem Lande, sondern auch auf dem Meere seine Herrscherrechte geltend, „soweit die deutsche Zunge klingt“, und unsere Blaujacken, die in der Auswahl ihrer Unterhaltungsmittel so knapp gestellt sind, nehmen natürlich gern zu ihm ihre Zuflucht. – Ueber dem ganzen Bilde lagert der Eindruck des Behagens, um so fühlbarer für den, der weiß, wie spärlich solche Augenblicke im Seedienst zugemessen sind.


Die Vorstellung der Braut. (Zu dem Bilde S. 713.) Ein entscheidender Augenblick! Nicht kraft einer lange vorher getroffenen Abmachung der Eltern, wie es sonst wohl unter den Familien des alten französischen Adels Sitte war, ist der junge Marquis zu seiner Braut gekommen, er selbst hat sie sich gewählt, und vielleicht aus einem Geschlechte, das seinem stolzen Herrn Vater nicht ganz ebenbürtig dünkt. Da können nur die persönlichen Eigenschaften der Erkorenen die Kluft überbrücken, alles kommt darauf an, ob der natürliche Liebreiz ihrer Erscheinung, ihre tadellose gesellschaftliche Sitte dem Oberhaupte der Familie soviel Achtung abnötigen, daß es, wenn auch ungern, seine Einwilligung erteilt. Vorerst malt sich denn auch noch viel kritische Zurückhaltung im Gesicht des alten Marquis, und auch seine Umgebung scheint nicht geneigt, aus der rein beobachtenden Rolle herauszutreten, bevor die Mienen des Hausherrn dies rätlich erscheinen lassen. Mit einem gewissen Stolz in den Zügen läßt die schöne Braut die nicht eben wohlwollende Prüfung über sich ergehen; sie wie die begleitenden Verwandten sind sich ihres Wertes wohl bewußt. Aengstliche Spannung aber verrät die Miene des Bräutigams: wie wird der Spruch des allgewaltigen Vaters ausfallen? Und wenn er „Nein“ sagt – die weichen Linien im Gesicht des Sohnes deuten nicht darauf hin, daß dieser einem ernsthaften Kampf um den Besitz der Geliebten gewachsen wäre.


Die Wirkung der neuen Handfeuerwaffen. Als die kleinkalibrigen Gewehre bei den Heeren Europas eingeführt wurden, brachten die Aerzte die tröstende Kunde, daß diese neuen Waffen „human“ seien, d. h. daß das neue Geschoß im Vergleich zu dem alten Wunden erzeuge, die leichter heilen. Nur zu gern hat auch die „Gartenlaube“[2] dieser frohen Botschaft Glauben geschenkt. Leider waren die Bedingungen, unter welchen man damals die Wirkung der neuen Geschosse prüfte, nicht einwandsfrei: den Aerzten standen nicht genügend große Schießplätze zur Verfügung, und so führten sie ihre Versuche mit verringerter Pulverladung aus, indem sie von der Ansicht ausgingen, daß diese auf kurze Entfernungen ebenso wirke wie die volle Ladung auf große. Um Klarheit zu schaffen, wurden nun neuerdings von deutschen Militärärzten Versuche mit voller Pulverladung auf gefechtsmäßige Entfernungen bis zu 2000 Metern angsstellt. Da zeigte sich, daß die früheren Proben zu einer leider ganz falschen Ansicht über die Wirkung der kleinkalibrigen Gewehre geführt hatten. Oberstabsarzt Schjerning hat im Auftrage des Generalstabsarztes Dr. v. Coler auf dem internationalen Aerztekongreß zu Rom einen Vortrag gehalten, aus dem zweifellos hervorgeht, daß die Ansicht von dem humanen neuen Geschoß unwiderbringlich verloren ist. In künftigen Kriegen werden wir nicht nur mehr Verwundete, sondern auch mehr Schwerverwundete zu versorgen haben, und die Thätigkeit des Arztes wird viel schwerer, viel verantwortlicher sein. Ein Trost bleibt allerdings: die Chirurgie hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, und so wird sie sich hoffentlich auch der schwierigeren Aufgabe gewachsen zeigen. Eine Erörterung der Zerstörungen, die das neue Geschoß anrichtet, möge uns erspart bleiben. Wir wollen durchaus nicht durch grausige Schilderungen aufregen, sondern in Anbetracht jener feststehenden betrübenden Thatsache daran erinnern, wie wichtig es ist, schon im Frieden die Thätigkeit der deutschen Vereine vom Roten Kreuz nach allen Kräften zu fördern, damit im Falle der Not die Liebe die Schrecken des Krieges zu mildern vermöge! *      

Aufstieg zur Kirchweih. (Zu dem Bilde S. 721.) Das ist ein beschwerlicher Aufstieg! Und wenn die Kirchweih, die von den beiden alten Musikanten alljährlich ein so mühevolles Wandern fordert, auch glücklicherweise in die kühle Herbstzeit fällt, warm ist’s ihnen längst geworden und dazu regt sich ein Durst in ihren Kehlen … ein Durst, der nachgerade unerträglich wird. „Uff!“ – Aber dieser Quälgeist spornt sie auch an, das letzte Stück unverdrossen zu überwinden. Denn oben im „Goldnen Lamm“ erwartet sie nicht nur die ungeduldige Schar der Burschen und Mädchen, die ihrem meisterlichen Spiel auf Brummbaß und Waldhorn das rechte Verständnis entgegenbringt, sondern auch der frische Labetrunk aus Maßkrügen, die einen tiefen Boden haben und aus denen ein ordentlicher Musikantentiefschluck für den langen Marsch aus der Tiefe zum Dorf empor ein „Lohn, der reichlich lohnet“ sein wird.


  1. WS: Im Original „Sin“
  2. Vergl. Jahrgang 1890, Nr. 10.

KLEINER BRIEFKASTEN.


Anfrage. Giebt es jemand, der alte ausgeschriebenen Stahlfedern kauft? Ein wohlthätiger Verein bittet uns um Vermittlung eines Absatzgebietes dafür, um den Erlös zur Unterstützung armer Kinder vernwenden zu können. Für gütige Angabe einer Adresse im voraus besten Dank!

J. W. v. Eyndhoven in Pittsburg. Leider konnten wir für Ihre Schilderung des Festes, mit welchem der Deutsche Kriegerbund der Vereinigten Staaten in den Tagen vom 19. bis 22. August sein zehnjähriges Bestehen gefeiert hat, keinen Raum erübrigen. Doch geben wir gern wenigstens in dieser kurzen Form von der Thatsache des Festes und den auf Pflege des Heimatgefühls gerichteten Bestrebungen des „Bundes“, der von ehemaligen Mitgliedern des Deutschen Heeres gebildet wird, den Lesern der „Gartenlaube“ Kenntnis.

A. V. in C. Für Ihr Manuskript haben wir zu unserem Bedauern keine Verwendung.

P. W. in Caracas. Der Roman „Gesprengte Fesseln“ von E. Werner erschien im Jahrgang 1874 der „Gartenlaube“, liegt aber jetzt auch in der reizenden illustrierten Ausgabe von E. Werners gesammelten Romanen und Novellen als deren dritter Band (zusammen mit „Verdächtig“) vor. Wenn Sie die Wernerschen Erzählungen beisammen haben wollen, so können wir Ihnen diese illustrierte Ausgabe sehr empfehlen.

Teresa de A., Avila. Wir sind, so leid es uns thut, nicht in der Lage, von Ihrer Anregung Gebrauch zu machen.


Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (6. Fortsetzung). S. 709. – Ein Matrosenskat. Bild. S. 709. – Die Vorstellung der Braut. Bild. S. 713. – Der letzte Lieutenant der Großen Armee. Von Paul Holzhausen. S. 714. Mit Bildnis S. 716. – Afrikanische Haartrachten. Von C. Falkenhorst. S. 717. Mit Abbildungenn S. 717 und 718. „Versalzen!“ Eine küchenwissenschaftliche Skizze. S. 718. Mit Abbildung S. 719. – Die Sklaven. Novelle von Ernst Eckstein (2. Fortsetzung). S. 719. – Aufstieg zur Kirchweih. Bild. S. 724. – Blätter und Blüten: Für die darbenden Weber im Glatzer Gebirg. S. 723. – Ernst Keil’s Witwe †. S. 724. – Ein Matrosenskat. S. 724. (Zu dem Bilde S. 709.) – Die Vorstellung der Braut.S. 724. (Zu dem Bilde S. 713.) – Die Wirkung der neuen Handfeuerwaffen. S. 724. – Aufstieg zur Kirchweih. S. 724. (Zu dem Bilde S. 721.) – Kleiner Briefkasten. S. 724.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.