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Die Gartenlaube (1897)/Heft 19

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[309]

Nr. 19.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

(18. Fortsetzung.)

Als Doktor Lehmann gegen Abend nach Hause zurückkehrte und Frau Rat ihr tiefgekränktes Herz ihm gegenüber auszuschütten gedachte, war bereits der brave Bote vom Schloße da, der den Herrn Doktor hinaufholen sollte.

„Komme gleich! Was ist denn los?“ fragte er. Und dann gab er dem Kutscher, der ihn hergebracht, einen Zettel an Schwester Viktoria. „Sie fahren erst noch ’mal hinaus, Dillge, eine Pflegerin, die ihre Sache versteht, muß hin zu Faktors noch in dieser Nacht, sonst kriege ich die Frau nicht durch, und das hier in der Apotheke besorgen Sie, während sich die Schwester zur Fahrt rüstet. Auf drei Wochen soll sie sich einrichten, ihre Kranken besuche ich schon und schaffe Hilfe, wo es not thut, das sind alles nur Bagatellen. – Na, und Sie sagen Herrn von Kerkow, daß ich in zehn Minuten oben sein werde, wandte er sich an den Diener vom Schlosse.

Frau Rat saß am Fenster, Aenne war im Garten und Tante Emilie lag mit Kopfschmerzen zu Bett, es herrschte eine ungewohnte Stille im ganzen Hause. Die Mutter hatte seit dem Augenblick, wo sie erfuhr, daß ihr Kind den Doktor endgültig abgewiesen, kein Wort mit Aenne geredet, hatte sich vielmehr einige Stunden lang eingeschlossen und war erst vor wenigen Minuten wieder zum Vorschein gekommen. Sie und Aenne waren fertig miteinander, und es würde am besten sein, wenn der Trotzkopf wieder nach Dresden ginge! Morgen, wenn sie, Frau Rat, erst ruhiger geworden, wollte sie es der Tochter vorschlagen.

Das junge Mädchen schritt währenddem langsam im Garten auf und ab. Sie dachte schon nicht mehr an den kleinen dicken Doktor, sie kämpfte noch immer mit ihrem Herzen, dem durch die Worte von Heinz so bitter weh geschehen war. Wie käme denn Fräulein May dazu, sich um ein fremdes Kind zu kümmern?

Datei:Die Gartenlaube (1897) b 309.jpg

Von der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung in Leipzig: Das Thüringer Dorf.
Nach der Natur gezeichnet von A. Liebing.
( gemeinfrei ab 2028)

[310] Dieses eine Wort „fremd“ hatte mit einem Schlage alle frühere Zusammengehörigkeit verleugnet und war die Bestätigung, daß sie ihm nie, nie mehr gewesen war als – eine flüchtige Spielerei! – –

Und über der Welt, die so viel herbes Leid in sich barg, so viel Enttäuschung, wehte an diesem Abend der Duft des blauen Flieders geradezu berauschend, und auf die Berge und Wälder, auf Schloß und Städtchen goß der Mond seine Silberstrahlen und ließ die blühenden Apfelbäume in leuchtendem Weiß erscheinen. Aus dem Garten der Oberförsterei klang Zitherspiel und der Gesang einer Frauenstimme, das mochte die junge Frau Oberförsterin sein. Sie waren glückliche Menschen, die beiden, die dort wohnten, und in einer Stimmung, wie sie für solchen Abend paßte.

Aenne stand still und lauschte ein Weilchen, dann kehrten ihre Gedanken mit zwingender Gewalt immer wieder zu Heinz zurück. Was mochte nur droben auf dem Schlosse geschehen sein? Der Bote hatte des Doktors Erscheinen so dringend gefordert. Ob der Kleine kränker geworden?

Sie lachte plötzlich kurz auf – was ging das „fremde“ Kind sie an!

Sie wanderte wieder auf und ab in dem Mittelweg, der vom Hause an durch die Länge des Gartens bis zur Jasminlaube führte. Eben näherte sie sich wieder dem Hause, da stürmte der Doktor zur Vorderthür herein.

„Fräulein Aenne,“ scholl seine Stimme im Flur, „Fräulein Aenne!“

Sie blieb erschrocken stehen; was wollte er von ihr heute?

Nun trat er bereits in die Gartenthür. „Ach, da sind Sie ja! Können Sie es über sich gewinnen, solch zudringlichem Burschen wie mir einen Gefallen zu thun? Wie ich Sie kenne, sind Sie nicht kleinlich, also – vergessen Sie ’mal, was heute geschehen, ein paar Stunden lang, helfen Sie mir als barmherzige Schwester! Da droben, der Heini, das elende Tierchen, muß operiert werden, Halsabsceß mit Erstickungsgefahr, höchste Eisenbahn – verstehen Sie! Kerkow steht vor der Thatsache wie ein Gelähmter, ist zu nichts zu gebrauchen, und Schwester Viktoria ist soeben fort von Breitenfels, nach dem Hüttenwerck da oben – – Binden Sie ein Tuch um und kommen Sie, unterwegs werde ich Ihnen sagen, was Sie zu thun haben, zimperlich sind Sie ja nicht, und es handelt sich um Leben und Tod! Eilen Sie, ich bin gleich wieder hier mit meinen Instrumenten, nehmen Sie auch eine Schürze mit – –“

Aennes Kopf bog sich in den Nacken zurück. Was geht mich das „fremde“ Kind an? wollte sie rufen, aber es würgte sie etwas in der Kehle, etwas, das mächtiger war als der Schmerz ihres verletzten Herzens, als ihr gedrückter Stolz.

„Sie wollen wohl nicht?“ rief er zurückkehrend mit dem Saffiankästchen unter dem Arm. „Das dürfen Sie mir nicht anthun, ich fordere diesen ersten Freundschaftsbeweis von Ihnen im Namen der Menschlichkeit!“

Aber sie schritt schon neben ihm durch den Flur.

„Wissen Sie,“ sprach der Doktor weiter im Gehen, „dem Wurm wäre geholfen, thäte er die Augen zu, aber der Kerkow, weiß Gott, der Mensch thut dann irgend etwas, das nachher nicht wieder gutgemacht werden kann!“

Sie schritten in möglichster Eile den Schloßberg hinan, nachdem Aenne noch dem Mädchen eine Bestellung an ihre Mutter zugerufen hatte. Und die Mutter saß am Fenster und sah die zwei Menschen, von denen sie glaubte, daß sie nie wieder ein Wort zusammen reden würden, einträchtig nebeneinander über den Platz gehen und im Dämmer der Mondnacht verschwinden.

Was sollte das nun wieder heißen?

Droben im Schloß stand Heinz von Kerkow und starrte auf das Bettchen seines Lieblings, der sich in schweren Qualen wand. So rasch hatte die tückische Krankheit sich entwickelt, daß nur noch eine Operation Rettung bringen konnte. Sein Einziger, sein Letztes, sein Liebstes war dem Tode geweiht – –.

Ihm war so dumpf zu Mut, daß er die Größe dieses neuen Unglücks noch gar nicht voll ermaß. Er hatte die Anordnung des Arztes kaum recht verstanden – warmes Wasser, einen Tisch, frische Leinentücher, hellbrennende Lampen – –. Das Dienstmädchen, die knochige Person, die soeben noch auf dem Korridor von dem jungen Arzt zu der Würde eines dreifachen Kamels erhoben worden war, weil sie gar so ungeschickt das wimmernde Kind emporgehoben hatte, schleppte mit zitternden Händen im Nebenzimmer alles zusammen, was Doktor Lehmann gefordert hatte, und Heinz starrte auf diese Vorbereitungen, als gälten sie einem fremden, nicht seinem Kind, seinem einzigen.

Und dann ging die Thür plötzlich auf und hinter dem Arzt kam eine schlanke, dunkle Gestalt über die Schwelle, und ein Paar Augen, ein Paar lieber trauriger Mädchenaugen suchten das Bettchen des Kindes. Heinz trat betroffen einige Schritte zurück und faßte nach dem Tische, und da kam sie schon herüber zu ihm und sagte mit einer Stimme, der man anhörte, wie schwer das Sprechen ihr wurde. „Erlauben Sie, bitte, Herr von Kerkow, daß ich, in Ermangelung anderer weiblicher Hilfe, dem Herrn Doktor ein paar Handreichungen thun darf – ich will gewiß ebenso sorgsam sein, als wäre es mir“ – – „kein fremdes Kind“ hatte das trotzige Herz ihr zugeflüstert, aber ihre Lippen stockten angesichts dieses zusammengebrochenen Menschen, der vor ihr stand, und wie vor Frost schlugen ihr die Zähne zusammen.

„Ich danke Ihnen,“ stammelte er, „ich danke Ihnen.“

„Wollen Sie die Freundlichkeit haben, uns zu verlassen, Herr Schloßhauptmann,“ befahl jetzt Doktor Lehmann, „ich werde Sie benachrichtigen, sobald Sie wiederkommen dürfen. Ich liebe nicht,“ betonte er, als Heinz zögerte, „wenn Angehörige bei einer Operation zugegen sind – hier ist nur fremde Hilfe am Platz.“

Und dann führte er kurzer Hand den Schloßhauptmann hinaus, und Heinz saß am Fenster des Zimmers, das einst seine Schwester bewohnt hatte, die Hände über dem Knie gefaltet, unbeweglich. Würde es sterben, das Kind, der kleine liebe Gefährte seiner einsamen Tage? „Ein letzter Versuch“, hatte der Arzt gesagt – furchtbares Wort! Und war es auch ein armes Krüppelchen für ihn bedeutete das Kind alles – alles! Denn nachher, dann – – er wollte nicht weiter denken.

Und die Minuten schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen, bis man ihn rief, und als dies endlich geschah, als der Arzt ihn holte, da trat er auf den Zehen in das nur dämmernd erhellte Krankenzimmer; am Bettchen des Kindes, das eingeschlummert schien, saß Aenne May, und den Finger an die Lippe legend, forderte sie ihn stumm zum Schweigen auf.

„Sie bleibt hier die Nacht,“ erklärte der Arzt, „und morgen auch, bis eine Schwester aus Brendenburg kommt. Ich gehe nur hinunter und ziehe mich um, dann komme ich zurück. Sie haben wohl ein Zimmer und ein Bett für mich, ich möchte für alle Fälle zur Hand sein während der nächsten Stunden. Sie, Herr von Kerkow, können sich legen, wenn Sie wollen, oder, falls Sie in der Nähe bleiben wollen – im Nebenzimmer ist wohl ein Stuhl, ein Sofa – nur äußerste Ruhe, bitte, äußerste Ruhe!“

Heinz ging gehorsam in die angrenzende Stube und warf sich in einen Sessel, von dem aus er das Bettchen des Kindes beobachten konnte. Es war totenstill in den hohen Räumen, das Flämmchen des Nachtlichtes warf seinen zuckenden Schein über die schlanke Gestalt, die in dem Fauteuil zu Füßen des Bettes wachte, den Kopf zurückgebogen gegen die Lehne, das schöne Gesicht nach oben gerichtet, unbeweglich, mit großen offenen Augen. Dann und wann richteten sich diese dunklen Augen mit einem unendlich weichen Ausdruck von Besorgnis auf das schlummernde Kind, aber immer wieder starrte sie empor zur Decke in schmerzlichem Sinnen.

Das war Aenne May, die neben dem Bette seines Kindes wachte! Ist das ein Traum? Hat sie wirklich sich seines Kindes erbarmt?

In der lautlosen Stille, die in den Zimmern herrschte, nur unterbrochen durch den Glockenschlag der Schloßkirche, sah Heinz einen Augenblick die Gestalt des Arztes, der zurückgekehrt war und sich flüsternd zu Aenne hinabbeugte, dann fiel ihm ein, wie der junge Doktor am Morgen mit begeisterten Worten den Charakter Aennes geschildert hatte, und er empfand plötzlich ein lebhaftes Unbehagen das seinen Höhepunkt erreichte, als er sich der Andeutungen erinnerte, welche die Frau Försterin ihm heute früh machte, nachdem der Arzt ihn verlassen, droben, auf dem Luisenschlößchen. „Die Leute sagen ja, er wird Fräulein May heiraten“. – Er lächelte bitter. Sie war das erste Glück, das ihm unter den Fingern zerrann, und dann weiter, ein Schlag nach dem andern, und jetzt der letzte – sein Kind wird sterben! So saß er in dumpfer Verzweiflung – wie lange? Er wußte es nicht.

Die Mädchengestalt hatte sich noch immer nicht gerührt, [311] nun sah er, wie sie plötzlich an dem Bettchen niederkniete, wie sie vorsichtig das Kind berührte, dann hastig aufstand, ihren Platz verließ und an das Nebenzimmer klopfte. Im nächsten Augenblick war der Arzt da mit einer brennenden Kerze, die er Aenne zu halten gab, während er sich über das Kind beugte, dann richtete er sich empor und blickte dem jungen Mädchen in die Augen, dazu ein Zucken der Schultern eine Handbewegung, die Heinz jäh emporfahren ließ. Wie hingeweht stand er plötzlich auf der andern Seite des Lagers, leichenblaß, mit verzerrtem Gesicht.

„Was ist’s mit Heini?“ fragte er mühsam.

„Herr von Kerkow,“ antwortete der Arzt erschüttert, „er ist hinübergeschlummert, der Kleine, ohne Kampf, ohne Schmerz.“ Er trat neben den Mann, der, wie verständnislos, die stille kleine Gestalt mit seinen Blicken umfaßte, und legte die Hand auf seine Schulter. „Ich weiß, was das heißt für Sie, Herr von Kerkow,“ sagte er, „aber ich weiß auch, wieviel Schmerz und Erdenelend dem armen Kinde erspart sind. – Denken Sie nicht an sich, gönnen sie ihm die Ruhe. Sein Leben war ein Leidensweg.“

Aenne stand blaß, mit niedergeschlagenen Augen, sie fand keine Worte für das, was sie bewegte. Heinz Kerkow aber wandte sich kurz um und ging ins Nebenzimmer, dessen Thür hinter ihm zufiel.

Die beiden Zurückbleibenden sahen sich fragend an. „Wir dürfen ihn nicht allein lassen, Fräulein Aenne,“ flüsterte der Arzt. „Gott im Himmel“, fuhr er fort, „der arme kleine Kerl ist erlöst, aber wenn dieser Mann weiter nichts hat auf der Welt! Er lebte ja nur für das Kind – glauben Sie mir, Fräulein, er ist imstande und macht ein Ende – mit sich!“

„Was soll man thun?“ fragte sie dagegen und preßte die Hände zusammen in furchtbarer Angst.

Doktor Lehmann ergriff plötzlich ihre Hand und führte sie in eine der tiefen Fensternischen. Dort öffnete er beide Flügel, so daß die im Mondlicht schimmernde weite Ferne vor ihnen sich aufthat und der würzige Duft der Frühlingsnacht hereinwehte in das Sterbezimmer, zugleich mit den Liedern der Nachtigallen, die in dem Fliedergebüsch des Schloßberges zu singen begannen.

So standen sie schweigend, und eine ganze Weile verstrich, ehe der Mann zu reden vermochte, und Aenne fühlte, wie seine Rechte zitterte, die er mit festem Druck um die ihrige gelegt hatte.

„Fräulein Aenne,“ begann er endlich mit mühsam beherrschter Bewegung, „wenn ich nun wüßte, wer der Mann ist, den Sie nie vergessen können!“

Sie entriß ihm hastig die Hand, ihre Augen blitzten ihn durch die Thränen zornig an. „Herr Doktor!“ sagte sie, tief verletzt.

„Vergeben Sie mir, Aenne; Ihre Mutter selbst hat es mir verraten im grenzenlosen Zorn und in der Bitternis um einen zerschellten Lieblingsplan. ‚Auf das Schloß haben Sie sie gebracht!‘ rief sie mir zu, als ich vorhin unten war, ‚nun, das haben Sie klug gemacht, sie zu dem zu führen um deswillen sie jeden andern verschmähte!‘ Es fehlte nicht viel, sie hätte mich einen Dummkopf gescholten. Sie aber, Aenne, werden zu stolz sein, das zu leugnen. Es gehe mich nichts, an werden Sie vielleicht sagen – schön! Das weiß ich! Aber sehen Sie, Fräulein Aenne, wenn man als Arzt nur anders könnte, als an das Wohl und Wehe seiner Patienten zu denken, selbst wenn einem – dämlichen Kerl, der man ist, das Herz sich umkehrt! Ich meine nämlich, Fräulein Aenne, da Sie ihn nun doch einmal lieben mit jener großen Liebe, deren nur ein Frauenherz fähig ist, so erbarmen Sie sich auch über ihn, dann retten sie den Mann vom Untergang!“

Sie stand, den Rücken ihm zugewendet, aber er sah, wie sie zitterte, wie sie sich mühte, ihrer Erregung Herr zu werden. „Was soll ich thun?“ stieß sie endlich hervor, ohne sich umzuwenden.

„Das fragen Sie mich doch nicht, Aenne? Wann hätte wohl je ein Mann das rechte getroffen in solchen Fällen? Das kann nur einzig das Weib, das liebt. Sie wissen, was ihm fehlt – Freiheit, Arbeit, neuer Lebensmut, Energie – – Na, natürlich wissen Sie es, Aenne! Nehmen Sie sich seiner an, stellen Sie den grundguten, edlen Menschen wieder auf seine eigenen Beine, das kann eine liebende Frau, gewiß kann sie das – wie? das ist Ihre Sache. Und nun guten Morgen, liebe Aenne, ich möchte ein wenig ruhen, ehe ich andere Patienten besuche. Sie wissen von Ihrem Papa her: Wenn der Totenschein ausgestellt ist, ist der Arzt überflüssig.“

Er nickte ihr zu mit seltsam zuckendem Gesicht, suchte Hut und Stock und verließ das Zimmer.

Aenne verharrte regungslos, die Hände um das Fensterkreuz geschlungen, hinter ihr schlief der Kleine den ewigen Schlaf. Es war so still, so furchtbar still, sie meinte, ihr eigenes Herz pochen zu hören. „Gott, erbarme dich,“ betete sie „laß mich den rechten Weg finden, ihm zu helfen!“

Im Nebenzimmer schritt Heinz Kerkow auf und ab. Ihm war zu Mut wie einem Schiffbrüchigen mitten auf dem weiten Ocean, keine rettende Planke, nichts wie Oede rings, entsetzliche lähmende Oede; es lohnt nicht mehr, mit den Wellen zu kämpfen, die Kraft ist erlahmt. Untersinken, Frieden finden dort unten, nur nicht weiter ringen müssen in dieser Hoffnungslosigkeit. – Sterben – –

Aenne hörte dieses ruhelose Wandern wohl eine Stunde lang, dann ward es still nebenan, ein Schrank wurde geöffnet, ein paar Kästen auf- und zugeschoben und nun – sie barg ihre schlanke Gestalt dicht hinter dem Fenstervorhang, nur ihr Kopf beugte sich vor mit angstvollen spähenden Augen – nun öffnete sich die Thür nach dem Sterbezimmer. Heinz trat auf die Schwelle und blickte sich um. Als er das Zimmer verlassen sah, kam er herein, ging festen Schrittes zu der Thür, die auf den Korridor mündete, verschloß diese und kehrte zu dem Bettchen seines toten Knaben zurück. Einige Augenblicke stand er und betrachtete finster die kleine Leiche, dann griff er in die Brusttasche, kniete vor dem Bette nieder und hob den Revolver.

In diesem Augenblick flog es wie ein Schatten an seinem Auge vorüber, eine kleine energische Hand drückte kraftvoll seinen Arm herab und eine klare Frauenstimme sagte: „Seit wann bist du ein Feigling, Heinz Kerkow?“

– – – – – – – – – – – – – – –

Beim ersten Morgensonnenstrahl kehrte Aenne zurück in ihr Heim. Das Haus war noch verschlossen, ebenso die Läden, nur in des Doktors Zimmer stand ein Fenster geöffnet, und sein Gesicht tauchte hinter den Gardinen auf, als Aenne seinen Namen rief und ihn bat, die Hausthüre aufzuschließen.

„Wie ist er denn? Sprachen Sie ihn noch? Wie trägt er es?“ forschte er leise, als sie eintrat.

„Wie ein Mann,“ antwortete Aenne, und sie drückte die Hand des jungen Arztes im Vorbeigehen.

Weiter erfuhren auch weder Tante Emilie noch die Mutter etwas über den Schloßhauptmann von Kerkow, überhaupt niemand. Dagegen erfuhr Aenne etwas anderes, nichts mehr und nichts weniger, als daß sie die rückhaltlose Erlaubnis habe, ihrem Berufe wieder nachzugehen und zwar in Begleitung der Tante Emilie. Und als letztere sich erbot, doch lieber bei der Schwägerin bleiben zu wollen, hörte sie die Antwort: „Danke! Ich habe schon an Lieschen Weidner telegraphiert, sie kommt ganz zu mir – als Tochter. Ihr könnt ja nun völlig leben, wie ihr wollt in Dresden, braucht euch meinetwegen nicht zu sorgen!“

Im übrigen hüllte sich Frau Rat in Schweigen, und selbst der Doktor existierte augenblicklich nicht für sie, denn dieser Mensch war das undankbarste Geschöpf, das je in ihrer Nähe gelebt! Anstatt anzuerkennen, wie sehr sie beflissen gewesen, seine Wünsche zu fördern, hatte er sie angedonnert. ‚Wie, Frau Rat, sie wußten, daß das Herz Ihrer Tochter nicht mehr frei ist, und wollten sie trotzdem überreden, mich zu heiraten? Haben Sie denn eine Ahnung, hochverehrte Frau Rat, daß das – geradezu gesagt – perfide gegen mich, ja, gegen mich, gehandelt ist?‘ So drehte dieser kratzbürstige Mensch auf einmal die Geschichte um, als Lohn für ihre mütterliche Gesinnung. Hätte sie nur einen andern Mieter in Aussicht, dieser Doktor sollte schon dran glauben, leider aber waren die zahlungsfähigen Junggesellen in Breitenfels sehr rar!

Die alte Dame packte mit undurchdringlichem Gesicht Aennes Sachen ein, fügte fast mehr als sie entbehren konnte an Leinenzeug dazu, wie jemand, der nur um Gottes willen reichlich und vollgemessen giebt, damit er dereinst nicht Vorwürfe zu erdulden braucht. Und als am Begräbnistage Heinis Aenne und Tante Emilie vom Kirchhofe zurückkehrten, war nicht nur alles aufs gewissenhafteste geordnet und eingepackt, es lag auch ein Couvert neben Aennes Tasse, das einen Tausendmarkschein enthielt. Dein mütterliches ’Erbe’ stand darauf geschrieben, mit großen Buchstaben.

[312] „Aber, Mama?“ sagte Aenne peinlich erregt, „warum denn das?“

„Nimm es nur, dann ist zwischen uns alles erledigt! Du kannst nun thun und lassen, was du willst, und bist keiner Seele eine Verantwortung schuldig, ich möchte sie auch nicht tragen, diese Verantwortlichkeit – du hast es so gewollt! Ich kann nur noch den lieben Gott bitten, daß er dich’s nie bereuen läßt, den Weg gegangen zu sein, der dir der rechte schien.“

Am folgenden Vormittage reiste Aenne ab, unversöhnt mit der alten, nach deren Meinung so schwer gekränkten Frau. Die Thränen rannen über ihr blasses Gesichtchen – die Augen der Mutter blieben trocken. Sie würde sich hüten, dem trotzigen Ding zu zeigen, daß ihr das Herz beinahe brach! – Der Doktor war vor Tau und Tag schon über Land gefahren. Abschiednehmen galt ihm im allgemeinen schon für etwas Schreckliches, in diesem Falle dünkte es ihm unmöglich.

Der Wagen rollte an dem Schloßgarten vorüber. Aenne schaute noch einmal hinauf zu dem Erker, unwillkürlich, obgleich nichts dort zu sehen war als herabgelassene Vorhänge. Das Licht würde dort oben nicht mehr flimmern abends, der Schloßhauptmann von Breitenfels war gestern, gleich nach dem Begräbnis, zum Herzog gereist, um seine Entlassung zu erbitten.

Tante Emilie wußte es. „Was er wohl anfangen wird?“ fragte sie, zu Aenne gewendet.

„Ich habe keine Ahnung, Tante.“

„Es sind doch alle Berufsklassen so überfüllt, und er ist so gar nicht mehr gewohnt, zu arbeiten –“

Aennes aufleuchtende Augen trafen sie plötzlich, und ein stolzes Lächeln ließen einen Augenblick ihre Zähne aufblitzen. „Der Heinz Kerkow? Um den ist mir nicht bange Tante Emilie.“

„Was sagst du?“ stotterte die alte Frau.

Aber Aenne schwieg und sah ernst in die Ferne hinaus, in deren Dunst die Türme der Stadt schimmerten, von welcher aus die Eisenbahn sie entführen sollte, der Arbeit, der ungewissen Zukunft entgegen. Barg diese Zukunft auch ein Glück für sie? Ach, hoffentlich! Hoffentlich!

(Schluß folgt.)




Datei:Die Gartenlaube (1897) b 312.jpg

Große Industriehalle, Seitenansicht.
Abbildung vermutlich von Alfred Friedrich Liebing und daher ( gemeinfrei ab 2028)

Die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbe-Ausstellung in Leipzig.

Von Max Hartung. Mit Abbildungen von A. Liebing und E. Kiesling.

Die Ausstellungen, die ihren Ursprung den Museen verdanken, traten das erste Mal in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in die Erscheinung. Sie haben sich seitdem zu einer Institution herausgebildet, die uns jetzt ein geradezu unentbehrliches Bedürfnis dünkt und unserer Zeit ihren eigenartigen Stempel unverkennbar aufdrückt, so daß wir das neunzehnte Jahrhundert das Zeitalter der Ausstellungen nennen könnten. Nachdem das Ausstellungstreiben vergangenes Jahr im Norden und Süden seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien, pulsiert es heuer besonders lebhaft mitten im Herzen Deutschlands – in Leipzig. Die Pleißestadt ist durch ihre Bedeutung als alte Handelsempore und durch die centrale Lage im Reiche wie kein anderer Platz geeignet, den Industrie- und Gewerbefleiß der arbeitsamen Bevölkerung Mitteldeutschlands in einem großartigen Gesamtbilde der Welt vorzuführen und der Aufruf Leipzigs zur Veranstaltung eines friedlichen Wettbewerbs innerhalb seiner Mauern verhallte denn auch nicht ungehört. Das ursprünglich in beschränkterem Rahmen schon für das Jahr 1895 geplante Unternehmen wurde aufgeschoben, wuchs sich aus und gestaltete sich nun zu einer weit über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Ausstellung, an der nicht allein das Königreich Sachsen und die Thüringischen Staaten, sondern auch das Herzogtum Anhalt, die preußischen Provinzen Sachsen Brandenburg (mit Ausnahme Berlins), der Regierungsbezirk Liegnitz von Schlesien und die drei fränkischen Kreise Bayerns beteiligt sind.

Wie die Ausstellungen von jeher gern an ein geschichtlich wichtiges Ereignis anknüpfen so ist auch die Leipziger Ausstellung in Erinnerung an das Jahr 1497, in dem die bedeutungsvolle Errichtung der Leipziger Messen von Kaiser Maximilian I. bestätigt und konfirmiert wurde, ins Leben gerufen worden. Die Ausstellung, welche am 24. April dieses Jahres in Anwesenheit des Königs Albert von Sachsen feierlichst eröffnet

[313]

Wartburg.   Burg Taufers.   Theater.   Jerusalempanorama.       Hauptgastwirtschaft.  
Hauptcafé.   Halle der Stadt Leipzig. 
Ansichten von der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung in Leipzig.
Nach der Natur gezeichnet von E. Kiesling.

[314] wurde, hat ihren Platz im westlichen Teile der Stadt auf den zwischen Karl Tauchnitz- und Bismarckstraße sich hinziehenden Parkwiesen erhalten. Sie ist also für den Besucher leicht erreichbar, dem überdies durch elektrische Bahnen jederzeit die schnellste Fahrgelegenheit nach allen Himmelsrichtungen geboten wird.

Treten wir durch das von zwei hohen Obelisken flankierte Hauptthor in den Ausstellungspark ein, dessen Fläche 400000 qm umfaßt, so wird uns ein überraschend schöner Anblick zu teil. Vor uns dehnt sich eine überaus reizvolle Landschaft aus. Inmitten herrlicher Anpflanzungen liegt ein blinkender Weiher eingebettet, der von Schwänen belebt und von zierlichen Statuen umrahmt ist, und im Hintergrunde ist das imposante Hauptgebäude sichtbar, das wie ein weißes Schloß zu uns herübergrüßt. Das ist unser Ziel. Wir schreiten die um das Wasser führende breite Lindenallee entlang, die sich durch prächtige Gartenanlagen hinzieht, in denen Kioske und Tempelchen malerisch verstreut liegen und gelangen über die Flutkanalbrücke, die mit Statuen geschmückt ist, welche Sachsen und Thüringen, Industrie und Gewerbe verkörpern, bis vor das mächtige Hauptgebäude. Dicht vor denselben ist ein Reiterstandbild des Protektors der Ausstellung, König Alberts von Sachsen, errichtet.

Inneres des Kuppelbaus der
großen Industriehalle
.

Das im Renaissancestil gehaltene Bauwerk selbst, das samt der mit ihm vereinigten Maschinenhalle einen Flächenraum von über 40 000 qm einnimmt, ist mit einer Anzahl kleiner Türmchen geziert und zeigt vor der Front die von Säulen getragenen Figuren der Städte Dresden, Leipzig, Chemnitz. Wir begeben uns durch das mittelste der drei Portale in den hochgewölbten Kuppelbau, dessen Decken- und Wandmalerei einen hübschen Gedanken zum Ausdruck bringt. Vier mächtige Eichbäume, deren Zweige Putten mit den bezüglichen Attributen beleben, sollen die einzelnen Gewerbarten darstellen. Sie wachsen an den Wänden zur Decke empor, an der sich ihre Laubkronen zur Umkränzung des Symbols der Industrie, eines großen Zahnrades mit dem sächsischen Wappen, vereinen. An der dem Eingang gegenüberliegenden Galeriewand ist eine Orgel aufgestellt und auch im übrigen haben hier besonders wirksam gruppierte und ins Auge fallende Gegenstände Platz gefunden.

Die „Gartenlaube“ in der Buchgewerbehalle.

In einem der nächsten Räume nimmt die Ausstellung des Buchgewerbes ihren Anfang, als deren mächtigste Vertreterin Leipzig obenan steht. Die Halle, in deren Mitte sich die Statue Gutenbergs erhebt, und von deren Wänden die Riesenbilder der vier Evangelisten herabgrüßen, ist mit düsterer Holzdecke ausgestattet und mutet wie eine Klosterbibliothek an. Hier hat auch die Verlagshandlung unseres Blattes ausgestellt. In dem Bestreben, ihrem Platz ein gefälliges Aussehen zu verleihen, ist sie aus begreiflichen Gründen auf den Gedanken gekommen, ihn mit einer grün umrankten Gartenlaube zu umgeben. Hier finden wir sämtliche Jahrgänge der „Gartenlaube“, die seit ihrer Gründung durch Ernst Keil im Jahre 1853 erschienen sind, in stattlicher Reihe aufgestellt. Ein charakteristisches Bild Ernst Keils schmückt die Mittelwand der Laube und die übrige Wandfläche bedecken Originalbilder von berühmter Künstlerhand. Nebenan hat sich das graphische Gewerbe niedergelassen, das uns unter anderem den Dreifarbendruck praktisch vorführt und dem sich die photographischen Künste, die Papierfabrikation und sämtliche andere verwandte Geschäftszweige anschließen.

Ein interessantes Bild gewährt der Raum, in dem uns klargemacht wird, welche große Bedeutung die Chemie für die Industrie gewonnen hat. Denken wir nur an das kleine Zündholz, dessen Erzeugung hierher gehört. Welche wichtige Rolle spielt es nicht in unserem Leben! Hat man doch ausgerechnet, daß auf den Kopf der Bevölkerung Deutschlands täglich 6 Zündhölzchen kommen, d. i. bei 52 247 000 Einwohnern also ein Verbrauch von 313 482 000 Stück. Ein hoher Obelisk, der aus Schachteln sogenannter Schwedischer Zündhölzer aufgebaut ist, erinnert zugleich daran, wie segensreich diese deutsche Erfindung wirkt, indem sie die gesundheitsschädliche Herstellung der giftigen Phosphorhölzer immer mehr verdrängt. Gut beschickt ist auch die Abteilung für Musikinstrumente, auf welchem Gebiete sich Klingenthal, Markneukirchen und andere Orte des Vogtlandes einen Weltruf erworben haben, ferner die für Pianofortebau, in dem wieder Leipzig Mustergültiges leistet. Unerreicht in der ganzen Welt steht die Uhrenfabrikation der sächsischen Stadt Glashütte da, die selbst den berühmten Genfer Erzeugnissen gegenüber den Vorzug genießt. Einen bedeutenden Industriezweig Sachsens und Thüringens bildet die Keramik. Allen anderen Städten voran marschiert hier Meißen mit seiner Königlichen Porzellanmanufaktur, die zahlreiche künstlerische Erzeugnisse aufgestellt hat. Ferner festigen die Galanterie- und Spielwarenindustrie des Ausstellungsgebietes durch das, was sie herbeigeschafft, die hohe Meinung, die man schon längst überall von ihnen hegt. Einen gewaltigen Eindruck hinterläßt die Gruppe „Berg-und Hüttenwesen“, deren Produkte ganz ausgezeichnet sind. Und auch die anderen Zweige alle sind vertreten und verdienen Anerkennung und vollstes Lob. Hervorragendes Interesse erweckt die Maschinenhalle mit ihren unzähligen großen und kleinen Betrieben. Eisenbahnzüge, die mit allen Ausrüstungen der Neuzeit versehen sind, können wir besteigen und besichtigen. Der Schnellzug mit seinen Brems- und Sicherheitsvorrichtungen erweckt eine beinahe unbezwingliche Reiselust in uns. Sehr lehrreich gestaltet sich der Besuch der Sonderausstellung der königlich sächsischen Staatsverwaltungen. Hier werden wir durch Pläne und Modelle, Instrumente und Apparate, sowie durch Sammlungen mit den Einrichtungen der Universität der technischen Staatslehranstalten und der Fachschulen bekannt gemacht. Wir lernen die Heil- und Pflegeanstalten, das Meteorologische Institut in Chemnitz kennen, erhalten Einblick in das Straßen-, Eisenbahn-, Wasser- und Hochbauwesen und gewinnen ein eindrucksvolles Bild von der für Industrie und Gewerbe so wichtigen Arbeit der statistischen Bureaus eines Landes. Nachdem [315] wir dies höchst interessante Gesamtbild, das uns hier von der Thätigkeit und Fürsorge einer umsichtigen Regierung gegeben wird, mit Bewunderung geschaut haben, verlassen wir das Hauptausstellungsgebäude!

Alt-Leipzig: Hexenküche in Auerbachs Keller.

Mit richtigem Verständnis für die Aufwendungen, die der eingehende Besuch großer Ausstellungsräume mit all den verschiedenartigen Eindrücken auf empfängliche Gemüter mit sich bringen muß, ist man darauf bedacht gewesen, die Stätten der Erholung und Zerstreuung bis dicht an die Thüren des Hauptgebäudes heranzuführen. An den nördlichen Flügel schließt sich das Vergnügungsviertel an, während der südliche Flügel an das „Thüringer Dorf“ grenzt. Wir ziehen zunächst den Ausflug in das an Wald und Fluß gelegene Dorf vor, dessen Häuser teils aus „echten“ Bauwerken bestehen, die an ihrem Standorte abgebrochen und hier wieder aufgebaut worden sind, teils solche in naturgetreuer Nachbildung veranschaulichen. Die ganze höchst charakteristische Anlage führt uns ein überaus anziehendes Bild menschlicher Wohnungen aus einem der schönsten Teile des Ausstellungsgebietes, dem herrlichen Thüringen, vor. Aber der originellen Schöpfung liegt wohl noch ein anderer tieferer Gedanke zu Grunde: vielleicht trägt auch sie dazu bei, den Sinn für den überfeinerten Geschmack des fin de siècle wieder mehr auf Ursprünglichkeit und Einfachheit zurückzuführen. Wie ein frischer Hauch, gemacht aus Wald- und Höhenluft, weht es uns aus diesem idyllischen Erdenwinkel entgegen. Um einen von Enten und Gänsen belebten Teich, in dessen trübem Wasser sich knorrige Weidenbäume von urgemütlichem Aussehen widerspiegeln, ist das Dörfchen aufgebaut, das ein gastfreies Völkchen bewohnt. Im Bauernhaus, in dem das Pfeifenschnitzen noch als Hausindustrie betrieben wird, ist frische Milch zu haben, und in der Schmiede dicht daneben, die von jeher auf einen guten Tropfen halten mußte, wenn die Fuhrleute eines beschädigten Rades oder verlorenen Hufeisens wegen vorsprachen, wird man nicht trockenen Gaumens von der Schwelle gewiesen. Beide Häuser sind auf unserem Bilde S. 309 rechts sichtbar. Auch an einem Gutshof mit Scheune und Taubenschlag fehlt es nicht und dort macht sich das stattliche Gemeindehaus mit hohem Treppenvorbau und geräumigem Saale breit. Jetzt zieht uns der liebliche Duft von Rostbratwürsten und „rohen“ Kartoffelklößen – den Nationalgerichten des Thüringers – in die Nase. Wir sind vor dem Dorfkrug angelangt, an dem das verwitterte Wirtshausschild heraushängt. Doch horch, welch ein Rauschen! Uns ist, als wenn wir es deutlich klingen hörten.

„In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad …“

Ja, so und nicht anders muß sie ausgesehen haben, die Mühle mit dem bemoosten Rad, die Eichendorff zu seinem gemütstiefen Volksliede begeistert hat. Aber weiter, denn auch die alte romanische Dorfkirche dort ladet uns zu einem Besuche ein! Sie stellt die „Elisabethkapelle“ dar, die sowohl wie der in Stein gefaßte „Elisabethbrunnen“ vom Erbauer des Dorfes nach Mitteilungen der Wartburgchronik, laut welchen sie einst am Fuße des Wartburgberges gestanden haben, frei nachgebildet wurden. Unser Bild zeigt beide neben der alten Mühle. Und nun schweift der Blick zur Wartburg selbst hinüber, die jenseit des Flußbettes errichtet und mittels einer malerischen überdeckten Holzbrücke erreichbar ist. Das herrliche Wahrzeichen Thüringens, das noch aus dem 11. Jahrhundert stammt, läßt allerlei Gestalten aus Sage und Geschichte vor unserem geistigen Auge aufsteigen, aus denen die heilige Elisabeth, Tannhäuser, Wolfram von Eschenbach, sowie die kernige Gestalt Luthers hervorragen.

Alt-Leipzig: Faßritt aus
Auerbachs Keller.

Wir kommen an dem Hauptcafé und der in leichtem Dekorationsstil gehaltenen Hauptgastwirtschaft vorbei, die einladend an einem künstlichen Wasserbecken gelegen sind, dessen mächtiger Springbrunnen abends in den herrlichsten Farbenreflexen erstrahlt, und wandern zunächst zu der im Renaissancestil erbauten Halle der Stadt Leipzig, in der die Verwaltung der viertgrößten Stadt im Reiche mit ihren trefflichen Anlagen, Einrichtungen und Anstalten in Grundrissen, Ansichten und Modellen gemeinverständlich dargestellt ist. Hoch- und Tiefbau, Gas- und Wasserwerke, Schlachthof, Markthalle und Gartenbau fanden eingehende Berücksichtigung. Das Polizei- und Steuerwesen sind vertreten, ebenso das Krankenhaus und andere Heilanstalten. Ein umfangreicher Platz ist dem Unterrichtswesen eingeräumt, in dessen Abteilung ein Klassenzimmer, ein naturwissenschaftliches Lehr- sowie ein Lehrmaterialzimmer mit allen Ausrüstungsgegenständen eingerichtet sind. Hinter dem Gebäude wird uns der unterirdische Teil einer Straße mit seinem verzweigten Kanalsystem, seinem Röhren- und Kabelnetz in Wirklichkeit gezeigt.

Hieran läßt sich der Besuch der Ausstellung für Gas und Wasser, die ebenfalls in einem eigenen Bau untergebracht ist, leicht anschließen. Ganz besonders belehrend hat sich dieselbe in der Behandlung und Vorführung des Gases gestaltet. Hier werden wir über Herstellung und Abgabe desselben unterrichtet. Wir erfahren, wieviel Gas sich aus einer gewissen Menge Kohle erzeugen läßt, was für Nebenprodukte daraus erzielt werden, und lernen die aus dem Teer gewonnenen Heilmittel und Anilinfarben etc. kennen. Wir haben Gelegenheit, die Verwendung des Gases für Küche und Haus zu Heiz-, Koch- und Leuchtzwecken zu studieren, und bekommen so einen Begriff von der großen volkswirtschaftlichen Bedeutung desselben gerade für die einfacheren Verhältnisse des kleinen Mannes. Mit den bereits in Belgien, England, Frankreich und anderen Ländern eingeführten Gasautomaten werden wir gleichfalls bekannt gemacht, die das Gas erst nach Einwurf eines Geldstückes verabreichen. Kurz, wir überzeugen uns, daß das Gas, welches nach Aufkommen des elektrischen Lichtes neuerdings vielfach hintangesetzt wurde, sich noch lange nicht überlebt hat. Auch die Wichtigkeit der Zuführung eines guten möglichst reinen Wassers für die Gesundheitsverhältnisse, namentlich in den Großstädten, wird uns überzeugend dargethan.

Auch die Textilindustrie hat in einem besonderen Hause, ihrer hohen Bedeutung entsprechend (bestehen doch in Sachsen allein mehr als 5000 selbständige Textilbetriebe) eine sehr umfangreiche [316] und interessante Ausstellung veranstaltet. Wohl fast alle Maschinen, die vom Beginn der Verarbeitung des Rohstoffes bis zur Vollendung derartiger Ware nötig sind, finden wir hier meist in vollem Gange. Herrliche Erzeugnisse der Spinnerei, Weberei und Wirkerei sehen wir mit eigenen Augen entstehen.

In einem Bau von 3000 qm Grundfläche sind die landwirtschaftlichen Maschinen, Geräte und Erzeugnisse, Gerätschaften, die für Fischerei und Imkerei, Sport und Hygieine dienen, untergebracht. Auch die Fahrradindustrie Mitteldeutschlands möchten wir, obgleich sie nicht hier, sondern auf der entgegengesetzten Seite des Ausstellungsplatzes ihr eigenes Gebäude gefunden hat, schon jetzt erwähnen. Sie verdient wahrlich nicht zuletzt genannt zu werden. Trotz ihrer Jugend hat sie sich so erfreulich entwickelt, daß sie getrost mit England zu rivalisieren vermag. Doch nun zurück und zur Gartenbauhalle, in der zu den verschiedenen Jahreszeiten die denselben entsprechenden Kinder der Flora blühen und duften und dann immer – wie jetzt – einen lieblichen und zugleich lehrreiche Anblick bieten werden. Hier sollen auch zeitweise Ausstellungen auf dem Gebiete der Handfertigkeitsschulen, der Liebhaberphotographie, Briefmarkenkunde und der Jagdtrophäensammlung stattfinden. Ein Teil der Halle ist für ein von Künstlerhand geschaffenes Diorama abgegrenzt, das in eigenartigem Kontrast zu dem eben bewunderten heimatlichen Blumenflor die ganze Mächtigkeit des tropischen Urwaldes Südamerikas darstellt.

Als ein bei aller Einfachheit der Mittel vornehmes Bauwerk stellt sich die Kunsthalle dar. Neben zahlreichen Schöpfungen Uhdes, Precks, Hermann und Hugo Vogels, Kanoldts, Carl Ludwigs, Gussows, Seffners und anderer ist hier eine Sonderausstellung des Leipzigers Max Klinger veranstaltet, auf der sein neuestes Werk zu sehen ist, das einer Vermählung von Bildhauerkunst und Malerei entstammt. Es stellt Christus im Olymp dar und darf wohl, was Gedankentiefe und Ausführung anbelangt, als ein Meisterwerk bezeichnet werden.

Datei:Die Gartenlaube (1897) b 316.jpg

Burg Taufers mit Alpendiorama. Halle der Stadt Leipzig.[Abbildung von Alfred Friedrich Liebing und daher ( gemeinfrei ab 2028)]

Um die Fortschritte der Neuzeit zu erkennen und zu verstehen, giebt es wohl kaum ein besseres Mittel als einen Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart anzustellen. Zum Teil diese Erkenntnis, dann aber auch der Reiz der Architektur neben pietätvollem Sinn für das von den Vätern Geschaffene, zeitigte auf den Ausstellungen der letzten Jahre die Anlage alter Städte, die in ihren beschränkten Verhältnissen inmitten der Großstadt mit ihren hohen lichtdurchfluteten Räumlichkeiten so recht augenfällig den Unterschied von einst und jetzt darthun. Auch Leipzig ist diesen Ideen gefolgt und hat in Erinnerung an das 400-jährige Jubiläum seiner Messe, das wir schon eingangs erwähnten, die innere Stadt oder das alte Meßviertel aufgebaut, wie es, wenn auch nicht um das Jahr 1497, so doch vielleicht im 16. Jahrhundert ähnlich ausgesehen haben mag. Wenn man das massige Thor der „Stadt“ durchschritten hat, befindet man sich in Auerbachs Hof, der mit seinen Erkern, Giebeln und Winkeln einen recht anheimelnden Eindruck auf uns ausübt. Wir kehren in dem durch das Goethesche Drama so berühmt gewordene Auerbachs Keller ein, zu dessen künstlerischer Ausschmückung Bildhauer und Maler sich die Hand gereicht haben. Mit glücklichem Griff haben sie Scenen aus „Faust“ genommen und diese mit köstlichem Humor parodiert. So sehen wir Faust und Mephisto durch des Gewölbes Decke entschwinden. Greifbar schweben noch die Beine der kühnen Faßreiter, deren obere Hälften schon durch die Steinquader gedrungen sind, über uns in den Lüften und auch das Bäuchlein ihres hölzernen Rosses ist noch sichtbar. Dort ist eine vollständige Hexenküche eingerichtet, von Meerkatzen und anderem Getier umgeben und mit all dem seltsamen Hexenhausrate ausgestattet, wie es der Dichter vorschreibt.

Nachdem uns ein Glas Frankenwein gestärkt, gehen wir weiter und gelangen nach dem Naschmarkt, auf dem uns das Rathaus mit seinem hohen Giebel und dem Dachreiter besonders interessiert. Das alte gotische Bauwerk, das um die Mitte des 16. Jahrhunderts abgebrochen worden ist, um dem jetzt noch stehenden von Hieronymus Lotter errichteten Bau zu weichen, ist nach einem alten Stadtbilde aufgebaut worden. Dem Rathaus gegenüber erhebt sich das Polizeigebäude, neben dem ein anderes stattliches Haus, der sogenannte Marstall, Platz gefunden hat. Die inneren Räume des Meßviertels bergen eine ganze Anzahl Gastwirtschaften, darunter eine Gosenstube, in der man das berühmte Leipziger Getränk verabreicht. Im Rathause ist eine Sammlung von Gegenständen und Urkunden aus geschichtlicher Zeit untergebracht. In den Läden zu ebener Erde wird flott gefeilscht und gehandelt. Gestalten in den Trachten damaliger Zeit bieten Waren zum Verkauf an. Unser Bild stellt Auerbachs Haus dar, durch dessen Thor man in den Hof gelangt, rechts davon schließt entgegen der Wirklichkeit, in der noch ein Haus dazwischen steht, das Café National an, während auf der linken Seite andere ehrwürdige Zeugen der guten alten Zeit sich anreihen. –

Die Bevölkerung eines Landes, in der Industrie und Handel blühen, sucht sich naturgemäß immer neue Absatzgebiete zu erobern und wird darum die Kolonialbestrebungen ihres Landes mit Anteil verfolgen und gern fördern. Diesem praktischen Zuge Rechnung tragend, hat man die Kolonialausstellungen unternommen. Auch Leipzig hat eine solche erhalten, die das Leben und Treiben in Ostafrika schildern soll. Wir können nicht nur die eigenartigen Gebäude des Landes, unter ihnen eine runde Bastion des Forts in Mpuapua, das Wißmann im Jahre 1889 anlegte, sowie die Station Usungula („Hasenland“) mit ihrem

[317]

Heimkehr vom Fischfang.
Nach einer Originalzeichnung von A. Kappis.

[318] Grasdach, die in der Geschichte der deutschen Kolonisation einst eine bedeutsame Rolle spielte, in naturgetreuen Nachahmungen von innen und außen bewundern, sondern auch die wirklichen Kinder und Erzeugnisse Ostafrikas kennenlernen.

Und nun hinein ins Vergnügungsviertel! Da bildet eine recht bemerkenswerte Sehenswürdigkeit das Alpendiorama, dessen Aeußeres wir auf einem unserer Bilder wiedergeben. Es stellt die Burg Taufers bei Meran in Tirol vor. Durch das Burgthor gelangt man ins Innere, zum Bahnhof einer Drahtseilbahn, auf der wir an einer Fahrt in luftige Höhen teilzunehmen glauben. Wir überwinden in wenigen Minuten die schwierigsten Bergpartien und genießen in vollen Zügen prächtige Aussichten auf die großartige Alpenscenerie mit ihren Bergen, Thälern und Gletschern. Erwähnenswert ist ferner das Jerusalem-Panorama in dem mit zwei babylonischen Türmen gezierten Rundbau, das Theater mit seiner dorischen Tempelfassade, in dem die leichtgeschürzte Muse ihr Wesen treibt, und die Wasserrutschbahn, wie sie, nur kleiner angelegt, im vorigen Jahr auf der Berliner Ausstellung zu finden war. Ein anderes Panorama führt uns in die Welt Nansens hinein. Wir sehen das zu einem Eisgebirge erstarrte Meer vor uns, auf dessen Bergen sich wirkliche Eisbären in Freiheit tummeln. Ein tiefer Graben zwischen Schaubühne und Publikum schützt letzteres vor jeder Gefahr. Wärter, die wie Eskimos in Felle gehüllt sind, bilden die Staffage des Bildes. Da steigt über die bläulich schimmernden Eisberge langsam ein Riesenungetüm empor. Sollte Andree doch das kühne Wagnis unternommen haben? – Doch nein, es ist der Fesselballon, von dessen Gondel wir aus einer Höhe von 500 m das Ausstellungsgelände überblicken und weit ins Land hinein sehen können. Von anderen Schaustellungen besichtigen wir noch die kleine elektrische Stufenbahn und die Taucherstation. Nun besteigen wir die elektrische Rundbahn, die sowohl mit ober- als auch unterirdischer Leitung versehen ist und uns in kürzester Frist in das Kneipenviertel bringt, in welchem ein jeder seinen Nektar finden wird, vom braunen Bohnensaft in geschmackvoller Stufenleiter bis zum prickelnden Schaumwein hinauf.

Hier sitzen wir dann abends in einer der originellen Wirtschaften mit dem Blicke auf das weite Ausstellungsfeld, das in ein Meer von Licht getaucht vor uns liegt. Und wenn wir das, was wir gesehen, noch einmal an unserem geistigen Auge vorüberziehen lassen, überkommt uns eine wahrhafte Ehrfurcht vor der Summe von Intelligenz und Fleiß, die sich hier bethätigt hat, und das beruhigende Gefühl steigt in uns auf: wie sich auch die Zeiten gestalten mögen, Industrie und Gewerbe Deutschlands, die auf eine beachtenswerte Vergangenheit zurückblicken können und sich der Gegenwart so vollkommen gewachsen zeigen, werden sicher auch eine glänzende Zukunft haben!


Onkel Zigeuner.“

Novelle von Marie Bernhard.

      (Schluß.)

Die Furcht, sich lächerlich zu machen, teilte Leo Gräfenberg mit unzähligen Männern, ist es doch nicht zu sagen, wieviel aufkeimende Neigung, wieviel stilles Wohlgefallen durch diese übertriebene Furcht schon zerstört worden ist. Das Bewußtsein seiner Häßlichkeit lähmte Leonie gegenüber alle Energie des sonst so thatkräftigen Mannes. Als er sich eines Abends zufällig neben ihr vor einem deckenhohen Spiegel befand und das Glas ihm die blonde, elfenhafte Erscheinung und dicht dabei sein dunkles Zigeunergesicht mit den finstern Augen zurückstrahlte – des jungen Mädchens Bewerber war zugegen, und Leo war halb toll vor Eifersucht – da schrak er förmlich zusammen, und der bloße Gedanke, ein so holdseliges Wesen für sich begehrt zu haben, erschien ihm als eine Art Frevel. Er machte schleunigst kehrt, ließ sich sein Pferd satteln und trug dem Bedienten auf, ihn bei den Damen zu entschuldigen, er habe eine wichtige Besprechung auf einem der Nachbargüter und werde voraussichtlich vor Anbruch der Nacht nicht zurück sein.

Unterwegs, da er einsame Wege ritt – an der Bestellung war natürlich kein wahres Wort gewesen – dachte er, wie dies seit der Anwesenheit seiner Stiefschwester auf Grünholm ihm öfter begegnete, über sein früheres Verhalten zu dieser vor ihrer Verheiratung nach. Er übersah es jetzt, nun er ein gereifter Mann war, ganz klar: es war schon in seinem Empfinden ihr gegenüber eine große, unbewußte Liebe gewesen, eine Liebe, die ihn antrieb, Käthe ganz für sich allein haben zu wollen, die ihn eifersüchtig und grollend beiseite stehen ließ, als es sich herausstellte, daß er keine erste Rolle mehr in ihrem Leben spielte. Er hatte das damals nicht zu unterscheiden vermocht, aber jetzt wußte er es: In seiner knabenhaften, ungestümen Manier hatte er seine Stiefschwester geliebt, und es hatte Jahre gedauert, ehe er dies Gefühl und diesen Schmerz in sich einigermaßen überwunden hatte. Die Liebe zu Käthes Tochter hatte nichts Unbewußtes mehr, aber sie war viel tiefer, viel empfindlicher noch, und derselbe eifersüchtige Grimm und Gram spielte heute, wie damals, seine Rolle. Sie lag tief in Leos Natur begründet, diese Ausschließlichkeit seines Gefühls … was er liebte, wollte er für sich allein besitzen, kein anderer sollte daran rühren dürfen.

Er brachte von seinem ausgedehnten späten Ritt den Entschluß mit nach Hause, sich durch irgend eine fingierte Botschaft abrufen zu lassen und für eine Zeit lang fortzugehen. Er konnte nicht so ungastlich sein, seine Schwester zur Abreise zu nötigen. Blieb sie aber und Leonie mit ihr, so mußte er das Feld räumen, denn dabei stehen und abwarten, ob sich das Mädchen nicht doch vielleicht unter dem Dach seines Hauses mit ihrem reichen Bewerber verlobte, und hinterher den Unbefangenen spielen – nein, das ging über seine Kräfte, das konnte er wirklich nicht! Er wurde in der Wirtschaft sehr notwendig gebraucht und konnte es eigentlich vor seinem Gewissen kaum verantworten, jetzt wegzugehen, aber es handelte sich um sein inneres Gleichgewicht, um die Ruhe seines Herzens, da mußte alles andere zurückstehen!

Es kam nicht dazu, diesen Plan in die That umzusetzen, denn am Morgen nach jenem Ritt eröffnete Frau Käthe ihrem Stiefbruder die Absicht, schleunigst abzureisen, und er konnte, unter den obwaltenden Umständen, kein Wort sagen, um sie zurückzuhalten – der junge Gutsbesitzer hatte am Tage zuvor um Leonies Hand geworben und sich dabei einen Korb geholt.

Frau Käthe war recht ärgerlich auf ihre Tochter. Nicht, daß sie das achtzehnjährige Mädchen schon aus dem Hause haben wollte oder daß sie um Leonies Zukunft in Sorge gewesen wäre … aber ihr, der Mutter, hatte der in Rede stehende junge Mann sehr gut gefallen, sie fand, ihre Tochter könnte sich keinen besseren Gatten wünschen, abgesehen davon, daß die „Partie“ eine der besten war, die es geben konnte und den weitestgehenden Ansprüchen genügt hätte. Leonie mochte diese weitestgehenden Ansprüche durchaus nicht. Sie hatte dem Bewerber, ebenso wie ihrer Mutter, in ganz knappen, kurzen Worte erklärt, sie habe gar nichts gegen ihn, aber sie liebe ihn nicht genügend, um ihn heiraten zu können. Der Freier hatte gefragt, ob sie Bedenkzeit wünsche – ob sie seine Liebe auf irgend welche Probe stellen wolle, er sei bereit, sich in alles zu fügen. Das junge Mädchen hatte sowohl die Bedenkzeit als auch die Probe dankend abgelehnt, sie wisse genau, was sie sage und thue, sie könne ihn nicht heiraten. Was war zu machen? Zwingen konnte und wollte die Mutter sie nicht, und so reiste sie denn in möglichster Eile mit dem „eigensinnigen, starrköpfigen“ Ding ab und betonte immer von neuem nachdrücklich. „Papa wird schön böse sein!“

Es war alles so rasch, so rasch gegangen. „Onkel Zigeuner“, der ziemlich schwerfällig war und zu allem gehörig Zeit brauchte, war kaum zur Besinnung gekommen, da waren sie schon fort. Er hatte die Nichte kaum mehr gesehen, die Mama hatte ihm alles erzählt, während Leonie in ihren Zimmern mit Einpacken beschäftigt war. Als der Wagen schon vor der Thür stand, war sie erst zum Vorschein gekommen, ein wenig blaß unter ihren weißen Schleier, hatte ihm die Hand gegeben und ein paar Worte gesagt – er wußte nicht mehr, was es gewesen war, doch wohl ein Dank für seine Gastfreundschaft. Es fiel ihm später ein, daß er sie sonst immer beim Abschied wenigstens auf Stirn oder Wange geküßt hatte, daß das sein gutes Recht als Onkel war; in seiner Verwirrung und Bestürzung hatte er sogar auf dies gute Recht verzichtet!

[319] Die nächste Zeit brachte ihm Mühe und Arbeit überreichlich, so daß er wenig zur Besinnung kam. Es war ihm recht so, wohin führte das viele Grübeln und Brüten? Es geschah ihm aber doch oft, daß bei ganz unerwarteten Anlässen, in Gesellschaft der gleichgültigsten Menschen, plötzlich das reizende Blondköpfchen seiner Nichte mit einer so greifbaren Deutlichkeit vor ihm auftauchte, daß er meinte, es mit Händen greifen zu können. Er sprach mit irgend einem Händler über die Kornpreise, er ging mit den Herren von der Hagelkommission durch die Felder, um den Schaden den das letzte Unwetter angerichtet hatte, zu besichtigen; er ließ sich ein neues Pferd vorführen – alles das waren doch wahrlich keine Gelegenheiten, die für Liebesgedanken günstig waren – aber, günstig oder nicht, das verlockende Bild war da und ließ sich nicht verscheuchen.

So ging der Rest des Sommers, ging der Herbst hin, kam der Winter ins Land. Das war ein gestrenger Herr diesmal, und er machte den alten Spruch, daß strenge Herren nicht lange regieren, gänzlich zu schanden. Er türmte weiße hohe Wälle um Häuser und Hütten auf, ließ das Sternenheer in goldfunkelnder Pracht am nachtschwarzen Himmel erscheinen, hing klirrende Eiszapfen an Dächer und Bäume und wandelte den Atem der frierenden Menschheit in Reif. Leo Gräfenberg hatte solchen Winter seit Jahren nicht mehr erlebt; er fuhr, in seine Wildschur gewickelt, Tag für Tag durch den verschneiten Wald, der wie ein weißer Feenpalast dastand, und er hätte seine Freude an dem schönen Anblick gehabt, wenn ihm nicht bei seiner Rückkehr sein Haus gar so öde und verlassen erschienen wäre. Die Stiefmutter hatte, eines hartnäckigen Hustens wegen, nach dem Süden gehen müssen, so schritt er denn gesenkten Hauptes von einem dunklen Gemach ins andere, bis er sich zuletzt in seinem Arbeitszimmer vor das rotflammende Kaminfeuer setzte und sich ausdachte, wie entzückend es sein müßte, jetzt eine junge, liebliche Hausfrau sich gegenüber zu haben, der er vorlesen, zu der er sprechen könnte. Ja, ihr würde er alle seine Gedanken, all’ die Ideen und Pläne, die er hatte, sagen können, würde ihr von seiner Kinderzeit von seiner Jugend erzählen – guter Gott, wie weit, weit das alles hinter ihm lag! – würde sie um Rat fragen, alles mit ihr teilen … Prasselnd sanken die Holzscheite zusammen – ein Funkenregen stob knisternd aufwärts – die rote Glut erblich – kalt schauerte es über den einsamen Träumer hin.

An einem schneidend kalten Märztag war’s – von Frühling noch immer nicht die leiseste Spur! – da langte ein Brief an Herrn Rittergutsbesitzer Leo Gräfenberg auf Grünholm an, mit seines Schwagers Trautwein Handschrift. Besagter Herr war ein Feind alles Briefschreibens, es mußte mithin etwas wichtiges sein.

„Lieber Zigeuner! In dieser lieblichen Jahreszeit, wo alles fußhoch voll Schnee liegt, kann es für Dich auf dem Lande schlechterdings nichts zu thun geben. Dagegen giebt es das hier für Dich ganz entschieden. Thu mir den Gefallen, setz’ Dich auf und komm’ hierher, Du leistest mir einen veritablen Dienst damit, und es ist das erstemal, daß ich Dich drum bitte. Wenn Du fragen willst, ob die Sache sich nicht schriftlich erledigen läßt, so sag’ ich Dir: nein! Du mußt schon so gut sein, Dich in Person herzubemühen! Frau und Kinder würden grüßen lassen, wenn sie wüßten, daß ich an Dich schreibe.

Also ich erwarte Dich in kürzester Frist hier. Du kannst bei uns wohnen. Gott befohlen!
Dein Gustav Trautwein.     

„Der gute Gustav wird irgend eine ungeheure Dummheit gemacht haben, die ich ihm helfen soll, in aller Stille in Ordnung zu bringen!“ dachte Leo Gräfenberg, als er vorstehenden Brief gelesen hatte. „Er ist zwar bis jetzt ein vorsichtiger Geschäftsmann gewesen und ich habe immer gedacht, er hätte sein Schäfchen längst im Trockenen. Aber wer kann wissen, was der Mensch angestellt hat, während ich in Amerika und in England saß. Die klügsten Leute können ’mal hereinfallen, gewiß steckt eine böse Wechselreiterei dahinter und ich soll ihm heraushelfen, soll Hypotheken auf Grünholm aufnehmen oder sonst wie beispringen. Frau und Kinder wissen von nichts – das ist schon ein Indicium! Kommt mir zwar nicht sehr gelegen, weil ich doch all’ die großen Reformen ins Werk setzen will: Wiesendrainierung, Hopfenplantage, Kanalbauten – aber, er ist mein Schwager. ’s ist auch wirklich die erste Bitte, die er in diesen zwanzig Jahren an mich richtet – und vor allem: ist er nicht Leonies Vater?

Ich muß suchen, meine Hände einigermaßen frei zu bekommen und dann soll er haben, was er sich wünscht!

Nach diesem Entschluß nahm Leo einen Briefbogen schrieb die umfassende Mitteilung darauf. „Ich werde morgen vormittag gegen zwölf Uhr bei Dir sein!“ und ließ sich im Schlitten zur nächsten Kreisstadt kutschieren, von wo er noch des Abends mit dem Schnellzug abdampfte. Der Empfang bei seinem Schwager bestätigte seine Voraussetzungen. Das Hausmädchen, offenbar instruiert, half ihm ablegen und führte ihn direkt in das Zimmer ihres Herrn, der ihm mit ausgestreckter Hand entgegenkam.

„Wir sind ganz allein, Zigeuner! Hab’ Dank, daß du gekommen bist. Meine beiden Frauensleute hab’ ich weggeschickt, sie bleiben ’n paar Stunden fort, und die Jungens sind bis nach eins in der Schule! – Cigarre gefällig?“

Leo acceptierte und schnitt mit seinem kleinen Messer das Köpfchen von der Cigarre so subtil und behutsam herunter, als vollzöge er eine schwierige Operation.

„Du kannst mir lieber gleich sagen,“ bemerkte er, immer noch die Augen gesenkt, „wieviel du haben mußt!“

„Wieviel ich haben muß?“ fragte der Schwager zurück, im Ton äußerster Verständnislosigkeit.

„Ja, denn ich werde doch eine Hypothek aufnehmen müssen, weil ich für meine eigenen Pläne augenblicklich ziemlich stark engagiert bin!“

Es herrschte ein Weilchen tiefe Stille im Zimmer. Offenbar versuchte der Rechtsanwalt, irgend einen Sinn aus Leos Bemerkung herauszufinden.

„Sag’ ’mal,“ bemerkte er endlich, „es ist wohl scheußlich kalt da oben bei dir in Grünholm?“

„Ja, gewiß, aber was …“

„Und du hast dir bei all’ der Kälte mittlerweile einen kleinen sogenannten Knack zugelegt, wie?“

„Erlaube, lieber Schwager, du bist –“

„Erlaube du mir zunächst ’mal. Was in aller Welt vermutest du, das ich von dir haben will?“

Leo stockte einen Augenblick. „Geld!“ sagte er endlich in resolutem Ton.

„Geld?“ Des Schwagers Gesicht spiegelte das äußerste Erstaunen wieder.

„Herrgott, ja! Ist denn das etwas so Unerhörtes?“ Der andere fing an, ärgerlich zu werden. „Es kann doch vorkommen, daß ein sonst ganz vernünftiger Mensch ’mal eine – eine Thorheit macht – spekuliert oder so etwas –“

„Hm! Und weswegen hätt’ ich Frau und Kinder wohl expreß ferngehalten?“

„Ich dachte, es wär’ dir peinlich, und sie sollten davon nichts wissen.“

„Da hast du gründlich vorbei gedacht, lieber Zigeuner! Aber gründlich! Ich werde mich auf meine alten Tage auf solchen hellen Blödsinn einlassen und meine paar Kröten, die ich als guter Familienvater zurückgelegt habe, verspekulieren!“

„Ja, es kam mir auch unwahrscheinlich vor! Aber ich konnte mir absolut keinen andern Vers darauf wachen, weshalb du mich so plötzlich –“

„Herbeicitiertest, meinst du! Lieber Freund und Schwager, kam dir keine Minute lang der Gedanke, es könnte eine wichtige – Familienangelegenheit sein, die ich mit dir durchsprechen wollte?“

„Nein!“ sagte Leo unwillig. „Du hast so lange deine Familienangelegenheiten allein besorgt, daß ich nicht darauf verfiel, du könntest plötzlich meine Mitwirkung dabei erwarten!“

„Laß dir ein Glas Sherry eingießen, alter Sohn und sieh gefälligst nicht so giftig aus, als ob du mich fressen wolltest! Es war mir in allem Ernst drum zu thun, mit dir zu reden –“

„Und das konnte nicht auf schriftlichem Wege –“

Der Rechtsanwalt wehrte mit beiden Händen ab. „Gott straf’ mich – nein! Wenn ich mir ausdenke, ich hätte sollen ein halb’ Dutzend ausführliche Briefe in der Sache schreiben und ebensoviel mindestens von dir lesen, dann bricht mir der kalte Angstschweiß aus! Nein, lieber ließ ich dich schon hierher reisen!“

„Jawohl, ich dank dir ergebend. Möchtest du jetzt vielleicht die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, um was oder um wen sich’s eigentlich handelt?“

„Gewiß will ich. Es handelt sich um meine Tochter Leonie!“

[320]

Die Testamentseröffnung.
Nach dem Gemälde von J. Munsch.

[321] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [322] Leo Gräfenberg rückte unruhig seinen Stuhl herum. „Was ist’s denn mit ihr?“

„Ach, was soll sein? Verrückt ist sie geworden!“

Der Zuhörer fuhr empor. „Du willst doch nicht sagen –“

„Daß ich sie ins Narrenhaus stecken muß? Gott sei Dank, nein, obgleich sie leider in gewisser Hinsicht reif dafür wäre! Na, um vernünftig zu reden, Zigeuner. Wir haben Zeiten und Scenen mit dem Mädel durchgemacht und sie hat uns einen Tanz aufgespielt, daß mir und meiner Frau Hören und Sehen vergangen ist!“

„Um Gottes willen! Sie ist doch nicht etwa ernstlich krank?“

„Körperlich so gesund wie ich und du, im Kopf ist bei dem sonst so prächtigen Geschöpf ’ne Schraube los, das laß ich mir nicht nehmen. Ich bin ja der Vater, aber schließlich hat man doch auch seine Augen im Kopf und weiß, was hübsch und was häßlich ist. Na, daß meine Leonie sehr hübsch ist, beinahe schon mehr als das, kann ich doch nicht leugnen, will es auch nicht! Andere Leute finden’s ja auch! Partien haben sich ihr schon geboten – du wirst bloß von dem einen Gutsbesitzer da oben bei euch wissen – aber auch hier –“

„Ich glaube schon!“ Leo ballte vor Ungeduld die Hände. „Aber inwiefern –“

„Ich komme schon zur Sache. Du kannst dir denken, daß wir, Käthe und ich, das Kind zu nichts überreden wollen – schließlich aber ist’s doch unsere Pflicht, die Sache mit ihr durchzusprechen, das Für und Wider abzuwägen, ihr die sich bietenden Vorteile klarzumachen. Kurz, das hat des öfteren geschehen müssen, und da erklärt sie uns denn eines schönen Tages kurz und bündig, sie gedenke überhaupt nicht zu heiraten. Solche Schrullen kommen bei jedem Mädel ’mal vor, wirst du sagen, und darauf ist nichts zu geben. Schön! Wir sagten das auch! Aber nun kommt sie mit dem Schlagwort der Zeit. Sie will sich nützlich machen, sie schämt sich, so im Hause bei uns als Zierrat herumzusitzen, das sei vergeudete Kraft, die brach liege, anstatt zum Wohl der Menschheit beizutragen, und was sie da sonst jetzt alles reden und drucken, was so auch seine Berechtigung hat bei vielen, ich geb’ das zu! Aber nun unsere Leonie – einzige Tochter – und neunzehn Jahre – mit dem Gesicht!! Meine Frau und ich setzten denn nun alle Segel der Beredsamkeit bei, namentlich Käthe, und du weißt, Zigeuner, was die in dem Punkt leisten kann! Wir wollten sie im Hause anspannen, sie sollte den Jungens bei den Arbeiten nachhelfen, sie sollte kochen, sollte meinetwegen bei meinen Schreibereien helfen, wir wollten ihr die Zeit schon vertreiben! Meinst du, das machte Eindruck? Keine Spur! Das wären alles bloß kleine Mittelchen, dabei käme nichts Vernünftiges heraus, wir wären zu gut mit ihr, wollten sie immer verwöhnen und schonen, sie aber wolle ihre Kraft bethätigen. Das Ende vom Lied war – sie will Krankenpflegerin werden, Diakonissin, in allem Ernst, und ist schon hingegangen, hat sich vorgestellt und ist zur Prüfung angenommen worden, und in drei vier Tagen soll’s losgehen. Was sagst du nun?“

Leo sagte kein Wort. Er saß nur da und starrte den Schwager an wie vor den Kopf geschlagen.

„Du bist ganz baff, seh’ ich! Na, das waren wir auch! Soll man sein Kind, ein bildhübsches zartes, feines Geschöpf, groß ziehen und durch neunzehn Jahre seine Freude dran haben und die schönsten Zukunftspläne schmieden … und dann tritt das vor dich hin und sagt dir, es will Krankenpflegerin werden! Und nicht etwa zeitweise, so und so lange im Jahr, nein, ein für allemal, also für uns wär’ sie verloren! Wir haben nochmals alles drangesetzt, Käthe mit Thränen und Bitten, ich mit Drohungen – ich sag’ dir, ich hab’ nicht schlecht gewettert, und nie in meinem Leben hätt’ ich mir’s träumen lassen, ich würde zu meinem Mädel ’mal solche Sprache führen müssen! Am Ende, da sie noch nicht mündig ist, hab’ ich’s ihr direkt verboten, aber das war erst recht Oel ins Feuer gegossen. Sie lasse es drauf ankommen, und sie werde es abwarten! Alles ganz gelassen und ganz ruhig, aber mit einem Ton und mit einem Paar Augen im Kopf, in denen zu lesen stand. In zwei Jahren bin ich doch eingekleidet!“

Der Rechtsanwalt seufzte tief auf und schwieg, es wunderte ihn auch nicht, daß sein Schwager ebenfalls schwieg. Er kannte ihn, seine Gedanken arbeiteten langsam, er mußte erst eine geraume Zeit alles in sich verwinden, ehe er sprach oder gar handelte.

Endlich brach Leo doch das Schweigen und sagte, aus seinem Sinnen heraus, mit halber Stimme, als wenn er einen Schlafenden zu wecken fürchtete:

„Und – und – was meinst du nun, daß ich – gerade ich …“

Der Rechtsanwalt rückte seinen Stuhl näher heran und legte seine Hand vertraulich auf das Knie des vor ihm Sitzenden.

„Die eigentliche Idee stammt von Käthe, aber ich für meine Person hab’ nicht umhin gekonnt, ihr beizustimmen. Sieh, lieber Zigeuner, du hast das Mädel, unsere Leonie, ’mal, als sie noch Kind war, sehr lieb gehabt, ich glaube, mehr als uns andere alle zusammen. Warum du dir jetzt nicht mehr so viel aus ihr machst, das weiß ich nicht, und Käthe weiß es auch nicht. Vielleicht hast du mehr von ihr erwartet, so oder so – mit einem Wort, wir wissen das nicht. Aber schließlich stehst du unserem Hause sehr nahe und das Mädel selber hielt immer große Stücke auf dich. Besinn’ dich nur, das erste Wort, was sie sprechen lernte, war ‚Onkel Zigeuner’ – sie konnte gefallen sein, so schwer sie wollte, und du nahmst sie auf den Arm, so war sie sofort still – immer nannte sie dich in ihrem Abendgebet zuerst, sie pflegte zu sagen, du kämest gleich hinter dem lieben Gott. Du weißt das alles vielleicht gar nicht mehr so genau?“

„Doch – – ich weiß es noch!“ Leos Atem ging schwer, seine schwarzen Brauen hatten sich über den Augen ganz zusammengezogen.

„Weißt es noch! Ist mir lieb! Und wie du nun übers Meer gingst – dir schien ja der Abschied nicht sonderlich schwer zu fallen –“ der Redner machte eine Pause und wartete, ob Leo etwas sagen würde.

„Das Kind aber,“ fuhr der Rechtsanwalt fort, da nichts erfolgte, „nahm die Sache nicht so leicht. Käthe sagt, sie hat sie oft in der Nacht in ihrem Ställchen bitterlich schluchzen gehört, auch hat sie in aller Stille beobachtet, daß sie einen heimlichen Kultus mit allerlei Dingen trieb, die irgendwie mit dir im Zusammenhang standen, sie hat da so dies und das, Kleinigkeiten waren es natürlich, beiseite gebracht und in ihrem Zimmer verwahrt. Käthe ist dahinter gekommen, hat aber gethan, als merkte sie nichts. Also hat die Kleine für dich so ’ne Art Schwärmerei gehabt, an der gewiß viel echtes Gefühl beteiligt gewesen ist. Da dachten wir nun, Käthe und ich, wenn du ’mal deutlich mit ihr reden möchtest, so gewissermaßen als letzte Instanz …“

„Ich?“

„Ja, du! Wenn ich dir das geschrieben hätte, würdest du dich wie ’n Aal aus der Geschichte herausgeschlängelt haben! Ich kenne meinen Zigeuner! Dir muß man allemal die Pistole auf die Brust setzen, wenn man dich zu etwas heran haben will. Um alter Zeiten willen und weil sie ’mal früher dein Liebling, dein Herzensliebling’ gewesen ist – ja, wohin denn?“

Leo war aufgestanden und sah sich suchend im Zimmer um.

„Ich – ich – werde fort müssen! Verzeih’ mir, Schwager, aber ich kann deine Bitte – gerade diese Bitte – nicht erfüllen. Alles, was du sonst von mir haben willst – du oder Käthe – will ich mit tausend Freuden …“

„Mann Gottes, wie kommst du mir vor? Wir wollen nicht ‚alles sonst’ von dir haben, sondern nur dies eine! Ein Vorwand für dein Hiersein ist bald gefunden. Du kannst ihr ja meinethalben sagen, daß ich wirklich Geld von dir haben will – oder was sonst – aber es ist doch am Ende nicht zuviel verlangt –“

„Ja, es ist’s, ist zuviel verlangt! Es – es geht entschieden über – ich kann – ich habe –“

„Hast du uns – hast du Leonie nicht lieb genug, um uns und ihr selbst diesen Wunsch zu erfüllen? Ihr selbst’ meine ich insofern, als sie später demjenigen nur danken dürfte, der sie jetzt von ihrem Vorhaben zurückhält.“

Draußen gab die Hausglocke rasch hintereinander zwei scharfe Schläge an.

„Käthes Signal!“ Der Rechtsanwalt erhob sich ebenfalls. „Lieber Kerl, nun hilft dir alles nichts, du mußt ins Feuer! Sieh zu, was du ausrichtest, und thu’ dein Bestes – wenn nicht dem Mädel zuliebe, dann um unsertwillen. Ich schick’ dir das ‚corpus delicti’ hier herein, sie hat keine blasse Ahnung, daß du da bist. Mach’ doch nicht so’n dramatisches Gesicht, Mensch, wie der Charakterspieler auf dem Theater, der das böse Gewissen hat! Was? Ich soll hier bleiben? Das hat gar keinen Zweck! Was ich ihr zu sagen gehabt habe, das hab’ ich gesagt, und [323] hübsch deutlich ist es gewesen. Jetzt mußt du ihr sagen, was du für gut findest. Benimm dich vernünftig, ’s ist eine ernste Sache, um die sich’s handelt!“

Mit diesen Worten nahm der Rechtsanwalt den Thürdrücker in die Hand und verschwand, ohne sich auch nur noch einmal nach dem Zurückbleibenden umzusehen. Leo strich sich das schwarze volle Haar aus der Stirn und versuchte, seine wirren Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken, indessen, das war vergebene Mühe, denn er war kaum zwei Minuten allein gewesen, als sich die Thür die vom Korridor ins Zimmer führte, öffnete und Leonie hereintrat, hastig wie jemand, der in eines anderen Auftrag etwas holen will, um sofort wieder zu gehen. Sie hatte Mantel und Handschuhe bereits abgelegt, trug aber noch den Hut auf dem Kopf, einen schönen, malerischen Rubenshut mit dunklen Federn unter dem ihr von der Winterluft sanft gerötetes Gesichtchen wie eine junge Maienrose hervorsah. Sie erkannte den mitten im Zimmer Stehenden nicht sogleich und begann, mit einer leichten Neigung des Kopfes. „Sie verzeihen – ich wußte nicht … Ah, Onkel Zigeuner – du?“

Das sanft gerötete Gesichtchen wurde dunkelrot, die Stimme klang unsicher.

„Ja – ich, meine liebste – meine liebe – – Leonie!“ Er konnte sich nicht entschließen, „Nichte“ zu sagen – es fiel ihm auch zum Glück ein, daß er ihr damals im Herbst, als sie so rasch von Grünholm fortgefahren war, keinen Abschiedskuß gegeben hatte und daß es seine Pflicht sei, das jetzt nachzuholen. Auf die Stirn konnte er sie nicht küssen, der große Hut war ihm im Wege. In seiner Verwirrung küßte er sie auf den Mund, und er fühlte es wie einen elektrischen Schlag durch seinen ganzen Körper, als er das that. Auch sie zuckte zusammen, und dann sahen sie einander scheu von der Seite an, wie zwei Schuldbewußte.

„Wann – wann bist du gekommen?“

„Ich? Er schien sich erst auf die Thatsache besinnen zu müssen. „Laß sehen, es können zwei Stunden etwa sein. Ja – zwei Stunden sind es! Ich bin diesen Morgen gekommen.“

„Da wird sich Mama freuen. Ich will sie rufen, damit …“

„Nein, bitte, nicht!“ Er hielt sie bei der Hand zurück und behielt diese weiche Mädchenhand, wiederum in seiner Verwirrung, in der seinen. Er war bange, sie möchte sie zurückziehen, allein sie that es nicht, vielleicht aus Vergeßlichkeit.

„Willst du dich nicht setzen, Kind? Ich … ich möchte etwas mit dir besprechen!“

„Du – mit mir?“

„Ja! Wundert dich das so sehr?“

Hierauf entgegnete Leonie nichts, aber sie setzte sich gehorsam nieder und er zog seinen Stuhl sehr dicht an den ihren heran und hielt noch immer ihre Hand fest. Ihm klangen plötzlich die Worte seines Schwagers im Ohr, wie Frau Käthe ihm von dem Kultus erzählt hätte, den das Mädchen mit allerlei Dingen, die Onkel Zigeuners Eigentum waren, getrieben, wie sie dieselbe heimlich auf ihr Zimmer genommen und dort zur Erinnerung aufbewahrt, wie sie nachts bitterlich geschluchzt hatte, als er übers Meer gegangen war. Und er hatte keine Ahnung gehabt! Aber freilich, das war damals gewesen – damals! –

„Denkst du noch manchmal an frühere Zeiten, Leonie?“ fragte er halblaut, und er war sich dessen nicht bewußt, wie weich und innig dabei seine Stimme klang.

Das junge Mädchen nickte ein paarmal rasch nacheinander, wie wenn es das oft thäte.

„Und gern, Leonie?“

„Sehr gern, Onkel Zigeuner!“

Es wurde sehr leise gesagt, aber er verstand es.

„War es nicht schön damals?“

„Ja – sehr!“ Dies klang noch leiser.

„Und wäre es nicht noch schöner, wenn es wieder so käme?“

– – Stille – – –

„Möchtest du mir dein Vertrauen schenken, wie du es als Kind immer thatest?“

Ein rascher prüfender Aufblick der Augen – so wundervolle blaue Augen waren es – darauf ein beinahe unhörbares „Ja!“

„Ist es wahr, daß du Krankenpflegerin werden willst?“

Bestätigendes Nicken.

„Fühlst du so brennende Lust dazu?“

„Ich … ich … habe Neigung dafür!“

„Ist diese – diese – Neigung die einzige Ursache, weshalb du dir diesen schweren aufopferungsvollen Beruf erwählt hast?“

Keine Antwort.

„Hast du sie deinen Eltern als einzige Ursache genannt?“

„Ja!“

„Es giebt aber noch eine zweite Ursache? – Soll ich keine Antwort haben, Leonie? Wolltest du mir nicht vertrauen? Habe ich nicht dein Versprechen?“

Aus ihrem Gesicht war jeder Schimmer von Röte gewichen, als sie endlich, nachdem sie mehrmals vergebens zum Sprechen angesetzt hatte, erwiderte: „Ich kann dir in diesem einen Punkt nicht mein Vertrauen schenken!“

„Gerade nicht in diesem einen Punkt? Und gerade nicht mir?“

Das fragte er mehr sich selbst als sie, ihm war, als wäre er lange, lange im Dunkeln gegangen und mit einem Mal führe ein Blitz nieder, und er würde sehend. Immer noch hielt er die kleine Hand in der seinigen, sie zitterte, aber sie zog sich nicht zurück. Er hob plötzlich diese kleine Hand empor und preßte heiß und lange seine Lippen darauf.

„Was thust du, Onkel Zigeuner!“

„Muß es immer und immer Onkel heißen, Leonie? Kannst du nicht eine andere Bezeichnung für mich finden? Kannst du nicht?“

Sie konnte nicht, selbst wenn sie es gewollt hätte! Wie konnte sie reden, wenn er sie in seine Arme nahm und ihr den Mund mit seinen Küssen schloß und ihr die Thränen fortküßte und sie fest, fest an sein Herz drückte, daß sie nichts weiter sah, nichts weiter hörte und fühlte als ihn allein!!

„Hast du mich lieb, mein Herz, mein Leben, mein Glück – hast du mich lieb?“

„Ja!“

„Wie lieb denn?“

„Mehr als alles auf der ganzen Welt!“

„Wie lange schon?“

„Immer, solange ich denken kann!“

„Hast du um meinetwillen keinen andern haben wollen, auch den reichen Freiersmann nicht?“

„Um deinetwillen!“

„Hast du um meinetwillen unverheiratet bleiben wollen?“

„Ja!“

„Und jetzt willst du heiraten?“

„Ja!“

„Leonie! Noch kann ich’s nicht glauben, daß du mein eigen bist, wahr und wahrhaftig und unwiderruflich mein eigen! Kind, wie hab’ ich dich geliebt! Geliebt schon, als du ein kleines, kleines Mädchen warst! Und habe um dich gelitten und bin eifersüchtig gewesen und unglücklich und hab’ es nie zu hoffen gewagt, du, du schönes, süßes, junges Geschöpf, um das sie alle werben, könntest deinen alten, häßlichen, finstern Onkel Zigeuner –“

„Still! Das verbitte ich mir! Weißt du denn, von wem du sprichst? Von meinem Verlobten! Es existiert gar kein Onkel Zigeuner mehr, sondern nur noch Leonie Trautweins Bräutigam, und der heißt Leo Gräfenberg, und der ist – –“

„Na, wenn ihr da drinnen schon so lustig lachen und schwatzen könnt, kann die Sache nicht schlimm stehen! Mit diesen Worten riß der Rechtsanwalt die Thür auf und spazierte, seine liebe Gattin am Arm, wohlgemut ins Zimmer. „Wie steht’s denn, Zigeuner, hast du uns das Mädel bekehrt?“

„Ja – zur Liebe – und zur Ehe! Gustav – Käthe – ob ihr wollt oder nicht – ihr müßt mich zum Schwiegersohn nehmen!“

Es gab Fragen und Ausrufe und Küsse und Umarmungen ohne Ende. Auch ein paar Thränen kamen dazu, aber die wurden vor Freude geweint.

„Gott weiß es,“ sagte Frau Käthe, als sie endlich beim Sekt zusammensaßen „ich hab es nie gedacht! Ich hab’ nur meinem Alten zugeredet, er solle ihn herkommen lassen, damit er, der doch das Kind so geliebt hat, dem erwachsenen Mädchen jetzt Vernunft beibringen! Und was hat er ihr beigebracht? Die reine bare Unvernunft, denn, Kinder, das ist die Liebe, ja, ja macht mir nur Augen! Darum wollen wir aber dennoch unsere Gläser füllen und rufen. Hoch lebe unser Bräutchen! Und hoch ‚Onkel Zigeuner‘!!“


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Blätter und Blüten.

Arbeiterkolonien in Bayern. Es ist noch nicht allseitig genug gewürdigt, welche hohe Bedeutung für die socialen Reformbestrebungen den ländlichen Arbeiterkolonien zukommt. Sie steuern nicht nur dem Stromertum der Landstraße, sondern eröffnen auch dessen besserungsfähigen Elementen sowie den Entlassenen der Strafanstalten den Wiedereintritt in die Welt der ehrlichen Arbeit. Was, bei anfangs geringen Mitteln, die rastlosen Bestrebungen einer Anzahl von opferfreudigen Männern hier zu schaffen vermochten, das sieht man beim Hinblick auf die beiden Kolonien Simonshof und Herzogsägmühle in Bayern, sie befinden sich beide in bestem Gedeihen, halten Zucht und Ordnung unter ihren Gästen und haben eine gute Anzahl von Vaganten die jeder Arbeit entwöhnt waren, durch Feldarbeit, Straßen- und Wasserbau, Waldpflanzungen u. dergl. wieder zur regelmäßigen Thätigkeit gebracht, sowie ihnen Stellen bei Privaten, Anstalten und Behörden als ländliche Arbeiter verschafft. Eine weitere bedeutungsvolle Aufgabe erwächst dieser Kolonie durch den Beschluß des Ministeriums, den bedingt Verurteilten statt Verbüßung ihrer Strafe im Gefängnis einen dreimonatigen Aufenthalt dort zu gewähren, um Besserung zu beweisen. Was es für einen bisher noch nicht Bestraften heißt, statt in die verderbliche Gesellschaft des Gefängnisses zu thätigen Menschenfreunden zu kommen, braucht keiner Ausführung, er sowohl als der sonst dem demoralisierenden Landstraßenbettel Verfallene finden hier die rettende Hand, welche sie aus dem Verderben wieder emporzieht und durch ihre eigene Kraft heilt. Simonshof besteht seit 8 Jahren, Herzogsägmühle wurde vorigen Herbst eröffnet. Bei dieser Gelegenheit gab der erste Vorsitzende, der um die Gründung und Erweiterung des Unternehmens hochverdiente Dekan Kahl von München, in seiner vom echt christlichen Geist der Duldung und Nächstenliebe durchwehten Rede eine anschauliche Schilderung von den Mühen und Erfolgen, von der Freude des Gelingens und den vielen definitiven Besserungen welche durch Schreiben der dankbaren Kolonisten und ihrer Arbeitgeber bezeugt werden. Aber er stellt auch fest, daß den 8000 Mitgliedern des Vereins noch 12 000 neue beitreten müßten, wenn alles erreicht werden soll, was in der Absicht des Unternehmens liegt!

Wir geben die Bitte des verdienstvollen Mannes an unseren großen Leserkreis weiter. So mancher im liebem Vaterlande häuft im stillen sein Kapital für seine nächste Familie. Möge er, im Gedanken an die Pflichten gegen die große Menschheitsfamilie, einen kleinen Teil seiner Ueberschüsse diesen segensreichen Arbeiterkolonien geben und der besten Verwendung sicher sein! Der Rechenschaftsbericht des Vereins nebst Statuten und den sehr interessanten Ausführungen über die bisherige Entwicklung der Kolonie ist von Herrn Sekretär Eichner, München, Gabelsbergerstraße 60 II. kostenfrei zu beziehen. Bn.     

Das neue Brüderchen.
Nach einem Gemälde von B. Genzmer.

Heimkehr vom Fischfang. (Zu dem Bilde S. 317) An die Ufer des Bodensees versetzt uns das stimmungsvolle Bild von A. Kappis. Sobald im Juni die allgemeine Frühjahrsschonzeit vorübergegangen, bietet das erwachende Fischerleben auf dem Obersee dem Fremden häufig interessante, malerische Bilder. In den Vormittagsstunden sieht man meistens die ganze, an 50 Boote starke Flotte am Eingang des Ueberlinger Sees kreuzen. Weithin glänzen bei auffrischendem Wind ihre weißen Segel über die blaue Fläche – und wenn die oft schon in der Nacht in See gegangene Mannschaft endlich ermüdet an einem der Ufer landet, entwickelt sich dort stets ein buntes, das Auge fesselndes Treiben. An den Quais von Ueberlingen und Meersburg liegen ihre großen dunklen Kähne dicht aneinander gereiht und auf den Bänken und Netzen schlafen nach eingenommenem Vespertrunk lang hingestreckt die braunen Kraftgestalten der Fischer mit den sonnverbrannten nackten Füßen – ein Anblick, der ganz an ähnliche Bilder in südlicheren Ländern erinnert. Man darf den wetterharten Leuten die Ruhe nicht mißgönnen, sobald die vier, die ein jedes Schiff zur Bemannung braucht, rudernd und steuernd mit ihren plumpen Schaufeln wieder bei der Arbeit sind, sieht man, wie schwer sie im Kampf ums Dasein das tägliche Brot erringen müssen. Wohl ist der Bodensee reich an Fischen und von seinen 26 verschiedenen Arten, unter denen der Wels als größter bis 1½ Meter lang und an 100 Kilo schwer wird, sind die schmackhaften Blaufelchen und die zur Winterszeit zum Versand gelangenden delikaten geräucherten Gangfische weit über seine Ufer hinaus bekannt, allein die große Tiefe des Obersees erschwert den Fang, und wenn sich die Fischer nicht nebenbei noch mit Landwirtschaft beschäftigten, würde die Beute für ihren Lebensunterhalt kaum ausreichen. Tritt der Fischer nach schwerer Arbeit den Heimweg an, so erwartet ihn im Kreise der Seinen eine bescheidene Abendmahlzeit, die fast durchweg aus Kaffee und Kartoffeln besteht. Fleisch sieht er nur des Sonntags auf seinem Tische, für gewöhnlich begnügt er sich mit Speck und Brot, als Getränk dient der landesübliche Most und nur an Feiertagen gestattet er sich im Wirtshaus ein Glas Bier oder Wein. Von Natur ernst und schweigsam, ist der allemannische Fischer doch nicht ohne Humor und das Bewußtsein seiner Kraft verleiht ihm auch einen trotzigen Sinn, der ihn zähe an alten Rechten, Sitten und Gebräuchen festhalten läßt. F. W.     

Die Testamentseröffnung. (Zu dem Bilde S. 320 u. 321) Wir sehen in ein aufregendes Drama, obgleich alle Beteiligten ihre äußere Ruhe bewahren. Seit Wochen, so lange der alte Sonderling, der Besitzer der mit Gold und Papieren gefüllten Truhe, seinem Ende zuging, ist die Neugier der Stadt aufs höchste erregt: wem wird die Erbschaft zufallen? Direkte Erben sind nicht vorhanden, seine entfernteren Verwandten aber, den stattlichen Präsidenten mit der hochmütigen Gemahlin, den Minister, der hier den Ehrensitz einnimmt, und den einflußreichen Kammerherrn, der sich auf die Lehne stützt – sie alle, wußte er, trotz vielfach bezeigter Liebe und Teilnahme, stets in höflicher Entfernung zu halten. Auch der gelehrte Magister, der an Neujahrs- und Geburtstagen regelmäßig sein Poem überbrachte und sich dabei so beflissen mach dem Befinden des wertgeschätzten Herrn Onkels erkundigte, auch er vermochte trotz aller angewandten Kunst keine leiseste Andeutung aus dem alten Geizhalse herauszupressen. Einem von ihnen oder allen zusammen mußte aber doch die Erbschaft zufallen, denn daß der Alte einen andern Vetter mit bedenken würde, der seit Jahrzehnten der Familie die Schande anthat, als simpler Tischler hier am Orte zu leben, verheiratet mit einer schlichten Meisterstochter und Vater einer zahlreichen, auch am Handwerk haftenden Familie – das war doch ganz unmöglich! Und siehe da! Eben diese Unmöglichkeit ereignet sich vor ihnen allen. Der Notar liest mit lauter Stimme. „Zum Haupterben ernenne ich meinen Vetter Christian, dem es im Leben nicht so geglückt ist, als seine Rechtschaffenheit verdiente, wie ich wohl weiß, obgleich er mir niemals der Erbschaft wegen um den Bart ging. Das letzte Drittel mögen sich die andern teilen!“

Man betrachtet mit Vergnügen die Wirkung dieser Worte auf sämtliche Personen des lebensvollen Vorgangs, der uns ins 18. Jahrhundert versetzt, die Ueberraschung der glücklichen Erben, die mühsam bewahrte Haltung der übrigen, die wohlwollende Miene des Notars, den anteilvollen Blicken des alten Schreibers und nicht minder den behaglich altertümlichen Raum, welcher dieser Testamentseröffnung zum Schauplatz dient. Bn.     


Inhalt: [ Inhalt von Wochen-Nr. 19/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.