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Die Gartenlaube (1897)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[277]

Nr. 17.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten. 0
Alle Rechte vorbehalten.


Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

(16. Fortsetzung.)

Hede Kerkow konnte es nicht lassen, sie trug die kleinen Sächelchen, die sie für die Kinder gearbeitet hatte, am Heiligen Abend in der Dämmerung nach der Oberförsterei hinunter. Sie wußte, der Oberförster war nicht zu Hause, er pflegte an diesem Tage immer noch ’mal einen Gang durchs Revier zu machen, den Wilddieben zum speziellen Vergnügen, die auf einen Festtagsbraten pirschten. Es gab dort ein paar arg verrufene Kerle in der Gegend, die aber, wenn sie dem Oberförster auf der Chaussee begegneten, ganz besonders höflich grüßten und deren Gruß von ihm leutselig erwidert wurde. Der Grüßende dachte dann: Hol’ dich der Teufel! Der Kerl hat die Nase überall – ich wollt’, er fiele in sein eigenes Gewehr! – Und der andere dachte: Warte nur, alter Freund, einmal krieg’ ich dich doch, und wenn du noch so unschuldig daher trottest und – dann gnade dir Gott!

Hede hatte zuweilen durch den alten Knecht des Hauses grausige Geschichten von Wilddiebereien gehört, und als am vergangenen Weihnachtsabend der heimkehrende Oberförster erzählte, daß der „lange Schreiber wieder wildere“ und, vom Förster Roberti verfolgt, auf diesen geschossen habe, da hatte ihr das Herz still gestanden vor Schrecken. „Aber wenn der Schuß nun getroffen hätte? war ihre bange Frage gewesen. Darauf die Antwort. „Je nun, Fräulein von Kerkow, dann hätte man den armen Kerl seiner Frau zur Weihnachtsbescherung tot oder verwundet ins Haus gebracht, und der erste wär’s nicht gewesen, dem es so erging.

Weiter nichts – aber es war gerade genug. Hede Kerkow hatte seither immer Unruhe gehabt, wenn der Oberförster nicht zur rechten Zeit heimkehrte. Es wäre so schrecklich für die armen Kinder gewesen – damit hatte sie ihr klopfendes Herz entschuldigt vor sich selber. Heute ging sie so gegen fünf Uhr hinunter in die Oberförsterei. Sie wollte ganz rasch unter die Kinder ihre kleinen Gaben austeilen und dann in der Schloßkirche die Weihnachtspredigt anhören.

Heinz hatte seinem armen Jungen bereits um vier Uhr einbeschert. Die Augen des kranken Kindes hingen mit anderm Ausdruck an den Lichtern des Baumes wie sonst wohl Kinderaugen, und Heinz? Er war wortkarger gewesen als je und hatte imdunklen Erker gestanden und hinausgeblickt in die Ferne, als ob er dort etwas suchen müßte, so daß Hedwig zum erstenmal der Gedanke aufgestiegen war, ob er Toni doch vielleicht geliebt habe.

Heinz hatte der Schwester auch etwas geschenkt – Geld zu einem Kleide oder Mantel oder dergleichen.

„Nimm’s nicht übel, es ist mir schrecklich, Frauenzimmern Geschenke zu kaufen, ich versteh’ ’s nicht“, hatte er gesagt. Die Gabe von ihr hatte er kaum angesehen, es war ja auch schließlich weiter nichts – ein Bildchen Heinis Köpfchen nach einer Photographie auf Porzellan gemalt. Lieber Gott, eine Künstlerin war sie natürlich nicht, aber sie hatte doch gemeint, er werde sich darüber freuen!

Sie wischte eine Thräne von der Wange, als sie jetzt den Drücker an der Hausthür der Oberförsterei faßte, und im nächsten Augenblick hatte sie wirklich unter dem Jubel der Kinder das eigne Leid vergessen. Als ob das Christkind in eigner Person erschienen sei, so glücklich waren die Kleinen, so

Johannes Brahms.
Nach der letzten Aufnahme des Hofateliers von R. Krziwanek in Wien.

[278] umarmten, umschrieen und umtanzten sie die langersehnte, böse, liebe Tante in der alten lieben Wohnstube, in der es gleichwohl nicht die Spur weihnachtlich aussah. Auch Karoline lief herzu und freute sich. „Nee, endlich ’mal – endlich ’mal, Fräulein, und wie wird sich man bloß der Herr freuen, wenn er zurückkommt! Und Sie bleiben doch zum Karpfen? Ich hab’s immer noch nich ’raus mit die Meerrettichsauce.“

Aber die Kinder erklärten, sie ließen die Tante nicht in die Küche, und die Tante müsse helfen den Weihnachtsbaum putzen in der guten Stube, Agnes hätte das thun sollen, aber die Lichter purzelten immer wieder herunter. „Gelt, Tante?“ scholl es, „du bleibst hier?“ und dann umschlangen sie die sechs Aermchen und die glücklichen Kinderaugen lachten sie an, und was wurde ihr alles versprochen wenn sie bliebe!

„Das Schönste, was ich bekomme, gebe ich dir,“ versicherte der Junge, „zur Hälfte wenigstens,“ setzte er geschwind hinzu. Und klein Mariechen erklärte: „ich nehme Vater das Seifenfleckel wieder fort und schenke es dir, wenn du bleibst. Und ihr? Ihr liefen die dummen Rührungsthränen aus den Augen, und sie sagte nun: „Kommt rasch, ich putze den Baum, – dableiben kann ich aber nicht, denkt doch an den armen kleinen Heini!“ Im Salon zündete sie die Lampe an, auf welcher der Staub fingerdick lag, und schürte das Feuer, denn noch war es längst nicht warm, dann machte sie sich mit fieberhafter Eile über den Baum her. Die Kleinen standen mit glühenden Gesichtern und sahen zu, Agnes reichte das Konfekt und die Wachslichter. Als er hergerichtet war, holte Hedwig ein Tuch und wischte den Staub so hastig, als thäte sie etwas Verbotenes, bei dem sie sich um Gottes willen nicht abfassen lassen dürfte; in zitternder Hast legte sie dann ihre kleinen Geschenke unter den Baum, nachdem sie vorher die Kinder hinausgesperrt hatte, und wie ein Wirbelwind war sie plötzlich in der Küche und quirlte die Sahne zur Karpfensauce.

„Wann kommt der Herr zurück?“ fragte sie dabei.

„Ach, das kann spät werden,“ meinte der alte Knecht, „er wollte ins Buchroder Revier und ist hingeritten.“

Hede warf einen Blick auf die Uhr, es war noch nicht halb Sechs. „Ich muß um sechs Uhr fort, Karoline, muß noch in die Kirche,“ sagte sie. „Merk’ auf – vor dem Anrichten thust du den geriebenen Meerrettich in die Sahne, das ist alles.“

„Ach, Fräulein, warten Sie doch noch einen einzigen Augenblick. Ich hab’ so’n nötigen Gang,“ bettelte das Mädchen „nachher sind die Läden alle zu und ich möchte so gern noch einen Shawl kaufen für meinen Fritz und kann die Kinder doch nicht allein lassen!“

„Ja, aber, liebe Karoline, dann rasch!“ Und Hede setzte sich ganz nervös auf den Küchenstuhl „Bitte, rasch, Karoline!“ wiederholte sie.

„Aber wie ein Hase laufe ich,“ rief diese, nahm den flanellgefütterten Kattunmantel und stürzte hinaus, als ob es brennte.

Draußen sagte sie vor sich hin, indem sie ihre Eile mäßigte „Na, warten Se man een beten, bis der Herr Oberförster nach Hause kommt – ick hab’ kein’ Eil’ Und als sie nach einer längeren Weile zurückkehrte, saß Fräulein von Kerkow noch da und sah mit gefurchter Stirn vor sich hin und hatte gar nicht gemerkt, daß Karoline eine geschlagene halbe Stunde fortgewesen war.

„Es ist noch viel Zeit bis zur Kirche,“ sagte das Mädchen, „ich danke auch schön, Fräulein von Kerkow. Ein Paar Strümpfe habe ich auch noch rasch gekauft für den Fritz.“

Hede erhob sich. „Holen Sie mir Hut und Mantel, Karoline, ich will jetzt gehen, den Kindern sage ich nicht Gute Nacht, sie fangen sonst wieder an zu quälen.“

„Herrjeh! Ja, ja,“ meinte das Mädchen, „ich wundere mich überhaupt, daß sie so still sind. Sie werden wohl am Fenster stehen und auf den Vater passen. – Fräulein, ich gehe gleich und hole den Mantel, will nur erst ’mal nach dem Feuer sehen. Und sie ergriff einen Armvoll Holz und schob es bedächtig, Stück für Stück, unter den Herd.

Da klingelte es. Hede Kerkow aber verharrte noch regungslos auf dem nämlichen Flecke. Natürlich war er es. Der Knecht hinkte über den Flur ihm entgegen, Karoline aber begann eine vorwurfsvolle Rede:

„Und das wäre doch ’mal ’ne Upmunterung gewesen vor den armen Mann, der so wie so nichts nich auf der Welt hat. Bleiben Sie doch man dies einzige Mal da, Fräulein, es ist ja doch Weihnachten und die Bälger sind doch rein vom Bändel los vor Vergnügen!“

Hede Kerkow stand da, wie wenn man sie beim Stehlen ertappt hätte, und wartete auf den Augenblick, wo die Thür zu des Oberförsters Zimmer gehen sollte, um dann unbemerkt zu entwischen. Aber da drangen schon die Stimmen der Kinder aus dem Hausflur herüber die den Vater mit der Jubelbotschaft empfingen: „Die Tante ist da, Vater! Um fünf Uhr ist sie gekommen! Sie will nicht hier bleiben, aber du läßt sie nicht fort – gelt, Vater?“ Und dann lief Karoline zur Küchenthür, riß sie auf und schrie „Hier ist die Tante!“

Hede Kerkow sah ein, daß sie gefangen war. Sie wollte wenigstens einen ehrenvollen Rückzug antreten, und deshalb ging sie ruhig dem Oberförster entgegen, der da inmitten seiner Kinder noch in Flausch und Mütze stand, auf denen die Schneeflocken lagen wie auf den Weihnachtsmännern in den Spielwarenläden der Eisflimmer.

„Ich will nicht lange stören,“ sagte sie freundlich, „ich möchte zur Kirche gehen. Es freut mich, daß ich Ihnen noch ein frohes Fest wünschen kann.“

„Danke, Fräulein von Kerkow! Es thut mir nur leid, daß Sie mir nicht die Freude machen wollen, den Heiligen Abend mit uns zu verleben. Er nahm die Mütze ab und setzte sie seinem Jungen auf, dann zog er den Flausch aus und warf ihn Agnes über den Arm. „Einen Augenblick aber treten Sie doch wohl ein!“ bat er, „sonst muß ich wahrlich denken, daß Sie gehen, weil ich komme.“ Und als die Kinder eilfertig die Sachen fortschleppten, wandte er sich der Wohnstube zu.

Da rief Agnes zurück: „Dort darfst du nicht ’rein, Vater, dort liegen ja unsere Geschenke für dich!“

Nun machte er gehorsam kehrt und schritt nach seiner Stube. „Ich bitte, hier vorlieb zu nehmen,“ sagte er.

Einen Augenblick zögerte sie, dann folgte sie ihm. Er ging zum Schränkchen, auf dem die Lampe stand, zündete sie an, trug sie auf den Tisch und bat Hede, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

„Es ist noch ebenso hier, wie Sie sehen,“ sagte er und lächelte ein wenig melancholisch. Und dann saß er ihr gegenüber, starrte auf die verblichene Tischdecke, mit deren Fransen er spielte, und schwieg. Und Hede schwieg auch, und beiden klopfte laut das Herz. Von draußen schollen noch einmal die Stimmen der Kinder herein, dann ward es ganz still.

Karoline hatte sie in die Küche gerufen „die Bälger,“ wie sie sich ausdrückte, und da sagte sie: „Nu hört ’mal zu! Wir gehen alle in die Kirche – den großen Christbaum am Altar, den müssen wir sehen. Unterdes baut Vater auf und Tante hilft ihm. Karoline war auf einmal Diplomatin geworden. Jetzt oder nie! dachte sie. Und im Umsehen war sie fertig mit ihrer Schar und zog zur Hausthür hinaus, nachdem sie über die „ollen Karpen“, die noch lustig im Faß plätscherten, ein Brett gedeckt hatte. „Und achten Sie aufs Feuer, David,“ sagte sie zu dem alten Knecht, „und wenn der Herr uns sucht – wir sind man bloß ein bißchen in die Schloßkirche gegangen.“

Unter dem Geläut der Glocken stiegen sie den Schloßberg hinan und traten in das Gotteshaus, in dem es heute so feierlich war wie nie. Die großen Kronleuchter brannten und die Jungen aus der Realschule sangen

„O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!“

Es hatten sich viele Leute dort versammelt, nur Tante Hedes Platz im Nachbargestühl, der dem Herrn Schloßhauptmann zugehörte, just unter der herzoglichen Empore, war leer. Karoline verwandte kein Auge von dem kleinen Thürchen, das in dieses Betstübchen führte, aber es blieb geschlossen, kein Fräulein von Kerkow kam über die Schwelle, und auch der Herr Schloßhauptmann fehlte.

Der Prediger trat auf die Kanzel, und die drei Blondköpfe vor Karoline lauschten mit großen gläubigen Kinderaugen, und [279] das arme Dienstmädchen hinter ihnen hatte unter ihrem großen Tuchmantel die Arbeitshände gefaltet und hielt einen Gottesdienst für sich. Sie betete: „Lieber Gott, ich will ja nichts für mich, ich bin ja soweit zufrieden, aber mach’s doch richtig mit denen da drunten. Gut sind sie sich, das ist sicher, und der Mann wird ja noch ganz quatsch so allein in dem ollen großen Hause, von die Kinder gar nich zu reden, die verwildern ganz und gar. Ich kann doch nich ewig da bleiben, denn Fritze hat nun die Wildhüterstelle und will doch auch ’ne warme Suppe haben abends, wenn er nach Hause kommt, und Ostern will er nu mal partuh heiraten. Wenn er aber nich heiratet, denn wird’s nichts, ich kann ihn doch nich sitzen lassen mit ’n neues Mädchen, die nich aus und nich ein weiß, und Agnes ist doch ma in der Wirtschaft ’ne richtige Null! Mach’s richtig, lieber Gott, schenk’ dem Mann die Frau und den Kindern die Mutter zum heiligen Christ! Amen!

Der Prediger sprach endlich auch sein „Amen!“ Jubelnd erscholl der alte Weihnachtsgesang „Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich“, durch die Kirche, und Karoline nahm Mariechen bei der Hand, die Großen gingen voran, so schoben sie sich durch die Menge aus dem Portal auf den Schloßhof hinaus.

Gottlob, das Betstübchen war leer geblieben!

„Der Vater ist in seiner Stube,“ rief Agnes, „siehst du, Karoline, der hat ’s Weihnachten vergessen!“

„Wart’ doch ab, du,“ brummte das Mädchen, „und lauf’ ’mal nicht so! Herr Jesses, du wirst noch fallen, bei die Glätte! Aber sie selber hatte eine Art Geschwindmarsch eingeschlagen, und jetzt lief sie förmlich um die Wette mit den Kindern dem Hause zu. „Willst du wohl, dummer Bengel! Wir gehen über den Hof,“ rief sie, und so kamen sie wieder durch die Hinterthür, der alte Knecht saß am Küchenherd und schlief.

„’n abend!“ schrie Karoline ihm in die Ohren, „hat der Herr nicht gerufen? „Nee, ich hab’ nichts gehört.“

„Ist er fortgegangen?“

„Is mich nich bewußt.“

„Weil du slapen hast, oller Dooskopp“, erklärte Karoline, „dat Füer is och ut. Nu seid ihr ganz still, wandte sie sich an die Kinder, „ich denk’ mir, der Vater is schon in der guten Stube beim Christkind – ich will ’mal nachsehen.“

Und damit ging dies drollige, gute, dummdreiste Menschenkind in die Schlafstube des Oberförsters, hob den Vorhang vor dem Thürfenster und lugte in ihres Herrn Zimmer. Sie hätte beinahe einen Juchzer ausgestoßen, aber sie besann sich noch, biß sich auf den Finger und focht mit den Armen wie toll in der Luft herum, vor Wonne über das, was sie sah. Dann schlüpfte sie leise davon – „Gott sei Lob und Dank!“

„Kinders,“ sagte sie mit verschmitztem Lachen, „ihr müßt heut’ noch warten, Vater hat noch keine Zeit, aber dafür kriegt ihr auch ganz was Apartes zum Heiligen Christ. Die Kinder machten erwartungsvolle Gesichter und fügten sich, vorläufig interessierte sie die Zubereitung der Karpfen. Aber das Wasser brodelte längst auf dem Herde und noch immer war eine Totenstille im Hause. Da riß Karoline die Geduld.

„Nu kommt, Kinders – was zu doll is, is zu doll! Es soll doch einer über so’n bißchen Liebesglück nich seine leibhaftigen Würmer am heiligen Weihnachtsabend vergessen!“

Und umringt von ihnen, schritt sie zur Thür der Stube des Herrn Oberförsters und klopfte mit hartem Finger, und Hermann donnerte mit den Fäusten dagegen.

„Vater! Vater!“ schrieen die Mädchen, „es ist beinah’ Acht!“

„Herein!“ scholl es, und da stürmten sie hinein, und mit Ausnahme von Karoline, die ja nicht mehr überrascht werden konnte, blieben sie mit offenem Mund und starren Augen stehen. Da saß der Vater auf dem Sofa und neben ihm ganz rot, ganz verweint und doch lächelnd, ihre Hand in des Vaters Hand, ihren Kopf an seiner Schulter, die Tante – die Tante Hede. Und Karoline flüsterte dem Mariechen etwas ins Ohr und verschwand dann, die Thür hinter sich zuziehend. Das Kind stand noch einen Augenblick, dann lief es zu Hede. die es lachend und weinend auf den Schoß hob.

„Ist’s wahr, daß du meine Mama wirst?“

„Ja! Ja! Kommt her!“ rief der Oberförster. „Die Tante will es, sie will bei uns bleiben – das schenke ich euch zu Weihnachten, Kinder, eine neue Mama, eine Mutter! Und er stand auf und hob seinen Jungen empor und setzte ihn neben Hedwig, und dann zog er seine Aelteste heran. „Dir hat sie am meisten gefehlt, Große, freust du dich denn auch?“

Das Kind aber barg den Kopf an des Vaters Brust und fing an zu weinen.

„Ich hab’ mir’s doch schon zum Geburtstag gewünscht“, sagte sie.

„Und nun hört! Heute abend bringt das Christkind euch nichts, ich will Tante Hede hinaufbegleiten sie muß ihrem Bruder erzählen, daß sie eure Mutter werden will. Aber morgen, dann zünden wir beide euch den Baum an. Ihr werdet nachher recht vergnügt und artig zu Bette gehen und euch auf morgen freuen.

In Anbetracht der neuen Mama wurde die hinausgeschobene Christbescherung genehmigt, und nach einigen Minuten gingen Oberförster Günther und Hede Kerkow nebeneinander durch die Dunkelheit der heiligen Nacht. Droben im Erker brannte das einsame Lichtlein wie immer, im Doktorhause war alles dunkel, nur über ihnen flammten die Sterne, diese ewigen Weihnachtslichter. Er hatte ihre Hand genommen und atmete hörbar.

„Hede, sagte er gepreßt, „mir ist, als habest du Schweres zu überstehen heute – dein Bruder –“

„Sei ohne Sorgen – er braucht mich nicht,“ antwortete sie. Aber auch ihr klopfte das Herz.

Dann nahmen sie Abschied für heute abend. „Ich danke dir! Ich danke dir,“ sagte er leise, „mögest du es nie bereuen!“

„Ich danke dir“, antwortete sie hell und fröhlich. Du weißt nicht, du weißt ja nicht, wie arm und heimatlos ich war, wie reich ich jetzt bin wie lieb ich dich habe!“

Er wollte sie an sich ziehen, aber sie hielt ihn zurück. „Mehr als du mich!“ setzte sie leise hinzu, „viel mehr!“

„Nein!“ sagte er.

„Wirklich?“

„Ja, Hedwig! Ich habe dir ja alles gebeichtet, du vermagst dir nicht vorzustellen wie ich mich nach dir gesehnt habe, all die Zeit her.“

„Aber –?“ Sie wandte den Kopf und sah bang zu dem dunklen Hause hinunter, in dem sie Aenne wußte.

„Das? Das ist ausgekämpft, Hede, und jetzt ist’s klar in meiner Seele, und so ruhig, so tief innerlich froh und friedlich fühle ich mich.“

„Leb’wohl“, flüsterte sie gerührt, „auf morgen! Leb’ wohl!“

Sie sahen sich ein Weilchen in die Augen, dann zog er sie an sich und küßte sie.

Heinz, der sonst kaum sah und hörte, ob die Schwester im Zimmer sei oder nicht, vermißte sie heute. Vielleicht waren die Kerzen des Weihnachtsbaumes schuld daran, daß er die Zusammengehörigkeit mit ihr wieder fühlte, die Erinnerung an die süße, gemeinsam verlebte Kinderzeit! Er wartete, zuerst ungeduldig, dann ward er unruhig, einigemal pochte er an die Thüre ihres Zimmers – vergebens.

Wundern konnte er sich nicht, wenn sie eine wärmere Atmosphäre aufsuchte als die, welche hier herrschte, indes heute, heute am Weihnachtsabend? Und wo mochte sie sein? Vielleicht bei Mays? Aber es sah ihr gar nicht ähnlich, sich an solchen Festtagen in intime Familienkreise zu drängen. Möglicherweise auch hatte sie ein paar Arme, denen sie bescherte. Er erinnerte sich, daß sie immer nähte und strickte in letzter Zeit, wenn er sie sah. Es konnte auch sein daß sie bei ihren ehemaligen Pfleglingen sich befand, lieber Gott, warum auch nicht, wenn’s nur nicht gerade heute gewesen wäre!

Das alte Schloß war so spukhaft still an diesem Abend. Das Dienstmädchen saß vermutlich beim Punsch in der Dienerstube, die im Souterrain lag.

Eine Viertelstunde lang hatte das mächtige Geläute der Schloßkirche die Zimmer durchtönt, und ihn hatte es unterhalten, die Kirchgänger den Berg hinaufsteigen zu sehen. Heini war [280] schrecklich müde vom Bilderbesehen. Heinz hatte ihm, da anderes Spielzeug dem Kinde nicht zusagte, ein ganzes Dutzend der heiß ersehnten Bilderbücher geschenkt. Nun sollte er ihm etwas erzählen und konnte doch vor Unruhe kaum still sitzen. Im Auf- und Abgehen sprach er, wie unter einem inneren Zwange stehend, von den Weihnachten seiner Kinderjahre, wie Otti und Hede ihn, den Kadetten, vom Bahnhofe abgeholt hätten nach Hause, wo Berge von Kuchen ihn erwarteten, und wie sie alle Drei so gar nicht gewußt hätten, was anfangen, bis zu dem heiß ersehnten Glockenzeichen.

„Warum ist Tante Otti nicht bei uns?“ fragte Heini.

„Sie ist krank.“

„Was fehlt ihr denn?“

„Das verstehst du nicht, mein Liebling.“

Der Kleine schwieg und Heinz dachte weiter an die Zeiten, wo er sich so wohl gefühlt hatte unter den Verhätschlungen seiner Schwestern, besonders Hede die war gerade zu erfinderisch gewesen in Liebesbeweisen. Wie hatten sie beide miteinander getollt, gelacht, wie ernsthaft hatte sie davon gesprochen, ihm dereinst die Frau auszusuchen, und mit welch rührender Bereitwilligkeit gab sie ihm die paar Groschen ihres Taschengeldes, wenn Ende des Monats nichts mehr in seinem Portemonnaie war! Und jetzt – jetzt redeten sie kaum miteinander, und am Weihnachtsabend war sie nicht daheim – –.

Es war seine Schuld, das fühlte er deutlich. Er war im Unrecht! Er stößt da das beste, was er, nächst seinem Kinde, noch im Leben hat, mutwillig von sich. – – Wenn sie nachher kommt, dann will er sie umfassen und sie bitten, Geduld mit ihm zu haben, will sie bitten, ihm zu helfen, das Leben weiterzutragen. Er will ihr alles gestehen, wie und warum er gelitten, wie er gearbeitet, wie er den Mut zu weiterem Schaffen verloren. Er will sich an ihr, an dem treuen Schwesterherzen wieder aufrichten. Er ist so weich gestimmt wie einst vor Jahren, wo sein Kinderauge in den Glanz des Weihnachtsbaumes schaute.

„Möchtest du, daß Tante Hede bald kommt?“ unterbricht Heini des Vaters Gedanken.

„Gern, Heini, und weißt du, dann wollen wir Tante bitten, daß sie abends immer bei uns bleibt.“

„Ja, Papa! Warum thatest du das nicht schon lange?“

Heinz wurde verlegen. „Tante hatte Weihnachtsarbeiten,“ sagte er unsicher.

„Sieh ’mal, sie hat dich gemalt; und hat dir die hübsche Bluse genäht; aber nun wollen wir sie bitten, daß sie bei uns bleibt, und dann lesen wir und spielen Halma, und das Pianino schieben wir hierherein und Tante singt uns Lieder vor – möchtest du das?“

„Freilich, Papa!“ antwortete der Kleine und seine Augen glänzten. Und dann klopfte es plötzlich und gleich darauf trat Hede ein.

Heinz erwiderte ihren „Guten Abend!“ nicht, er sah sie nur groß an, erstaunt, befremdet. So hatte sie ausgesehen vor fünfzehn Jahren, so rosig, so jung, so hübsch. Eine Strähne der dunklen Scheitelhaare hatte sich gelockert und hing ihr über die Stirn, die Lippen, die sonst einen so herben Zug hatten, ließen nun im halb verlegenen Lächeln die weißen Zähne durchblitzen – wie ein Wunder erschien sie ihm.

„Heinz! bist du böse?“ fragte sie und ging zu ihm hinüber und erfaßte seinen Arm.

Er schüttelte den Kopf.

„Hast du auf mich gewartet?“

„Ja!“ sagte das Kind anstatt des Vaters, „sehr haben wir gewartet, und wir wollten dich um etwas bitten.“

Sie blickte von einem zum andern und ihr Lächeln erstarb.

„Wir wollten dich bitten, Tante, daß du jetzt immer abends bei uns bleibst. Es ist nicht schön wenn du drüben allein sitzest, sagt Papa, und das Klavier schieben wir auch hierher.

Hede antwortete nicht, sie sah nur fragend auf Heinz, auch er hatte eine Frage in seinen Augen, und auf einmal färbte ein Purpurrot ihr Gesicht.

„Heinz,“ begann sie endlich, zu ihm tretend und die Hand auf seine Schulter legend, „Heinz, ich muß dir eine Mitteilung machen. Sieh, Heinz – ich – du weißt ja wie arm ich bin an einem bißchen eignen Glückes – oder, du weißt es nicht, nein – du weißt es ja nicht! Und da hat mich der Zufall, oder die Not – wie du willst – in das Haus getrieben, wo ich nun doch noch – nicht ein bißchen – nein, ein ganzes Uebermaß von Glück finden sollte. – Heinz, ich habe es genommen, als es mir entgegengebracht wurde heute, ich konnte es ja nehmen, ich bin frei, ganz frei, denn du – du brauchst mich nicht – ich hab ’s gemerkt während des halben Jahres meines Hierseins. Und so bin ich jetzt Günthers Braut.

Er war sehr blaß geworden, er trat auch unwillkürlich einen Schritt von ihr fort, so daß ihre Hand von seiner Schulter sank. Dann aber, als er in ihre Augen sah, ihre erschreckten, ängstlich erweiterten Augen, faßte er nach ihrer Rechten.

„Du hast recht gethan,“ sagte er gepreßt, „sehr recht, ich gratuliere dir, Hede, von ganzem Herzen!“

„Er will morgen bei dir anfragen, um – –“ „Laß doch!“ murmelte er, sie unterbrechend. „Du bist doch dein eigner Herr, Kind. Aber – natürlich ist er mir willkommen, sehr willkommen – selbstverständlich! Und wenn ich dir sonst irgendwie nützlich sein kann, Hede, du weißt ja – du hast recht gethan sehr recht! Er hielt ihr die Hand hin. „Ich bin müde, ich habe ein wenig Kopfweh, schlaf’ wohl und träume glücklich! Gute Nacht, Hede!“

Sie ging ohne ein Wort, ganz erschüttert, hinaus. „Will die Tante nicht hier bleiben, Papa?“ fragte Heini nach einer Weile, der nicht verstanden hatte, was die Unterhaltung bedeutete.

„Nein, Heini,“ sagte er und die ganze schneidende Bitterkeit seiner Seele brach aus den Worten, „nein, Heini, sie hat die kleinen Günthers lieber als uns, sie will ihre Mama werden.“ Zum zweitenmal war er zu spät gekommen mit seinen guten Vorsätzen. Und er küßte seinen Jungen – der wenigstens blieb ihm.

Die Nachtigallen sangen wieder im Park von Breitenfels; sie waren zahlreicher gekommen als je, denn nichts störte sie mehr in diesen verlassenen Fürstengärten. Im Frühjahr haben die Herrschaften mit dem kranken Erbprinzen herkommen wollen, aber die Aerzte waren dagegen gewesen. Die Luft sei zu herb, die Lage zu hoch für seine kranken Lungen. So hatte man denn eine Villa gemietet in Badenweiler und hoffte dort auf ein Wunder. In Breitenfels blieben die Läden geschlossen und die Möbel verhängt, die Schloßwache gähnte auf ihrem Posten die paar Beamten gähnten in den Bureaus wie die wenigen Bediensteten ebenfalls, und auch die zwei Braunen im Stalle gähnten auf ihre Weise, und dabei standen sie sich die Beine steif, wie der Kutscher versicherte, denn der Herr Schloßhauptmann scheine ganz und gar vergessen zu haben, daß er über die Equipage verfügen könne. Das letzte Mal waren sie in Geschirr gegangen, als Ostern die Schwester mit dem Herrn Oberförster Hochzeit gemacht hatte.

War auch eine Hochzeit gewesen! Um zehn Uhr früh getraut in der Kirche in Gegenwart des Herrn Schloßhauptmanns und des Rentmeisters, keine Seele sonst, dann stehenden Fußes droben im Zimmer des ersteren ein Glas Champagner, ein belegtes Brötchen, und das junge Paar stieg in den Wagen um nach der neuen Heimat zu fahren. Der Oberförster war nämlich zu Neujahr plötzlich nach Wolfsrode, einem einsamen Jagdschloß inmitten ausgedehnter Waldungen, versetzt, nicht allzuweit von der Residenz, und drunten in der Oberförsterei saß ein anderer, ein neugebackener, eben verheirateter Oberförster, der sich und sein junges Eheglück förmlich vergrub in dem großen Hause, und den die Breitenfelser ebensowenig zu Gesicht bekamen wie den Schloßhauptmann droben.

Im Doktorhause wohnte der neue Arzt. Er hatte wirklich nicht zu bereuen, dort eingezogen zu sein, der Herr Doktor Lehmann. Nicht nur, daß es auf der ganzen Gotteswelt keine sauberere freundlichere Wohnung gab mit so ausgezeichnetem Kaffee und stets frischer Butter mit einer so mütterlich freundlichen Wirtin, die es verstand, die alte Kundschaft ihres verstorbenen Gatten dem jungen Nachfolger zuzuführen – nein, es war da auch noch ein besonderer Anziehungspunkt, ein schönes schlankes Mädchen, dessen große braune Augen mit einem fesselnden Ausdruck von Schwermut und Sehnsucht in die Welt schauten.

[281]

Die Tauben des Venustempels.
Nach einem Gemälde von H. Motte.

[282] Wenn der Herr Doktor von seiner Landpraxis heimkehrte, durch den lenzgrünen Schloßgarten fuhr und das kleine Haus vor sich sah, hinter dessen spiegelnden Scheiben der Mädchenkopf sichtbar wurde, dann ward es ihm wieder zu Mute, als sei er noch einmal siebzehn Jahre alt und laufe als schüchterner Primaner einher, und er hatte ebensolches Herzklopfen wie zur Zeit seiner ersten Liebe.

Und er, der ein bißchen sehr flott gewesen war, der sich groß gethan hatte auf der Universität im Punkte der Weiberverachtung, er machte die lächerlichsten Manöver, um einen Blick Aennes zu erhaschen, und da dies immer mißlang, so klammerte er sich mit seinen Wünschen an die Mutter und huldigte ihr in einer so ehrerbietigen Weise, daß er der Frau Medizinalrat als Inbegriff aller männlichen Tugend und Vollkommenheit erscheinen mußte, und daß sie jeden Abend, so ähnlich wie Karoline während der Weihnachtspredigt, betete. „Lieber Gott, laß es doch etwas werden!“

Aenne war recht still geworden und recht blaß, die Unthätigkeit drückte sie zu Boden. Sie hatte in der Zeit der tiefen Trauer auch nicht singen dürfen, nur ein einziges Mal widerstand sie nicht, und da war Frau Rat so fassungslos und erschüttert gewesen von der Pietätlosigkeit der Tochter, daß Aenne den Deckel des Instruments nicht wieder geöffnet hatte.

Tante Emilie litt mit ihrem Liebling, ja sie war ein paarmal auf Leben und Tod mit der kurzsichtigen Schwägerin zusammengeraten. Aber, mein Gott, wer kämpft gegen tief eingewurzelte Vorurteile! In der Trauerzeit durfte man nicht singen, was sollten die Leute denken! So behauptete Frau Rätin.

Aenne klagte nicht, sie machte auch keinerlei Versuche mehr, die Mutter zu überreden. Sie ging im Hause umher, wie wenn sie nie fortgewesen wäre, nie da draußen in der Welt Triumphe erlebt hätte. Aber Tante Emilie sah es und fühlte, wie das Kind seelisch und körperlich litt. Und als es Frühling wurde, da verlor Aenne alle Fassung. „Könnt’ ich nur wenigstens alle Tage eine Stunde lang singen, so recht all meinen Kummer hinaussingen,“ schrieb sie an Fräulein Hochleitner, „es würde mich beruhigen und ermutigen, aber bei Mutter ist Singen identisch mit Jubilieren. Und so lebe ich denn weiter zwischen Nähtisch und Kochherd und mehr oder weniger großen Wäsche und die Jahre meiner Freiheit kommen mir vor wie ein schöner, schöner Traum, aus dem ich schmerzlich erwacht bin. Das einzige, was mir noch blieb, sind meine Spaziergänge, und mitunter laufe ich stundenlang in den Wald hinein, und wenn ich an ein Lieblingsplätzchen komme, ich habe eins auf einer tannenumstandenen Lichtung, dann singe ich und der Frühlingswind nimmt mir die Töne von den Lippen fort, und die dumme Thräne, die ich dabei weine, die trocknet er auch. – –

Mitten in eine Gardinenwäsche hinein – die duftigen Schleier flatterten bläulich weiß auf der Leine im Garten der Frau Rat – kam eine Aenderung. Tante Emilie kehrte von einem Ausgange heim, und den Kopf zwischen ein paar nassen Vorhängen durchsteckend, winkte sie dem Mädchen. Aenne, die im großen Gartenhut aufhängen half, ließ das Stück, das sie eben über die Leine schlagen wollte, wieder in den Korb fallen, kam herüber und folgte der Tante in deren eigenes Stübchen. Zu ihrer Verwunderung fühlte sie, wie die alte Frau ihr einen Schlüssel in die Hand drückte, und den Kopf wegwendend, sagte dieselbe. „Da, mein altes Herze – da – ich konnt’s nicht länger mit ansehen.“

„Was ist denn das?“ fragte Aenne.

„Der Schlüssel zu deinem Musikzimmer“, war die stolze Antwort.

„Aber, Tantchen, sag’ nur – ich verstehe dich gar nicht –.“ „Na, das ist ganz einfach! Ich habe der Förstersfrau auf dem Luisenschlößchen eine Stube abgemietet, sie darf ja vermieten, ob’s nun Sommerfrischler sind oder du es bist, das ist egal. Und aus Brendenburg ist heute früh ein Klavier gekommen: ich hab’s freilich nur geliehen und – na, ich konnt’s nicht mehr mit ansehen, Kind, es ist ja schlimmer als hungern und dürsten, was du leidest! Die Noten sind auch schon unterwegs von Dresden. Und nun schweig’ still gegen Mutter, sonst ist’s aus mit der Herrlichkeit – die Verantwortung übernehme ich.“

Aenne hätte am liebsten aufgeschrieen vor Entzücken, aber sie fiel nur stumm der alten Frau um den Hals – „Du Liebste! du Beste, wie soll ich dir danken! Nachher laufe ich hin – o Gott, welch’ ein wundervoller Gedanke, du Goldtante!“

Wie ein Wind war sie unten und hing ihre Wäsche fertig auf, dann wieder nach oben – das Hauskleid aus, ein anderes an, den Schlüssel in die Tasche! Und den Hut in der Hand ging’s aus der Thür und mit Geschwindschritt über den Schloßplatz, zur Marstallpforte hinein, am Teich vorüber den Berg hinauf! Atemlos klopfte sie oben an die Stube des Försters, eine schmucke Frau öffnete und lachte. „Ja, ja, Fräulein, hier können Sie singen, soviel Sie wollen, hier hört’s keiner und stört Sie keiner, und ich freue mich, ich hör’ zu von weitem! Sie wies auf eine Thür im Hintergrunde des Hausflurs, und als Aenne sie öffnete, da fiel ihr Blick zunächs auf ein Pianino, das schräg ins Zimmer hinein stand, in den Leuchtertüllen steckte statt der Kerzen ein paar Fliedersträuße und auf den wenigen Möbeln des förderlichen Putzzimmers prangten auch überall Blumen. Die Wände waren zart gelblich getüncht, die gewölbte Decke ebenfalls und durch die klaren Scheiben der Fenster brach ein grünlich goldenes gedämpftes Licht, denn dicht vor ihnen wehten Buchenzweige mit hellgrünen köstlichen Blättern, wie sie der Mai bringt.

Eine ganz feierliche, wahrhaft poetische Stimmung überkam das junge Mädchen in diesem einsamen Gemach. Die Förstersfrau war gegangen, aber sie stand außen vor der Thür und lauschte. Und nun zogen Klänge hinaus, süße, wunderbar zu Herzen gehende Klänge, daß sie unwillkürlich die Hände faltete. Ja, das war schön! Das mochte sie leiden, das klang anders, als wenn ihr Mann zur Harmonika brummte!

Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht.
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Drum armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden. –“

Dann ihre Lieblinge, Brahms’ wunderbar ergreifende Lieder „Feldeinsamkeit“, „Von ewiger Liebe“, und Lied auf Lied, ein paar Stunden lang. Wie ein Verschmachteter nicht enden kann zu trinken, so sang sie bis in die rotgoldene Abenddämmerung hinein, und zum Schluß ihr altes trauriges Lieblingslied.

„0 du purpurner Glanz der flutenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain,
Wie färbst du mit lodernder Rosenwonne
Das blasse Antlitz der Liebsten mein! –“

Nun saß sie, die Hände in den Schoß gelegt, und dachte an ihren traurigen kurzen Liebestraum, an Heinz.

„0 Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!“

Sie hatte ihn nicht wiedergesehen seit dem Begräbnis ihres Vaters, und er hatte ihr nicht die Hand gedrückt wie den andern allen, er war plötzlich verschwunden gewesen.

Die Leute sagten, er sei hochmütig. Frau May nannte ihn „verrückt“, er wisse ja kaum, ob er grüßen solle oder nicht, wenn er mal, was selten genug geschah, über den Platz an ihren Fenstern vorbeiging. Ehemals, da wären sie gut genug für ihn gewesen! Gottlob, an den dachte Aenne nicht mehr.

Doktor Lehmann zuckte einfach die Schultern, wenn die Rede auf Heinz kam, er war jetzt Arzt bei dem kleinen Heini, und Frau Rat interessierte sich brennend für die alten Patienten ihres seligen Mannes, aber so zuvorkommend der Doktor auch sonst war, hierüber schwieg er wie ein Grab. Heinz lebte da oben mit seinem Kinde, weiter wußte Aenne nichts.

Sie stand endlich auf, schloß das Fenster und das Klavier und schickte sich zum Heimweg an. Herrgott, drei Stunden hatte sie hier versäumt, und drunten wartete die Mutter und die Wäsche! Sie reichte der Frau Försterin, die ihr vor der Thüre entgegenkam, die Hand, rief ein „Auf Wiedersehen!“ und lief davon wie gejagt.

(Fortsetzung folgt.)0


[283]

Johannes Brahms.

Ein Nachruf.
(Mit dem Porträt S. 277.)

Und er ist gekommen, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten – er heißt Johannes Brahms.“ Also schrieb im Jahre 1853 Robert Schumann in der bahnbrechenden „Neuen Zeitschrift für Musik“ über einen jungen, kaum zwanzigjährigen Tonkünstler, der, auf einer Kunstreise begriffen, auch Düsseldorf, den damaligen Wohnort Schumanns, berührt hatte. Der Meister erblickte in dem Jünger einen Berufenen, er pries sein „geniales Spiel, das aus dem Klavier ein Orchester von wehklagenden und laut jubelnden Stimmen machte“, er verhieß ihm Ruhm, Lorbeeren und Palmen, er sah in ihm einen Mann, „in dessen Namen einst der gesamte musikalische Inhalt der Zeit zusammengefaßt sein würde“ – er hieß ihn willkommen „als starken Streiter“.

Mehr als vier Jahrzehnte sind seit jenen Tagen dahingerauscht. Der Jünger hat seine Lebenslaufbahn vollendet, er weilt nicht mehr unter den Lebenden. Am 3. April hat ihn der Tod von schwerem Leiden erlöst und abgeschlossen liegt nunmehr Brahms’ Schaffen und Wirken vor den Augen der Nachwelt, die als ein gerechter Richter wird entscheiden können, ob der Jünger die Hoffnungen voll erfüllt hat, die der Meister einst in ihn gesetzt hatte.

Während seines Lebens hatte Johannes Brahms wie jeder hervorragende Mann seine glühenden Verehrer und seine scharfen Kritiker. Die ersteren erhoben ihn unter die Unsterblichen und stellten ihn auf gleiche Stufe mit Bach und Beethoven, die letzteren wollten ihn verkleinern, da er so sehr gerühmt wurde, alle aber mußten den tiefen Ernst, die große Meisterschaft seiner Schöpfungen anerkennen, alle sind darin einig, daß der Tod in die Reihe der Musiker unsrer Zeit eine tiefe Lücke gerissen hat, da er Johannes Brahms aus diesem Leben nahm. Fürwahr, Lorbeeren und Palmen, die Robert Schumann dem jungen Freunde verhieß, hat dieser in reichstem Maße geerntet, aber nicht in raschem Siegesfluge hatte er sie errungen, es währte lange, bis ihm die allgemeine Anerkennung zu teil, bis sein Name in weitesten Kreisen rühmlichst bekannt wurde.

Johannes Brahms erblickte am 7. Mai 1833 zu Hamburg das Licht der Welt. Sein Vater war Kontrabassist, der an verschiedenen Orchestern wirkte. Frühzeitig regte sich in dem Kinde das musikalische Talent, an dessen Ausbildung sich O. Classel und Ed. Marxsen in Altona beteiligten. Schon als Knabe trat Brahms in seiner Vaterstadt in öffentlichen Konzerten auf und entzückte die Zuhörer nicht nur als Pianist, sondern auch als Komponist. Ueber die Grenzpfähle seiner Heimat war aber sein Ruf nicht gedrungen. Da machte er im Jahre 1853 die Bekanntschaft des ungarischen Violinspielers Remenyi und unternahm mit diesem eine Kunstreise durch verschiedene deutsche Städte. Auf dieser kam er mit Robert Schumann zusammen. Bald vereinte ein Band inniger Freundschaft Brahms und Schumann, der dem jungen Manne als Geleite in die Oeffentlichkeit nun die erwähnte, schier überschwengliche Würdigung mit auf den Weg gab. Fast unmittelbar darauf wurde Schumanns Geist dauernd umnachtet, aber der junge Freund hielt treu zu ihm, er besuchte den Kranken in der Nervenheilanstalt zu Endenich, und ein rührendes Bild war es, zu sehen und zu hören, wie dort die beiden Meister am Klavier saßen und in ergreifenden Tönen ihre Gedanken und Gefühle austauschten.

Für die Welt der breiten Oeffentlichkeit blieb indessen Johannes Brahms lange verschollen. Jahre vergingen, bis sein Name nur annähernd mit einer solchen Wärme genannt wurde, wie es Schumann gethan hatte. Brahms nahm eine Stellung beim Fürsten von Detmold an, erteilte Unterricht am Hofe, leitete einen Gesangverein, machte dabei Reisen und fühlte sich so zufrieden in den stillen kleinen Verhältnissen, daß er einen Ruf nach Köln, wo er als Professor wirken sollte, ausschlug. Er blieb nicht müßig während dieser Zeit. Er komponierte rüstig, und seinem ersten Werke, „Klavierstücke und Lieder“, das er 1854 in Leipzig herausgab, folgten andere Sonaten, Balladen, Sinfonien und Lieder besonders für Klavier und Kammermusik. Es waren dies Schöpfungen einer jugendlichen Sturm- und Drangperiode, nicht frei von Ueberschwang, aber doch mit einem gehaltvollen Kern. Allmählich klärte sich jedoch das Schaffen des Meisters, immer erhabener wurde der Aufbau, abgerundeter und vollendeter die Form, dabei ging aber die jugendliche Begeisterung nicht verloren, frisch klang sie hindurch, und auch der Humor blieb seinen Weisen nicht fremd.

Trotzdem war Johannes Brahms keineswegs ein weltberühmter Mann, als er im Jahre 1862 nach Wien übersiedelte, das nunmehr zu seiner zweiten Vaterstadt werden sollte. Wenige Jahre darauf trat er mit einem seiner ergreifendsten Werke hervor – es war „Ein deutsches Requiem“. Als vor siebzehn Jahren Hermann Kretzschmar über Johannes Brahms „Eine Charakterstudie aus der Komponistenwelt der Gegenwart“ in der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrg. 1880, S. 220) veröffentlichte, schrieb er über dieses meisterhaste Tonwerk: „Das ‚Requiem‘ ist eine Art Doppelgemälde von dem Paradiese und einem anderen Orte, den man nicht gerade Hölle nennen kann; denn der Tondichter schildert ihn mit unendlichem Mitleid und mit einem engelmilden Trostbemühem: nämlich unsere Erde, den großen Friedhof, und uns, die zum Tode bestimmten Menschen. Wir besitzen dadurch in dem ‚Requiem‘ eines der allerchristlichsten und schön-menschlichsten Werke, welche die Kunst je hervorgebracht hat, eine Schöpfung, vor deren wohlthuender Seelenwirkung zunächst sogar die Bewunderung schweigt, welche ihrem Urheber gezollt werden muß.“ Durch dieses mächtige, für Soli, Chor und Orchester komponierte Tonwerk begründete Brahms seinen Weltruf. Nun drangen auch seine herrlichen Liederkompositionen in weitere Volkskreise und unvergessen werden seine Gesänge „Von ewiger Liebe“ und vom „Herrn von Falkenstein“, „Wie bist du meine Königin“ und „Die Mainacht“ bleiben. Groß ist ferner Brahms als Sinfoniker, in welcher Hinsicht er als der würdigste Nachfolger Beethovens bezeichnet werden muß. Besonders volkstümlich wurde er durch seine „Ungarischen Tänze“, magyarische Melodien, die er für Klavier gesetzt hatte.

Nun fehlte es dem ernst strebenden Tondichter, der inmitten der Strömungen der Zeit seine Eigenart zu bewahren wußte, auch nicht mehr an äußeren Ehrenbezeigungen. Die englische Universität von Cambridge und die deutsche zu Breslau ernannten ihn zum Ehrendoktor, er dankte der letzteren durch die Widmung seiner „Akademischen Festouverture“. Die Erhebung Deutschlands, die großen Siege in den Jahren 1870 und 1871 verherrlichte er durch sein prachtvolles „Triumphlied“, wie er denn, obwohl seit mehr als dreißig Jahren in Wien lebend und der neuen österreichischen Heimat von Herzen zugethan, seinem deutschen Vaterlande doch bis zum Tode in unwandelbarer Liebe und Treue ergeben blieb.

Mehr als hundert Werke hat Meister Johannes Brahms als ein köstliches Erbe der Nachwelt hinterlassen, sein letztes, op. 121, sein Schwanengesang sind „Vier ernste Gesänge“, deren Texte auf den Tod Bezug haben.

Durch männliche Kraft zeichnen sich Brahms’ Schöpfungen aus und männlich kraftvoll war auch seine äußere Erscheinung. Er war ein echter Sohn seiner niedersächsischen Heimat, mit blonden Haaren, blauen Augen und rosiger Gesichtsfarbe, eine breitschulterige Gestalt, auf der ein prächtiger Charakterkopf mit freier schöngeformter Stirne saß. Als Junggeselle suchte Brahms gern gesellschaftlichen Umgang; geräuschvolle Feste mied er zwar, aber im Freundeskreise bei gutbesetzter Tafel war der Doktor der Musik ein lebensfroher heiterer Unterhalter.

Im vorigen Sommer konnte Brahms noch zum Begräbnis seiner treuen Freundin Clara Schumann nach Frankfnrt a. M. reisen. Dann stellte sich bei ihm ein Leberleiden ein, das unaufhaltsam fortschritt und dem Vierundsechzigjährigen ein schweres Siechtum brachte.

Im Tonkünstlerboskett des Centralfriedhofs in Wien ruht nun Brahms’ sterbliche Hülle in einem Ehrengrabe, das die Stadt Wien ihm bewilligt hat. In seinen Werken lebt aber der Meister fort und immer wird ihn die Nachwelt preisen als einen der ersten unter den Tondichtern unserer Zeit. B. J.     

[284]
Die Zoologische Station des Berliner Aquariums in Rovigno.
Nachdruck verboten. 
Alle Rechte vorbehalten.     

Das Gebäude der Zoologischen Station.

Einige Jahrzehnte sind verflossen, seitdem das Hauptinteresse der Zoologen der Erforschung der Tierwelt des Meeres sich zugewandt hat, und die Mühe der Forscher wurde inzwischen in herrlichster Weise belohnt. Das Meer ist ja der Mutterschoß alles organischen Lebens; in seinen weiten Fluten haben einfachere Lebensbedingungen oft eine Ursprünglichkeit der Organisation bestehen lassen, welche bei Bewohnern des festen Landes und der Binnengewässer längst durch Anpassung an besondere Verhältnisse verwischt ist. Daher haben ein Johannes Müller, Ernst Häckel und ihre Schüler und viele andere Zoologen in aller Herren Ländern beim vorübergehenden Aufenthalt an den Gestaden des Meeres ihre Beobachtungen an lebenden Wesen gemacht und das Material zu ihren grundlegenden Arbeiten gesammelt. Als aber mit den höheren und umfassenderen Zielen der Wissenschaft die Untersuchungen schwieriger und die Arbeiten verwickelter wurden, erschien die Anlage fester Stationen an der Meeresküste ein unbedingtes Erfordernis.

Um der Wissenschaft einen solchen Dienst zu leisten, gründete Anton Dohrn seine Station in Neapel (vgl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1880, S. 340), die jetzt zur großen internationalen Station herangewachsen ist. Gerade in diesem Monat, am 14. April, sind fünfundzwanzig Jahre seit ihrer Begründung verflossen. In den Kreisen der Naturforscher, die diesem Institut so viel zu verdanken haben, wird dieses Jubiläum festlich begangen. Der Nutzen der von Dohrn geschaffenen Anstalt erwies sich so groß, daß bald in allen Kulturstaaten, wo Zoologie wissenschaftlich getrieben wurde, Stationen an der Meeresküste auftauchten. England besitzt deren eine ganze Reihe, ebenso Frankreich, die Vereinigten Staaten und in neuester Zeit auch Schweden und Norwegen.

Deutschland, welches sich an der durch unsern Landsmann Dohrn gegründeten Neapeler Station erheblich beteiligt hatte, blieb in dieser Beziehung zurück. Endlich, im Jahre 1893, wurde die königliche Biologische Station auf Helgoland eröffnet.

Aber schon im Jahre vorher war den deutschen Zoologen durch deutsche Privathilfe am Meeresstrande ein Heim geboten worden. An dem Ufer des tierreichen Adriatischen Meeres, zu Rovigno in Istrien, auf österreichischem Boden hatte das Berliner Aquarium eine Fangstation gegründet, welche zunächst bestimmt war, dem Aquarium stets lebendes Material aus der reichen, prächtigen Tierwelt des Mittelländischen Meeres zur Schaustellung nach Berlin zu besorgen. In geeigneter Weise, wie ich es weiter unten noch schildern werde, an das Leben in der Gefangenschaft gewöhnt, werden die Tiere auf dem direktesten Wege nach Berlin geschafft, um dort in den schönen großen Becken des Aquariums dem wißbegierigen Publikum einen Begriff vom Leben des südlichen Meeres zu geben.

In dem Gebäude dieser Station hat nun die Leitung des Berliner Aquariums eine Anzahl von Arbeitsplätzen für Gelehrte nach dem Muster der Neapeler Station ausgerüstet und damit eine Anzahl von Einrichtungen verbunden, welche geeignet sind, dem Forscher den Aufenthalt in der Station ebenso angenehm wie gewinnbringend zu gestalten. Das Deutsche Reich und Preußen haben das Unternehmen durch eine erhebliche Subvention unterstützt.

Der zweistöckige Stationsbau zeichnet sich durch seine Sauberkeit und Nettigkeit höchst vorteilhaft vor den Häusern des übrigen Rovigno aus. Er liegt unmittelbar an der Straße, welche sich längs des Nordhafens von Rovigno am Meere entlang zieht, und ist nur durch eben diese Straße und die breite Riva, die Hafenmauer, vom Wasser getrennt. Unsere Illustration zeigt uns die Station von Nordosten gesehen, das Bild ist unmittelbar vom Meeresufer, von der Hafenmauer aus aufgenommen. Vor dem Gebäude befindet sich ein wenige Meter breiter Vorgarten mit Rasenplätzen und sauberen Kieswegen, der nach der linken Seite hin mit dem Hofe in Verbindung steht. Durch eine stattliche Hausthüre betreten wir den Flur. Gerade vor uns sehen wir die Treppe in die oberen Stockwerke emporsteigen. Aus einem Raume zur Linken tönt uns das Rauschen des Wassers entgegen.

Aussicht auf die Kirche Santa Eufemia.

Wir treten in den Aquarienraum, einen großen Souterrainsaal, in welchem zwei Wände von einer fortlaufenden Reihe tiefer Cementbecken eingefaßt sind. Quer durch den Raum steigt von der Höhe herab eine treppenartige Folge kleinerer Becken; von dem höchsten derselben fließt das frische Wasser in das nächste, und so durchströmt es der Reihe nach sämtliche Abteilungen. Jedes Becken kann aber auch einzeln mit frischem Wasser versorgt werden.

In diesen kleinen Behältern sehen wir Krabben und Würmer, Schnecken und Seesterne, Polypen und Moostierchen in buntem Durcheinander. Kleine Fische in schimmernden Farben huschen zwischen Schwämmen und Korallen umher, während die abenteuerlichen Gestalten der Schlangensterne in bizarren Verrenkungen auf den Steinen umherklettern. Im Winkel liegt eine große Muschel still und träg, niemand beachtet sie; denn die Schale ist ganz mit Schlamm überzogen und nichts verrät Leben. Da! – plötzlich öffnen sich die Klappen ein wenig, eine Reihe grünlicher Tentakel (Fühlfäden) flattert hervor, und unter ihnen sehen wir in regelmäßigen Abständen große dunkle Punkte, die in den wunderbarsten Farben schillern. Das ist die seltsame Jakobsmuschel (Pecten Jacobaeus), und diese schimmernden Flecke sind die vielen Augen des wunderbaren Geschöpfes.

In den großen Cementbecken werden größere Tiere gehalten. Hier sehen wir vor allem die prächtigen Fische der Adria vertreten.

[285]

 Zwei Wünsche.

Den Bergespfad mit ihrer Last
Erklimmt die Maid, nun hält sie Rast.
Sie schaut den sausenden Wagen im Thal:
„Wer so fahren dürft’, nur ein einzig’ Mal!“

Im Wagen lehnt die bleiche Frau –
„O, wer die wonnige Blütenau
Durchwandern dürfte im Frühlingsstrahl
So jung und so froh, noch ein einzig’ Mal!“
 A. Nicolai.

[286] Einige Arten von kleinen Haifischen balgen sich um ihr Futter, während im hintersten Winkel des Bassins ein mächtiger Zitterrochen (Torpedo) bereit ist, seine elektrischen Schläge auszuteilen. Nebenan sehen wir eine wohlschmeckende Gesellschaft versammelt, den kostbaren Branzin (Labrax lupus, Seebarsch), die Dorade, und mit ihnen die buntesten Prachtfische der umgebenden Meere, den Pfauenfisch und viele andere. Vor allem aber pflegen sich die Besucher der Station vor dem folgenden Becken zu versammeln, in welchem wir ein dichtes Gewimmel von Seepferdchen und Seenadeln erblicken. Diese Lieblinge des Publikums verdienen diese Bevorzugung wohl durch ihre phantastischen und doch so zierlichen Formen, ihre geringe Intelligenz und Trägheit läßt sie aber mit der Zeit höchst uninteressant erscheinen. Gerade von diesen Geschöpfen werden große Mengen gefangen und in den Cementbecken an das Leben in der Gefangenschaft gewöhnt. Viele Exemplare gehen natürlich in kurzer Zeit zu Grunde, aber die Ueberlebenden berechtigen zur Annahme, daß sie recht lange in Berlin das großstädtische Publikum durch die Eleganz ihrer Formen und Bewegungen erfreuen werden.

Wir treten zu dem nächsten Becken; aber erschreckt fahren wir zurück bei dem Aufruhr, den unser Anblick dort hervorruft. Unter lautem Rauschen des Wassers flieht etwa ein Dutzend großer, hellfarbiger Geschöpfe in den hintersten Winkel des Aquariums. Wenn wir uns ruhig verhalten, nähern sich die erschreckten Tiere langsam, und wir erkennen Tintenfische, welche uns mit ihren großen Augen seltsam anstarren; dabei bewegen sie die langen Arme mit den Saugnäpfen langsam hin und her, kurz es sind ganz unheimliche Gestalten. Die Arten der Gattungen Sepia, Sepiola, Loligo, Elydone und Octopus gehören aber zu den interessantesten Bewohnern der Aquarien, soweit sie in denselben fortkommen.

Weiter können wir in einem Becken die großen Krabben oder Seespinnen bewundern; diese Granzi oder Granzevoli, wie sie die Bevölkerung nennt (Maja squinado ist der wissenschaftliche Name), bilden einen wichtigen Bestandteil der Volksnahrung dieser Küsten. Ja, man kann sie die Nationalfastenspeise der Istrianer nennen. Arme wie Reiche genießen mit gleicher Vorliebe diese Geschöpfe in der verschiedenartigsten Zubereitung, am liebsten auf glühenden Kohlen in der Schale geröstet. Das Fleisch besitzt einen ähnlichen Geschmack wie das des Hummers, ist aber zäher und trockener.

Im Inneren des Aquariums.

Wenn wir uns nun weiter im Raume umsehen, so erblicken wir in zahlreichen Glasgefäßen und kleineren Aquarien die zierlichsten und zartesten Geschöpfe des Meeres. Hier sehen wir hauptsächlich das Material vereinigt, welches die in der Station anwesenden Forscher bearbeiten. Zarte Quallen schweben im klaren Wasser, Seerosen und Seeanemonen breiten ihre feinen Tentakelkränze aus, in den unglaublichsten Formen und Farben prangen Ringel- und Schnurwürmer. In anderen Gefäßen harren in buntem Gewimmel die durchsichtigen, formenreichen Bewohner der Oberfläche, das frischgefangene „Plankton“, des Beobachters. Der Leser wird schon ermüden, und noch habe ich nichts gesagt von Seescheiden, Schwämmen, Seeigeln, Holothurien und vielem anderen; alle diese Herrlichkeiten entzücken den Besucher, besonders den Laien und Anfänger. Eines von diesen Rovigneser Meeresprodukten verdient jedoch besondere Hervorhebung hier: die zusammengesetzten Ascidien (Seescheiden). Diese eigenartigen Tiere bilden den auffallendsten Bestandteil der Grundfauna der Bucht von Rovigno. Sie haben als solche auch schon eine besondere Bearbeitung erfahren. In Form von Krusten überziehen dieselben gewöhnlich Steine, Pfähle, Panzer und Schalen toter oder selbst lebender Organismen und bieten dabei die überraschendsten Formen und die strahlendsten Farben, unter welch letzteren Grellrot und Orange die Hauptrolle spielen.

Einen Blick in diesen Aquarienraum gewährt uns die untenstehende Illustration. Im Vordergrunde sehen wir die Gestelle mit den Glasaquarien, dahinter nach rechts zu die Treppe der kleinen Becken. Hinter diesen wiederum ziehen sich die großen Cementbassins an der Wand entlang. Ueberall sehen wir die Röhren der Meerwasserleitung mit ihren zahlreichen Hähnen den Raum durchziehen.

Wenden wir uns jetzt wieder zur Besichtigung des Gebäudes der Station! Herr Kossel, der eifrige Kustos und der Vertreter des Direktors des Berliner Aquariums, des Herrn Dr. Hermes, der uns schon in dem Aquarienraum mit vielen Erklärungen über das Vorkommen und das Leben der Tiere erfreut hat, führt uns jetzt in den zweiten Raum des Erdgeschosses, in sein eigenes Laboratorium. Dies ist der Raum, in welchem er Tiere für zoologische Institute und Sammlungen konservieren kann; hier werden die Chemikalien, welche er und die anwesenden Gelehrten brauchen, aufbewahrt. Hier ist auch eine kleine Sammlung der Rovigneser Fauna aufgestellt, welche zu einer brauchbaren Bestimmungssammlung erweitert werden soll. Hier finden wir den einzigen Amphioxus (Lanzettfischchen), der bisher in dieser Gegend erbeutet wurde – jenes niedrigst organisierte, aber für den Zoologen so interessante Wirbeltier.

Auf einer steinernen Treppe gelangen wir in das erste Stockwerk. In ihm befinden sich die Arbeitsräume für Gelehrte. Die Tische sind nach dem Muster der Neapeler Station ausgestattet. Es sind Plätze für sechs Forscher vorhanden, welche Zahl sich leicht noch erhöhen läßt. Eine gute Ausrüstung an Instrumenten und Chemikalien, sowie eine kleine Dunkelkammer machen die Anstalt zu wissenschaftlichen Arbeiten vorzüglich brauchbar. Die Bibliothek ist noch nicht sehr reichhaltig, wird aber beständig vermehrt.

Die Hauptsache für eine marine Station sind nun aber die Vorrichtungen für den Fang der Seetiere; diese sind hier geradezu vollkommen zu nennen. Daß Schleppnetze, Kratzer, Oberflächennetze vorhanden sind, versteht sich wohl ebensogut von selbst wie der Besitz eines Ruder- und Segelbootes. Ein Kleinod, dessen Wert nicht hoch genug angeschlagen werden kann, ist der kleine Dampfer der Station, der „Rudolf Virchow“. Dieses Schiff ermöglicht nämlich weite Exkursionen; es stellt der Station die ganze Tierwelt von Venedig und Triest im Norden bis tief ins südliche Dalmatien zur Verfügung. Auf der Abbildung (S. 287) können wir am Hinterteil des Schiffes den Krahnenarm wahrnehmen, an welchem die Dredge, das Tiefseeschleppnetz, emporgezogen wird.

Eine sehr schätzbare Einrichtung für alle Forscher, welche die Station benutzen, besteht darin, daß sie im Gebäude selbst wohnen können; denn in einer kleinen Stadt von italienischem Typus sind die Wohnungsverhältnisse, besonders für einen Deutschen, der sich und sein Haus zu reinigen pflegt, geradezu schaurig primitiv. Die Schlafzimmer befinden sich im ersten Stock und im Dachgeschoß. Der zweite Stock ist von der Wohnung des Direktors eingenommen, in welcher derselbe alljährlich mehrere Wochen zuzubringen pflegt.

Dieser zweite Stock besitzt, ebenso wie der erste, Anteil an einer schönen Veranda und damit an einer wunderbar reizvollen Aussicht. Nach Süden blickt man in den Garten der Station, in welchem die südliche Vegetation der Gegend durch einige Oelbäume, Lorbeersträucher und Myrtaceen vertreten und durch einige weitere Gewächse von noch südlicherem Charakter ergänzt ist. Der [287] Ausläufer des Stadthügels, an dessen Fuß die Station gelegen ist, trägt auf seinem Kamm ein malerisches Kloster; seine Abhänge sind bedeckt mit üppigen Gärten, welche im Frühling, schon im Februar und Anfang März, in dem bestrickenden Schmuck blühender Mandel- und Pfirsischbäume prangen. Ich habe schon oben erwähnt, daß die Station dicht am Meeresufer gelegen ist. Daher bildet das Meer einen sehr hohen Horizont, der mit seinem ganz unglaublich dunklen, strahlenden Blau sich scharf vom lichtblauen Himmel abhebt. Was ist da blauer von den beiden? Und weit draußen in diesem – fast hätte ich gesagt „Meer von Blau“ schwimmt eine kleine Felseninsel, über welcher der schäumende Gischt der Brandung hinfegt. Kann man sich nun einen reizenderen Gegensatz denken als das Silberlaub der Oelbäume, die dunklen Cypressen und die duftig mit weißen und rosenroten Blüten überhauchten Obstbäume auf diesem Hintergrunde? Auf diesem höchst eigenartigen Gegensatze beruht hauptsächlich die malerische Wirkung der istrianischen Frühlingslandschaft, und er findet sich in hundert Abstufungen in der Umgebung von Rovigno.

Der Dampfer „Rudolf Virchow“.

Das Städtchen selbst liegt sehr malerisch auf mehreren Hügeln und an deren Fuße, den Buchten folgend, welche hier das Meer ins Land schneidet. Die Station befindet sich am Nordhafen, dem Val di Bora, ebenso wie der Bahnhof, während Handel und Wandel des Ortes sich am Südhafen zusammendrängt. Damit ist zugleich ausgesprochen, daß der Seeverkehr den Landverkehr überwiegt; der Bahnhof liegt ziemlich still und öd da, und in Ermangelung einer guten Straße benutzt man oft den Bahndamm zum Abendspaziergang.

Beide Häfen sind durch eine schmale Landzunge getrennt, auf welcher der älteste Teil der Stadt liegt; ihre höchste Erhebung krönt die Kirche Santa Eufemia, deren schlanker Glockenturm nach dem Muster des Venezianer Campanile von San Marco gebaut ist. Dem letzteren sind überhaupt fast sämtliche Kirchtürme der istrianischen Küste nachgebildet, wie sich denn hier auch sonst eine Fülle von Spuren der Venezianerzeit findet. In Rovigno selbst sind diese Venezianer Altertümer vor allem durch eine Reihe von Balkonen und Thorbogen mit reicher, schöner Skulptur vertreten; außerdem ist noch ein recht hübscher kleiner Triumphbogen aus dem sechzehnten Jahrhundert fast unbeschädigt erhalten. Die Kirche Santa Eufemia mit ihrem Glockenturm, als Wahrzeichen der Stadt weithin vom Meere sichtbar, zeigt uns die Illustration S. 284.

Am Südhafen erstreckt sich der Corso, der hier, wie in jeder italienischen Stadt, für das Leben der Bevölkerung von hervorragender Bedeutung ist. Wenn abends Geschäfte und Fabriken geschlossen werden, strömt das ganze Volk, alt und jung, hier am Strande zusammen; hier treffen sich die Bekannten, die Liebespaare – hier werden Geschäfte abgeschlossen, Streitigkeiten begonnen und geschlichtet – kurz, es ist eben der „Corso“! Hier bummelt man auf und nieder bis zur Dunkelheit, und wohl auch noch ein wenig länger.

Und in täglich wechselnder Pracht sieht man vom Molo aus die Sonne im Meer versinken; während die weite Flut in blendendem Glanze strahlt, wird die Silhouette der Klosterruine gegenüber auf der Insel Santa Catarina immer schärfer und schärfer, bis schließlich der Mond die Beleuchtung übernimmt und womöglich mit seinem Silberglanz noch magischere Effekte über die stille Landschaft zaubert.

Wenn der Naturforscher auf Tafelgenüsse verzichtet und sich beim feurigen Istrianerwein über den zähen Braten zu trösten vermag, so kann er in diesem idyllischen Erdenwinkel herrliche Wochen verleben. Wenn er müde ist von der Arbeit am Mikroskop, bieten ihm schöne Ausflüge nach Norden und Süden, zum wunderbaren Canal di Leme, einem Fjord des Südens, oder nach Pola, dem österreichischen Kriegshafen mit seinen imposanten Bauten aus Römerzeiten, und viele andere eine reizvolle Erholung und neue Genüsse.

Ich will nicht weiter erzählen von den Fahrten mit Dampfer oder Segelboot, dem Fischen mit dem Oberflächennetz oder dem Dredgen in der Tiefe. Jeder Zoologe, der am Meer gearbeitet hat, weiß den Genuß und die Anregung zu schätzen, welche die Beobachtung der Tiere in ihren heimatlichen Gründen bereitet.

Zwei eigenartige Fangmethoden lernt man hier noch kennen, welche in diesen Meeren allgemein gebräuchlich sind und in hohem Grade unser Interesse verdienen. Das Fischen mit der Schwammharpune und die nächtliche Jagd mit Pechpfannen und einer kleinen Harpune bieten beide Gelegenheit, das Volksleben dieser Gegend in seiner malerischsten Entfaltung zu belauschen.

Ueber die Schwammfischerei ist schon so oft und viel geschrieben worden, daß ich hier nur eine Methode erwähnen will, wie man bei bewegter See sich die Objekte auf dem Meeresgrunde sichtbar macht. Das Wasser ist wunderbar klar, aber ein leichter Wind kräuselt die Oberfläche; unzählige kleine spiegelnde Wellen machen den Meeresboden für das Auge unkenntlich. Da wird nun ganz einfach ein Kasten mit Glasboden neben dem Boot ins Wasser gehalten: man hat nun eine ruhige Fläche, das klare Wasser läßt alle Gegenstände auf dem Grunde erkennen, und man kann mit der Schwammgabel die Badeschwämme, oder was man sonst wünscht, mit Leichtigkeit heraufholen.

Eine sehr originelle Angel wird nach den Tintenfischen ausgeworfen. Zu bestimmten Jahreszeiten wirft man die Nachbildung eines Tintenfisches, ein ganz rohes Holzbild, an einer Stelle aus, die man als Aufenthaltsort der betreffenden Art kennt. Die Sepia (oder wenn ich mich recht erinnere, so handelt es sich dabei hauptsächlich um Octopus) vermutet einen Artgenossen und saugt sich mit den Fangarmen an dem Holzklotz fest. Zieht man nun zurück, so sucht das Tier den fliehenden Gegner immer fester zu halten, immermehr Saugnäpfe haften an dem Köder und man kann schließlich das Opfer aus dem Wasser ziehen. Keine Angel hat das Tier beschädigt, „in eigener Fessel“ fing es sich. Die Methode hat sich vorzüglich bewährt, um unverletzte Tiere für die Zwecke des Aquariums zu fangen. Denn in Netzen gefangen, gebärden sich die Sepien und ihre Verwandten so wild und aufgeregt, daß sie an den Schnüren des Netzes sich vielfach verletzen. Solche Exemplare gehen meist in der Gefangenschaft sehr bald zu Grunde, während die auf die oben geschilderte Weise geangelten sich gewöhnlich sehr schön erhalten.

Zum Schluß will ich noch eine nächtliche Scene schildern, das Bild einer Nacht mir zurückzaubern, welche so viel von Naturpracht und überraschenden Bildern bot, wie ich selten in meinem Leben gesehen habe. Ich ging eines Abends, spät zur Station zurückkehrend, auf dem Hafendamm dem Nordhafen entlang. Die Wogen plätscherten gegen die Steine des Molo, und jeder Anprall war von einem geheimnisvollen Aufglimmen begleitet; bis weit in den Hafen hinein erstreckte sich das phosphorescierende Leuchten der Oberfläche: Meeresleuchten! Der Anblick dieser merkwürdigen Erscheinung, die von Millionen winziger Organismen erzeugt wird, ließ schon das Herz des Zoologen höher schlagen. Und nun gesellten sich noch einige Dinge hinzu, welche das Bild so wundersam malerisch und großartig gestalteten, daß es über den Zoologen hinaus das Herz des ganzen Menschen gefangen nahm. – Der Grund, warum das Meeresleuchten so schwach erschien, lag darin, daß hin und wieder der Mond aus den dünnen Wolken hervorlugte. Und als ich nun meinen Blick [288] zum Himmel emporhob, da sah ich auf der dunklen Wolkenwand im Westen klar und deutlich einen Mondregenbogen schweben. Diese wundersame Erscheinung schien das Bild in eine ganz andere Welt zu versetzen! In der Ferne sah man einige gelbrote qualmende Lichter auf den Wellen tanzen und – plötzlich! ein lautes Schreien und Singen! Um die Ecke schießt ein Kahn, gefüllt mit jungen Leuten. Vorn an der Spitze steht eine qualmende Feuerpfanne, die denselben Lichtschein auswirft wie die tanzenden Lichter draußen im Hafen. Hinter der Pfanne steht ein junger Mann mit einer langen Harpune in der Hand. Jetzt beugt er sich vor, ein Ruck! – und nun hebt er einen zappelnden Fisch aus den Fluten. Durch den Feuerschein angelockt, war ein großer prächtiger Branzin aus der Tiefe heraufgekommen und jetzt lag er auf dem Boden des Nachens und morgen – ja, morgen beim pranzo, da wird er wohl dem „Tedesco“ vorgesetzt werden und die „dottori dell’ aquario“ werden sich freuen, daß es einmal was anderes giebt als „agnello fritto“ (Lammbraten) mit Polenta! Und wie ich so mit meinen Gedanken wieder bei der plattesten Prosa angelangt bin, da ist der Nachen im Dunkel der Nacht verschwunden, der Mond hat sich verborgen und der Regenbogen ist erloschen. Meer und Wind fangen an, hohl zu brausen, die Oberfläche des Wassers leuchtet aber wie gleißendes Silber; und in der Ferne verklingen die Lieder der Fischer. –

Aus meiner Darstellung wird man wohl ersehen, daß der Aufenthalt auf der Station in Rovigno nach allen möglichen Richtungen anregend und gewinnbringend ist. Seit der Einrichtung der Arbeitsplätze hat denn auch alljährlich eine größere Anzahl Gelehrter während der Frühlings- und Herbstmonate dort geweilt, und manche interessante Publikation der letzten Jahre verdankt ihre Entstehung einem Rovigneser Aufenthalt. Jedenfalls darf man die Forscher zu dieser reizvollen Schöpfung deutschen Unternehmungsgeistes beglückwünschen. Franz Ith.     


Nachdruck verboten. 
Alle Rechte vorbehalten.     

Einmal zur rechten Zeit.

Erzählung von Luise Westkirch.

     (Schluß.)

Atemlos langte Svensen unter den drei Buchen am Schleusenkrug an. Sein Herz klopfte wie ein Hammer; ihm war ganz wunderlich zu Mute.

Doris kam, schlug mit der Schürze die Blätter und den Staub der Landstraße vom Tisch und erkundigte sich:

„Was soll’s heut’ sein, Herr Svensen?“

Er sah sie an, ein feuchter Schimmer trat in das tiefe Blau seiner Augen, das Herz wurde ihm unheimlich groß in der Brust.

„Doris –“

„Was denn, Herr Svensen?“

„Doris –!“ Er bracht’s nicht über die Lippen. „Ein Glas Bier tränk’ ich woll.“

„Jawoll, Herr Svensen. Ein gansen frischen Faß hat mein Kaptän angestochen.“

Svensen trank. Vielleicht saß der Mut im Glas, in dem braunen Saft, der solch übermütigen Schaum entwickelte.

„Doris –!“

„Was ’s gefällig, Herr Svensen?“

„Geh nich weg. Wenn mich das smecken soll, denn muß ich dein Gesicht sehen.“

„Abers, Herr Svensen –“

„Ich möcht’ dir nämlich was fragen.“

„Es is man, ich hab’ kein’ Zeit; ich soll nach Friedrichsort.“

„So – so – das is abers schade. Ja, das is schade.“

„Was wollten Sie denn fragen, Herr Svensen?“

„Ich – bring’ mir noch ’n Glas Bier!“

Als Doris das zweite Glas Bier vor Svensen hingestellt hatte, faßte er sich endlich ein Herz und fragte leise: „Was denkst du von mich, Doris?“

„Von Sie, Herr Svensen?“ gab sie zurück.

„Ja, ja.“

„Nu, hier sagen sie alle, daß Sie ein rechtschaffenen Menschen sind.“

„Das bün ich, Doris! Das bün ich wirklich! – Süh, es is mich ja nich an mein Wieg’ gesungen, daß ich noch ’mal bei’n Kanal schuften sollt’! Nee! – Ich bin ein Fischerssohn aus Kappeln. Mein Vater hat ein Ewer gehabt un ein seine Jacht, da is er mit nach Fischens gesegelt. Einmal is er nich wiedergekommen un sein Schiff auch nich. Un da bin ich geboren. Abers meiner Mutter saß das im Gemüt un sie mocht mir nich. Das is slimm, Doris, wenn ein kein Mutter hat, die ihm leiden mag un gut zu ihm is. Sie sagen, ich bin ein kleinen, stillen, traurigen Jung’ gewesen. Das is so. So was hängt nach. Vater sein Bruder nahm mich nachmals hin un ich mußt’ Schmied lernen. Ich kann das auch gans gut. Ich hätt’ Schmied auf ein adliges Gut werden sollen. Da hätt’ ich gewiß nix auszustehn gehabt. Abers – denn konnt’ ich das doch nich.“

„Sie konnten nich, Herr Svensen?“

„Das is swer zu sagen. Süh, Doris, dort in Sonnschein blüht allens, Blumen un Kraut, nich wohr? – Un denn da dicht bei an, wo der Schatten von das Haus hinfällt, sühst, da blüht gor nix. Die Menschens brauchen auch Sonnenschein. Ich hatt’ kein Vertrauen. Un wo hätt’ ich dem auch her haben sollen? Un wer kein Vertrauen hat, der greift nich fix zu, un wenn ein nich fix zugreift, denn kommt da nix nach, ja –“

Er hatte den Kopf auf den Ellbogen gestützt, in schwermütige Gedanken verloren. Doris wandte sich zum Gehen. Da hielt er sie durch eine Bewegung zurück.

„Doris, weißt noch, wie ich dir zuerst getroffen hab’?“

„Ja, Herr Svensen, Sie kamen aus das Schiff un wollten nach’n Ingenieur Morungen, abers so’n dämeligen Jung’ gab Sie verkehrten Bescheid.“

„Ich stieg aus das Schiff mit zwei swere Koffers, ja. Abers dämlig war der Jung’ nich ’n büschen. Er wollt’ mir man bloß foppen wie alle Menschens. Da kamst du un wehrtest ihn das un nahmst mich die Kistens ab un brachtst ’n Stuhl un sahst mich ehrlich un freundlich an. Un da – sühst! Da hatt’ ich mein Sonnschein.“

„Herr Svensen, das war doch so wenig –“

„Nee, nee, wenig nich! Du hast nie über mir gelacht. Du weißt nich, was das is für ein Menschen, über den alle lachen, alle! Alle immerlos! – Doris“ – er faßte ihre Hand – „ich hab’ nich Vater, nich Mutter, kein Geswisters, kein Haus. Abers wenn ich dich anseh’, denn is mich zu Mut, als hätt’ ich all das wieder. Un wenn du mir heiraten wolltst, denn kriegt’ ich’s wirklich mit ein Slag zurück. Denn könnt’ ich mir auch ’n Smiede suchen. – Wahrhaftig! Hungern solltest nich bei mir. Nur das Vertrauen hat gefehlt. Süh, Doris, ich – – Un wenn du nu – denn so hätt’ ich Vertrauen –“

„Lieber Herr Svensen –“

Er fuhr fort, er war im Zuge. „Es hat mich viel Müh’ gekostet, dich das zu sagen – ja.“ Er trocknete sich die Stirn. „Aber es ließ mich kein Ruh’, nich bei Tag un nich nachts. Es mußt’ ’raus. So lieb wie dich hab’ ich noch nix auf der Welt gehabt! Lach’ nich! Lach’ nich über mich!“ –

Er klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender. „Lach’ bloß nich!“

„Wie könnt’ ich denn lachen? – Es is doch sehr ehrenvoll, was Sie mir bieten –“

„Abers – du willst nich?“ – Seine Augen starrten mit Todesangst auf in ihr rosiges Schelmengesicht.

„Ich würd’ stolz sein, Ihre Frau zu werden, Herr Svensen, wirklich wahr! un jedes Mädchen würd’ das, jedes, Herr Svensen!“ –

„Abers du willst nich?“ wiederholte er, rot im Gesicht vor Beschämung und Schmerz.

„Es is man bloß – Sie kommen zu spät, Herr Svensen.“

„Zu spät?!“

Wie vor einem Gespenst fuhr er zurück vor diesem Wort.

„Ich hatt’ mein Herz all lang weggeschenkt, ehe ich Ihnen zu sehen kriegt’, Herr Svensen –“

„Zu spät –!“

[289]

Lunchroom in Chicago.
Nach einer Originalzeichnung von E. Limmer.

[290] „Nehmen Sie’s bloß nich für ungut.“ – „Nee, Herr Svensen, wie konnt’ ich denn auch denken –! Es is mich aufrichtig leid, Herr Svensen, wirklich! –“

Er stand auf seinen Füßen, er setzte den Hut auf, zupfte hastig an der Weste, an dem sorglich geknüpften Tuch. Unwillkürlich rückte er seinen äußeren Menschen zurecht, weil der innere ihm von dem Sturz aus himmelhoher Hoffnung gänzlich zerrüttet war.

„Ja – ja denn so – nu ja! Ich – es war woll recht ausverschämt? – Guten Abend auch!“

Doris lief ihm nach, legte die Hand auf seine Schulter. Fast zärtlich war die Bewegung. Sein Schmerz ging ihr wirklich nahe.

„Lieber, lieber Herr Svensen! Tragen Sie mich das nich nach! – Sie werden gewiß Ihr Glück anderswo finden nu – wenn ich Sie dazu behilflich sein kann, denn Ihr Andenken werd’ ich zeitlebens in Ehren halten –“

Er wehrte mit Hand und Blick. „Laß man! – Laß mir man!“

Die Stimme war ihm heiser und unsicher. Er riß sich los, er trottete zur Schleuse zurück, zur Arbeit, die längst ohne ihn begonnen hatte. Seine Ordnungsstrafen beliefen sich schon so hoch, daß er einigemal das Mittagessen würde überschlagen müssen, um zahlen zu können. Ihm war’s egal. Er hatte ein Gefühl, als brauchte er überhaupt nie mehr zu essen. Gedankenabwesend schob er seine Karre. Um sechs stieg er nicht hinauf zur Baracke. Im tiefsten Grund der Schleuse verkroch er sich. Hinter einem mächtigen Granitblock hockte er sich nieder auf einen Haufen Gerümpel und grübelte.

Die Arbeiter entfernten sich einer nach dem andern. Ihre Schritte verhallten, es ward ganz still auf dem Schleusengrund. Nur in der Ferne schrapten und prusteten die Bagger. Die Sonne, die sich zum Untergang neigte, zog ihre Strahlen aus der Tiefe des Abgrunds zurück. Hoch über dem einsam Grübelnden am Rand der Böschung nur zitterte noch unaufhaltsam aufwärts steigend ihr Schein. Svensen stand auf. Die Brust ward ihm eng in der dämmerigen Klamm. Den Küstensohn packte die Sehnsucht nach dem wehenden Seewind, dem weiten Himmel. Schwerfällig stampfte er die Leitern hinauf und über das Sandplateau zum Strand.

Da lag sie vor ihm, die weite, tiefblaue Kieler Föhrde, ein kleines Meer für sich, umkränzt von Buchenwäldern, von Villen, von blühenden Ortschaften. Das freundliche Heikendorf drüben! Laboe, versteckt in seinen Gebüschen und Bäumen! Weiße Segel glitten über die glitzernden, ultramarinblauen Wellen, flinke Vergnügungsdampfer von Küste zu Küste. Frachtkähne krochen wie schwerfällige Käfer über die glitzernde Fläche hin bis zu dem Leuchtturme, der, einsam vor der Citadelle von Friedrichsort mitten in den Wassern stehend, die Wacht vor dem Hafen hält wie eine kolossale Säule dem Schiffsverkehr ein Doppelthor darbietend, durch das derselbe hinausflutet ins offene Meer, herein in den Schutz des Hafens.

Weiter nach Kiel zu leuchteten hier und da der weiße Rumpf, die gelben Schornsteine eines mächtigen Panzers auf. Und über all dies Wogen und Treiben, über die weißen Segel und die dunklen Segel, die Kronen der stämmigen Buchen, über die tanzenden Wellen und die hellen Landhäuser am Ufer goß die sinkende Sonne ihren rotgelben Glast und Schimmer, daß wie bei einer Festillumination Licht aus allen Gegenständen hervorzubrechen schien, eine Ausstrahlung gleichsam der inneren, unbändigen Lebensfreude und Lebenslust.

Nicht gut ist’s für den Leidvollen, an solchem Abend auf solch’ gesegnete Ufer zu blicken. Jeder Lichtstrahl, der das Bild farbiger, lachender gestaltete, bohrte sich als stechender Schmerz in Svensens gramumdüsterte Seele.

„Dumm ist die Sonne“, dachte er dumpf. „Da glänzt sie nun auf meine Uhrkette, ich glaube gar, in meine Augens – un was hab’ ich doch mit ihr zu schaffen? Wär’ ich tot un triebe da auf das Wasser, sie würde mir rot anmalen, gerade so wie das Stück Holz, das drüben swimmt.“

Dabei überkam ihn mit jähem Erschrecken, mit unheimlich gewaltiger Lockung die Vorstellung, daß es schön sein müßte, empfindungslos zu treiben wie das Stück Holz dort, die Wärme der Sonne nicht mehr zu fühlen und nicht den zusammenziehenden Schmerz in der Brust. Wie oft sollte er sie noch auf- und untergehen sehen – auf und unter, immer dasselbe Spiel. Ein langweiliges Spiel, wenn weder Auf- noch Untergang etwas anderes bringt als eine pompöse Schaustellung von Licht! Und immer dasselbe, Tag für Tag, bis er ein alter Mann war, der vor seinem Spittel fröstelnd ihren letzten Strahlen entgegenkroch, das gewöhnlichere eines alleinstehenden Arbeiters – erträglich nur, wenn für seine Kümmerlichkeit froh genossene Jugend im voraus entschädigt hat.

„Wenn ich jetzt gerad’aus ging’,“ dachte er, „immerzu gerad’ aus, über den blauen Tang weg, hin nach den schönen roten Sonnenstreif auf das Wasser, da wo nu der große Dampfer fährt – denn wär’ ich morgen gansen in Ruh’, braucht’ meine Karre nich länger zu schieben, nich von Aufseher Posanski mir anschreien zu lassen, braucht’ kein Strafgroschens mehr zu zahlen, weil ich zu spät komm’.“

Und mechanisch ging er weiter und weiter, bis das Wasser seine Füße netzte. „Weinen würd’ da niemand um,“ überlegte er. „Bloß daß es Gottes Wille vielleicht nich is, denn sonst hätt’ er letzten Montag wohl mir von das Gerüst abstürzen lassen un nich den Schlesier. Kann sein abers auch, er hat da nix gegen, un es is nu dem richtigen Augenblick, bloß ich verpaß ihn wieder mit mein dummes Besinnen.

Er fand aber doch, daß Besinnen in solchem Fall rätlicher sei, wandte sich dem Lande zu und klomm das hohe Ufer hinauf. Dort warf er sich in das üppige Buschwerk, das den Rand der Böschung überwucherte, und versuchte Ordnung in seine schwerfälligen Gedankenreihen zu bringen. Aber matt von Arbeit und Fasten, versank er in eine Art von Lethargie. Er sah die Sonnenreflexe auf dem Wasser langsam erbleichen, in Dämmerung und Duft die waldige Küste drüben verschwimmen. Er fühlte den Tau herabsinken auf sein unbedecktes Haupt und seine heiße Stirn kühlen. Müd’ lag er, reglos, mit einem stumpfen Wohlbehagen die Schönheit der Welt in sich eintrinkend, aus der er bald wegscheiden würde! Sie war für Menschen, die zur rechten Zeit kamen, wie die Sonne es that, und die Flut, Abend und Morgen, Sommer und Winter. Seinesgleichen verdarben nur ihr Gleichmaß! Kein Wunder, daß ein Mädchen, das schön und froh war wie ein Sommertag, ihn nicht mochte! Ja, er würde gehen! Inzwischen lag er, still schauend, eingebettet in das blühende Kraut, fast so wunschlos, gedankenlos befriedigt wie die Pflanzen um ihn her. Eingeschlafen war der brennende Schmerz in seinem Herzen. Der Friede der Natur hatte ihn eingelullt und die Nähe des Todes. Soll der dem Leben fluchen der von ihm Abschied nimmt? Abschied nehmende segnen! Aber es eilte ihm nicht, zu gehen. Er dachte an seine Jugend, an seine Mutter, er dachte an Doris.

Wer war ihm bei ihr zuvorgekommen? Der Italiener, der wie ihr Schatten ihr folgte? Der? Ja, sicher, der war’s! Der Gedanke verursachte ihm Pein. Er hielt Peretti nicht für einen guten Menschen. Aber was thun, wenn Doris ihn liebte? Liebe fällt wie der Tau, wahllos auf die Rose und auf die Nessel.

Die Zeit verstrich. Der Vollmond, der auf der Sonne Scheiden wartend, am Himmelsrand gehangen hatte, begann sich mit Silberlicht zu sättigen. Eine breite Silberbrücke zog er über die unruhig hüpfenden Wellen eine Straße des Lichts, auf der ein Müder eingehen konnte zur Ruh’. Die Boote hatten den Hafen gesucht, die Schiffe warfen die Anker aus, die Möwen schliefen. Ruhe auf dem Meer, Ruhe auf den Land. Friedlich schimmerten die Lichter von Holtenau herüber, die Lichter aus den Arbeiterbaracken. Wie eine Burgruine ragte der noch unfertige Kanalleuchtturm am Strande auf, die dem Mond zugekehrte Seite gebadet in flimmerndem Glast. Unheimlich schwarze Schatten gähnten wie Abgründe auf zwischen feinen Stützpfeilern, im Innern seiner Mauern. Und nirgends ein Mensch! Und nirgends ein lebendiges Wesen! – Doch! – Das Herz des Einsamen that einen jähen Schlag. Mit einem Ruck riß es ihn empor aus der Kräuterwildnis. Er kannte den wiegenden Gang, er kannte das Haar, flimmernd an Mondlicht unter dem weißen Häubchen. Ja, sie war den Weg von Friedrichsort herabgekommen, sie, sein Glück und seine Qual! Auf den Leuchtturm schritt sie zu – aber nicht allein. Jemand war bei ihr. Der Italiener? – Nein! – Die unverdorbenen Augen des Enkels einer langen Reihe von Schiffern sahen scharf wie die eines Seeadlers, unbeirrt durch Mondflimmer und Entfernung. Sie erkannten den Mann an des Mädchens Seite, den Landsmann und Kameraden Lorensen. Und in seinem Schmerz dünkte es den Verschmähten schon fast Glück, daß es der Italiener nicht war.

Wie fest sie sich aneinander schmiegten, wie heiß sie sich [291] küßten im Schutz der mondbeglänzten Mauer! Das silberhelle Lachen des Mädchens klang durch das Zirpen der Grillen im Gras zu Svensen herauf und machte die alten Wunden wieder bluten. Unruhe packte ihn. Was schaute er auf die Glücklichen hinab? Für ihn war’s Zeit, zur Ruh’ zu gehen.

Da stockte jäh sein Fuß. Sein Herz, das schon still zu werden begann im herüberwehenden Friede des Grabes, schlug plötzlich wie ein Hammer. Er sah etwas außer dem in sich versunkenen Paar, etwas, das jene nicht sehen konnten, der schwarze Schatten auf der Rückseite der Turmmauer war lebendig! Er bewegte sich. Formlos rührte er sich, aber etwas funkelte, glitzerte in ihm.

Dem einsamen Mann lief es eiskalt über den Rücken. Hatte der Nachttau ihn erkältet, der seit Stunden auf ihn niedersank? – Aufgeregt begann er vorwärts zu schreiten, vorwärts! nicht zum Meer, landeinwärts mit weiten Schritten, geräuschlos, behutsam, auf daß die Glücklichen ihn nicht gewahrten und nicht das Unbekannte, das auf der andern Seite lauerte, behutsam und doch in Hast. Vorwärts, vorwärts im Wettlauf mit der lautlos rinnenden Zeit, getrieben von einer entsetzlichen Angst, der Geißel seines Lebens, der Sorge, nicht zu spät zu kommen – o, nur dies eine Mal nicht! –

Atemlos erreichte er das Gemäuer. Er mußte sich daran halten, sich erholen vom raschen Lauf. An den Pfeiler gedrückt, horchte er, spähte er vor sich, hinter sich mit angehaltenem Atem. Nur das Gekose der Liebenden, fern von Holtenau das Schlagen einer Uhr – der weiße Strand, das glitzernde Meer.

Aber jetzt rieselten Sandkörner, jetzt kroch’s heran, wand sich schlangengleich durch das Dunkel. –

„Halt du! –“

Ein Zischen wie von einer Natter, kaum hörbar, aber eine Wut ohne Grenzen sprach daraus … Ein jähes Aufbäumen, ein geschmeidiges Gleiten … „Weg! – Weg!“

Umsonst. Svensens Faust hielt eisern, was sie packte. Sie zwang den Schatten, stand zu halten, sie zerrte, sie schleifte ihn hinaus in das grelle Licht, das die Schatten hassen. Und in diesem Licht sah Svensen ein braunes Antlitz, zwei schwarze Augen, glühend in Haß wie eines Teufels Augen, das Amulett sah er blitzen auf der nackten Brust des Italieners Peretti! Und in der freien rechten Hand des Mannes blitzte noch etwas anderes in stechendem Glanz wie ein besonders heller Mondscheinreflex – – Er hascht danach – da fährt es ihm schon zischend in die Brust, ein Blitz, kein milder Mondenstrahl.

Seine Kniee biegen sich jäh in bleierner Schwere. Seine Finger lockern widerwillig ihren Griff. – „Wahr’ dich, Lorensen!“ – Hat er die Worte noch hervorgebracht? – War’s nur ein Schrei?

Durch den Schleier, der vor seine Augen niedersinkt, sieht er den Schatten durch das Mondlicht jagen in weiten Sätzen dem Strand zu, den Weg nach Friedrichsort, fort! – fort!

Die Mordthat sitzt ihm auf den Fersen und hetzt den Verlorenen über das Land.

Und dann sieht er in ein geliebtes Gesicht, das sich über ihn neigt – in Staunen, in banger Sorge, goldenes Haar flimmert vor seinen Augen. Vor seinen Ohren aber braust’s wie sturmgepeitschte Brandung. Schwach nur und wie aus weiter Ferne vernimmt der zu Boden Gesunkene Lorensens Stimme durch das Tosen – der fragt, der forscht. Einen einzigen Namen erhascht er. „Peretti?“ und er nickt. Er kann nicht sprechen, er ist zu müd’. Die Ruhe kommt, die tiefe Ruh’.

Da weckt ihn noch einmal der gelle Aufschrei des Mädchens, das das Blut entdeckt hat, welches in unaufhaltsamem Strom unter seinem linken Arm hervorquillt.

Lorensen hat sich über ihn gebeugt, versucht ihn aufzurichten, zerrt und reißt an ihm in seiner Angst.

„Svensen! Gott bewahr’ mich! – Hat er dir gestochen? Lauf’ fix nach ’n Doktor, Doris! – Komm, Kamerad, das kann doch nich slimm sein.“

„Nee,“ sagt Svensen, dem auf einmal wieder ganz klar und licht im Kopf wird, und hält Doris am Kleiderrock fest, „slimm is das gor nich. Abers gieb’ dich man kein’ Müh’. Auf Messers verstehn sich die Italieners. Das sitzt.“

Und er faßt die Hände, die sich ausstrecken, um ihm zu helfen, die des Mannes, die des Mädchens, und drückt beide fest ineinander.

„Gott segne dich, mien Deern! Das is gut so – gans gut, wie es is –“

Lorensen preßt die Fäuste vor seine naß gewordenen Augen. Er hat einen Blick auf die Wunde geworfen, er versucht keine Hilfe mehr. Schluchzen schüttelt das Mädchen.

Svensen aber richtet den Oberkörper auf. Seine Augen schauen hell und groß in das Licht des Mondes.

„Einmal in mein’ Leben bin ich doch zur rechten Zeit gekommen,“ sagt er laut und feierlich. „Nu is’ gut. Gott im Himmel, ich dank’ dir!“

Und wieder braust die sturmgepeitschte Brandung in seinem Ohr. Der Mond wird zur Sonne, zum wild durch den Himmel rollenden Feuerrad. Jäh erlischt sein Glanz. Auch die Brandung schweigt. Dunkel, Stille. Svensens Hand streckt sich zitternd aus – nach welchem Ziel? – Sie sinkt herab.

Stumm liegt das Meer, stumm liegt das Land. Erschüttert beugen zwei Menschen sich über einen Toten, einen Mühseligen, der die glücklichen Tage, die ihnen noch winken, erkauft hat mit seinem Leben.

Er aber liegt stolz befriedigt auf dem blutgetränkten Sand, ein Sieger, wenngleich ohne Denkmal und Lorbeerkranz. Denn sterbend hat er sein Schicksal überwunden, die Schwäche, an der sein Leben krankte. Auf den lächelnden Lippen schwebt fort und fort das Wort des Triumphs: „Einmal zur rechten Zeit!“



Blätter und Blüten.

Frühlingskuren. In früheren Jahrzehnten galt der Frühling als eine Zeit, die zur Vornahme verschiedener Kuren besonders günstig erschien. Man sammelte allerlei frische Kräuter, preßte ihren Saft aus und trank ihn nach besonderer Vorschrift. Solche Kräuterkuren sollten blutreinigend wirken, tatsächlich wirkten sie abführend. Zur Frühlingszeit wurde auch der Aderlaß besonders gepflegt und im Mai drängten sich die Kunden zu dem Bade, der Gesunde und Kranke von der Ueberfülle des Blutes zu befreien pflegte.

Heute sind diese Frühlingskuren aus der Mode gekommen nur hier und dort werden noch Kräutersäfte bereitet und der Aderlaß ist geradezu verpönt. Man behauptet, daß diese Wandlung in der Anschauung des Volkes ’mit einer Veränderung in der Konsumtion des Kulturmenschen zusammenhänge. Die früheren Geschlechter, die uns vorangegangen, waren blutreich und bedurften des Aderlasses, die modernen Menschen haben nichts mehr von jener Säftefülle, im Gegenteil, sie sind nervös und blutarm geworden und schauen sich nach andern Heilmitteln um.

Bewegung im Freien, Genuß der frischen Luft und Aufsuchen der Ruhe in der herrlichen Natur – das sind die Heilmittel, die man heute anpreist. Zu solchen Kuren lockt der Frühling, der mit Blütenschnee die Bäume überschüttet und Wiese und Au mit frischem Grün schmückt. Namentlich die Menschen, die durch ihren Beruf in stauberfüllte, rußige Städte gebannt sind, sehnen sich beim ersten Lenzesnahen ins Freie hinaus. Aber wie schön der Frühling ist, er trügt nur zu leicht. Er, der so mächtig die Lebensgeister weckt, bringt auch Gefahren mit sich. Die Volkserfahrung kennt längst diese Schattenseite der Uebergangszeit vom Winter zum Sommer und ein altes Sprichwort sagt in Bezug auf Schwache und Kranke.

„Was der März nicht will,
Das nimmt der April.“

Und recht hat der Volksmund. Der erwachende Sonnenschein, der vermehrte Genuß frischer Luft, die ausgiebigere Bewegung im Freien sind Reize, die in unserm Körper eine große Umwälzung hervorrufen. Gesunde und Starke werden durch dieselben neu belebt, Kranke und Geschwächte können ihnen nur zu leicht erliegen.

Ferner ist der Frühling unbeständig. Er bringt plötzlich laue Winde und wärmenden Sonnenschein, aber nicht lange dauert diese Herrlichkeit. Auf einmal schlägt das Wetter um, die Temperatur sinkt, ein rauher Wind liegt über die frischen Blüten und Reif und Schnee fallen auf die kaum ergrünte Landschaft. Ein solcher Wettersturz kann aber Erkältungen verursachen, namentlich wenn weniger Abgehärtete ihre Winterkleidung zu frühzeitig gegen eine leichtere vertauscht haben. Die ärztliche Statistik belehrt uns in der That, daß im Frühling Erkältungskrankheiten, Katarrhe aller Art, Luftröhren- und Lungenentzündungen, rheumatische Leiden, besonders häufig vorkommen.

Das sollte jeder beherzigen, am meisten aber der Städter, der durch seinen Beruf mehr oder weniger verweichlicht ist. Der Frühling ist herrlich, aber in dem Genuß seiner Pracht sollte man vorsichtig sein. Frühlingskuren sind von zweischneidiger Wirkung, und wer sich abhärten, seine Nerven kräftigen oder sein Fett verlieren will, der warte damit lieber, bis der beständigere Sommer seinen Einzug ins Land gehalten hat.

[292] Der Papierkorb der Getreuen von Butzbach. (Mit Abbildung.) Vor drei Jahren, gelegentlich des achtzigsten Geburtstags des Fürsten Bismarck, traten einige Bürger der oberhessischen Stadt Butzbach zusammen um dem Altreichskanzler zu dem bevorstehenden Jubeltage ein Zeichen der Liebe und dankbaren Verehrung zu widmen. Da Butzbach durch seine Gerbereien und seine Lederindustrie sich eines besonderen Rufes erfreut, stifteten sie ihm ein Paar „Geburtstagsstiefel“. Auch im darauffolgenden Jahre meldeten sich „die Getreuen von Butzbach“ am 1. April in Friedrichsruh durch eine Gabe an. Sie sandten ein kunstvolles „Rauchtischchen“, mit allerlei zeitgemäßen Sprüchen geziert. In diesem Jahre wanderte wieder ein sinnreiches Geschenk von Oberhessen nach dem Sachsenwalde. Es war ein Papierkorb, den unsere nebenstehende Abbildung wiedergiebt. Er ist aus dem besten naturfarbenen Butzbacher Leder gearbeitet, etwa 80 cm hoch und hat die Form einer Urne. Quer über die Oeffnung ist ein Lederbügel angebracht, an dem zwei Deckel zum Verschließen des Korbes befestigt sind. Ein blauseidenes Band schmückt den Bügel und von seinen Enden trägt das eine das Wappen Bismarcks, das andere das Stadtwappen von Butzbach. Das Band wird von einem ledernen Schilde zusammengefaßt, auf dem folgenden Worte eingebrannt sind.

„Die ganze Kraft, die beste Liebe
Hast stets du deinem Volk geweiht,
Ein Band, das heißer Dank gewunden,
Verknüpft uns mit dir allezeit.“

Ferner findet sich auf dem oberen Rande des Papierkorbes folgende Mahnung.

„Laß schreiben nur den giftigen Neid,
Bis ihm die Finger zucken,
Es wird der Lederbauch gar bald
Die ganze Flut verschlucken.“

Von der weiteren Ausschmückung des Korbes sind noch ein in Medaillonform gehaltenes, in feinster Lederbrandzeichnung ausgeführtes Bild von Butzbach sowie eine in derselben Art hergestellte Widmungstafel hervorzuheben. Letztere trägt die Worte: „Zum 1. April 1897, die Getreuen von Butzbach.“ Recht hübsch sind auch die Eichenzweige und Kleeblätter, ähnlich den drei Kleeblättern des Bismarckschen Wappens, ausgeführt. Der Fuß ist mit blauer Seide umkleidet und mit demselben Stoß auch das Innere ausgeschlagen. Die „Getreuen“ von Butzbach pflegen, wie wir noch besonders erwähnen wollen, ihre Gaben selbst auszudenken und auch selbst auszuführen.

Gewiß hat der Papierkorb dem Altreichskanzler im Sachsenwalde gefallen, mehr aber noch als die kunstvolle Ausführung wird ihn die dankbare Liebe erfreut haben, die auch in dieser Butzbacher Gabe zum Ausdruck kam.

Der Papierkorb der „Getreuen von Butzbach“.

Die Tauben der Venus. (Zu dem Bilde S. 281.) Der römischen Liebesgöttin waren die Tauben heilig, und heimisch waren sie in deren Tempeln, doch wie vieles andere, was in der ewigen Roma zum Kult der Götter gehörte, ist auch dieser Brauch zu den Römern aus dem Orient herübergekommen. Aus einem Taubenei war nach der Sage die mächtige Herrscherin Semiramis geboren und die geflügelten Verwandten derselben flatterten in dichten Schwärmen um die Mauern der hochgetürmten Stadt Babylon. Und wenn heute noch 3000 Taubentürme um die persische Hauptstadt Ispahan ragen, obschon hier die Taubenzucht nur den Zwecken des Ackerbaus dient – wieviele mögen sich damals an den Ufern des Euphrat erhoben haben! Auf den ägyptischen Hieroglyphen finden wir sie mit dem Phönix und der Palme zusammen als Zeichen der Zeit und der Fortpflanzung des Menschengeschlechts. Auch für die Israeliten hatte die Taube eine heilige Bedeutung und Jerusalem hieß die Stadt der Tauben. Und wie bedeutsam wurde sie auch für das Christentum! Sie war das Attribut der heiligen Jungfrau, des heiligen Geistes und der Apostel. Tauben wurden in die Gräber der Märtyrer gelegt – vorbedeutende Zeichen ihrer Auferstehung, und allerlei kirchliche Gerätschaften, besonders Lampen, erhielten die Taubenform. Und da der Orient die gemeinsame Wiege der welterobernden Religionen war, so fand die Taube auch eine Zuflucht in dem Glauben der Mohammedaner, der sonst am freiesten ist von allem Bildlichen und Symbolischen. In Mekka werden die wilden Tauben geehrt und die Mädchen halten Futter für dieselben feil. In Rom nun wurde die Taubenzucht in zahlreichen Kolumbarien gepflegt, von denen auch die den Taubenhäusern ähnlichen Grabkammern ihren Namen erhielten. Auf dem Bilde von Motte sehen wir die Tauben der Venus aus ihren Schlägen in den Tempelraum herniederflattern auf die Hand der schlanken Hohenpriesterin, die sie zärtlich an die Lippen drückt – ihr zu Füßen aber streut die dunkle Sklavin ihnen das willkommene Futter und die Tauben picken die Gerstenkörner auf. Im Tempel selbst sieht die Schar der Tempeldienerinnen dem Flug der Venusvögel zu und draußen eine andächtige Menge.†      

Die „stolzen“ Spanier. Vor etwa zweihundert Jahren reiste die französische Gräfin Daunoy durch Spanien und hat da viel Seltsames erlebt; ein Vergnügen ist das Reisen damals auf der iberischen Halbinsel aber nicht gewesen, die Zustände in den Gasthöfen waren noch höchst primitiv. Mancherlei weiß sie auch von dem Stolz und der Hoffart der Spanier zu erzählen, die sie als sehr mäßig bezeichnet, wenn es auf eigene Kosten ging, die aber wie die Wölfe fraßen, wenn andere den Beutel aufthun mußten. Mit dieser Uebung – nicht mit dem Stolze – stimmt auch überein, daß manche bei einem Essen fünf bis sechs Schnupftücher zu sich steckten „und wann sie dieselbigen vollgefüllt, solche rings herum um ihren weiten Rock binden, wie etwa in einer Speiskammer, das Fleisch und das Geflügel an einen Haken hangen. Indessen thuet doch der Hauswirth als wenn er solches nicht sehe, weil es ihm sonsten vor einen Geiz möchte ausgeleget werden. Sie erzählt, daß sich ein Schuhmacher einmal Lachs kaufen wollte; als ihm der Fischer sagte, daß der für ihn wohl zu teuer sein würde, weil das Pfund einen Thaler kosten sollte, entgegnete der Schuhmacher zornig, daß er nun gerade drei Pfund nehme, während er sich mit einem Pfund begnügt hätte. wenn der Lachs wohlfeil gewesen wäre. Stolz und gravitätisch sei nun der Schuhmacher von dannen gestiegen, nachdem er „etwann sein ganzes Vermögen“ dafür gegeben. Oefters sollte es vorkommen, daß ein armer oder hochmütiger Mensch die Füße eines Kapauns unter seinem Mantel auf öffentlichem Markt hervorsehen lasse, damit die Leute glaubten, „er müßte ohne Zweifel viel Gebratenes“ essen. Die Felder waren sehr häufig unbebaut, weil die geringsten Bauern sich als Edelleute fühlten, für die sich das Arbeiten nicht schicke, „eher würden sie mit ihrer hoch ansehnlichen Familie den bittern Hunger und die äußerste Armuth leiden“.

Lunchroom in Chicago. (Zu dem Bilde S. 289.) Wie im ganzen amerikanischen Leben, prägt sich auch im Restaurationswesen in Amerika das Sprichwort „Zeit ist Geld“ aus. Allgemein bekannt ist wohl in Europa die Einrichtung der amerikanischen „Bar“, an der die Getränke stehend eingenommen werden. Der Lunchroom, von dem der Zeichner heute ein Bild vorführt, ist ausschließlich zum Einnehmen von Mahlzeiten bestimnnt. Auch hier ist zumeist eine „Bar“ vorhanden, aber außer Speisen verschiedener Art giebt es nur Thee oder Kaffee, der in einem großen Kessel stets brühwarm brodelt. Die Ausstattung dieser Räume ist höchst einfach, zumeist sind die Zimmer ganz in Weiß gemalt und große, automatisch bewegte Fächer sorgen für Kühlung. Die kleinen Sessel vor dem Schanktisch deuten an, daß der Lunchroom nicht dazu bestimmt ist, um in ihm gemütlich nach deutscher Sitte Mahlzeit zu halten, sondern in Hast einige Bissen zu verschlingen und dann wieder fortzustürzen. Hier nimmt der Geschäftsmann in seiner Lunchpause rasch eine Stärkung, die vom beliebten „Shopping“, vom Ladenbesuch, kommende Dame erfrischt sich hier, und Angehörige aller Völker sitzen da nebeneinander. Die Bedienung wird zumeist von Damen besorgt oder auch von weißgekleideten Köchen. Schalen mit prächtigem kalifornischen Obst zieren die Tafel, und auch die Schaufenster sind häufig mit Obst, Hummern, Schildkröten und dergleichen verlockend ausgeschmückt. Beefsteak und Austern sind die Hauptbestandteile des Menus dieser „Lunchrooms,“ in denen man schon von 10 Cent an eine Mahlzeit erhalten kann. Einen verwöhnten Gaumen darf man freilich nicht haben, die Gerichte sind ebenso in Eile hergestellt, wie sie gegessen werden, denn hier heißt es eben immer und überall: „Time is money“. M. E. F.     


[ Verlagswerbung für "366 Sprüche" von Daniel Sanders. ]


Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg (16. Fortsetzung). S. 277. – Johannes Brahms. Bildnis. S. 277. – Die Tauben des Venustempels. Bild. S. 281. – Johannes Brahms. Ein Nachruf. S. 283. (Mit dem Porträt S. 277.) – Die Zoologische Station des Berliner Aquariums in Rovigno. Von Franz Ith. S. 284. Mit Abbildungen S. 284, 286 und 287. – Zwei Wünsche. Gedicht von A. Nicolai. Mit Bild. S. 285. – Einmal zur rechten Zeit. Erzählung von Luise Westkirch (Schluß). S. 288. – Lunchroom in Chicago. Bild. S. 289. – Blätter und Blüten: Frühlingskuren. S. 291. – Der Papierkorb der „Getreuen von Butzbach“. Mit Abbildung. S. 292. – Die Tauben der Venus. S. 292. (Zu dem Bilde S. 281.) – Die „stolzen“ Spanier. S. 292. – Lunchroom in Chicago. S. 292. (Zu dem Bilde S. 289.)



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.