Die Gartenlaube (1897)/Heft 20

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 20.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
1.

Am Ufer der Grossach, die das Glaustädter Weichbild nach Süden und Westen zu einfriedigt, standen ums Jahr 1680 vier oder fünf Landhäuser mit schönen baumreichen Zier- und Gemüsegärten. Das kleinste von diesen Landhäusern war seit vorigem Herbst Eigentum des gelehrten Magisters Doktor Franz Engelbert Leuthold, der, aus Glaustädt gebürtig, lange Zeit als Professor der griechischen und lateinischen Sprache an der Hochschule von Wittenberg Ruhm und Ehren gesammelt hatte, bis eine Meinungsverschiedenheit mit zwei ungestümen Kollegen ihm den Wunsch weckte, die neuerdings dornenvolle akademische Lehrthätigkeit aufzugeben und sich zu stillerem Dienste der Musen in seiner alten unvergessenen Heimat ansässig zu machen. Er wohnte jetzt hier mit seiner einzigen Tochter Hildegard und der ehrsamen Wirtschafterin Gertrud Hegreiner, die noch in Wittenberg zu Lebzeiten seiner verstorbenen Frau als Haushelferin bei ihm dienstbar gewesen und sich dann später an der Erziehung des Kindes redlich und mit gutem Erfolge beteiligt hatte.

Es war gegen Ende Mai, zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags. Die braungetäfelte Eckstube des Obergeschosses lag jetzt völlig im Schatten. Auf dem Eichenholzstuhl in der östlichen Fensternische saß die neunzehnjährige Hildegard Leuthold und drehte mit ihren rosigen Fingern den Faden eines lustig schnurrenden Spinnrads. Sie trug ein eng anschließendes hellblaues Wollkleid und eine schmale hellblaue Sammethaube. Unter der Sammethaube quoll reiches, lichtbraunes, welliges Haar hervor, das in zwei langen prächtigen Zöpfen schwer über den Rücken fiel. Glaustädt wußte noch nichts von der phantastischen Unnatur, die jenseit der Reichsgrenze jetzt eben anfing, in turmhohen Frisuren, panzerähnlichen Miedern und bauschigen Reifröcken zu schwelgen. Dank der unnachsichtlich gehandhabten Kleiderordnung des Magistrats herrschte in Glaustädt auf diesem Gebiet ein altfränkischer, konservativer Geist, der unzweifelhaft dem Anmutigen und Malerischen zu gute kam.

Um Hildegard Leuthold herum saßen auf niedrigen Holzschemeln drei Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren, zwei freundliche flachsblonde Mädchen und ein starker, pausbackiger


Stare in der Minnezeit.
Nach einer Originalzeichnung von Adolf Müller.

[326] Knabe mit schwarzem Kraushaar und schalkhaften Blitzaugen. Hildegard hatte sich in den Familien der armen Kleinbürger und Handwerker, denen sie oft genug Gaben der Mildthätigkeit und Barmherzigkeit austeilte, just diese drei Lieblinge gewählt, um sie aus ganz besonderer Gunst und Freundschaft im Rechnen, Lesen und Schreiben zu unterrichten. Das machte ihr großen Spaß, und die Kleinen quälten sich gern und eifrig, da Fräulein Hildegard niemals in Zorn geriet, wohl aber stets nach Schluß der Lektion eine Geschichte dreingab, wundersam und erbaulich zu hören.

Auch jetzt war sie dabei, den Kindern eine „prachtvolle Mär“ zu erzählen und zwar die ewig junge Geschichte von dem verzauberten Dornröschen. Lore, die Tochter des Schuhflickers aus der Weylgasse, hatte den Schemel ganz dicht zu dem Fräulein herangerückt und schmiegte sich selbstvergessen und zutraulich an ihr Knie, während Rottmüllers Dorothea, die Hände im Schoß gefaltet, keinen Blick von dem lieblichen Mund verwandte, der so reizvoll und lebenswahr schilderte. Florian, der Sohn des Waldhüters, war vollends im neunten Himmel. Sein hübsches, offenes Gesicht glühte. Er hielt den Rand seiner Schreibtafel krampfhaft umklammert und lauschte wie ein Verzückter.

Als Hildegard schwieg, that er einen beklommenen Atemzug, legte die Tafel weg und sagte mit seltsam bewegter Stimme:

„So Schönes hast du noch nie erzählt. Das ist hundert mal herrlicher als die Geschichte vom wilden Schwan oder vom Däumling.

Dann fuhr er mit ernsthaft wichtiger Miene fort:

„Weißt du auch, was ich jetzt denke? Das Dornröschen muß genau so ausgesehen haben wie du! Die nämlichen langen Zöpfe, das gleiche liebe Gesicht, und so leuchtende Augen!“

„Ach? Leuchten die wirklich?“ scherzte das Fräulein und strich dem begeisterten Buben über den Lockenkopf.

„Wundervoll!“ beteuerte Florian.

„Nun, das macht wohl die Freude. Ich freue mich nämlich über die Maßen, wenn ihr so aufmerksam zuhört und so verständig lernt. Fahrt nur so fort! Dann erzähl’ ich euch nächstens was ganz Absonderliches, die Geschichte von der Entdeckung Amerikas.

„Die kenn ich!“ versetzte Lore, die Tochter des Schuhflickers. „Aber das macht nichts! Wenn du was erzählst, dann klingt das viel schöner als von dem alten Großohm. Der hustet immer und weiß manchmal auch nicht weiter.

Rottmüllers Dorothea und der lebhafte Florian bestürmten jetzt Hildegard mit allerlei Fragen: Wie war das mit den zwölf weisen Frauen? Wohnten die auch in der Stadt, wo der König mit seiner Gemahlin wohnte? Oder lebten sie über den Wolken, wie manchmal die wunderthätigen Feen in andern Geschichten? Gab es denn überhaupt Feen? Der alte Großohm der Schuhflickers-Lore hatte gesagt, das wär’ heidnischer Unsinn und man erzählte das nur zum Spaß, aber Frau Rottmüller, die Mutter der kleinen Dorothea, meinte, dergleichen wäre doch ganz wohl möglich, so gut wie es Hexen und böse Zauberer gäbe … Und das mit dem hundertjährigen Schlaf? Könnte so was in Wirklichkeit vorkommen? Und die dreizehnte Fee? Das war wohl eine richtige Unholdin, die einen Pakt mit dem Teufel hatte?

Hildegard mühte sich, der eifrigen Wißbegier der kleinen Gesellschaft thunlichst gerecht zu werden. Das war nicht ganz leicht. Jede Antwort erzeugte hier eine Gegenfrage, die mitunter auf ein ganz anderes Gebiet übersprang. Hildegard aber verstand es, die wirr durcheinander fliegenden Einfälle immer wieder zu ordnen.

Sie hatte bis jetzt mit kurzen Unterbrechungen weitergesponnen. Nun aber schob sie das Spinnrad beiseite. Die Spindel war voll, und das immer lebhafter werdende Frage- und Antwortspiel mit den Kindern nahm sie ausschließlich in Anspruch. Die Schuhflickerstochter aus der Weylgasse kletterte ihr auf den Schoß und legte ihr zärtlich den rechten Arm um den Hals, was Florian, der Sohn des Waldhüters, von seinem Holzschemel aus nicht ganz ohne Neid beobachtete. Rottmüllers Dorothea hatte sich gleichfalls erhoben und schwatzte nun von den dreien am lautesten.

Mitten in dieses bewegliche Hin und Her trat urplötzlich die kurze, beleibte Gestalt der Wirtschafterin Gertrud Hegreiner. Sie trug eine schneeweiße Flügelhaube, die nur einen schmalen Streifen des dünnen Haupthaars freiließ, ein schwarzbraunes, nicht sehr kleidsames Gewand und am Gürtel einen schwerklirrenden Schlüsselring.

„Verzeiht!“ sprach sie zu Hildegard. „Viermal hab ich gepocht. Aber die Kinder da machen so einen Sündenlärm! Schlimmer als im Zigeunerlager!“

Die sonst so gutmütige Gertrud Hegreiner warf dem schwatzhaften jungen Volk, das sich so keck und vertraulich zu dem Fräulein herandrängte, einen recht feindseligen Blick zu. Sie konnte die drei nicht leiden. Denn erstens liebte sie selber die Tochter ihres würdigen Brotherrn abgöttisch und witterte mit leichtverletzlicher Eifersucht überall Nebenbuhler. Zweitens war sie der kleinlichen Ansicht, die vornehme Hildegard mit ihrem adligen Auftreten und ihrer glänzenden Bildung vergebe sich was, wenn sie den Kindern so untergeordneter Leute Unterricht im Schreiben und Lesen erteile. Und drittens schien ihr wenigstens Florian, der blitzäugige Bube des Waldhüters, dringend verdächtig, ein Schalk und ein nichtsnutziger Spötter zu sein, der vor dem Anblick der schneeigen Flügelhaube und dem Geklirre des Schlüsselbundes nicht den wünschenswerten Respekt fühlte. Ihr Mißtrauen hatte sich namhaft gesteigert, seit sie letzthin beim Schlafengehen auf der Matratze ihres jungfräulichen Lagers steinharte Erbsen entdeckt hatte, die nur Florian dort heimtückischerweise versteckt haben konnte. Gertrud Hegreiner begriff nicht, daß Hildegard Leuthold gerade an diesem gottlosen Bengel ein so großes Gefallen fand. Er lernte ja leicht, das stand so weit richtig, und behielt sogar die schwerem lateinischen Wörter, die ihn Hildegard neuerdings probeweise gelehrt hatte, aber das wog doch nicht den Mangel an Erziehung und die arge Respektlosigkeit auf, die schon am Ausdruck seines ewig lachenden und manchmal recht perfid blinzelnden Angesichts lag. Bei diesem garstigen Buben konnte sich Gertrud auf noch weit Schlimmeres gefaßt machen, als auf steinharte Erbsen.

Die ehrsame Wirtschafterin hatte also in etwas gereiztem Tone den Sündenlärm der drei Kinder mit dem wüsten Getreibe eines Zigeunerlagers verglichen. Hildegard aber nahm sich sofort ihrer Schützlinge an.

„I, was wollt Ihr?“ sagte sie lächelnd. „Daran müßt Ihr Euch halt gewöhnen! Die kleinen Schelme sind hier ja nicht im Kloster! Mich für mein Teil freut’s, wenn sie alles recht lebhaft und frisch auffassen. Und Ihr selbst seid ja doch sonst keine Kopfhängerin!“

„Wohl! Aber alles mit Maß und Ziel! Ich denke so manchmal, ob’s den Herrn Vater nicht stört, wenn er da drüben bei seinen Folianten sitzt?“

„Ach, die Kinderstimmen! Die dringen doch nicht bis hinüber ins Arbeitszimmer! Geht, liebe Gertrud! Ihr habt wohl vergessen, wie laut wir beide zusammen gesungen haben, als ich noch klein war. ‚Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall’ und ‚Brause, du Sturm!’ und zwanzigerlei an einem Vormittag!“

„Ja, damals …“

„Streiten wir nicht! Sagt, was es giebt! Denn Ihr wolltet doch was?“

„Freilich. Die Fronbäuerin ist da, die von Lynndorf. Ihr hättet sie herbestellt. Zwar auf gestern. Aber da konnte sie nicht, wegen der Heuernte.“

„Gut. Laßt sie nur eintreten! Ihr Kinder, lebt denn für heute wohl! Das nächste Mal, wenn ihr hübsch fleißig gewesen seid, erzähl’ ich euch wieder Was!“

Sie schob das Spinnrad mit dem rosenfarbig umbänderten Wocken beiseite, zog jedes der Kinder zu sich heran und küßte es auf die Wange. Als sie den Knaben umschlang, barg er sein aufglühendes Antlitz an ihrer Schulter und raunte voll Zärtlichkeit:

„Ach, du herzige Hildegard! Ich hab’ dich so lieb, ich möchte dich gleich zehntausendmal auf den Mund küssen!“

„Das wär’ wohl ein bißchen viel!“ sagte sie freundlich und küßte ihn noch einmal.

Die Kinder, die schon zu Anfang der Unterrichtsstunde gevespert hatten, bekamen noch jedes eine große Glaustädter Rundsemmel mit auf den Weg und wünschten nun auch der alten Wirtschafterin einen glücklichen Abend, wobei Florian eine recht sonderbare Verbeugung machte. Dann schlichen sie leise die Treppe hinunter. Hildegard hatte ihnen das oft genug eingeschärft. [327] Da draußen durften sie weder hart auftreten, noch gar schwatzen und lachen, der Herr Magister studierte! Und sie nahmen gern Rücksicht auf den Vater ihrer geliebten Hildegard, auch ohne daß Gertrud Hegreiner den drohenden Finger zu heben brauchte. Während sie froh und frisch auf die Grossachstraße hinauseilten, nahm die Wirtschafterin, immer noch etwas verstimmt, ihren Weg nach der Küche und zankte zu ihrer Erleichterung mit der Dienstmagd Therese.

Inzwischen trat die Fronbäuerin von Lynndorf schon knixend zu Hildegard in die Stube. Die etwa dreißigjährige Frau, die aber aussah wie fünfzigjährig, trug die wenig kleidsame Landestracht, den miederartigen Mutzen und die fünf oder sechs übereinandergeschachtelten Faltenröcke, die kaum bis über das Knie reichten.

„Grüß Gott, und da wär’ ich!“ sagte die Bäuerin. „Nichts für ungut!“

Sie trippelte vor, beugte sich nochmals tief und wollte Hildegards Hand küssen. Das Fräulein aber entzog sie ihr, klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter und sagte wohlwollend: „Stürzt Euch nicht weiter in Unkosten Lieselott! Und setzt Euch derweile! Ich hol’ Euch die Sachen!“

Die Bäuerin stammelte etwas wie „Schönsten Dank“, rückte sich einen der Holzschemel zurecht, ließ sich schwerfällig nieder und stützte das Kinn auf die Hand. Ihre Blicke hatten etwas Unruhiges, Angstvolles. Sie seufzte ein paarmal und griff sich dann nach dem Kopf, dessen spärlicher Haarwuchs in der Mitte des Wirbels fast nach Indianerart zusammengeflochten war. Die Glaustädter Volkssprache nannte dies rundliche Flechtwerk das Nest.

Nach kurzer Frist kam das Fräulein zurück. Sie brachte der Fronbäuerin die sich sofort erhob, ein kleines Paket, das in Leinwand geschlagen und mit hellrotem Bande verschnürt war. Das Antlitz Hildegards strahlte, wie sie der Bäuerin das Versprochene behändigte.

„Hier, Lieselott!“ sprach sie mit herzgewinnender Freundlichkeit. „Nein, bleibt nur ein Weilchen noch rasten! Der Tag ist warm, und Ihr seid wohl ermüdet. Eh’ Ihr dann geht, eßt Ihr noch drunten am Küchentisch ein Süpplein oder ein Stück Lammbraten vom Mittag. Den Pack hier laßt Ihr hübsch zu, bis Ihr daheim seid. Es sind ein paar Jäckchen darin für Euer Jüngstes – selbst genäht, Lieselott – und ein Sonntagswams für den Großen. Dazu säuberlich eingewickelt etliche Weiß-Pfennige!

„Gott verlohn’s Euch vieltausendmal! stammelte Lieselott. Sie kriegte nun wirklich die Hand des Fräuleins zu fassen und preßte sie ungestüm an die Lippen. Dann seufzte sie wieder und blickte zaghaft zu Boden.

„Was fehlt Euch nur?“ frug Hildegard teilnehmend. „Ihr gehabt Euch so merkwürdig, Lieselott!“

„Glaub’s wohl!“ versetzte die Bäuerin. „Ist mir ein schöner Schreck in die Glieder gefahren! Seit mein Jörg selig damals vom Baum fiel und das Genick brach, hat’s mich nicht wieder so angepackt und so weidlich geschüttelt!“

„Ihr macht mir ja ordentlich bange. Was gab’s denn?“

„Ach, mein gütiges Fräulein, das ist grausig zu sagen! Gestern beim Heumachen auf der Gusecker Wiese … ich zittere noch, wenn ich nur daran denke. Wir waren zu dreien – die Hampacher Käth’ und ich und der Kleinweiler. Ihr wißt doch, der Kleinweiler, das ist der Ehewirt meiner Muhme.“

„Ja, ja, Ihr habt mir von ihm erzählt.“

„Gut also! Wir drei schafften dort auf der Gusecker Wiese. Und die Hitze war schwer, und wir hatten uns abgeschanzt von früh morgens um drei und waren schier kreuzlahm. Da mag’s ja wohl sein, daß dem Kleinweiler die Geschichte zu sauer ward, noch dazu es ja Fronarbeit war und nicht für ihn selbst. Aber deswegen brauchte er doch nicht … Freilich, das war ja schon längst … Und nun bei diesem verfänglichen Anlaß ist es herausgekommen! Gott der Barmherzige steh’ uns in Gnaden bei und helfe uns allen zu einem seligen Ende! Amen!“

„Ich verstehe Euch nicht. Was that denn der Kleinweiler?“ Lieselott blickte verstört auf.

„Gotteslästerliche und sündhafte Reden hat er geführt und schandbar geflucht und wütend hinausgeschrieen: ‚Der Teufel hole das Heu!‘ Und wie das nun kaum über die Lippen war, da erhob sich ein Windstoß und führte das Heu weit hinweg in den Gusecker Bach, so daß die Hampacher Käth’ und ich dastanden wie vom Donner gerührt. Und war doch kein Wölkchen am Himmel zu sehen, und kein Sturm, weder vorher noch nachher. Da ward uns denn offenbar, daß der Kleinweiler, wie’s schon lang’ im Gerede ist, einen Pakt mit dem Bösen hat. Und diesmal hat ihn der Böse unklug verraten! Das meinte denn auch der Flurhüter, der just des Weges daher kam. Es war wie auf Kommando, der üble Wunsch – und augenblicklich das Heu fort! Der Kleinweiler selbst machte ein stierdummes Gesicht und glotzte uns an wie das leibhaftige böse Gewissen. Und der Flurhüter hat ihn denn richtig beim Glaustädter Malefikantengericht angezeigt. Heute bei grauendem Tag ist der Kleinweiler abgeholt und ins Stockhaus gebracht worden. Ach, mein gütiges Fräulein, ich sag’ Euch, die ganze Nacht über hab’ ich kein Auge zugethan! Wir sind doch mit ihm verschwägert, wenn auch nur weitläufig. So was fällt ja leider Gottes auf alle zurück, die zur Sippschaft gehören. Aber ich hab’ ihm nie recht getraut, dem Kleinweiler! Er war ja fleißig und manches gedieh ihm besser als allen Nachbarn. Jetzt weiß man’s, wem er sein Glück verdankt hat. Gott der Herr bewahre uns vor allen höllischen Anfechtungen.“

Lieselott mußte sich setzen. Die Kniee wankten ihr vor Erregung. Das Antlitz senkend, legte sie ihre bräunlichen Hände fest ineinander und murmelte ein kurzes Gebet.

Hildegard Leuthold war außerordentlich ernst geworden. Im regen Verkehr mit ihrem wackeren, verstandesscharfen und überall klarblickenden Vater hatte sie frühzeitig gelernt, den unseligen Zauberer- und Hexenwahn, der noch immer die Mehrheit der Zeitgenossen beherrschte, für das zu halten, was er in Wirklichkeit war – für ein trauriges Hirngespinst, das mit seinen uralt heidnischen Vorstellungen ebensosehr der gesunden Vernunft widersprach wie den Lehren und Anschauungen eines geläuterten Christentums. Gleichzeitig aber war sie auch zu der Erkenntnis gelangt, daß es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge äußerst gefährlich und überdies nutzlos sei, diese Meinung in Worte zu kleiden zumal hier, unter dem Scepter des Landgrafen Otto von Glaustädt-Lich, der sich vollständig im Bann dieser verderblichen Zeitkrankheit befand und, von dem Hofmarschall Benno von Treysa und dem Geheimsekretär Schenck von der Wehlen beeinflußt, das Gelübde gethan hatte, das Hexen- und Zauberwesen in seinem Lande um jeden Preis mit Stumpf und Stiel auszurotten. Dies Bestreben des ehrlichen, aber beschränkten Fürsten war seit etwa sechs Monaten für Glaustädt – das größte Gemeinwesen der Landgrafschaft, das die landgräfliche Residenz Lich an Ausdehnung weit übertraf – ganz besonders lebhaft zu Tage getreten. Während bis dahin die einschlägigen Fälle vor dem gewöhnlichen Tribunal, dem Glaustädter Stadtgericht, zur Verhandlung gekommen waren, hatte der Landgraf seit vorigem Spätherbst einen bereits in anderen Staaten vielfach erprobten Hexenverfolger, den weit und breit gefürchteten Balthasar Noß, beauftragt, in Glaustädt einen besonderen Malefikantengerichtshof ins Dasein zu rufen. Dieser Gerichtshof, mit allen erdenklichen Machtvollkommenheiten und Privilegien ausgerüstet, arbeitete so streng und so grausam, daß man nachgerade von einer Art Schreckensherrschaft des Balthasar Noß reden konnte. Jedenfalls war es nicht ratsam, die Maßnahmen und Urteile des Blutgerichtes irgendwie zu bemängeln oder auch nur im allgemeinen die leisesten Zweifel an der Berechtigung des Hexenprozesses zu äußern. Beides hätte unfehlbar die peinlichsten Folgen nach sich gezogen. Man entsetzte sich nur im engsten Kreise, tadelte, wo man der Gleichgesinntheit und der strengsten Verschwiegenheit unbedingt sicher war, und hielt im übrigen an dem Grundsatz fest, im Zwiegespräch mit Fremden und Fernerstehenden die hier einschlägigen Fragen niemals zu streifen.

So unmittelbar wie jetzt war der Irrwahn des Zauber- und Hexenwesens niemals an Hildegard Leuthold herangetreten. Eine Sekunde lang kämpfte sie. Schon lag ihr ein Wort auf der Zunge, das die thörichte Fronbäuerin wahrscheinlich mit zagendem Grausen erfüllt haben würde. Aber zur rechten Zeit noch besann sie sich. Aendern konnte sie an dem Verhängnis, das den Kleinweiler so jählings ereilt hatte, doch nichts. Es wäre sonach der barste Wahnwitz gewesen, diesem abergläubischen [328] Weiblein gegenüber Anschauungen zu offenbaren, die möglicherweise auf dem geradesten Wege vors Tribunal führen konnten. Sie erinnerte sich der Mahnsprüche ihres Vaters, der oft genug am Schluß einer bewegten Erörterung gesagt hattet „Wahre dich, Hildegard, und hüte dir allzeit die Zunge! Noch ist der Tag nicht gekommen, da unsereins frei reden darf, wie’s ihm zu Mute ist! Aber die Morgenröte wird aufdämmern trotz aller Finsternis. Bis dahin heißt es dulden und harren!

„Lieselott,“ sagte sie endlich, „Ihr müßt nicht gleich so das Schlimmste denken! Vielleicht stellt sich trotz allem heraus, daß der Kleinweiler in der Hauptsache unschuldig ist. Die Redensart, die er gebraucht hat, widerspricht wohl dem zweiten Gebot, aber, du lieber Himmel, wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms … Deshalb muß er noch lange kein Zauberer und Verleugner des Herrn sein. Die Ungeduld und der Zorn reißen den besten Menschen oft hin …“

„Aber das mit dem Windstoß! Das mit dem Windstoß! Ich sag’ Euch, mein herzliebes Fräulein, wie auf Kommando!“

„Ja, das ist wohl befremdlich und mag Euch von Grund auf verblüfft haben. Indessen – wenn sonst nichts wider ihn vorliegt … Der Zufall spielt ja im Leben oft wunderbar. Vielleicht war es auch eine Fügung des Himmels, der Euch und dem Kleinweiler zeigen wollte, solch übles Gefluche sei ihm allwege ein Greuel. Hört nur jetzt beileibe nicht gar zu viel auf das, was die Leute reden! Wenn einer im Unglück ist, nachher giebt’s immer Kluge und Ueberkluge die alles voraus gewußt haben.“

„Das kann ja wohl sein,“ versetzte die Fronbäuerin nachdenklich.

„Und wenn Ihr befragt werdet,“ fügte das Fräulein hinzu, „dann dürft Ihr erst recht nichts aussagen, was Ihr nicht ganz bestimmt wißt. Haltet nur streng an der einfachen Wahrheit fest und vertraut auf Gott. Wer weiß, wie bald sie den Mann wieder herausgeben? Kopf hoch, Lieselott!“

Hildegard, von dem Bedürfnis gedrängt, der Fronbäuerin etwas Mut einzusprechen, redete eigentlich neben dem Herzen her. Sie glaubte selbst nicht daran, daß der Prozeß vor dem Glaustädter Malefikantengericht die Schuldlosigkeit des verhafteten Bauern ergeben würde. Seit Balthasar Noß hier den Vorsitz führte, war eine Freisprechung oder gar eine Entlassung beim ersten Verhör noch nicht vorgekommen. Die gräßliche Praxis der Folter, die nirgends so zur Vollendung gediehen war wie bei den Hexenprozessen, sorgte dafür, daß die Gepeinigten alles, auch das Absurdeste, eingestanden, was die Blutrichter den unglücklichen Opfern aufhalsten. Und wenn wirklich einmal eine heldenhafte Natur von übermenschlicher Seelenstärke der unsäglichen Qual widerstand, so war es der Teufel, der dem Gemarterten diese Kraft verlieh, und gerade die Standhaftigkeit galt nun als Schuldbeweis. Verurteilt wurde auf jeden Fall, der Bußfertige wie der Unbußfertige, nur mit dem Unterschiede, daß Balthasar Noß die Bußfertigen erst mit dem Schwerte richten und dann verbrennen, die Unbußfertigen aber lebendig dem Holzstoße überantworten oder, wie der fachmännische Ausdruck lautete, einäschern ließ.

Lieselott spürte bei dem freundlichen Zuspruch Hildegards wirklich eine Art von Erleichterung. Man konnte nicht wissen … Gestern freilich hätte sie drauf geschworen … Und das war zu merkwürdig mit dem plötzlich daherbrausenden Windstoß. Indessen, was ein so vornehmes, kluges, gelehrtes Fräulein sagte, das schwebte doch wohl auch nicht so ganz in der Luft. Lieselott wollte jedenfalls abwarten, eh’ sie sich vollständig ihrem Gram überließ. Dazu war immer noch Zeit, und jetzt hatte sie vorläufig auch an sich selber zu denken, an die Schulden, die sie bezahlen, an die Kinder, die sie neu kleiden wollte. Für beides hatte das Fräulein so grundgütig gesorgt. Ach ja, das war ein leibhaftiger Engel, dem man sein Leid nur zu klagen brauchte, dann schaffte sie Abhilfe. Und so einfach war sie dabei, so natürlich und freundschaftlich, als wären die armen Fronbauern von Lynndorf recht ihresgleichen!

„Gott segne Euch!“ sagte das Weiblein und nahm ihren Pack unter den Arm. „Auch für die schönen tröstlichen Worte von wegen des Kleinweiler. Und nun will ich Euch weiter nicht aufhalten.“

„Gehabt Euch wohl! Und geht zur Theres’ in die Küche, die weiß schon Bescheid! Auf glückliches Wiedersehen!“

Während die Bäuerin nach dem Erdgeschoß trippelte, um sich vom Küchenmädchen den zugesagten Imbiß reichen zu lassen, stand Hildegard einen Augenblick nachdenklich am Fenster. Vom Turm der alten Marienkirche bliesen die Stadtpfeifer und Zinkenisten jetzt eben in langgezogenen Tönen feierlich den Sechsuhrchoral, die schöne Weise des Lutherschen Kernliedes: „Ein’ feste Burg ist unser Gott.“ Das Unheil, das dem fleißigen, braven Kleinweiler widerfahren war, und die gemeinsame Not aller Bürger von Glaustädt, wie sie in diesem einzelnen schier unglaublichen Falle so vorbildlich zum Ausdruck gelangte, hatte das weiche Gemüt des jungen Mädchens schwermütig gestimmt. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an den Jammer einer bedrohlichen Schreckensherrschaft. Das Alltägliche stumpft uns ab. Auch Hildegard Leuthold hing nicht lange den Kopf. Sie war neunzehn Jahre alt und blühend und lebenslustig. Als die Klänge des schönen Chorals verstummt waren, holte sie tief Atem und zuckte die Achseln. Wie Gott will! dachte sie mit der frohen Leichtblütigkeit der Jugend. Und wieder entsann sie sich der Trostesworte ihres geliebten Vaters: „Die Morgenröte wird aufdämmern, trotz aller Finsternis“. Sollte sie sich bis dahin ihr junges Leben vergällen lassen durch Dinge, die sie mit aller Kraft ihres Willens nicht bessern konnte?

2.

Als die Fronbäuerin, die sich vom Hausmädchen ihr Stücklein Braten hatte einwickeln lassen, rüstig über die Grossachbrücke dahinschritt, um jenseit des Flusses ihr heimatliches Dorf zu erreichen, nahm Hildegard aus der bläuliche Thonvase am Fensterbrett einige Maiblumen, steckte sie vor den Busen und ging dann hinüber nach dem Studiergemach, wo der weiland kursächsische Hochschullehrer Magister und Doktor Franz Engelbert Leuthold vor seinem wuchtigen Schreibtisch saß und, über ein stattliches Druckwerk in Großquart gebeugt, mit der sonst knirschenden Gänsefeder allerlei wissenschaftliche Auszüge und Notizen schrieb. Es war eine holländische Prachtausgabe des Marcus Valerius Martialis, die von kurzem in Leyden erschienen war und wegen verschiedener textlicher Ungenauigkeiten das kritische Mißvergnügen des Herrn Magisters herausforderte. Er selbst plante für nächstes Jahr eine gereinigte Neuausgabe des geistvollen Epigrammendichters und wollte in seiner lateinischen Vorrede dem wohlmeinenden Leser scharf auseinandersetzen, wie handgreiflich die so prunkvoll auftretende Leydner Ausgabe geirrt und somit eigentlich den Zweck einer derartigen Publikation miserabiliter verfehlt habe.

Hildegard klinkte vorsichtig auf, spähte hinein und wartete ein paar Augenblicke, ob der vertiefte Schreiber da in dem gerundeten Lehnstuhl sich nicht etwa umschauen würde. Da er sich aber nicht rührte, trat sie behutsam näher und fragte mit ihrer helltönigen Schmeichelstimme: „Macht Ihr nicht bald ein Ende, Vater? Der Abend ist herrlich.“

Franz Engelbert Leuthold wandte den Kopf.

„Nein, Kind,“ versetzte er freundlich. „Diesmal mußt du dich schon mit der Gertrud Hegreinerin begnügen.“

Hildegard umschlang ihren Vater zärtlich und strich ihm das halb schon ergraute Haar aus der Stirn.

„Wirklich? Hat es denn gar solche Eile mit Eurem garstigen Epigrammendichter, den ein sittsames junges Mädchen nicht einmal lesen darf? Geht! Reißt Euch für heute doch los!“

„Unmöglich, mein Liebling! Ich bin jetzt gerade so mitten drin – und überdies einem Problem auf der Spur – ich sage dir, äußerst merkwürdig! Wenn ich da erst mal den Faden verliere … Was man nicht gleich beim Schopf nimmt, das entschwindet uns oft für immer. Geh’ in den Garten, Liebling! Oder auch meinetwegen ein Stückchen nach Grossheim zu. Die Landstraße ist ja noch leidlich belebt.“

„Wie schade!“ rief sie, die Lippen ein wenig aufwerfend. „Ich geh’ nun so über die Maßen gerne mit Euch! Die Gertrud langweilt mich bei all’ ihrer Güte, und das Alleinlaufen … Aber Ihr sollt’s noch einsehn, Vater, Ihr thut Euch zu viel!“

„Ich fürchte das nicht. Diese Ausgabe des Martialis macht mir die größte Freude. Und was der Mensch so mit voller Lust thut, das geht wie von selbst. So, nun laß mich allein! Heut abend plaudern wir noch ein Stündchen. Ich erzähl’ dir dann

[329]

Wo ist die Mutter?
Nach einem Gemälde von E. Gelhay.

[330] wieder etwas von der schier ergötzlichen Dummheit meines Leydner Kollegen!“

„Ich freu’ mich darauf,“ lachte das junge Mädchen. „Und seid mir nicht böse, wenn ich Euch jetzt in die Quere kam!“

„Böse? Kann man dir böse sein? Das wär’ ja nicht anders, als wollt’ ich dem Sonnenschein zürnen, der mir ins Zimmer lugt! Du hast’s gut gemeint, diesmal wie immer! Uebrigens – laß dich ’mal anschauen! Das blaue Gewand steht dir entzückend. Und hier die Maiblumen! Du hast recht, wenn du dich hübsch machst! Wäre ich ein Jüngling im sechsten Lustrum, und nicht dein alter vierundfünfzigjähriger Vater …“

„Ihr verderbt mich noch!“ rief sie errötend. „Also auf Wiedersehn! Das wird wohl heute ein spätes Nachtmahl?“

„Kann sein, Kind! Wartet nur nicht auf mich! Denn, wie gesagt …“

„O, ich warte, und wenn’s bis Neun dauert! Ohne Euch schmeckt mir ja doch kein Bissen! Mag die Gertrud allein essen!“

Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn und überließ ihn dann wieder seinem römischen Epigrammatiker. Franz Leuthold blickte ihr glückstrahlenden Auges nach und murmelte traumverloren:

„Ganz die selige Mutter! So lieb, so klug – und so edel, schön an Seele und Leib! Gott der Allgütige nehme sie immerdar in seinen gnädigen Schutz!“

Eine Weile noch sann er. Es war, als ob die Wehmut einer teuren Erinnerung ihn überwältigt hätte. Nur zögernd beugte der ernste, mildfreundliche Kopf mit dem stattlichen dunklen Bart sich über das Buch und das halb schon beschriebene Blatt, bis dann endlich Marcus Valerius Martialis über die weichherzigen Anwandlungen des Augenblickes den Sieg davontrug.

Inzwischen war Hildegard leichten Fußes die breite Holztreppe hinuntergeeilt. Wie sie ins Freie trat, schien sie noch unschlüssig. Der gepflasterte Weg vor dem Hauseingang führte links nach dem Garten, rechts auf die Grossachstraße. Ein schweres schmiedeeisernes Thor schloß hier das Grundstück ab. Nach kurzem Besinnen wandte sich Hildegard rechts und drehte dies Thor in den Angeln.

Die Straße war staubig. Hier und da stiegen im leichten Wind grauqualmende Wirbel empor. Das lockte nicht sehr. Weiter draußen war das vielleicht noch schlimmer.

Eben wollte das Fräulein wieder das Thor schließen und kehrt machen, als ein stattlicher junger Mann in schwarzer Gelehrtentracht des Weges daher kam und mit ehrerbietigem Gruß sein sammetenes Barett lüpfte. Der junge Mann war Doktor Gustav Ambrosius, ein Glaustädter von Geburt wie Hildegards Vater. Im vorigen Jahr, kurz vor der Wiederansiedlung des Magisters, hatte er sich in Glaustädt als Arzt niedergelassen, nachdem er zu Heidelberg und Bologna mit Auszeichnung seine Examina absolviert hatte. Als Sohn einer altangesehnen Familie – von der übrigens außer ihm selbst niemand am Leben war – hatte er bei den sogenannten Geschlechtern Glaustädts, den Patriziern, Ratsherren und Großkaufleuten rasch Eingang gefunden, zumal sich der sechzigjährige Honoratiorenmedicus am Lynndorfer Steinweg mehr und mehr von der Praxis zurückhielt.

Die Beziehung zu Leutholds fußte freilich auf anderer Grundlage. Der erste Stadtpfarrer von Glaustädt, Herr Melchers, ein Jugendfreund des Magisters und gleichzeitig ein guter Bekannter des Hauses Ambrosius, hatte den jungen Arzt aus rein geselligen Gründen bei Franz Engelbert Leuthold eingeführt, weil er voraussetzte, daß die beiden klassisch gebildeten, dabei aber einem heiteren Lebensgenuß keineswegs abholden Männer trotz der Verschiedenheit ihres Alters ganz besonders einander zusagen würden. An den Verkehr mit Hildegard hatte der ernste, oft von weltflüchtigen Anwandlungen heimgesuchte Stadtpfarrer bei dieser Einführung nicht gedacht. Um so angenehmer empfand Doktor Ambrosius die unerwartete reizvolle Zugabe.

(Fortsetzung folgt.)




Ein neues Mittel gegen Insektenstiche.

Von M. Hagenau.

Sie summen und surren in den Lüften, tanzen im hellen Sonnenschein und ihre Bewegungen sind so flink und zierlich, ihre Flügel schillern in allen Farben. Wir bewundern sie das eine Mal und bald darauf wünschen wir diese Insekten zum Kuckuck, denn gar viele von ihnen sind mit Stacheln bewaffnet, die obendrein noch vergiftet sind, und geschickt handhaben sie diese Waffen gegen uns Menschen.

Die Stechmücken können uns alle Freude am Naturgenuß vergällen und in wasserreichen Gebieten werden sie zu einer unerträglichen Plage. In Nord und Süd hausen sie mit gleicher Zudringlichkeit. Alexander von Humboldt hat behauptet, daß nicht Indianer, nicht Schlangen, Krokodile und Jaguare die Reise auf dem Orinoko furchtbar machen, sondern die Scharen der Stechmücken, und von dem blutgierigen Treiben dieser Geschöpfe in den Tundren Sibiriens hat Brehm in seinen Vorträgen eine abschreckende Schilderung geliefert. So schlimm ist es bei uns in Deutschland mit dieser Plage nicht bestellt, aber wie lästig Mückenstiche werden können, davon weiß wohl fast jeder unserer Leser aus eigener Erfahrung.

Zu den Mücken gesellen sich als Plagegeister die Scharen der Bremsen. Diese blutgierigen Fliegen peinigen zwar vor allem das Vieh, werden aber auch dem Menschen lästig und gefährlich. Die Stechfliegen, die Tiere besuchen, werden mitunter zu Verbreitern schwerer tödlicher Krankheiten. Ist das Tier, an dem sie Blut gesaugt haben, krank, so können sie, wenn ihr Stechrüssel verunreinigt wurde, Krankheitskeime auf andere Tiere und Menschen übertragen. In gewissen Gegenden des tropischen Afrika sind z. B. die Rindviehzucht und das Halten der Pferde unmöglich, die Tiere erliegen in der Regel den Stichen einer Bremse, die man Tsetsefliege nennt. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß die Tsetsefliege an sich ungiftig ist, daß sie aber mit ihrem Stechrüssel todbringende mikroskopische Parasiten in das Blut der Rinder und Pferde einimpft. In derselben Weise werden bei uns Stechfliegen zu Verbreitern des Milzbrandes. Stiche der Fliegen haben bei Menschen wiederholt Blutvergiftungen verursacht.

Vergiftete Waffen führt auch das Heer der Bienen und Wespen. Unter ihnen werden am meisten die Hornissen gefürchtet und ein Sprichwort besagt, daß zwei Hornissen einen Menschen und drei ein Pferd töten können. Richtig ist dieses Sprichwort nicht. Das Gift der Bienen und Wespen ist nicht so stark, daß unter gewöhnlichen Umständen einige dieser Tiere durch ihre Stiche den Menschen umbringen könnte. Anderseits kommt es auf die Art der Stiche an und diese kann sich so ungünstig gestalten, daß schon ein einziger Stich lebensgefährlich wird. Trifft der Stich z. B. die Zunge, so kann die Anschwellung so stark werden, daß sie auch die tiefer liegenden Teile des Halses um den Kehlkopf angreift und Erstickung herbeiführt. Versenkt die Biene den Stachel in ein Blutgefäß und ergießt sie in dasselbe ihr Gift, so wirkt dieses besonders stark, dann treten schlimme Erscheinungen ein, Ohnmacht, Herzschwäche usw. In diesem Falle aber kann auch das Gift eine Gerinnung des Blutes herbeiführen, das Gerinnsel wird von dem Blutstrom fortgerissen, kann nach dem Gehirn getragen werden und, wenn es hier Arterien verstopft, Lähmungen und Tod verursachen. Schließlich sei noch erwähnt, daß ein ganzer Bienen- oder Wespenschwarm einen Menschen so furchtbar zurichten kann, daß er an den Wunden zu Grunde geht. Glücklicherweise sind solche Zufälle äußerst selten, in der Regel legt sich die Entzündung, die der Stich verursacht hat, nach einigen Tagen.

Selbst die ungefährlichen Stiche vieler Insekten sind jedoch oft so lästig und schmerzhaft, daß der Wunsch, Mittel zu erfinden, welche die Heilung beschleunigen, durchaus gerechtfertigt erscheint. Das Volk kennt eine ganze Reihe derselben, in verschiedenen Gegenden werden verschiedene Linderungsumschläge empfohlen. Bald soll man feuchte Erde, bald frische Blätter, bald geriebene Kartoffeln oder Milchumschläge auf die Stichwunde legen. Was an diesen Mitteln hilft, das ist weiter nichts [331] als die feuchte Kälte. Denselben Erfolg wird man auch durch gewöhnliche Umschläge von kaltem Wasser erzielen und dieselben empfehlen sich auch mehr als die vorhergenannten, sofern man reine Tücher und reines Wasser verwendet. In der Erde, auf Blättern und Kartoffeln ist oft Schmutz vorhanden, wird die Stichwunde durch denselben verunreinigt, so kann das eine Verschlimmerung, Eiterung usw. herbeiführen.

Eine langwierige Eiterung pflegt auch einzutreten, wenn der Stachel des betreffenden Insektes in der Wunde stecken bleibt. Recht haben darum diejenigen, die raten, man solle eine Stechmücke, die uns gerade gestochen hat, nicht totschlagen sondern sich ruhig vollsaugen und dann fortfliegen lassen. Im letzteren Falle zieht sie ihren Stechrüssel zurück, im ersteren pflegt derselbe abzubrechen und bleibt in der Wunde stecken. Giebt es aber nicht ein Mittel, das als Gegengift die Folgen des Stiches unmittelbar aufhebt?

Gesucht hat man seit langem danach und im Laufe der Zeiten auch verschiedenes angepriesen. Bei den Imkern südlicher Länder steht z.B. der Skorpion als Heilmittel gegen Bienenstiche in besonderem Rufe. Sie legen einen Skorpion in ein Fläschchen mit Oel und bestreichen mit diesem die Bienenstiche. Zuverlässige Beobachtungen über die Wirkung dieses Mittels sind uns nicht bekannt. Seit einer Reihe von Jahren wird bei uns das Ammoniak gegen Mücken- und Bienenstiche empfohlen. Das Mittel muß aber möglichst bald nach dem Stiche angewandt werden, wenn es Linderung bringen soll. In mückenreichen Gegenden tragen darum Viele kleine Fläschchen mit Salmiakgeist bei sich. Ganz zuverlässig ist aber auch dieses Mittel nicht.

In unsren Tagen hat Dr. Jos. Ottinger in der Münchener medizinischen Wochenschrift ein neues Mittel empfohlen, dem er eine „ausgezeichnete Wirkung“ zuschreibt. Es ist dies das Ichthyol, eine unangenehm riechende ölige Substanz, die durch trockene Destillation aus bituminösen Gesteinen gewonnen wird und in der Heilkunde seit einer Reihe von Jahren eine ausgedehnte Verwendung gefunden hat. Ottinger hat es im vergangenen Sommer in zahlreichen Fällen von Fliegen-, Schnaken-, Bienen- und Wespenstichen angewandt und damit die Entzündungserscheinungen rasch beseitigt. Im Verlauf einiger Minuten haben Schmerz, Brennen, Jucken usw. aufgehört und die Anschwellung der gestochenen Stelle nahm rasch ab.

Die Anwendungsweise ist sehr einfach. Am schnellsten und sichersten wird das Ichthyol rein, mit einem Pinsel in einer etwa ein Millimeter dicken Schicht aufgetragen. Doch läßt es sich auch in Salbenform anwenden, mit Lanolin oder Vaselin zu gleichen Teilen. Die bequemste Anwendung jedoch gestattet es in Pflasterform, namentlich als Ichthyol-Guttaperchapflastermull.

Die Wirkung des Pflasters ist bei geringen Entzündungserscheinungen und bei unmittelbarem Auflegen nach dem Stich zuverlässig, in schwereren Fällen sollte reines Ichthyol oder die Salbenform benutzt werden.

Es dürfte sich empfehlen, dieses Mittel nachzuprüfen. An Gelegenheit wird es auch in diesem Sommer nicht fehlen.

Eins aber möchten wir unsern Lesern ans Herz legen. Sie sollten, falls dieses oder ein anderes Mittel nicht einschlägt, sondern die Entzündung der Stichwunde trotzdem besteht oder zunimmt, nicht auf eigene Faust quacksalbern, sondern alsdann baldigst einen Arzt aufsuchen. Die Möglichkeit, daß die Wunde durch krankheiterregende Stoffe verunreinigt wurde, ist in solchen Fällen nicht ausgeschlossen, und dann kann nur eine schleunige sachverständige ärztliche Hilfe Heil bringen.




Aus Uhlands neuerschlossenem Tagebuch.

Die Hochzeitsreise im Sommer 1820.

Manchem unserer berühmten Männer – es sei an Ritter Bunsen und Max Duncker erinnert – ist von der überlebenden Gattin ein Denkmal in Form einer Lebensgeschichte gesetzt worden, keinem ein so würdiges wie dem Dichter Ludwig Uhland. Gewiß bliebe er, solange es eine deutsche Sprache giebt, durch seine Dichtungen ein Liebling seines Volkes, selbst wenn man noch weniger von seinem Leben wüßte als über Walther von der Vogelweide. Auch der gelehrte Forscher und der charaktervolle Patriot Uhland würde nimmer vergessen, obschon alle Einzelerinnerungen sich verloren hätten. Aber dank dem Buche, das des Dichters Witwe zunächst 1865 als „Gabe für Freunde“ in den Druck, dann 1874 in die Oeffentlichkeit gegeben hat, ist der unvergleichliche Mann dem Herzen seines Volkes erst vollends so nahe gekommen, als der ganze Mensch wie er leibte und lebte – nicht bloß nach dem was er angestrebt und geschaffen – es in einziger Weise verdient. Schlicht und wahr, klar und treu, wie es Sinn und Weise Uhlands selber war, schildert die Frau, deren Erringen seinem äußeren Leben die langersehnte Wendung zum Glück gegeben, die seinem Innern so verständnisvoll nahegestanden hat, das Werden und Sein des geliebten Mannes mit aller Zartheit weiblicher Empfindung und doch frei von zurückhaltender Befangenheit. Wie zart, aber ohne jede Spur spröder Ziererei, ist die Schilderung des langen Wegs, auf welchem dem „Unstern“ endlich der Stern seines Lebens aufgeht und der von der Gunst der Menschen und Umstände bis dahin so wenig Bevorzugte diejenige für immer findet, der er bekennen darf:

„In meiner Seele Tiefen,
O sähst du da hinab,
Wo alle Lieder schliefen,
Die je ein Gott mir gab!
Da würdest du erkennen.
Wenn Aechtes ich erstrebt
Und mag’s auch dich nicht nennen,
Doch ist’s von dir belebt!“

Schon seit dem Jahre 1815 – so erfahren wir aus dem liebenswürdigen Buch – wird der Name Emma öfters in Uhlands Tagebuch genannt. Schon damals entstand, wie es scheint durch den gern fabulierenden Justinus Kerner, das Gerücht, Uhland werde sich mit Emma (Emilie) Vischer von Calw-Stuttgart verloben. „Das Gerücht,“ erzählt diese selber, „interessierte wohl das noch ganz junge Mädchen, mehr noch interessierten sie die gerade damals herausgekommenen Gedichte des Mannes, die sie bei der Schwester, der Gattin von Uhlands Freund Roser, zu lesen bekam. Aber – an dem ernsten, stillen Herrn Uhland war doch auch gar nichts von einem Liebhaber zu entdecken! Doch erwuchs aus dem anfänglichen Wohlgefallen mit der Zeit eine tiefere Neigung in Uhlands Herz, aber neben dieser Neigung wuchs auch eine immer lebhaftere Beteiligung an den württembergischen Verfassungskämpfen, wie sie sich in seinen vaterländischen Gedichten zeigt. Aus den Briefen Uhlands an seine Eltern ist auch ersichtlich, daß er sich durch seine politischen Ansichten für verpflichtet hielt, vor Herstellung der Verfassung keinen Staatsdienst in Württemberg zu suchen oder anzunehmen. Dadurch fühlte er sich denn auch abgehalten, seine Neigung zu äußern oder als Bewerber um Emmas Hand aufzutreten. Seiner feinsinnigen Zurückhaltung ungeachtet, gewann jedoch diese bei längerer Bekanntschaft einen tieferen Einblick in sein Herz und lernte begreifen, wenn auch unter manchen inneren Kämpfen, daß einem überzeugungstreuen Manne kein Opfer zu groß sein dürfe, daß Uhland schweigen und zuwarten müsse, bis günstigere Umstände für seine Wünsche eintreten würden. Dieses Verständnis konnte in ihr die Hochachtung und Neigung nur vertiefen, und durch treue Freunde, wie Schwab[WS 1], wurde die Hoffnung in beider Herzen bestärkt. Seit dem Sommer 1819 endlich ward Uhland in Emmas elterlichem Hause als Familienglied angesehen, und am 16. Januar 1820 wurde der stille Bund der Herzen öffentlich ausgesprochen durch seine Verlobung mit Emilie Vischer.

Der Bräutigamsstand und die Hochzeit, die am 29. Mai gehalten wurde, fiel in eine unruhige, für den pflichtgetreuen Landtagsabgeordneten sehr geschäftsvolle Zeit. „Den ganzen [332] Morgen des Hochzeitstages, berichtet die Frau, „bis zwei Uhr mittags brachte er in dem Ständehause zu und sogar nach der Trauung, die um drei Uhr statt hatte ging er auf kurze Zeit noch einmal dahin zurück.“ Aber die zwei Worte „Häusliches Glück“, womit Uhland im Tagebuch die wenigen Zeilen über die landständische Thätigkeit in den nächsten 14 Tagen nach der Hochzeit schließt, verraten, welche Wendung sein Leben genommen hatte.

Endlich am 8. Juli, nachdem die Stände vertagt, die Geschäfte der ständischen Ausschüsse erledigt waren, konnte das neue Ehepaar seine Hochzeitsreise in die Schweiz antreten. Die Biographin widmet der schönen Reise, die, beiläufig gesagt, in die Zeit der ersten bundestägigen Ruhe für Deutschland, süditalischer Revolutionen und der Vorzeichen griechischer Volkserhebung fiel, aus der Erinnerung ihres Alters einige Sätze, die doch das ganze Glück der jungen Frau an der Seite des geliebten, verehrten Mannes ahnen lassen. „Der größte Teil der deutschen Schweiz, das Thurgau, Sankt Gallen, dann über Kloster Einsiedeln und den Paß zwischen den Schwyzerhaken nach Schwyz und auf den Rigi, wurde zu Fuß durchzogen. Es machte Uhland Freude, die Schweiz, die er schon als Student 1806 mit einigen Freunden durchwandert hatte, seiner Frau zu zeigen, und ihr gab die Freude mehr Kräfte als sie sich zugetraut, ihm zu Liebe, der am liebsten zu Fuß ging, wurden auch die größeren Touren über die beiden Scheidecken dann durch das Emmenthal und Eutlibuch gerne von ihr zu Fuß zurückgelegt. Die Unterhaltung mit den Landleuten hatte großen Reiz für Uhland. Er mochte sich dann gern mit ihnen lagern und den mitgenommenen Proviant mit ihnen teilen, wenn auch für ihn selbst dann wenig überblieb, weil er den andern zu große Teile gegeben hatte. Seitde m man die Schweizerthäler auf der Eisenbahn durchzieht und auf den schroffsten Höhen ein Hotel steht, fehlt doch auch mancher Reiz der Reise, weil man von dem Kern des Volks wenig mehr kennen lernt. In Sankt Gallen in der reichen Stiftsbibliothek, dann in der Wasserkirche, der Züricher Bibliothek wurde jedoch auch eingekehrt und die Schätze beaugenscheinigt’.

Diesen kurzen Bericht sind wir nun neuestens in stand gesetzt worden aufs ansprechendste zu ergänzen durch des Dichters eigene Aufzeichnungen. Dem durch Württembergs König im Mai 1895 ins Leben gerufenen Schwäbischen Schillerverein ist es vor wenigen Wochen möglich geworden, Ludwig Uhlands handschriftlichen Nachlaß zu erwerben und zwar, dank der Freigebigkeit eines um die Belebung von Schillers Andenken in seiner Heimat hochverdienten Mannes, ohne Aufwendung von Vereinsmitteln. In diesem überaus reichen Schatz, der sozusagen die urkundlichen Zeugnisse der geistigen Entwicklung Uhlands vom Knabenalter an, seiner rastlosen Thätigkeit als Dichter und Forscher, Lehrer und Politiker vor uns ausbreitet, findet sich von Ungedrucktem neben zahlreichen, zum Teil hochschönen Gedichten, die nur ein Mann von Uhlands Selbstbeschränkung und Strenge, fast Härte gegen sich ausscheiden konnte, ein in den Jahren 1810 bis 1820 geführtes Tagebuch. Meist sind nur wenige Zeilen einem Tage gewidmet, aber diese knappen schlichten Angaben gewähren einen tiefen, wohlthuenden Blick in des seltenen Mannes Lebensführung durch entscheidungsvolle Jahre: in seine Bildungsgeschichte, die Werkstatt des Dichters und Gelehrten, das Werden und erste Wirken des Parlamentariers, den Verkehr mit Eltern, Schwester, Verwandten und Freunden, den weiten, rauhen Weg, auf welchem der langgeprüfte brave Mensch, dem äußerlich so wenig gelungen, zu einem der glücklichstem ward. Dabei fällt viel Licht auf die Menschen jenes Zeitalters, ihre Lebensweise, Anschauungen, Gewohnheiten und erhalten zahlreiche Stätten, die der gute Mensch betrat, eine gewiß heute noch vielen willkommene Weihe. So nun auch viele Orte Schwabens und der Schweiz durch die im Nachstehenden erstmals mitgeteilte Beschreibung der Hochzeitsreise. Intime Stimmungsäußerungen schloß das Wesen dieser kurzen Aufzeichnungen freilich aus, aber in der Anschaulichkeit so mancher knappen Bemerkung offenbart sich doch der Poet.

Hochzeitsreise in die Schweiz.

1820. Juli 8. Reise mit Extrapost von Stuttgart über Urach, Münsingen, Ehingen nach Biberach. Fruchtbare angenehme Gegend bei Metzingen. Hohenurach. Seeburger Thal. Besuch bei Plancks in Münsingen. (Der Diakonus P. war mit einer Base des Dichters verheiratet.) Oede Albgegend. Donauthal. Bussen. Rißthal, Schloß Warthausen. Ersteigung des Wachturmes in Biberach. Düsteres Aussehen der Stadt.

Sonntag 9. Extrapost von Biberach, über Waldsee, Baindt, Altdorf und Ravensburg nach Mörsburg. Kloster Weingarten, Erzählung von den Welfen. Angenehmer Eindruck von Ravensburg, bei der Einfahrt die blumenreichen, wohlgeordneten Gärtchen mit Springbrunnen und hübschen Gartenhäusern. Ersteigung des Schloßberges oder der St. Veitsburg; der alte Turm, die roterhaltenen Ziegeldächer, erster Blick auf den Bodensee. Das nahe Thal mit seinen Mühlen, die Weinberge, Kloster Weißenau; lebendige Vorstellung von einer altdeutschem Stadt, die Steinmauern sind rein erhalten und nicht zu sehr mit Häusern ausgefüllt, die Häuser noch in alter Bauart, vielfensterig, bemalt; aber reinlich und unverfallen, Wasser durch die Stadt fließend, die glänzenden Messingbeschläge an den Hausthüren, der freundliche Bierkeller außerhalb der Stadt. Bei Markdorf Duft der Rebenblüthe. Ankunft in Mörsburg um Mittag, Erfrischung im Bären. Aussicht auf den See vom neuen Schlosse, glänzend blaues Kolorit von Himmel, See und Bergen, widriger Abstich der geschmacklosen Zimmerverzierung gegen die herrliche Natur. Gartenterrasse, der Schloßgärtner Rosen spendend. Das alte Schloß, die Brücke über die Felsschlucht, Bach und Weg durch letztere. Fahrt von Mörsburg nach Mainau; das leere Johanniterschloß (vielmehr Deutschordensschloß), Balkon. Gang über den Steg, durch den Wald über Petershausen nach Konstanz. Quartier im Adler. Ersteigung des Domturmes, das Turmstübchen, herrliche Abendbeleuchtung, klarer Ueberblick der ganzen Seegegend, der Säntis, goldner Abendhimmel, Hohenstosseln, Hohentwiel, Hohenhewen. Eigentümliches, den See so zu übersehen daß man im Vordergrunde nur die Kreuzform des Domgebäudes und dann den weiten Wasserspiegel im Auge hat. Heimweg über die Promenade. Bei Tisch Nachricht, daß v. Laßberg nicht in Eppishausen sei (der bekannte Altertums- und Sprachforscher hatte mit Uhland kurz zuvor bei einem Besuch in Stuttgart die fruchtbare Verbindung für Jahrzehnte angeknüpft).

10. Morgens: die Wallfahrt nach Loretto, Leichtsinn und Müßiggang solcher Ceremonien, nachdem der religiöse Sinn derselben sich verloren. Besuch des Doms, Gang an den Hafen, das Wachthäuschen im See, Konziliensaal, Sessel von Kaiser und Papst, alter Helm, Schilde der Kreuzritter, großes Netz. Fahrt über Arbon nach St.Gallen mit einer Retourchaise. Durch das Thurgau, Wohlgeruch der blühenden Weingärten, Durchblicke auf den See. In Arbon Anfahrt am Gasthause zum Kreuz, komische Scene, als wir nicht wußten, ob wir recht wären und uns eins ums andere in die Zügel fielen. Mittagessen in dem neuen durchsichtigen Gartenhäuschen dicht am See, unmittelbares Leben in dieser Natur, die baumreichen St. Gallischen Berge im Wasserspiegel, Musikant. Am Wege nach St. Gallen Feldlager des thurgauischen Militärs. Rückblicke auf den See. Das St. Galler Thal mit den vielen umherzerstreuten Wohnungen von heiterem Aussehen, die Gärten. Quartier im Hecht. Ersteigung des Freudenbergs durch die Schlucht mit den vielen übereinanderstehenden Mühlen und dem Tannenwald, Rückweg über St. Georgen, Verirren in der Stadt. Bei Tisch die reisenden Sänger, Meinung, daß der Rhein von Basel hieherwärts fließe.

11. Vormittags Gelderhebung bei Mayer, vergebliches Aufsuchen des (Benediktiner-Stifts-Archivars) Ildefons v. Arx., der in Baden befindlich. Hr. Fels. Besichtigung der Bibliothek, Inkunabeln, die Nibelungenhandschrift, das goldene Evangelienbuch, Malereien, Tutilos Schnitzwerk auf der Buchdecke, gewaltiges altes Schlachtschwert usw. Die moderne Klosterkirche. Ersteigung des Turmes der Stadtkirche, Uebersicht des Klosterbezirks. Nachmittags Fahrt nach Vögliseck auf der Berghöhe, Begegnung des Oberfinanzrats Jäger und seiner Tochter (Verwandte der Frau Uhland). Spaziergang auf dem Bergrücken. Weitere Fahrt über Speicher, Teufen und Bühler nach Gais. Quartier im Ochsen. Beim Abendessen Landsmann Buri aus St. Gallen.

12. Molken-Promenade. Gang über Appenzell nach Weißbad, wohin die Frauen mit Buri und Jäger zu Wagen nachkamen. Ersteigung des Wildkirchleins, und, durch die Berghöhle, der Ebenalp. Sonderbares Leben auf dem Felsen, Gampe.

[333]

Photographie im Verlage von V. Angerer in Wien.
Im Hausgarten.
Nach einem Gemälde von C. Zewy.



Gartenartiges der sonnigen Ebenalp mit den vielerlei Alpblumen, die zutragenden Hirtenkinder, der hilfreiche Junge beim Schneesteigen, Schneeballen, Buris Perspektiv, deutliche Ansicht von Gais, der Seealper See, der Altmann, der Säntis, das Oehrli; der Bodensee, das Rheinthal, die Kinder allein in der Sennhütte, wohlschmeckende Milch. Mittagessen in Weißbad. In den Badeanlagen der Sitz am Zusammenrauschen der beiden Sittern. Kaffee in diesen Anlagen mit den Gaiser Kurgästen. Rückkehr nach Gais zu Fuß, Emma und Jägers wie oben. Abschied von Buri.

13. Bekanntschaft mit Pfarrer Appenzeller von Biel, Empfehlung von ihm an den Abt Konrad von Einsiedeln. Fahrt von Gais über Appenzell, Gonten, Urnäschen, Waldstatt, Schönengrund, Peterzell (die Hast des mitlaufenden graulockigen Mannes, das Gatter aufzumachen), durch das Neckerthal, bei dem abseits liegenden Brunnadern die Steige hinauf Lichtensteg, Wattwyl (teures Glas Wasser), Hummelwald aufs Bildhaus. Mittag auf dem einzeln liegenden Wirtshaus Priesig. Wilde, doch nicht romantische Gegend im Toggenburgischen, bei Wattwyl im Thurthal das Schloß Yberg mit St. Maria. Durch den Hummelwald Regen, welcher uns hier und im Bildhaus die Aussicht benahm. Anruf aller Feuerleinischen Tanten (d. h. alten Tanten der jungen Frau).

14. Blicke auf den Zürchersee, als es sich vormittags aufhellte. Fahrt, im Gefährte des Wirts, am Kloster Sion vorbei durch das hochbaumige Gaster über Kaltbrunn und Schännis am Linthkanal nach Wesen. Regen. Quartier im Schwert am Gestade. Nachmittags Vorlesen aus Müllers Schweizergeschichte. Abends, nachdem der Regen aufgehört, Spaziergang am Seeufer, gegen den Fall des Sehrenbachs, dessen Entfernung uns täuschte. Abendbeleuchtung dem Ernste der Gegend angemessen. Der Wasserfall bei Wesen. Aussicht bei dem hochgelegenen Hause; Siegelkamm, Mürtschenstock, Glärnisch.

15. Vormittags Fahrt auf dem Wallensee nach den Wasserfällen gegen Quinten; der Bach dicht am See, von dem einst ein Mann fortgerissen worden sein soll; unter dem Siegelkamm in der Kluft, zu der man aufsteigt, der Sehrenbach hoch und weit sichtbar, wie ein Flor in mehreren Fällen von den Felsen herabfallend, daneben der Baierbach in starkem Strom aus den Felsen hervorbrechend, nach der Sage der Schiffer aus dem Rheine kommend, beide dicht nebeneinander, aber keiner den andern angehend, in der Kluft bilden sie einen Strom, der sogleich in den See sich ergießt; Kastanien-, Nuß-, Kirschenbäume, Reben am Abhange, Hütten dazwischen, treffliche Kirschen, Mühlihorn Cerenzen gegenüber. Weiter unten Näsels, Urnen. Einfluß der Linth. Nachmittags Fahrt mit einer Retourchaise über Urnen, Bilten, Reichenburg, Schübelbach, Galgenen nach Lachen. Bei Galgenen über die Aa. Einkehr in Lachen, Blick über den oberen Zürchersee. Fußweg auf den Etzel, schöne Blicke, zumal auf dem Etzel selbst, über den Tannenwald auf den Zürchersee, Insel Ufnau, Rapperschwyl und die Brücke; in der Ferne der Greifensee und der See von Pfäffikon. Kapelle auf dem Etzel. Vom Etzel über die große steinerne Sihlbrücke nach Einsiedeln. Glühende Abendbeleuchtung, in der die Schneeberge, Glärnisch usw., das grüne Thal, die kegelförmigen Schwyzerhacken sich wunderbar ausnahmen. Kloster Einsiedeln auf dem Hügel. [334] Harmonisches Geläute. Alles geeignet, den Wallfahrtsort in ideales Licht zu stellen. Einkehr im Ochsen, Menge von Pilgrimen auf dem Platze und im Hause.

Sonntag 16. Vormittags Gang ins Kloster. Abt Konrad (an den Uhland empfohlen war) nach Pfeffers verreist. Der Mönch und der Ablaßsuchende vor den Schranken; ansprechende Abgeschlossenheit des Chors. Hochamt in der Klosterkirche, die Kapelle mit dem schwarzen Marienbild, lärmende Musik. Alles berechnet, auf die Pilgrime Eindruck zu machen. Menge der verschiedensten Trachten aus allen Gegenden. Beim Zeichen der Turmglocke Niederfallen aller Anwesenden auf dem Platze. Der Brunnen mit 14 Röhren. Gang über Alpthal und den Hacken nach Schwyz. Beschwerlicher Weg, hinaufwärts über gelegte Scheiter, hinunter über böses Steinpflaster. Auf der Höhe jedoch erhebender Blick rückwärts auf die Glarner Schneegebirge, links auf den Felsstock der Mythen, an deren Fuß man sich befindet, vorn hinaus auf den Lauerzer See, den Rigi, die Muotta, Brunnen, den Vierwaldstättersee, die Aa, darüber die Engelberger und Urner Gebirge. Einkehr im Wirtshaus auf dem Hacken. In Schwyz Quartier im Hirsch. Spaziergang durch und um den Flecken. Kirche und Kirchhof. Angenehme Herberge.

17. Gang über Sewen, am Lauerzer See hin, auf welchem die Ruine von Schwanau zwischen dem Gebüsche wie in einem Neste liegt, über das verschüttete Goldau auf den Rigi. Hitze. Die Stationen: Mittagessen in der Krone. Quartier im Wirtshaus auf der Rigistaffel, das wir für das oberste hielten; treffliche Aussicht. Aufklärung des Irrtums. Aufbruch und Hinaufsteigen auf den Kulm. Als wir dort angekommen, Ausbruch eines Gewitters. Aussicht jedoch nicht vollständig auf die Gebirge. Späterhin wieder Gewitter, Blitze aus dem Thal. Familie aus Schwyz, Engländer usw.

18. Auf dem Rigi. Nebel, der sich in Regen auflöste. Die in Einsiedeln erkaufte Geschichte des dortigen Gnadenbildes usw. gelesen. Abends schöne Blicke, Regenbogen von Arth aufsteigend. Abendessen mit der Frau von Zürich.

19. Alarm im Hause, als unerwartet die Sonne glühend aufstieg, welche jedoch nach wenigen Augenblicken wieder von Wolken bedeckt wurde. Erfreuliche Aussicht. Abreise. Händedruck des Wirts nach tüchtiger Zeche. Das Kessibodenloch. Besteigen des Känzelis mit Emma, Aussicht auf den Vierwaldstättersee. Herabsteigen von der Rigistaffel nach Küßnacht, am Wege das steinerne Kreuz auf dem Felsstücke, als Denkmal des hier gestorbenen Ritters von Eschenbach. In Küßnacht Einkehr beim Landschreiber, im Adler, Aussicht über das hübsche Gärtchen auf den See und den Pilatus. Gang in die Hohle Gasse zur Tellskapelle, deren alte Inschrift einer neuen geschmacklosen weichen mußte. Fahrt vom Gärtchen aus über den See nach Luzern, Ruine von Geßlers Burg an der Anhöhe über Küßnacht. Trümmer von Habsburg. St. Nicolauskapellchen auf dem Felsen im See. Ankunft in Luzern um Mittag. Quartier im Adler. Gelderhebung bei Schmid u. Komp. Die Reuß bei der Brücke aus dem See gewaltig hervorschießend. Brief nach Tübingen. Maler Reinhardts Schweizertrachten. Die Kapelle für Ludwig XVI. Der sterbende Löwe über dem bourbonischen Schilde, nach Canovas (vielmehr Thorwaldsens) Modell in den Felsen gehauen, als Denkmal der gefallenen Schweizergarden, noch unvollendet unter dem Gerüste. Künstlerisch einfach große Idee, welches auch die Sache sei. Unterhaltung darüber mit Obrist Pfyffer, dem Leiter der Arbeit und Eigentümer des Platzes. Regen. Heimweg über die zwei bedeckten Brücken; die Jesuitenkirche. Abends Gang, allein, auf den hochliegenden Kirchhof. Regen.

20. Vormittags, nachdem der Regen sich gelegt, Gang mit Emma an den Hafen und auf den Kirchhof, wunderliche Denkmäler, namentlich der Tod mit der Geige vor einem Chordirektor in der Perücke. Absicht, von Luzern nach Alpnach auf dem See zu fahren, durch Gewitter vereitelt. Nachmittags Fahrt zu Lande nach Winkel, von da zu Wasser nach Alpnach. Donner im Gebirge, als wir uns eben eingeschifft, ungewisses Wetter. Der handfeste, trotzig schlaue Schiffmann. Das Häuschen um den Felsen, bei dem man vor dem Wetter Schutz suchte und das sich beim Anlanden plötzlich in eine Auberge verwandelte. Von Alpnach zu Fuß über Kägiswyl nach Sarnen. Gewitter und starker Regen: Unterstehen an der neuen Alpnacher Kirche, die Gräber der Ratsherrn. In Sarnen Quartier im Schlüssel. Ersteigen des Hügels, wo Landenbergs Burg gestanden, jetzt das Zeug- und Schützenhaus steht. Der Priester, das Sakrament dem Sterbenden bringend, empfangen und wegbegleitet von kerzentragenden Weibern, Gebet auf dem offenen Platze.

21. Fahrt auf einem Bankwagen von Sarnen über Sachseln und den Kaiserstuhl nach Lungern. Schöner Spiegel der Landschaft im Sarner See. Hohe Nußbäume. Die Kirche zu Sachseln mit Bildern von Niklas von der Flüe. Die Kirche von Giswyl, einzeln auf einem Hügel mitten im Thale liegend. Trümmer der Burg Rudenz, von der unser Fuhrmann, Wirz von Rudenz, herzustammen sich rühmte. Auf dem Kaiserstuhl tüchtiger Regen bis Lungern. Weg dicht am Lungernsee hin. Mittagessen zu Lungern im Löwen; Aussicht zum neuen Speisezimmer hinaus auf den Wasserfall und den See. Der Himmel heitert sich unerwartet auf. Fortsetzung der Reise zu Fuß über den Brünig nach Brienz. Beim Aufsteigen schöner Rückblick auf den See, hohe Buchen und Tannen, felsiger Weg. Beim Niedersteigen Aussicht nach Meyringen, auf die Fälle des Oltschibachs und des Wandelbachs, sowie auf den See. Zu Brienz Quartier im Kreuz (in Tracht), neues, nettes Wirtshaus am See. Ueberfahrt zum Gießbach dessen herrlicher Fall; dieser wie die übrigen Wasserfälle durch den Regen verstärkt; Blick von ihm auf den ruhigen See hinaus. Der Vorsprung mit der überragenden alten Linde, welche die Wurzeln hinausstreckt, am gewaltigsten Sturze; der Steg. Wohnung des Schulmeisters, der die Wege und übrigen Erleichterungen des Betrachtens ausgeführt; sein und seiner Kinder Gesang am Klavier, das Lied vom Gießbach. Auf der Rückfahrt Wetteifer der zugleich überschiffenden Mädchen. Der Speisesaal mit den blanken Fenstertafeln. Aufgehen des Mondes, dessen Spiegel im See. Die Sängerinnen.

22. Vormittags von Brienz nach Meyringen zu Fuß, an den Fällen des Oltschibaches und des Wandelbachs vorbei die Aar stark strömend. Zu Meyringen Quartier im Landhaus (Bären), Aussicht von da auf den Rosenlauigletscher und das Blumhorn, auf der andern Seite auf den Alpbach. Nachmittags Aufsteigen zu den verschiedenen Fällen des Reichenbachs; nachher zum Alpbach, von da Aussicht auf das Wetterhorn und dessen Gletscher im goldenen Abendlicht. Gang zu der Ruine der Burg Resti, einem alten Turme.

Sonntag, 23. In der Nacht unerwartet Gewitter mit starkem Regen, der den Tag über mit kurzer Unterbrechung fortdauerte. Bekanntschaft mit den Malern Lori, Vater und Sohn die in demselben Wirtshaus wohnen. Die Kirchgehenden, Rechenverkauf. Das Tagbuch von der ganzen Reise bis heute gefertigt. Gang zum Alpbach, der schauerlich schwarz herunterstürzt, dem Dorf ein gefährlicher Nachbar.

24. Regen mit weniger Unterbrechung. In Wyß’ Reise ins Berner Oberland gelesen. Gang in die finstere und die lautere Schlauche, Blick nach Im Grund.

25. Gang über die Scheideck nach Grindelwald von 9 Uhr vormittags bis nach 6 Uhr abends. Rosenlauigletscher. Der Reichenbach an der Seite. Einkehr in der Sennhütte der Alp Schwarzwald, Käsemagazin. Schöne Staublawine am Ganzenlauinengletscher. Regen schon vor der Schwarzwaldalp bis Grindelwald fast ununterbrochen, die Gipfel der Berge umwölkt. Brausende Bergströme mit schmalen Stegen. Abstieg zum obern Grindelwaldgletscher. Quartier im Gemsbock.

26. Vormittags Regen: Müllers Schweizergeschichte. Nachmittags einiger Sonnenschein. Gang zum untern Gletscher; Eisthor, aus welchem die Lütschine hervorströmt.

27. Gang über die Wengernalp nach Lauterbrunn. Beim Aufsteigen das Faulhorn schön beleuchtet. Auf der Bergscheide Begegnung Deffners (Fabrikanten in Eßlingen) mit seiner Frau und Legationsrat Wagners (aus Stuttgart). Die Hochgebirge anfangs gänzlich verhüllt, nach und nach in Umrissen hervortretend, mehr und mehr sich entschleiernd. Mehrstündiger Aufenthalt auf der Wengernalp, um dieses anzusehen. Imbis auf dem Dache. Lawinen. Beim Niedersteigen schöne Ansicht des Silberhorns, dann Hervortreten der Jungfrau hoch über den Wolken. Das frischgrüne Lauterbrunnenthal mit seinem Strom und seinen Wasserfällen, und oben die erleuchtete Gebirgswelt, magische Streiflichter an den Schneebergen im Hintergrunde des [335] Thals, der Felsenerker. Verweilen in Anschauung der herrlichen Gegend. In Lauterbrunn wohlgelegenes Wirtshaus, vom Speisesaal Aussicht auf das verglühende Gebirg, das nachher im Mondlicht weiß hervortrat. Beim Abendessen ein etwas liebenswürdiger Engländer, französische Unterhaltung.

28. Vormittags Gang zum Staubbach, der mit prächtigem Regenbogen geschmückt war, nachher zum Trümletenbach, der zwischen den Felsen wie in einer Wendeltreppe herabkommt, und zum Mirrenbach, der breit und durchsichtig wie ein Gewand an der Felswand herabwallt, Ansicht der Jungfrau, wie nur sie, kein andres Gebirg daneben, zwischen Tannenwäldern wie ein Palast aufsteigt, auf dem Rückweg der Staubbach auf eine andere Seite geweht, als wir ihn beim Ausgehen gesehen hatten, völlige Auflösung desselben in lichtes Staubgewölk. Beim Mittagessen Menzel (der bekannte Schriftsteller Wolfgang M.), sonst in Bonn, jetzt in Aarau. Nachmittags Fahrt nach Unterseen, Fall des Sausbachs, Zweilütschinen, Ruine von Unspunnen. Quartier im Kaufhaus. Gang auf den Hohbühl, Ansicht von Ringenberg, dann auf das Rugenhübeli, Sonnenuntergang über dem Thunersee, Niesen und Stockhorn in duftigrotem Scheine.

29. Morgens Gang nach Neuhaus. Von da Fahrt auf dem See nach Thun, Aussteigen zur Beatenhöhle. In Thun Jahrmarkt, Gang auf den hochgelegenen Kirchhof. Mittagessen im Freihof. Vierspänniges Retourgefährt nach Bern. Quartier daselbst im Falken. Stattliches, reiches Aussehen dieser Stadt. Kübelwäsche an allen Brunnen. Gang zu Königs Mondscheingemälden, widriges Gefühl, über der künstlichen Beleuchtung die natürliche der untergehenden Sonne zu versäumen. Am Abendessen v. Fichard aus Frankfurt (Historiker) mit seiner neuanvermählten Frau.

Sonntag 30. Vormittags Gang auf die Enge, Ansicht des Gebirgs. Der Bärengraben. Herumgehen in der Stadt. Das prächtige Bürgerspital. Militärmusik und Promenade auf der Platteforme. Besuch bei Professor Emmert (Chirurg, der in Tübingen studiert hatte). Nachmittags Gang mit Emmert zu den Bädern im Marzili, von denen wir keinen Gebrauch machen konnten, um nicht den Abend auf der Enge zu versäumen. Wiederholter Gang auf die Enge. Thee daselbst, Gesellschaftsspiele der Berner Jugend, herrlicher Sonnenuntergang an den Gebirgen. Eigenheit der Gebirgsansicht von Bern, daß hier die Hochgebirge des Oberlands fast ohne allen Vordergrund andrer Berge hervortreten.

31. Morgens Abreise von Bern zu Fuß, wegen ungebührlicher Forderung des bestellten Trägers trug ich das Gepäck bis gegen Gümlingen, Emmas Thränen darüber. Hitze. Weg über Worb usw. nach Signau. Einkehr in Höchstetten. Das Signauer Schloß mit Gespenstersage. Einkehr in Signau, die Weiber Thee zum Weine trinkend. Einkehr in Langnau; die beiden alten Männer vom Gebirge, wovon der eine, in den Siebenzigen, gekommen war, sich einen Zahn ausreißen zu lassen, der aber so fest stand, daß er abgebrochen wurde. Emma als Berner Bäuerin verkleidet. Der dicke Kutscher nach langem Warten erscheinend. Langsame Fahrt mit ihm auf dem Bankwagen, den heimkehrenden Alten begegnend, am Langnauer Armenhause vorbei, durch das Ilfisthal, über Eschlismatt, wo es bereits dunkel war, nach Schüpfheim. Ankunft daselbst um 11 Uhr.

August 1. Zu Fuß über Entlebuch und die Bramegg nach Schachen. Die hübsche fünfzehnjährige Trägerin, an den Armen mit Namen und Schere bezeichnet. Liebliche Gegend des Entlebuchs, frischgrüne Hügel mit zerstreutem Tannengehölz. Einkehr in Entlebuch, die dicken Wirtsleute, die feindlichen Eheleute, den Friedensrichter suchend. Hitze beim Uebergang über die Bramegg, Ausruhen am Walde. Oben Aussicht auf den Pilatus und den Rigi. Mittagessen in Schachen, Ausruhen im Grasgarten. Abends Fortsetzung der Fußreise über Malters, Platten, Littau nach Luzern. Die stumpige Trägerin, der ihr Tragkorb zu hoch war; das hilfreiche, schöne Mädchen von Wallis: der unterhaltsame Zinngießersjunge von Eschlismatt, der von seiner Reise ins Wallis mit seinem Oheim, dem Geiger, und von den reitenden Lawinen erzählte, auch unterwegs jedermann, besonders den betrunkenen Ratsherrn Dahm, bekannt anredete; angenehme Unterhaltung in dieser Gesellschaft. Zu Luzern Quartier im weißen Rößli.

2. Vormittags Gang auf den Leodegars-Kirchhof. Fahrt auf dem See nach Küßnacht mit zwei vermutlichen Künstlern, worunter ein Witzbold aus Bern; gewaltiger Regen auf der Fahrt, Frage des Schiffers an seinen Kameraden: ob es dahinten auch regne? Mittag in Küßnacht im Adler. Nachmittags, bei besserem Wetter, Gang durch die Hohle Gasse über Arth, wo wir einkehrten, den See entlang nach Zug. Quartier im Ochsen.

3. Morgens Nachricht vom Tod der Schwägerin Mine (Gattin des einzigen Bruders von Frau Uhland). Fahrt nach Zürich über den Albis. Ersteigung der Hochwacht, herrliche Uebersicht des vielumwohnten Zürchersees, die Gebirge noch verhüllt. Mittagessen im Albiswirtshause. In Zürich Quartier im Schwert. Gang auf die Post, wo ich Nosers (des Schwagers) Brief mit dem umständlichen Berichte vom Tode der Schwägerin antraf; erste Mitteilung dieser Nachricht an Emma, welche deshalb nach Hause drängte. Spaziergang zu Geßners Denkmal und auf die Katze, von da schöne Aussicht auf See und Gebirg bei Sonnenuntergang. An der Wirtstafel Fürst Esterhazy mit Familie.

4. Fahrt über Baden nach Zurzach. In Baden Ersteigung des alten Schlosses, Betrachtung desselben und der Gegend in Beziehung auf Johann von Schwaben (welchen Uhland dramatisch behandelte), die Nicolauskapelle. Auf dem Wege von Baden nach Zurzach Blick auf Königsfelden, Brugg, Windisch, Habsburg. Nachher Tägerfelden mit Burgtrümmer. Bei Zurzach Ueberfahrt nach Rheinen. Von da Extrapost nach Schaffhausen. Quartier in der Krone. Gang zum Rheinfall auf der Seite des Schlosses Laufen, schöner Abend; Betrachtung des Falles zuerst vom Gerüst, dann vom Häuschen aus, nachher Ueberfahrt und Rückweg auf der anderen Seite. Nachts Gewitter.

5. Theure Zeche. Fahrt mit Extrapost. Zuerst bei Regenwetter, über Tuttlingen bis Balingen. Auf der Tuttlinger Höhe Blick auf den Bodensee, auf Hohentwiel, Hohenhöwen usw. In Tuttlingen Mittagessen auf der Post, Besuch bei Beckh (Kaufmann, mit Uhland im Landtage). Zu Balingen Ankunft um 10 Uhr, Quartier in der alten Post.

Sonntag 6. Vormittags Fahrt mit Extrapost über Hechingen nach Tübingen. In Hechingen das neue Schloß, noch unausgebaut. Spaziergang um den Oesterberg mit den Eltern, Doktorin Weissers und ihre Kindern nach Lustnau, wohin der Onkel (Arzt) von Einsiedel her kam. Besuch bei Feuerlein.

7. Fahrt mit den Eltern zu Meyers (Pfarrer M., der Uhlands einzige Schwester zur Frau hatte) nach Pfullingen. Einkehr bei Pfarrer Hoffmann in Betzingen. Nach Tisch Spaziergang zur Papiermühle. Rückweg nach Reutlingen zu Fuß mit Meyer, Einkehr bei Hoferin. Rückfahrt nach Tübingen.

8. Vormittags Danksagungsvisiten bei Tante Uhland, Baurs, Knapps, Klotzin, Schützs, Onkel Christian, Faber. Nachmittags Fahrt nach Stuttgart. Einkehr in Echterdingen. Besuch bei der Großmutter und bei Rosers.

*      *      *

Das junge Paar war wieder zu Hause, in der behaglichen Wohnung in der damals noch so stillen, heute vom Lärm des Bahnhofs erstickten Kronenstraße. Uhlands Arbeitszimmer, erzählt die Biographin, ging in das Freie hinaus auf große Wiesen, an denen sich seine Augen ergötzten, und nachts freute er sich des großen Horizontes. Er hat es oft ausgesprochen – freut sich die Gattin berichten zu können –, wie wohl es ihm thue, daß er dem Wirtshausleben, zu dem ihn seine Verhältnisse genötigt hatten, entronnen sei. Auch daß er seine Eltern und die Freunde, die ihn so gastlich bei sich aufgenommen, Kerner, Mayer u. a., nun auch bei sich sehen konnte, machte ihm viele Freude. In abendlichen Zusammenkünften mit Albert Schott und Schwab nebst ihren Frauen wurde vorgelesen die Nibelungen, Hartmanns Armer Heinrich und anderes. Von eigener Poesie hat dieses Jahr 1820 nur eine Grabschrift auf die erwähnte junge Schwägerin aufzuweisen. Es ist aber doch bekannt, daß Uhland von der Schweiz nicht bloß empfangen hat: konnte er auch nicht so einzig groß wie sein Landsmann Schiller das Land des Tell für alle Zeiten verherrlichen – Uhlands Romanze „Tells Tod“ wird drinnen in den Alpen noch in fernen Jahrhunderten singen und sagen von des schwäbischen, des deutschen Dichters Liebe zu dem schönen, freien Schweizerland. J. Hartmann.     


[336]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

(Schluß.)


In einem Zimmer des vierten Stockwerkes in einem Miethause der Christianstraße zu Dresden saß Tante Emilie und wartete auf Aenne, die aus der Musikschule heimkommen mußte. Die alte Dame war heute noch ungeduldiger, als wenn sonst die fünfte Stunde schlug, denn der Postbote hatte ein kleines Paket abgegeben, und außerdem war ein Brief gekommen vom Doktor Lehmann aus Breitenfels. Aenne korrespondierte nämlich mit ihm ganz regelmäßig; jede Woche langte solch ein Schreiben an.

Ja, vier Jahre waren vergangen, seitdem Frau Rat ihrer einzigen Tochter die Erlaubnis zum „Wandeln“ ihrer eigenen Wege gleichsam aufgedrungen hatte, und wahrlich, leichte Wege waren es nicht gewesen. Die alte halsstarrige Frau in dem fernen Bergstädtchen ahnte gar nicht, wie sehr das Herz ihres Kindes sich um sie sorgte und bangte, wie es litt unter der stets verweigerten Annahme seines Besuches. Ein einziges Mal in all der Zeit war Aenne nach Breitenfels gereist, damals, als eine böse Influenza Frau Rat auf das Krankenlager geworfen, und da hatte Aenne sie gehegt und gepflegt mit dem Doktor um die Wette, hatte ihr jede mögliche Stärkung verschafft, hatte mit tausend guten Worten um ihre Gunst geworben; als aber die alte Frau wieder in ihrem Lehnstuhl am Fenster sitzen konnte, merkte Aenne, daß ihr noch nicht vergeben war, und sie reiste niedergeschlagen wieder nach Dresden, um in der Arbeit, in der Kunst, ihr Leid zu vergessen.

Mit dem Doktor hatte sie das Abkommen getroffen, von ihm wöchentlich über das Befinden der Mutter unterrichtet zu werden, und daß er gern an sie schrieb, dafür sprachen die herzlichen und doch respektvollen Briefe, in denen zwischen jeder Zeile die Versicherung zu lesen war, daß er sie nie vergessen werde trotz allem und allem. Geheiratet hatte er noch nicht, aber Aenne hoffte, daß er die kleine blonde Cousine, die jetzt Tochterstelle bei der Frau Rat vertrat und die ihn heimlich mit aller Inbrunst einer ersten Liebe im Herzen trug, doch noch heimführen werde. „Zureden darf man freilich nicht,“ hatte Aenne zu Tante Emilie gesagt, „ich habe es erfahren, was daraus entstehen kann. Laß nur, er kommt von selber zu dem Entschluß!“

„Er wartet ja doch noch immer auf dich,“ pflegte dann die alte Dame zu erwidern, „armer Mensch!“

Aenne wußte ja zur Genüge, was Warten heißt, Warten in Qual und Ungewißheit, ohne jede Nachricht, ohne Lebenszeichen von dem, auf den man wartet. Sie selbst wollte es so, sie hatte mit einem einzigen Wort eine Annäherung des geliebten Mannes abgelehnt, hatte den Mut gehabt, mit scharfem Messer in seine kranke Seele zu schneiden, damit sie gesunde.

„Ich kann mich nicht an Sie binden, Herr von Kerkow, ich bin selbst schwach und bedarf eines starken Armes, auf den ich mich stützen möchte. Es würde ein trostloses Wandern sein, wollte ich mich jetzt an Sie hängen. Aber, wenn Sie einst wiederkommen wollen als ein Mann der Arbeit, der auf eigenen Füßen steht, in welcher Stellung es auch sei, dann will ich Ihnen folgen. – Bis dahin leben Sie wohl!“

Und ohne ein Wort der Erwiderung hatte er sich daraufhin trotzig abgewandt. Sie begriff heute nicht mehr, wie sie damals so sprechen konnte, so klar, so kalt und entschieden. Sie wußte, es war ein va-banque-Spiel – alles oder nichts! – der letzte Versuch, den Mann aufzurütteln aus seiner Apathie. Ob es gelingen würde? Wer konnte das wissen! Es war gut, daß sie mit Arbeit förmlich überhäuft wurde, denn in jeder müßigen Stunde trat sein Bild vor ihre Augen, das Bild, wie er am Bette des toten Kindes die Arme nach ihr ausstreckte. „Wenn du mich zwingst, zu leben, so bleibe bei mir, Aenne!“

Da, da hatte sie jene Worte gesprochen. Sie wußte jetzt nur, daß er seinen Dienst aufgegeben hatte und hinausgezogen war in das Leben. Wohin? Keine Kunde war ihr gekommen, aber tief in ihrem Herzen, da lebte die Hoffnung. Und wunderbar, je längere Zeit verging, um so größer und leuchtender wuchsen ihr die Schwingen, um so seltener kamen die Stunden des Zweifels, um so bestimmter erwartete sie sein Kommen. Ein glänzendes Bühnenengagement hatte sie wiederum abgewiesen, in dem sicheren Gefühl, Heinz würde sie nicht gern auf den Brettern sehen. Es begriff sie niemand, sie gab sich auch keine Mühe, ihren Entschluß zu erklären. Sie unterrichtete, sie sang in Konzerten und Kirchen, immer von neuem alles begeisternd mit ihrer herrlichen Stimme, ihrer anmutigen Erscheinung. Sie war schlanker geworden und bleicher; sie lebte ja auch gar so wunderlich dahin mit der alten Tante droben im vierten Stock erzählten sich die Menschen. Besuche nahm sie nie an, und was sie nur zu erübrigen vermochte, schleppte sie auf die Sparkasse, sie war nahe daran, zu den Geizhälsen von Profession gezählt zu werden. Aber sie ließ sich gar nicht beirren, und wenn sie in ihrer einfachen weißen Seidenrobe auf dem Podium stand etwas anderes als weiße Seide trug sie nie – so jubelte ihr alles zu und bestürmte sie um eine „Zugabe“, und Aenne bewies, daß sie nicht geizig sei, sie sang drei, vier Lieder über das Programm hinaus.

Von dem Innenleben des Mädchens wußte aber auch Tante Emilie nichts. Sie glaubte, Aenne lebe nur ihrer Kunst und habe den unseligen Liebestraum mit dem ehemaligen Schloßhauptmann von Kerkow längst vergessen. Daß sich das Mädchen noch verheiraten werde, glaubte sie nicht. Warum sollte sie auch? Es war so behaglich hier, Aenne schien so glücklich in ihrem Beruf, und die kleine Häuslichkeit hielt sie, die Tante Emilie, so blitzblank und sauber – ihretwegen konnte es so fortgehen ohne Ende. Nur heute, heute war sie in Unruhe, denn der Brief des Doktors trug den Poststempel Berlin, eine schier unglaubliche Thatsache. Das Paketchen kümmerte die alte Dame nicht, jedenfalls ’mal wieder das Autographenalbum eines Backfischs.

Endlich wurde draußen die Korridorthür geöffnet und im nächsten Augenblick trat Aenne in das Zimmer, ein bißchen müde und abgespannt zwar, aber doch das alte liebe Lächeln um den Mund. „Guten Abend, Tantchen! Wie früh es jetzt schon dunkel wird, und ist erst Ende September!“ sagte sie. Und ein Päckchen Noten auf den dazu bestimmten Schrank legend, setzte sie hinzu: „Ist Nachricht da von Breitenfels?“

„Dort liegt der Brief vom Doktor, Kind, wundere dich nicht, er ist aus Berlin – was in aller Welt will der in Berlin?

Aenne machte verwunderte Augen, setzte sich aber erst recht behaglich in den Lehnstuhl am Fenster, vor welchem die Blumen der alten Dame im frischen Herbstwinde nickten, und nahm die Tasse Thee, die jene ihr brachte. „Ach, siehst du,“ sagte sie herzlich, die runzlige Hand streichelnd, „das ist die schönste Stunde des Tages, so wohlig und traulich, und heute brauche ich nicht ’mal wieder fortzugehen, Tantchen, denn die Konzertprobe im Gewerbhaussaal fällt aus, ich darf nach Herzenslust faulenzen. Aber nun zeig’ ’mal den Brief von unserm Freund her – wahrhaftig, aus Berlin! Und das Paket? Ach, was wird in dem Paket sein – natürlich ein Album, in dem ich mich verewigen soll! Uebrigens, Tantchen, denke dir, Fräulein Hochleitner hat sich in New York verheiratet, mir erzählte es eben eine frühere Schülerin von ihr. Nun aber, was will der Herr Doktor? Dann las sie den Brief still für sich.

„Meine liebe, sehr verehrte Freundin!

Wie kommt denn der nach Berlin? werden Sie sagen, wenn Sie droben in der Ecke den Namen der Reichshauptstadt lesen. Ja, das raten Sie nur ’mal! Des Landes bin ich nicht verwiesen, auf die Brautfahrt habe ich mich auch nicht begeben, denn das bekannte Citat: ‚Willst du immer weiter schweifen etc.?‘ scheint ganz extra für mich erfunden zu sein. Ich könnte Ihnen nun vorlügen, daß der Kaiser mich zu allerhöchst seinem Leibarzt ernannt habe, oder daß ich von einem hiesigen Millionenonkel als Reisedoktor engagiert worden bin, fürchte aber, Fräulein Aennes klare Augen würden finster blicken, und sie sagte dann zu sich selbst ,Er kann doch die Faxen nicht lassen, Gott weiß, was dahinter steckt!’

Drum also heraus mit der Wahrheit, das heißt – erst zur Hauptsache! Mein Rapport über das Befinden Ihrer Frau Mutter war bereits vorgestern fällig, mich hielten indes allerlei Reisevorbereitungen vom Schreiben ab, und außerdem nahm

[337]

In der Seemannsschenke an Hamburgs „Wasserkant“.
Nach einer Originalzeichnung von E. Limmer.

[338] Frau Rat ein so eminentes Interesse an meiner Ausfahrt, daß sie mir faktisch die Zeit nicht gönnte, an Sie, Fräulein Aenne, zu schreiben. Und nun zu des Pudels Kern! Ihre Frau Mutter befindet sich gut, und es sollte mich nicht wundern, wenn sie eines Tages urplötzlich in leibhaftiger Person in dem Stübchen meiner lieben Freundin erschiene, um – – Ja, nun werden Sie ungläubig lächeln. Aber sehen Sie, Fräulein Aenne, Ihre verehrte Frau Mutter glaubt mir ganz einfach nicht, daß ich nach Berlin reise. Sie denkt – das geht aus ihrem ganzen Benehmen hervor – sie denkt: Gelt, der Doktor reist nach Dresden und holt sich die Braut, als welche Sie gemeint sind. Diese fixe Idee ist chronisch bei ihr, und nichts dagegen zu thun. Ich vermute, sie ist mit allerhand Schlichen hinter unsern harmlosen Briefwechsel gekommen, und ihre Kombinationen gelten ihr als Thatsachen.

Ja, Fräulein Aenne, es ist zum Lachen, wenn ich aber mitlachen soll, so kann ich’s nicht hindern, daß ich dabei eine Grimasse schneide, wie die Kinder es thun, die das Weinen unterdrücken wollen. Jedenfalls wissen wir beide, daß Mutter May sich irrt, ich darf wohl sagen – leider irrt, aber eines anderen zu überzeugen war sie partout nicht. Sie ließ sich ganz genau von mir beschreiben, wie man es macht, um nach Dresden zu gelangen, und ich wette, die eilige Citation der Schneiderin hing mit diesem ihrem Phantasiegespinst aufs engste zusammen. Also halten Sie sich bereit, einen abermaligen Sturm der Enttäuschung à conto meiner Reise über sich hinbrausen zu lassen.

Ich bin unschuldig diesmal; ich bin nach Berlin gereist, um in der Charité eine neue, höchst interessante Heilmethode der Diphtherie kennenzulernen und zugleich mir das neue Krankenheim eines Kollegen in Charlottenburg anzusehen, nach dessen Muster ich das meinige in Breitenfels bauen will. Ja, Fräulein Aenne, ich habe die Idee der Anlage einer Kinderheilanstalt aufgegeben, um mich der Nervenheilkunde zuzuwenden, und eine Klinik für Nervenkranke soll es werden.

Steht dieses Haus, dann führe ich auch die Braut heim. Ihnen will ich es anvertrauen – sie ist ein vernünftiges, gutes, kleines Mädchen, ist Ihre Cousine, und was dann ja doch die Hauptsache, sie will mich, so verwunderlich es auch bleibt! Wir beabsichtigen keine lange Verlobung, schon deshalb, um nicht Ihre Frau Mutter zu irritieren und um das Gerede der Leute zu vermeiden, die sich die geehrten Mäuler zerreden würden über das Brautpaar unter einem Dach. Zu Ostern mag dann die Bombe platzen, das heißt, mögen die Verlobungsanzeigen in die Welt gehen, dann am nächsten Sonntag die Verkündigung von der Kanzel, drei Wochen später die Hochzeit! Aber seien Sie nicht böse, Sie lade ich nicht ein, Aenne!

Nun aber habe ich ordentlich gebeichtet, liebe Freundin. Leben Sie wohl! Mein Weg fuhrt mich zwar an Dresdens Nähe vorbei, aber – ich habe wenig Zeit übrig, und dann, nun den anderen Grund kennen Sie – das Herz thut mir immer noch ein wenig weh in Ihrer Nähe.

Leben Sie wohl! Ich wünsche, ich hörte einmal von Ihnen, daß Sie glücklich geworden sind – Sie wissen, was ich meine.

Immer Ihr treu ergebener     
Dr. Lehmann.“          

Die alte Dame hatte, während Aenne las, Hut und Mantel angelegt, ein Körbchen an den Arm genommen und wartete nur noch auf Mitteilung über den Inhalt des Schreibens, bevor sie ging, für den morgenden Tag einzukaufen.

Aenne sah sie freundlich an. „Mutter ist wohlauf,“ sagte sie, „und er ist studienhalber auf ein paar Tage nach Berlin gereist.

„Kommt er nicht ’mal hierher?“ fragte Tante Emilie.

„Nein, Tante, er hat keine Zeit. Willst du jetzt gehen? Ich hätte dich gern begleitet, aber ich bin ein wenig müde, und wenn auch die Probe ausfällt, durchsingen möchte ich meine Partie doch noch einmal.

„Nun, dann auf Wiedersehen“ nickte die alte Frau. Damit trippelte sie hinaus, und nun war Aenne allein. Sie hielt den Brief des jungen Arztes noch in der Hand, aber ihr Kopf ruhte an dem Polster des hohen altmodische Lehnstuhles, und ihr Blick schweifte über Dächer und Baumgipfel fort bis zu den fernen Höhenzügen, die im Duft des sinkenden Abends verschwammen. Sie seufzte und schüttelte unmerklich den Kopf, seit ein paar Tagen quälten sie plötzlich Zweifel und bange Ahnungen. Wenn ihm bis jetzt nichts gelang, gelingt’s wohl nimmermehr – sie hätte ihn doch nicht ohne eine Hoffnung auf die Zukunft hinausgehen lassen sollen – –!

Wenn sonst dieser quälende Gedanke kam, dann hatte sie ihn noch immer mit dem alten frischen Mut in die Flucht geschlagen, heute wollte ihr das nicht mehr gelingen. Herrgott, innerhalb vier Jahren kein Lebenszeichen! Wenn jemand das wüßte, er würde sie belächeln ob ihres standhaften Wartens. Aber, wachsen denn auch Aemter und Anstellungen gleich Pilzen im Walde für jemand, der sich die nötigen Vorkenntnisse erst erringen muß, und sei es für das geringste Metier, sei es für ein Handwerk?

Nein! Nein! Und nun fing sie wieder an zu überlegen, an welche Küste der Sturm des Schicksals ihn wohl verschlagen haben mochte. Ach, vielleicht war er untergegangen, hatte es nicht vermocht, mit seinen schwachen Kräften das Boot zu steuern? Dann lächelte sie – ach, der Heinz Kerkow, einer von denen, die nur zu wollen brauchen, um ein Ziel zu erreichen, der nur nötig gehabt hatte, wieder wollen zu lernen, der ging nicht unter, der nicht, trotz allem und allem! Und wenn ihn weiter nichts aufrecht hielt, sein trotziges Herz hielt ihn über Wasser! Sie wußte, daß er ihr beweisen würde, kein Feigling, kein Schwächling zu sein. Und während sie dieses dachte, mit Wangen, die tief gerötet waren vor innerer Erregung, hatten ihre Finger den Bindfaden des kleinen Paketes angeknüpft, das graue Papier entfernt, und nun nahm sie aus seiner weißer Umhüllung ein Buch heraus. Auf dem einfachen braunen Kalikoband stand mit großen goldenen Buchstaben quer über dem Vorderdeckel:

„Im Kampf um das Lebensglück“.

Sie hob das Buch näher empor, schlug es auf und las das Titelblatt „Im Kampf um das Lebensglück“. Wahrheitsgetreue Skizzen von einem Schiffbrüchigen. Zehntes Tausend.

Wer schickte ihr denn das Buch mit dem seltsamen Titel? Sie wandte ein zweites Blatt um, und plötzlich stand das Herz ihr still vor großem freudigen Schreck.

Verse! Die alte energische Handschrift, die sie aus den wenigen Zeilen die er einst an sie geschrieben, genau, ach so genau kannte! Sie war aufgesprungen in mächtiger Erregung, sie blickte in ihrem Stübchen umher, als könnte sie es nicht fassen, und dann sank sie wieder zurück in den Stuhl und versuchte zu lesen. Aber die Hände zitterten ihr so, daß sie das Buch nicht zu halten vermochte, sie legte es auf die Fensterbank und beugte sich tief auf die Blätter und im letzten Tagesschein las sie mit überströmenden Augen ….

Aennes Kopf lag plötzlich auf dem Buche, sie weinte, weinte seit langer Zeit zum erstenmal wieder – vor Glück. Dann saß sie, das Buch an sich gepreßt, und ließ die Dunkelheit ihr heißes Gesicht verschleiern. Diese Stunde wog alle die langen traurigen Jahre des Wartens auf, in ihrem Ueberschwang von Hoffnung und Seligkeit. Sie dachte nicht darüber nach, was aus ihm geworden. Sie fragte nicht. wann kommt er? Sie war wie berauscht.

Tante Emilie fand sie noch im Dunklen. „Aber, Kind, was soll denn das heißen?“

Und dann beleuchtete die herbeigeholte Lampe ein erglühendes Gesicht und Augen, die in einem Schimmer erstrahlten, wie die alte Frau sie nur einmal gesehen vor Jahren, damals als Aenne auf den Schloßball ging, kurz bevor s.ie sich mit Günther so Hals über Kopf verlobte.

„Kind,“ fragte die Tante, „ist dir denn etwas geschehen? Aber Aenne schüttelte den Kopf. „Nichts, Tante nur gelesen habe ich etwas und muß auch weiter lesen.“

Und sie setzte sich zum Tisch und fuhr fort in der Lektüre des Buches, und als Tante Emilie doch zum Abendessen mahnte, wurde das Mädchen zum erstenmal in ihrem Leben ungeduldig. Die alte Frau zog es ganz gekränkt vor, ihr Schlafzimmerchen aufzusuchen und die lesetolle, unbegreifliche Aenne allein zu lassen.

Und das Mädchen las und las. Es waren Schilderungen aus Heinz’ eigenem Leben, aus denen Aenne mit pochendem Herzen erfuhr, daß er gleich ihr in der Kunst den verlorenen Herzensfrieden wieder zu finden gesucht hatte. Und wie frühzeitig, schon in Breitenfels hatte er den Grund zu seinem jetzigen Erfolge gelegt! Wie unrecht, wie bitter unrecht hatte sie ihm [339] damals gethan, als sie dem Schwergeprüften gesagt hatte, er solle zu ihr wiederkommen als ein Mann der Arbeit! Er war ein solcher aus eigener Kraft schon gewesen ehe ihn das seelische Siechtum befiel. Aber sie konnte die Thränen trocknen, denn was nun folgte, war die Schilderung eines rüstigen und erfolgreichen Schaffens. Da Heinz der Liebe, die sein Glück bedeutete, sicher war, arbeitete er mit Lust und Freude, und es gelang ihm dann auch, in der Redaktion einer angesehenen Zeitschrift eine sichere und geachtete Lebensstellung zu erringen. Nun stand er auf eigenen Füßen und jetzt wollte er kommen, sie zu fragen, ob sie ihm nun folgen wolle.

Es war in der ersten Morgendämmerung, als Aenne vor Tante Emiliens Bett stand und mit blassem Gesicht und leuchtenden Augen sagte: „Heute mußt du früher aufstehen, Tantchen, heute kommt mein Bräutigam!“

Die gute alte Seele fuhr ganz verstört empor, sie dachte, das Mädchen phantasiere. „Kind! Ach, du Barmherziger, ich hab’ dir’s ja schon gestern angesehen, als du aus dem Konservatorium kamst!“

Da erzählte ihr Aenne die Geschichte des kleinen Pakets und Tante Emilie mußte nun glauben, obgleich ihr’s schier unglaublich dünkte. Und wie rasch konnte sie aus den Federn kommen, wie eifrig fragte und mutmaßte sie jetzt! Aber Aenne antwortete kaum, nur ihre Blicke baten: Laß mich, ich bin zu glücklich, als daß ich reden könnte! Sie hatte im Konservatorium melden lassen, daß sie heute nicht unterrichten könne, den ganzen Tag nicht dann hatte sie Toilette gemacht.

„Weißt du denn eigentlich, wann er kommt?“ erkundigte sich Tante Emilie.

„Nein!“ betonte das Mädchen ruhig.

Die alte Dame wurde ärgerlich. „Und so ins Unbestimmte hinein alle diese Geschichten? Wenn er nun gar nicht kommt?“

„Er kommt“, antwortete sie, und Tante Emilie ging kopfschüttelnd auf den Markt, um noch einiges für das Mittagsessen zu besorgen. Als sie zurückkehrte und mit einem großen Strauß Chrysanthemen in das Zimmerchen trat, ließ sie die Blumen in freudigem Schreck fallen. Mitten im Zimmer stand ein großer schlanker Mann und hielt Aenne umfaßt, und deren Kopf lag an seiner Brust.

Er war gekommen!


Im Hause der Frau Rat herrschte schreckliche Aufregung, es ist auch keine Kleinigkeit, wenn man verreisen will, ohne je über das Weichbild des Städtchens hinausgekommen zu sein. Gar kein Wunder, daß die Vorbereitungen einige Tage dauerten und daß Frau Rat in ihrer nervösen Gereiztheit zu spät einzutreffen fürchtete zur Verlobung.

Lieschen Weidner ging mit rotgeweinten Augen umher, denn Frau Rat hatte mit solch furchtbarer Bestimmtheit von der Verlobung des Doktors mit Aenne gesprochen, daß sie an der Treue ihres heimlich Verlobten zu zweifeln begann, um so mehr, als er ihr noch nicht geschrieben hatte.

Und nun war der mächtige Reisekorb gepackt, morgen in aller Frühe sollte sie beginnen, die Fahrt. Lieschen Weidner hatte eine Menge Wurst, Schinken und Büchsen mit eingekochten Früchten eingepackt in solcher Hungerwirtschaft wie die der beiden Frauen in Dresden würde der Doktor sich nicht wohl fühlen, behauptete Frau Rat; wollte Gott, die Reise wäre nur erst überstanden!

Die alte Dame saß in der Sofaecke, und um sie her auf allen Stühlen und Tischen lagen Gegenstände bereit für morgen. Kapuze, Fußsack, Körbchen und Taschen verschiedene Inhalts, ein Plaid, in welchem eine Flasche Rotwein eingeschnallt war, sorgsam in Zeitungspapier eingewickelt Regen- und Sonnenschirm, es schien, als ob die alte Dame ein ganzes Jahr ins Ausland reisen wollte.

Das Dienstmädchen und Lieschen Weidner bekamen eben noch die letzten Befehle, besonders was die Einrichtung des Zimmers anbetraf, in dem Aenne wohnen sollte. Diese wollte die Mutter gleich mitbringen, denn ein verlobtes Frauenzimmer gehöre ins Haus. Das kleine blonde, sonst so rosige Lieschen stand bleich am Ofen und hörte zu. In ihrer Demut glaubte sie der imponierenden Ueberzeugungstreue der Frau Rat und hielt den Kuß und die wenigen Liebesworte des Doktors für eitel Falschheit und Betrug.

Aber da fuhr sie plötzlich zusammen, wie Flammen schlug es über ihr Antlitz und mit zwei Sprüngen war sie aus der Stubenthür, dieselbe weit auflassend – draußen war ein Schritt erklungen, ein Schritt – so ging nur einer! Dann lehnte sie wankend in dem Rahmen der Thür, denn da stand neben ihm eine schlanke Dame, Aenne May in eigenster Person, und an ihr vorüber eilte sie ins Zimmer mit dem Ausruf: „Mutter, liebe Mutter! Also doch!“

Aber da kam er lachend herüber, und ohne weiteres das bebende Mädchen an sich ziehend, rief er der Frau Rat zu, um deren Hals Aenne die Arme geschlungen hatte: Nun, Frau Rat, ist der stolze Augenblick gekommen, wo Sie ’segnen’ können, aber bitte, mich und meine kleine Braut gleich mit, denn mit Ihrer gütigen Erlaubnis will Lieschen Weidner meine Frau werden.

Frau Rat saß starr und steif, in ihrem Kopfe drehte sich alles, sie hörte nur noch, daß Aenne flüsterte: „Aus deinem Hause, aus unserer alten lieben Heimat soll er mich holen. Aber die alte Dame fand nicht die Kraft zu fragen „Wer denn?“ – „Bin ich denn wahnsinnig geworden?“ stieß sie hervor. „Da steht er ja und hat die andere im Arm!“

Und dann trat in ihren Gesichtskreis eine fremde und doch so bekannte Erscheinung, ein großer, schlanker Mann, auf dessen ernsten Zügen ein ganz jugendliches, glückliches Lächeln lag.

Wer war denn der – sie kannte ihn doch? Heinz Kerkow – großer Gott, und – doch nicht! Der Mann war ja weiß an den Schläfen! Und den wollte Aenne – – Das also war der, auf den sie gewartet hatte? Sie versuchte aufzustehen und wehrte Aennes Umarmung, aber da traf sie ein Blick, der in Thränen schimmernde Blick ihres Kindes. Sie sank zurück, und nun trat er näher und küßte die Hand der alten Frau.

„Darf meine Braut hier bleiben, bis ich sie in mein Heim führen kann?“ fragte er.

„Ich muß erst ein Wort mit Ihnen reden, Herr von Kerkow“, scholl es verzweifelt zurück. „Aenne hat nichts, gar nichts, und das ewige Arbeiten hält sie nicht aus!“

Aenne lachte plötzlich laut und herzlich. „O du thörichtes Mütterchen!“ rief sie, „er will mich ja gar nicht arbeiten lassen, wiewohl ich’s so gern thäte! Nichts weiter soll ich sein wie seine Frau, wie du es immer gewünscht hast für mich, und wenn ich singe, soll’s nur noch zu meinem und seinem speziellen Vergnügen sein.

Frau Rat fragte nicht mehr, sie begann langsam Mut zu fassen. Er sah so fein aus, so vornehm – der hatte sicher geerbt! Und sie küßte feierlich ihre Tochter auf die Stirn und that einen tiefen Seufzer der Erlösung – – gottlob, daß sie nicht zu reisen brauchte! – Die Emilie, die da so still an der Thür stehen geblieben war und der die Rührungsthränen über das Gesicht liefen, die würde es wohl wissen, die wollte sie ordentlich ausfragen nachher. Den Doktor aber, den hielt sie am Aermel fest, just als er mit der kleinen seligen Braut hinaus wollte. „Warten Sie nur – mich so anzuführen! Die ganze Geschichte haben Sie ins Werk gesetzt.“

„Weiß Gott, nicht!“ verteidigte er sich, „ich erblickte die Herrschaften ganz zufällig auf der Bahn in Halle, wo der Dresdner und der Berliner Zug sich treffen.

Sie blickte noch immer unzufrieden.

„Schwiegermama,“ bat er, „seien Sie gut! Sie müssen sich mit uns vertragen, denn wenn Fräulein Aenne in ein paar Woche hinauszieht nach der neuen Heimat, dem großen Berlin entgegen, dann haben Sie nur noch uns, auf die Sie recht nach Herzenslust böse sein können, denn Tante ist feierlich invitiert, die junge Häuslichkeit verschönen zu helfen.

Na, das fehlte noch! dachte die Rätin, wenn eine mitgeht, bin ich das! Und laut sagte sie.

„Nach Berlin? Kauft euch doch hier an!“ wandte sie sich an Kerkow, „Sie hätten doch überhaupt hier bleiben können, die schöne Wohnung da droben, und gar nicht viel zu thun!

„Das erlaubt mein Beruf nicht, liebe Mutter, aber in jedem Sommer kommen wir, und da hole ich mir frische Kräfte zu meiner Arbeit.“

„So?“ fragte die alte Dame enttäuscht, „arbeiten thun Sie?“

„Ja, gottlob!“ sagte er stolz und zog Aenne an seine Seite, „ich kann arbeiten.“


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Blätter und Blüten.

Stare in der Minnezeit. (Zu dem Bilde S. 325.) Lust und Freude weckt der Frühling auch in dem kleinen Vogelherzen, das nun von Liebessehnsucht erfüllt wird. Im schönsten Kleide prangt da das Männchen und die schönsten Lieder dringen aus seiner Kehle. Da wird sich geputzt, in die Brust geworfen, im Drehen, Wenden, in gravitätischem Gang auf den dickeren Baumästen, im Flügelschlag und Komplementieren bemerkbar gemacht, da wird geschwatzt und manche Stelle klassischer Vogelgesänge angedeutet. Das eine Männchen sucht das andere zu überbieten, und gelingt es nicht mit der Stimme, so macht vielleicht ein behagliches Wiegen im Sonnenschein mit ausgebreitetem Gefieder, gleichsam ein Luft- und Sonnenbad, einen reizenden Eindruck auf das stille, blassere Weibchen. Im vorteilhaften Lichte entfaltet sich ja der Liebreiz, die eigentliche Schönheit erst ganz. Da stechen die helleren Fleckchen aus dunklerem Grunde vorteilhaft ab, und das Gefieder schillert in Grün und Purpur, während die silberstrahlenden Federspitzen gar schön hervortreten. Die Eifersucht, womit sich die Männchen befehden, spielt aber auch eine Rolle, namentlich das Kämpfen um den Besitz der Nisthöhle. Ein Nachbarmännchen schlüpft in den Kasten. Pfeilschnell schießt der rechtmäßige Besitzer daher und hinter ihm drein in die Tiefe des Kastens. Ein wütender Kampf entspinnt sich da unter großem Gepolter. Endlich erscheint von innen ein Starenschnabel, langsam schiebt der Kopf sich nach, mühsam der ganze Körper, und nur das linke Bein wird drinnen noch festgehalten, so daß der Vogel schwebend am Loch hängt. Endlich reißt er sich los, und hoch in die Luft wirbelt der Mißhandelte. Der Sieger aber schlüpft bedächtig hervor, schüttelt den Staub von den Füßen, ordnet das Gefieder und schwebt zurück zu dem Weibchen das in der Nähe zugesehen und stolz ist auf die Vorzüge seines Ritters.

Das Gildenhaus in Dortmund. (Mit Abbildung.) Dortmund, die ansehnlichste Stadt Westfalens, ist heute als Mittelpunkt eines bedeutenden Bergbaues weltbekannt. Sie zählt zu den ältesten Städten des Landes, denn sie wird schon zu Anfang des zehnten Jahrhunderts genannt. Später hielten hier verschiedene Kaiser ihre Hoftage ab und dann war Dortmund eine Freie Reichs- und wehrhafte Hauptstadt, so stark befestigt, daß das Sprichwort entstand. „So fast as Dürtem“. Aus jener alten Glanzzeit sind noch verschiedene Erinnerungen erhalten, und in der Neuzeit entstand der Wunsch, die alten Bauten aus früheren Jahrhunderten wiederherzustellen. Ein hochinteressantes Bauwerk ist das Gildenhaus, das, im 15. Jahrhundert im gotischen Stil errichtet, Kauf- und Versammlungszwecken gedient hat. Das Haus ist Eigentum des Weingutsbesitzers F. Wenigheimer in Bingen und wurde im vorigen Jahre unter Beihilfe der Provinz Westfalen und der Stadt Dortmund wiederhergestellt. Damit wurde für die Stadt ein eigenartiger Schmuck geschaffen. Die obenstehende Abbildung führt uns das renovierte Bauwerk vor, und zwar nach einer Vorlage, die wir dem interessanten Werke Fr. Kullrichs „Bau- und Kunstgeschichtliches aus Dortmunds Vergangenheit.“ (Verlag von H. Hornung, Dortmund) entlehnt haben. Im Giebel des Gildenhauses erblicken wir die Sandsteinfigur des heiligen Reinhold, des Schutzpatrons von Dortmund. Die unteren Fenster der Frontseite sind mit den Wappen Westfalens und der Stadt Dortmund geschmückt. Das Innere des Hauses, namentlich der geräumige Saal mit seiner schönen Galerie, ist mit verschiedenen altertümlichen Geräten ausgestattet. An der Eingangsseite des Saales stehen zwei Holzfiguren, die Kaiser Karl IV. und seine Gemahlin darstellen. An der linken Wand desselben Raumes befindet sich noch ein Reiterstandbild des heiligen Reinhold, das aus einem Eichenblock geschnitten ist und aus dem 15. Jahrhundert stammt. *      

Das Gildenhaus zu Dortmund.

Wo ist die Mutter? (Zu dem Bilde S. 329) Verstecken und Suchen ist eins der freudigsten Kinderspiele. Es erfordert keine besonderen Vorkenntnisse und der Sinn dafür erwacht recht frühzeitig in den kleinen Erdenbürgern. Das beweist der Erstgeborene der jungen Mutter auf unserem Bilde, der es schon bei seinen ersten Gehversuchen im Freien auszuüben versteht. Er ist mit Leib und Seele dabei, wie schwierig für ihn das ungewohnte Terrain des Parkrasens auch sein mag. Größer als seine Freude ist aber in diesem Augenblicke die der jungen Mutter. So sonnig, so freudig ist ihr noch kein Maientag erschienen wie dieser, den ihr blühendes Kind verherrlicht. *      

In der Seemannsschenke an Hamburgs „Wasserkant“. (Zu dem Bilde S. 337) Unser Bild führt eine gemütliche Schenke an Hamburgs „Wasserkant“ vor, für deren starken Besuch seit einer Reihe von Menschengeschlechtern die Schätze aus fernen Breiten zeugen, mit denen Wände und Decke geschmückt sind, größtenteils Spenden dankbarer Stammgäste. Hier verkehren Männer aller Grade der seemännischen Stufenleiter. Der Herr in bequemer bürgerlicher Kleidung, der am Tische links im Vordergrunde unseres Bildes sitzt, dürfte der Schiffer selbst sein. Ihm zur Seite der Steuermann mit der weiß-dunkelblauen Mütze erteilt seine Weisungen wegen des „Löschens“ (Entladen des Schiffes) einem ’Ewerführer’, dem Manne mit offener Weste in Hemdsärmeln. Zur Rechten läßt sich der Obermaschinist, das Holzpfeifchen mit „Shag“ oder „Birds Eye“ gefüllt im Munde, vom bisherigen „Jungmann“ (Leichtmatrose) erzählen, daß dieser nunmehr Vollmatrose geworden sei und bald zur Navigationsschule gehen werde, um sich auf die Steuermannsprüfung vorzubereiten, er ist ’betuchter’ Leute Kind, dem die Mittel das gestatten. In der Ecke gegenüber sitzen zwei „Offiziere vorn“, Bootsmann und Zimmermann, umgeben von jungem Volk, dem sie wohl soeben ein Garn gesponnen haben vom Klabautermann und Fliegendem Holländer. Gegenwärtig lauschen sie den Tönen des „Matrosenklaviers“, der Handharmonika, die der greise, halbblinde Jan spielt. An der anderen Seite vor der weißen Blechbüchse mit dem roten Kreuz, zur Aufnahme von Gaben für die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger bestimmt, erzählt der alte frühere Kapitän, der jetzt, wie man in Hamburg sagt, „sein Geld lebt“, von den lohnenderen Frachten und der besseren Stellung des Schiffsführers zu vergangenen Zeiten, und der Lotse mit der Seemannsmütze legt gleichfalls dar, daß es ehedem besser war als jetzt. Der Schiffsmakler zwischen den beiden wirft dann wohl dazwischen, daß die Schiffahrt selbst zum Glück jetzt wieder aufblühe. Daraufhin läßt er auch wohl eine frische Runde kommen für alle Mann, und man stößt an auf das Gedeihen der deutschen Schiffahrt mit seemännischem „Hip, hip, Hurra!“ G. K.      

Kloster bei Spalato. (Zu unserer Kunstbeilage.) Reich an landschaftlichen Schönheiten ist das Küstenland Dalmatien. Das wilde Karstgebirge tritt hier unmittelbar an die buchtenreiche, mit Inseln umkränzte Küste, und die immergrünen Gewächse, die Berg und Thal schmücken, tragen schon südliches Gepräge. Urwüchsig und originell sind die Menschen, die an diesem Küstensaum wohnen: verschiedenen Nationalitäten angehörend, gehen sie einher in ihren bunten Trachten und verraten dem Wanderer, daß er die Schwelle des Orients erreicht hat. Besonders merkwürdig ist aber Dalmatien durch seine Bauwerke. Es ist dicht mit Ruinen besät, die Zeugnis davon ablegen, daß in diesem Lande einst ein regeres und reicheres Leben geherrscht hat. Da stehen noch gewaltige Ueberreste glanzvoller Tempel, Theater und Paläste, die von römischen Cäsaren in den Städten an dalmatinischer Küste errichtet wurden, während andere Bauten aus der Glanzzeit Venedigs stammen. Viele von ihnen sind für immer verlassen worden und verwittern langsam in Sonnenbrand und Wind und Wetter, in anderen haben sich Menschen angesiedelt und vielfach sind heidnische Tempel zu Klöstern und Kirchen umgebaut worden. Wie eigenartig diese wunderbaren Bauten, im Schmucke dunkler Cypressen und von blühendem Distelgestrüpp umrankt, dem Auge des Beschauers erscheinen, zeigt das treffliche Stimmungsbild P. Reiffensteins, das uns ein Kloster bei der durch römische Ruinen berühmten Stadt Spalato am steilen Absturz des Karstgebirges vorführt. *      


manicula0 Hierzu Kunstbeilage XI: „Kloster bei Spalato.“ Von P. Reiffenstein.


Inhalt: Die Hexe von Glaustädt. Roman von Ernst Eckstein. S. 325. – Stare in der Minnezeit. Bild. S. 325. – Wo ist die Mutter? Bild. S. 329. – Ein neues Mittel gegen Insektenstiche. Von M. Hagenau. S. 330. – Aus Uhlands neuerschlossenen Tagebuch. Die Hochzeitsreise im Sommer 1820. Mitgeteilt von J. Hartmann. S. 331. – Im Hausgarten. Bild. S. 333. – Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg (Schluß). S. 336. – In der Seemannsschenke an Hamburgs „Wasserkant“. Bild. S. 337. – Blätter und Blüten: Stare in der Minnezeit. S. 340. (Zu dem Bilde S. 325.) – Das Gildenhaus zu Dortmund. (Mit Abbildung.) S. 340. – Wo ist die Mutter? S. 340. (Zu dem Bilde S. 329.) – In der Seemannsschenke an Hamburgs „Wasserkant“. S. 340. (Zu dem Bilde S. 337.) – Kloster bei Spalato. S. 340. (Zu unserer Kunstbeilage.)



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schwabe