Die Gartenlaube (1897)/Heft 33

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 33.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(2. Fortsetzung)

7.

Meine verehrteste Frau – mein Fräulein – Sie gestatten – eigentlich müßt’ ich mich Ihnen erst wieder regelrecht vorstellen. Ich darf gar nicht hoffen, daß Sie sich nach so langer Zeit meiner noch erinnern. Mein Gewissen schlägt mich förmlich.“

„Aber bitte, Herr Thomas!“ Mit ihrer blassen, leicht zitternden Hand wies Frau Wasenius auf den Stuhl ihr gegenüber. „Es lag ja in all dieser Zeit nicht die geringste Veranlassung für einen Besuch bei uns vor.“

„Keine offizielle, nein, das ist wahr. Der geschäftlichen Angelegenheiten wegen hätt’ ich wohl nicht herzukommen brauchen, die ließen sich ja durch die Post erledigen. Aber es hätte mir auch nicht geschadet, wenn ich mich von Zeit zu Zeit ein bißchen nach der Frau meines verehrten Lehrers umgesehen hätte. Rein menschlich. Meines Lieblingslehrers. Was aber nicht bedeutet, daß ich auch sein Lieblingsschüler gewesen wäre. Ich war ein ziemlich rüder Bengel, durchaus kein Lernkopf. Aber das meiste von dem, was ich weiß, verdank’ ich doch schließlich ihm; wenigstens ist vieles in späteren Zeiten aus allen möglichen Winkeln meines Gehirns hervorgeschossen gekommen, was seinen Stempel trägt. Etwas Dankbarkeit hätte mich also nicht schlecht gekleidet. Aber – man kommt ja zu nichts. Das hat man von dem Segen. Die Geschäfte wachsen, aber nicht die Zeit, sie unterzukriegen. Aus meinen Büchern seh’ ich, daß ich wahrhaftig vor fünf Jahren zum letztenmal hier im Hause gewesen bin. Damals nach dem schrecklichen Todesfall. Bis dahin war ja der Herr Doktor meistens zu mir ins Bureau gekommen, wenn etwas zu besprechen war. Also, meine verehrteste Frau –“

Hanna war überrascht.

So hatte sie den Herrn Bankier gar nicht in der Erinnerung gehabt. Freilich war ihre letzte Begegnung auch nur sehr flüchtig gewesen. Sie war just nach Hause gekommen, als er sich zum Gehen anschickte. Seine früheren vereinzelten Besuche, die in ihre Backfisch- und Kinderjahre zurückreichten, hatten noch weniger Eindruck hinterlassen. Aber sie erinnerte sich wohl, daß der Vater ihn gern gehabt hatte, obwohl er als Schüler nicht übertrieben mustergültig gewesen war. „Schadet nichts,“ hatte der alte Herr gesagt. „Er soll ja auch nicht Professor werden. Für einen Kaufmann weiß er genug und der Kern ist gut.“ Sie hatte in diesen fünf Jahren beinahe vergessen, wie er aussah. Nun saß sie neben der Mutter und betrachtete erstaunt diesen elegant gekleideten Mann, der mit seinen lebhaften braunen Augen

In der Beerenzeit.
Nach einem Gemälde von O. Beggrow-Hartmann.

[550] seinem flotten schwarzen Schnauz- und Knebelbart unter der kühn geschwungenen Nase, mit seiner fröhlichen, etwas geräuschvollen, aber nicht unangenehmen Stimme so ganz und gar nichts vom Geldmenschen an sich trug. Seine Hautfarbe erschien ihr sehr dunkel, aber vielleicht nur im Gegensatz zu der manchmal fast durchsichtigen Blässe in Rettenbachers Gesicht. Auch entsprach ja der bräunliche Ton dem schwarzen Bart- und Haupthaar des einen so gut, wie die lichte Färbung dem Blond des anderen. Und nur die Vertrautheit mit dem immer etwas gedämpften, weichen Klang in Arnolds Stimme ließ ihr wohl das Organ des Fremden verwunderlich laut erscheinen.

Man war schnell zur Sache gekommen.

Mit weltmännischer Gewandtheit hatte Herr Thomas die befangene Scheu der kranken Frau, die vor allem Neuen zuerst ängstlich in sich zusammenkroch, überwunden. Die zu Grunde gegangene Fabrik war als verlorenes Terrain mit zwei Worten abgemacht und endgültig verlassen worden. Ebenso schnell wurde die Frage über die Notwendigkeit eines Wohnungswechsels erledigt. Es handelte sich nur um die Benutzung der Kündigungsfristen.

Recht dumm, daß Sie erst im Oktober wieder kündigen können.

„Im Oktober?“ sagte Hanna. „Aber wir müssen überhaupt alles daransetzen, schon im Juli ausziehen zu können. Wir haben ja das Geld zur Miete nicht mehr.“

Thomas sah sie freundlich an. „Ja, mein verehrtes Fräulein, um das zu erreichen, müssen Sie sich an keinen Berliner Hauswirt wenden. So einer, wie Sie ihn brauchen, wohnt nur in Utopien. Seien Sie heilfroh, wenn er Ihnen am ersten Juli gestattet, zum Oktober zu kündigen, anstatt erst im Oktober zum April.

„Ja, aber wie soll denn das werden?“ fragte Frau Wasenius, die es bei dem bloßen Gedanken, etwas schuldig bleiben zu müssen, heiß überlief.

„Gleich morgen will ich zu Herrn Giesecke hinuntergehen,“ sagte Hanna beruhigend. „Ich hoffe doch, er wird zugänglich sein.“

„Darf ich mich den Damen zur Verfügung stellen? Wozu sollen Sie sich bemühen? Ich mache so was im Handumdrehen!“

Hanna wurde rot. „Ich danke Ihnen,“ sagte sie. „Sie sind sehr liebenswürdig, aber ich möchte das nicht annehmen. Es kommt mir so vor, als sei das eine Sache, die ich niemand anderm überlassen dürfte. Sonst wäre auch schon Doktor Rettenbacher an meiner Statt hinuntergegangen.“

„Unser Pensionär,“ erklärte Frau Wasenius, „der einen Teil der Miete bezahlt. Er hat sich sofort angeboten, aber –“.

„Sehr richtig,“ unterbrach sie Thomas. Und zu Hanna. „Sehr fein empfunden, mein verehrtes Fräulein. Dieses Anerbieten mußten Sie ablehnen. Bei mir ist das etwas anderes. Abgesehen davon, daß mich mein sogenanntes Herz hergetrieben hat – was den Herrn Wirt nichts angeht –, fungiere ich doch als Ihr geschäftlicher Beirat, dem ganz naturgemäß die Erledigung dieser Art Dinge zufällt.“

„Aber so lange man seine Angelegenheiten selber besorgen kann –“ wehrte Hanna verlegen.

„So lange man einen anderen schicken kann, der mehr davon versteht, bleibt man zu Hause,“ verbesserte Thomas verbindlich lächelnd. „Sehen Sie die Geschichte doch nur objektiv an. Und lassen Sie mir das Vergnügen, Ihnen ein bißchen behilflich zu sein. Zu meinem Bedauern bewege ich mich so in engen Grenzen. Also – wie heißt der Onkel? Er wohnt natürlich unten. Parterre. Alle Hauswirte wohnen Parterre. Bitt’ schön, gnädige Frau, geben Sie mir Vollmacht, Sie loszueisen, so gut es geht.“

Frau Wasenius war ganz gerührt. „Ich danke Ihnen, Herr Thomas,“ sagte sie herzlich. „Und ich nehme Ihr Anerbieten an, so unerwartet es mir kommt.“

„Mir ja auch,“ versicherte er so komisch treuherzig, daß Hanna in aller Verlegenheit lachen mußte. „Wahrhaftig, ich bin selber erstaunt,“ fuhr Thomas fort. „Was mich ursprünglich hertrieb, war eine Art Gewissensstoß. Ich genierte mich, sozusagen, mich mit der schriftlichen Meldung von der verflixten Sache abzufinden. Schandenhalber, sagt’ ich mir, muß man sich die Folgen der Geschichte doch ’mal persönlich betrachten. Freilich, wenn die Jugenderinnerungen nicht gewesen wären – ich will mich nicht schöner malen als ich bin – aber so – na kurz, ich machte mich auf die Strümpfe. Und nun sitz’ ich hier, Ihnen gegenüber in diesem traulichen Stübchen, in diesem seltsamen – na, um das verdammte Modewort ,Milieu’ nicht zu gebrauchen – in diesem Um-und-um von heimeliger, feiner Gemütlichkeit und weiß gar nicht, wie mir wird. Von Minute zu Minute verrückter. So gewissermaßen gerührt. Sie haben es mir angethan, meine gnädige Frau, gleich im ersten Augenblick.“ – Ein blitzrascher sprühender Blick streifte dabei auch über das Mädchen hin. – „Ich bin wahrhaftig sonst kein sentimentaler Mensch. Aber daß Sie da so hilflos sitzen, mit dieser – dieser – liebreizenden barmherzigen Schwester zur Seite und mit meinem verehrten alten Herrn da an der Wand – ein famoses Bild! und daß Ihnen die Geschichte mit der vermaledeiten Fabrik so elend auf die Butterseite geschlagen ist und daß Sie hier aus Ihrem netten Nestchen heraus müssen und daß es so ausgerechnet unnötig ist, dieses Ganze – kurz, das fuchst mich und das rührt mich. Also zur Ablenkung, meine gnädige Frau, gestatten Sie mir ein Kosestündchen mit Ihrem Hauswirt!“

„Abgemacht,“ sagte Frau Wasenius. Sie reichte ihm die Hand, die er ritterlich an seine Lippen zog. „Aber Sie, mein verehrtes Fräulein, wandte er sich dann zu Hanna, „ohne Ihre Sanktion ist nichts zu machen, das hab’ ich schon heraus.“

„Sie ist Ihnen aber gewährt,“ sagte das Mädchen mit ernstem Lächeln.

Seine drollige Herzlichkeit gegen die Mutter und deren sichtlich gehobene Stimmung hatten sie besiegt. Nach einem leichten Zögern streckte sie ihm auch die Hand hin. Er nahm sie und drückte sie stark, küßte sie aber nicht. Er sah ihr dabei fest in die Augen.

„Gut,“ sagte er dann, ihr zunickend. „Dieses Bündnis wäre geschlossen. Ich betrachte mich als feierlich engagiert. Sie sollen sehen, ich bin ein ganz brauchbarer Mensch.“ Zunächst werde ich mich also schleunigst mit Meister Giesecke in Verbindung setzen.

„Heute nützt Ihnen das nichts,“ wehrte ihm Hanna, da er schon aufgestanden war. „Unser Mädchen erzählte mir vorhin, daß er mit seiner ganzen Familie schon um sechs Uhr zu einer Landpartie aufgebrochen ist.“

„So. Na, dann müssen wir diese Sache bis morgen aufschieben. Wir haben ja aber noch mehr Dinge zu besprechen!“

Er setzte sich neuerdings und tiefer, gemütlicher in den Korbsessel, Hannas Sessel, hinein und zog langsam den rechten Handschuh aus. Forschend und gespannt ruhte dabei sein Blick wieder auf dem Mädchen.

Man faßte nun die Frage wegen der Wahl eines Wohnortes ins Auge. Thomas machte sich anheischig, jemand in den weiter abgelegenen Vororten auf die Suche zu schicken und nach so und so viel Tagen eine Liste des Angebotenen vorzulegen. Seine frische, zugleich verbindliche und energische Art besiegte das Zögern der Frauen auch dieser neuen Gefälligkeit gegenüber. Daß aber Frau Wasenius erklärte, anstatt überflüssige Möbel verkaufen, lieber die Einrichtung aus ihres Mannes Zimmer an Rettenbacher schenken zu wollen, fand nicht seinen Beifall.

„Im allgemeinen,“ sagte er, „bekommt man ja freilich nur ein Ei und ein Butterbrot für solche Sachen, aber bedauerlicherweise sind Sie ja in der Lage, jede einzelne Mark ansehen zu müssen. Ich würde mir das doch zweimal überlegen.

„Bitte, nein,“ antwortete Frau Wasenius so entschieden, wie sie heute noch nicht gesprochen hatte. „Hierüber bin ich mir ganz klar. Es ist mir einfach unmöglich, die Sachen, die meinem Mann gehört haben, für Geld wegzugeben. Es würde mir weh thun. Ich will sie, wenn ich mich denn doch von ihnen trennen muß, in lieben Händen wissen, in pietätvollen. Rettenbacher soll sie haben. Dir ist es auch recht, Hanna, nicht?“

„Sehr, Mutter,“ antwortete das Mädchen leise. Es war ihr peinlich, zu fühlen, daß sie rot wurde, während dieser [551] Thomas sie fortwährend mit seinen glänzenden aufmerksamen Augen betrachtete.

„Gut, gut,“ sagte er jetzt. Sein Blick löste sich nur zögernd, wie es schien, von ihr und ging zur Mutter hinüber. „Das ist ein Argument. Dagegen läßt sich nichts sagen. Ueber die sogenannten Gefühle soll man nicht streiten. Ich konnte ja auch nicht wissen, daß dieser Pensionär zugleich ein so naher Freund ist, wie es nach dieser Bestimmung den Anschein hat.“

„Ja, er ist ein treuer und guter Freund,“ erwiderte Frau Wasenius. „Nur die Notwendigkeit dieser neuen Lebenseinrichtung zwingt uns zur Trennung.“ Es war ihr Bedürfnis, ihrer mitleidsvollen Teilnahme für dieses Stiefkind des Glückes in irgend einer Form Ausdruck zu geben.

„Sehr schön.“ Thomas klopfte sacht mit dem ausgezogenen Handschuh auf sein Knie. „Wieder ein Punkt erledigt. Gestatten Sie mir nur noch eine Bemerkung, meine verehrte Frau. Eine Betrachtung. Vielleicht erweisen Sie dem Herrn mit Ihrem großmütigen Geschenk gar keinen Gefallen. Er muß sich jetzt ein leeres Zimmer mieten und hat die Kosten des Umzugs mit seinen Möbeln zu bezahlen, während er bisher nur seine gebacknen Birnen und Pflaumen in die Tasche zu stecken brauchte, um in das neue Quartier zu wandern. Aber dies hat mich ja nicht zu kümmern. Und vielleicht macht es dem Herrn gar nichts aus. Was ist er denn seines Zeichens?

„Lehrer“ – antwortete Frau Wasenius und schwieg dann betroffen. „Das ist mir noch gar nicht eingefallen,“ sagte sie nach einem Weilchen in ziemlicher Beklemmung und mit einem ratlosen Blick auf ihre Tochter.

Hanna, die in den letzten Minuten sehr still geworden war, schaute flüchtig auf. „Laß, Mutterchen, zerbrich dir deswegen jetzt nicht den Kopf! Bis wir uns darüber entscheiden müssen, fließt noch viel Wasser zu Thal. Wir ziehen ja morgen noch nicht aus. Es ist aber – sie holte einmal tiefer Atem – „noch etwas andres, wegen dessen ich Sie nun um Ihren Rat bitten möchte, Herr Thomas. Ihre Freundlichkeit macht mir Mut.“

Sie sah freilich nicht danach aus, als ob sie viel Mut hätte. Das fand Thomas wohl auch.

„Na,“ sagte er lächelnd und sich etwas zu ihr vorneigend, „scheint Ihnen aber doch gewaltig schwer zu werden.“

Hanna schüttelte den Kopf und versuchte auch zu lächeln, sie errötete tief unter dem seltsam eindringlichen Blick, mit dem er sie ansah. „Ich muß mehr Geld verdienen,“ sagte sie dann rasch, mit einem Anlauf. „Vielleicht wissen Sie Mittel und Wege. Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“

Thomas verneigte sich von seinem Platz aus. „Ihr Vertrauen ehrt mich, mein Fräulein. Ich dachte gerade über eine schickliche Redewendung nach, um auf diese Frage loszusteuern; da kommen Sie mir so offenherzig entgegen. Reizend von Ihnen! Es thut mir zwar riesig leid, daß es überhaupt nötig ist, von solchen leidigen Dingen zu reden. Aber was will man machen gegen die verkehrte Weltordnung. Hoffentlich bin ich wenigstens imstande, Ihnen wirklich behilflich zu sein. Aus welchen Quellen flossen denn bisher Ihre Einnahmen?“

„O, von sehr kleinen. Ich habe Handarbeitsunterricht gegeben und habe für Geschäfte gestickt, gehäkelt, gebrannt, geschnitzt, geätzt, Muster gezeichnet. Es ist kein großartiger Erwerb, aber als Zuschuß zu unsern bisherigen Einnahmen konnte es noch genügen. Jetzt – – ich weiß mir keinen Rat. Ich kann ja nichts unternehmen, was mich lange vom Hause fernhält. Und nun gar, wenn wir da draußen wohnen werden! Ich müßte alle geschäftlichen Beziehungen vorher so ordnen können, daß die weite Entfernung nicht ungünstig wirkte, denn ich könnte mich doch nur auf ganz seltene Stadtbesuche einlassen. Aber wie viele Leute werden mir unter diesen Umständen dann noch Beschäftigung geben? Mit dem Handarbeitsunterricht ist es vorderhand ganz aus, wenn wir wegziehen, denn ich darf nur hoffen, aber nicht darauf rechnen, daß es mir gelingt, in dem neuen Wohnort einen neuen Kursus zu gründen.“

Sie schwieg, etwas atemlos, mit leicht zitternden Lippen, die Hände fest im Schoß gefaltet. Die Mutter sah blaß und verstört, mit ihrem ödesten Sorgegesicht seitwärts zum Fenster hinaus. Thomas war auch eine Weile still. Er schien gerührt zu sein, er schüttelte mehrmals den Kopf.

„Gott bewahre!“ sagte er endlich und klopfte mit der Hand auf die Stuhllehne. „Wie fürchterlich dauern Sie mich! Und das Dumme ist, ich kann nicht einmal versprechen, Ihnen behilflich zu sein. Im Augenblick wenigstens bin ich ratlos, wie ich die Geschichte anzupacken hätte. Ich bin ja nur ein ganz gewöhnlicher Thalermensch. Eine Stelle als Buchhalterin könnt’ ich Ihnen zur Not bald genug verschaffen. Ueberhaupt eine Stelle in irgend einem Geschäft. Aber damit ist Ihnen ja nicht gedient. Und mit weiblichen Handarbeiten und solchen Dingen hab’ ich mich nie abgegeben. Aber halt! Da fällt mir ein. Zeichnen! Sprachen Sie nicht von Zeichnen? Das wäre was. Wenn Sie Vögel und Bäume und so Zeugs zum Sticken auf Kissen und Tischtücher zeichnen können, dann werden Sie’s auch fertig bringen, ein Buch zu illustrieren. Ich denke mir’s wenigstens. Wissen Sie was? Geben Sie mir mit, was Sie etwa von vorrätigen Sachen da haben. Ein paar Blätter mit Entwürfen und so was. Ich zeig’s einem Maler, mit dem ich befreundet bin, und der soll uns dann sagen, ob es zu solchem Zweck langt und was zu thun ist, um in so eine Buchgeschichte erst ’mal reinzukommen. Daß Sie dabei bedeutend mehr verdienen, ist todsicher.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte Hanna mit herzlichem Lächeln. „Aber ich weiß schon, damit ist es nichts. Meine Zeichenkünste sind sehr gering und meine Leistungen sehr endlich. Für einen Tischläufer und ein Sofakissen reicht es allenfalls aus, jedoch höhere, also künstlerische Ansprüche, darf man an mich nicht stellen. Aber ich danke Ihnen, Sie müssen nicht glauben, daß ich Ihre Freundlichkeit nicht empfände, noch dazu mit Leuten die Sie ja eigentlich gar nicht kennen.

Er wehrte ihr mit beiden Händen, winkte auch der Mutter ab, die sich wieder zu ihm wendete.

„Hören Sie auf!“ rief er. „Machen Sie keine Sachen! Ich hab’ Ihnen ja nichts gethan! Ich sitze da und erkläre Ihnen, daß ich Ihnen nicht helfen kann, und da wollen Sie mir danken. Warten Sie erst ab, ob ich überhaupt irgend was für Sie ausrichte! Erst muß ich mir bei Giesecke meine Sporen verdient haben. Morgen also! Für heute empfehl’ ich mich. Er stand auf, Hanna auch. „Das heißt, ich möchte den Damen einen Vorschlag machen. das Wetter ist famos. Ich komme nach Tisch mit meinem Wagen und hole Sie zum Spazierenfahren ab.“

„Wo denken Sie hin,“ sagte Hanna an Stelle der Mutter, die nur förmlich erschrocken den Kopf schüttelte. „Meine Mutter ist seit fünf Jahren nicht mehr aus der Wohnung gewesen. Sie kann ja die Treppen nicht hinunter, kann überhaupt nicht mehr gehen.“

„Was?“ sagte er ganz entsetzt. Nicht mehr aus dem Hause diese ganze Zeit? Gänzlich lahm? Das ist ja schauderhaft! Ja, mein Gott, was meint denn Ihr Arzt dazu? Das kann doch nicht so weiter gehen!“

„Unser Arzt meint nichts, denn wir behelfen uns ohne Hausarzt,“ antwortete Hanna. „Als meine Mutter damals das Unglück hatte, den schweren Fall zu thun, hat der Doktor, der dazugeholt wurde, gesagt, es sei ihr nicht mehr zu helfen. Seitdem leben wir so hin und bemühen uns, nicht überflüssig viel an das Unabänderliche zu denken.

„Find’ ich gräßlich,“ sagte er. „Find’ ich einfach unmöglich! Sie müssen mir gestatten, daß ich Ihnen meinen Hausarzt herschicke und daß er eine neue Diagnose stellt.“

„Das müssen wir nicht gestatten, Herr Thomas,“ fiel Hanna mit ernstem Gesicht ein. „Wir können keinen Arzt bezahlen, also dürfen wir auch keinen fragen.“

Er wollte etwas erwidern, aber nach einem Blick in Hannas Augen verstummte er.

„Ich wollte Sie nicht kränken,“ sagte er dann freundlich. „Ich bin nur über die Geschichte förmlich konsterniert, sie will mir nicht in den Kopf. Aber daß Sie nicht an die Luft sollen, meine verehrte Frau, dagegen protestier’ ich. Das muß zu machen sein. Wissen Sie was? Ich nehme zwei Dienstmänner, die tragen Sie die Treppe hinunter und setzen Sie unten in den Wagen.“

[552] „Nein, nein, nein!“ wehrte Frau Wasenius mit nervöser Hast. „Bitte, Herr Thomas, quälen Sie mich nicht! Ich bin ganz zufrieden so. Ich brauche das alles schon lange nicht mehr, ich habe mich ganz an mein Leben hier oben gewöhnt. Ich würde mich entsetzlich ängstigen bei solchen Kunststücken. Ich danke Ihnen sehr, aber Sie thun mir den größten Gefallen, wenn Sie mich ruhig hier in meinem Stuhl sitzen lassen. – Und zu Hanna: „Es ist mir ja leid, mein Kind, daß du durch mich um diese Auffrischung kommst –“

„Auffrischung!“ unterbrach Hanna vorwurfsvoll ihre Mutter. „Wie du redest. Als ob ich krank und schwach wäre und Erholung haben müßte! Ich wollte, dir wäre so wohl wie mir. Sprechen wir doch nicht von ganz zwecklosen, unvernünftigen Dingen.“

Thomas hatte sie wieder mit glänzenden Augen betrachtet. „Es wäre entzückend, mein sehr verehrtes Fräulein, wenn ich mir gestatten dürfte, Sie zu einer Ausfahrt abzuholen. Aber leider Gottes – die lieben Nebenmenschen –“

Hanna unterbrach ihn mit einer gleichgültig ablehnenden Handbewegung. „Nicht der Mühe wert, Herr Thomas, nur ein Wort über die Sache zu verlieren. Bitte!“

Er verabschiedete sich endlich mit der Versicherung, morgen wiederzukommen, um Bescheid über seinen Zusammenstoß mit Giesecke zu bringen.

„Aber das könnten Sie uns ja auch brieflich mitteilen, Herr Thomas,“ sagte Frau Wasenius freundlich abwehrend. „Ich möchte Ihre bedrängte Zeit –“

„Nicht doch, meine gnädigste Frau.“ Er zog ihre Hand an seine Lippen. „Ich sagte Ihnen ja schon, daß Sie es mir einfach angethan haben, daß es mir vom ersten Augenblick an wunderbar heimelig bei Ihnen zu Mute gewesen ist. Ich komme gern wieder, wenn Sie es mir gestatten.“

Hanna begleitete den Gast zur Thür. Auf dem Vorplatz sagte Thomas mit gedämpfter Stimme:

„Ich bitte Sie, mein bestes Fräulein, kann man denn wirklich und wahrhaftig nichts thun, um der armen Märtyrerin das Leben ein bißchen zu erleichtern? Ich bin sonst gar kein so weichmütiger Geselle, können Sie mir glauben. Aber der Anblick dreht mir alles um und um. Sie sollten nett sein und mir erlauben, ein bißchen von der Dankbarkeit, die ich gegen meinen alten Lehrer nicht mehr loswerden kann, auf seine Frau zu übertragen. Spät genug fang’ ich damit an. Aber wozu hab’ ich denn das scheußlich viele Geld, wenn ich mir damit nicht ’mal gelegentlich eine kleine Extrafreude machen soll? Immer bloß gut essen und trinken und ins Theater gehen und – na überhaupt! Also wie ist das? Schlucken Sie Ihren Stolz ein Endchen weit ’runter. Sagen Sie mir, womit könnt’ ich der armen Frau wohl eine Freude machen?“

„Ich danke Ihnen sehr,“ sagte Hanna verlegen, bedrückt, aber auch gerührt. „Ich wüßte wirklich nicht – ja, wenn Sie ihr denn ein paar Blumen schicken wollen. Rosen hat sie schon lange nicht mehr gesehen.“

„Machen wir! Soll sie haben! Also adieu, mein – sehr verehrtes Fräulein. Auf Wiedersehen. Ich gehe ganz anders fort, als ich gekommen bin, wahrhaftig! Er nahm ihre Hand, die sie ihm bot, und drückte sie sehr fest an seine Lippen, that dann geschwind dasselbe mit der andern, die sie ihm nicht geboten hatte.

„Also auf morgen!“ murmelte er und lief die Treppe hinunter.

Nach einer Stunde kam ein großer Blumenkorb mit einer Fülle der herrlichsten Rosen. Frau Wasenius traute ihren Augen nicht. Sie ließ ihn sich auf den Arbeitstisch stellen, um ihn ganz nahe zu haben, und beugte ihr armes, blasses Gesicht tief in die duftigen Blüten. „Er ist doch sehr nett, nicht wahr? Ein bißchen kurz angebunden manchmal, nicht sehr feinkörnig, wenigstens im Reden – aber sicher von der besten Meinung. Mir fällt wieder allerlei Freundliches ein, was der Vater von ihm gesagt hat. Es ist doch gut, daß er gekommen ist, meinst du nicht auch?“

„Ja, Mutter, es ist gut,“ sagte Hanna sanft. Sie seufzte dann verstohlen „Froh wär’ ich, wenn wir erst wohlgeborgen da draußen säßen, in Marienfelde, oder in Friedrichsfelde, oder irgendwo, ganz für uns allein.“

8.

Es schien wirklich „gut“, daß er gekommen war, dieser Herr Ludwig Thomas.

Wenigstens zu Anfang. Auf die bisher so tiefgedrückte Stimmung der Mutter war seine heitere, zutrauliche Art, seine zwanglose burschikose Redeweise mit dem unverkennbaren, aber nicht unsympathischen Beigeschmack von fideler Berliner Schnoddrigkeit, seine herzliche, wenn auch fruchtlose Teilnahme von entschieden wohlthätigem Einfluß, der sich zuerst bei jedem neuen Besuch befestigte. Denn er war bald wiedergekommen nach jenem ersten Sonntag, und oft. Trotz seiner zeitfressenden Geschäfte, die ihn jahrelang so ausschließlich in Anspruch genommen hatten! Es schien ihn eine Art Fieber rückläufiger Dankbarkeit erfaßt zu haben.

Zunächst hatte es sich freilich um den versprochenen Besuch beim Hauswirt gehandelt. Getreu seinem Wort hatte Thomas am folgenden Tage seinen Angriff eröffnet. Zornschnaubend war er aber eine halbe Stunde später hinaufgekommen, um von seinem Mißerfolg zu berichten.

Der Herr Maurermeister Giesecke war ganz nett und zugänglich gewesen. Aber Giesecke junior, Sohn und Teilhaber im Geschäft, hatte sich als „bocksteif“ erwiesen, trotz der sechsundzwanzigjährigen „Freundschaft“, die er mit hätte überkommen haben müssen. Ohne seine Zustimmung konnte der Alte kein Uebereinkommen schließen, und die schlechten Zeiten berechtigten Giesecke Sohn, der zu dem Zweck der Unterredung aus seinem ersten Stock heruntergerufen worden war, zur äußersten Strenge in der Wahrung seiner Interessen. Sein Bedauern über das Mißgeschick der Dame war bedeutend, aber es beherrschte ihn nicht genügend, um ihm deshalb zu gestatten, seine Pflicht als Familienvater außer acht zu lassen. Die Frau Oberlehrer möge nur die Gewogenheit haben, ordnungsgemäß am ersten Oktober zum ersten April zu kündigen. Auf die Frage, was die Herren zu thun gedächten, wenn Frau Wasenius im Juli ihre Miete nicht, oder doch nicht vollständig und von da ab vielleicht gar nicht mehr werde zahlen können, beschwichtigte Junior ein wohlwollendes Murmeln Seniors mit einer Handbewegung und ersuchte dann achselzuckend den Herrn Bankier, doch nur erst den Juli abzuwarten. Vielleicht gelänge es der Frau Oberlehrer, einen Untermieter zu finden, der in den Kontrakt einträte. Im übrigen – Thomas hatte die weitere Darlegung dieses „Uebrigen“ nicht abgewartet, sondern hatte sich empfohlen, von dem Alten hinausbegleitet, der ihm unter der Thür noch zugeraunt hatte: „Lassen Sie man, den ersten Oktober schind’ ich ihr noch raus, bis April brauch’ sie nich bleiben, ich muß ihn bloß erst ’mal ein bißchen alleine vorkriegen.“

Mit dieser trostvollen Auskunft und mit einem Blumenstrauß war Thomas bei den Frauen erschienen, er hatte das duftige Mitbringsel derweilen in seinem vor der Thür haltenden Wagen aufbewahrt gehabt. Ein „Gedicht“ von einem Strauß, von Schmidt Unter den Linden.

Er legte ihn Frau Wasenius in den Schoß, küßte ihr die Hand und bat um Erlaubnis, sich erst einmal über den „infamen Kerl“ da unten sattschimpfen zu dürfen. Die Bestürzung über den Bescheid suchte er alsdann durch um so lustigere Laune wieder abzuschwächen. Seine Lebensaufgabe solle es sein, den berühmten Untermieter zu finden! Tod oder lebendig müsse er zum ersten Juli heran, am besten wohl lebendig. Einstweilen falle ihm ein, daß er ja unterwegs ein Schächtelchen Zuckerzeug für Fräulein Hanna habe mitgehen heißen. Ob sie ihm die Freude machen wolle, es aufzuknuppern? Aus dem Seidenpapier entwickelte sich eine kleine elegante Bonbonniere von Savadé.

Hanna, dunkelrot, bedrückt, verlegen, hielt das zierliche Ding noch unschlüssig zwischen den Fingern, als draußen geläutet wurde und mit ziemlichem Lärm – pünktlich um sieben Uhr – der Krankenstuhl seinen Einzug hielt.

Hannas erstes Gefühl, das sie wie eine heiße, erstickende Welle übergoß, war: Warum sind wir jetzt nicht allein? Unser liebes Geheimnis! Unsere Ueberraschung! Was geht das alles den an? Sie stammelte ein unverständliches Wort, warf die Bonbonniere auf den Tisch und lief hinaus.

[553]

Oberst v. Cranach führt bei Mars-la-Tour die Trümmer der 38. Brigade aus dem Feuer.
Nach dem Gemälde von Th. Rocholl.

[554] Rettenbacher, der gerade nach Hause gekommen war, fertigte die Boten ab.

An die wieder geschlossene Flurthür gelehnt, hauchte das Mädchen, die gefalteten Hände unters Kinn gedrückt: „O, warum sind wir jetzt nicht allein!“

Rettenbacher nickte. In der tiefen Dämmerung hier draußen – nur die geöffnete Küchenthür gab etwas Licht – konnte sie seine Züge nicht deutlich unterscheiden. „Die Geschichte wird sich etwas anders abwickeln, als wir uns gedacht haben,“ sagte er ruhig. „Schieben Sie ihn nur hinein. Man wundert sich sonst, wo Sie bleiben.

„Sie kommen doch mit? Sie müssen doch Mutters Gesicht sehen.“

„Nein,“ antwortete er ebenso ruhig, „das hat nicht viel Sinn, da das Programm doch geändert ist. Das Gesicht Ihrer Frau Mutter seh’ ich mir nachher an. Erlauben Sie, daß ich Ihnen aufmache. So. Bitte!“

Da die Thür – er öffnete sie schon – nach außen ging, blieb er hinter ihr stehen, man sah ihn nicht. Hanna behielt keine Zeit mehr, sich zu besinnen. Blaß, zitternd in der Erregung durch diese zwiespältigen, miteinander streitenden Gefühle von Freude und Enttäuschung, schob sie den Stuhl vor sich her ins Zimmer. Die Thür schloß sich lautlos hinter ihr.

„Um Gotteswillen“ – stieß Frau Wasenius, völlig verwirrt, heraus.

„Nanu?“ sagte Thomas.

Hannas Fassung war schon zu Ende. Sie ließ den Schiebegriff los, lief um den Stuhl herum zur Mutter, drückte, niederkniend, ihr Gesicht in deren Schoß und brach in Schluchzen aus.

„Aber um Gotteswillen,“ wiederholte Frau Wasenius, „was ist das?“

Hanna erhob das naßgeweinte Gesicht. „Erschrick nicht, Mutterherz,“ bat sie mit erstickter Stimme, „es ist nur eine Ueberraschung, ich habe mir’s den Winter über gespart, ich wußte ja nicht, wie alles werden würde, du mußt dich aber nun doch noch freuen bitte, bitte!“

Frau Wasenius antwortete nicht. Sie atmete ein paarmal schwer auf. Dann umfaßte sie den Kopf des Mädchens mit beiden Händen und drückte ihn an ihre Brust, beugte sich, küßte das weiche Haar, die Stirn, die Augen, den Mund, küßte, schwieg und küßte.

Nach einem Weilchen regte sich etwas in der Ecke neben dem Sofa. Thomas war in einem plötzlichen, zwingenden Gefühl mit drei leisen Schritten bis an die Wand zurückgetreten. Sie hatten ihn auch wirklich einige Augenblicke lang vergessen.

Frau Wasenius hob nun den Kopf, mit beiden Armen umschlang sie fest ihr Kind, das, zusammenzuckend, glühendrot, sich erheben wollte. „Was hab’ ich hier?“ fragte sie aufschauend mit dem seligsten Mutterlächeln

„Einen Schatz,“ antwortete Thomas leise.

Fünf Minuten später empfahl er sich. Irgend etwas mahnte ihn, die zwei jetzt allein zu lassen.

Beim Abschied nahm er Hannas beide Hände und sagte ernst. „Ich glaube, Sie sind ein ganz köstliches Geschöpf. Ihre Mutter ist trotz allem und allem glücklich zu preisen. Auf Wiedersehen!“

Als er fort war, klopfte Hanna sogleich bei Rettenbacher an. Es kam aber keine Antwort. Bertha richtete dann aus, der Herr Doktor habe noch einmal fort müssen. Erst zum Abendbrot kam er heim.

Seinem vollkommen ruhigen, leidenschaftslosen Gesicht sah man nicht an, daß er vorhin aus dem Hause gelaufen war, weil ihn die schmerzliche Unrast der Enttäuschung, der Eifersucht und der Sehnsucht nicht mehr Wand an Wand mit dem Mädchen gelitten hatte. Hannas Schluchzen zauberte ihm jählings die Bilder der Samstagnacht vor die Seele. So hatte er seine Arbeit im Stich gelassen und sich davongemacht. Ein langer Marsch, immer unter den Bäumen am Kanal entlang, bis über den Zoologischen Garten hinaus, hatte ihm helfen müssen, seine Beherrschung zurückzugewinnen. Der „Omnibusbrief“ von daheim mit seinem Kindergeschwätz und seiner Mutterstimme musizierte derweilen auch in ihm herum und harfte allgemach seine arme Seele in die Ruhe zurück, die nur die Erkenntnis eines eng umgrenzten Pflichtgebots erzwingen kann.

So war er umgekehrt und nach Hause gegangen. Er fand Frau Wasenius schon in ihrem schönen Stuhl. Die Hochflut der freudigen Erregung, der Augenblick, auf den er sich mit Hanna zusammen den ganzen Winter hindurch gefreut hatte, war vorbei. Er war darumgekommen durch diesen hereingeschneiten Menschen, den er noch nicht einmal gesehen hatte, dessen laute, etwas metallisch klingende Stimme aber, fast in jedem Wort vernehmlich, zu ihm in das Zimmer gedrungen war und sich ihm je länger, je mehr auf die Nerven gelegt hatte. Auf seine durch Ueberarbeitung und verbissene Herzensnot zerquälten Nerven!

Ganz unberechtigt, wie er sich selber vorwarf, hatte er von der ersten Stunde an einen nagenden Verdruß gegen diesen Eindringling gefühlt. Eine dumpfe Furcht, ein Vorgefühl vieler kommender Bitternisse hatte sich ihm auf die Brust gewälzt. Aber die Gewohnheit der strengen Beherrschung schützte ihn vor Selbstverrat. Sogar Frau Wasenius suchte heute abend vergeblich den Nachglanz der Schmerzen, deren Anblick sie gestern so erschüttert hatte.

Unwissentlich baute er gerade mit dieser undurchdringlichen Ruhe einen sichern Schutzwall zwischen sich und dem Mädchen auf, von dem er nicht wußte, daß es drüben kämpfte, wie er hüben.

Ueber die kommende Trennung war nach dem ersten Male nicht mehr gesprochen worden. Ein jedes von den dreien hütete sich, hieran zu rühren. Rettenbacher ließ sich von der mißglückten Unterhandlung mit dem Hauswirt erzählen. Er hatte kein Wort darüber verloren, daß man dem Fremden gewährt hatte, was ihm versagt worden war, die halbamtliche Eigenschaft des Bankiers als geschäftlicher Beirat leuchtete seinem Gerechtigkeitsgefühl ein. Daß es aber diesem gewiegten Herrn nicht gelungen war, etwas auszurichten, füllte einen kleinen verschwiegenen Winkel seines eifersüchtigen Herzens mit einem freilich nicht ganz eingestandenen Gefühl von Genugthuung.

Seine Hoffnung war gewesen, daß mit diesem zweiten, immerhin noch geschäftlichen Besuch des Bankiers der lose Zusammenhang zerblättern würde. Aber diese Hoffnung sah sich getäuscht. Thomas kam wieder und wieder. Die beiden Männer trafen jetzt auch zusammen. Aber es begegneten sich zwei unvermischbare Elemente, die darum bald anfingen, sich zu bekämpfen. Jeder war vor dem andern auf der Hut, trat mit geschlossenem Visier, mit eingelegter Lanze aufs Feld. Rettenbachers steifer Zurückhaltung setzte Thomas alsbald herablassende Gönnerhaftigkeit entgegen, die aber an Arnolds starrer Kälte ablief wie Wasser. Verstohlen streifende Spürblicke gingen zwischen Hanna und dem „Pensionär“ hin und wieder, von dem Mädchen unbemerkt, von Rettenbacher mit stillem Ingrimm aufgefangen. Er glaubte, einen Wilddieb in dem lieblichen Revier zu wittern, das ihm verboten war, und schwor sich, mit scharf geladener Waffe Posten zu stehen. Thomas jedoch, der jetzt immer Zeit hatte, wußte bald genug die Stunden, in denen der unbequeme, steife Herr beschäftigt war, und richtete sich danach ein. Noch ehe der letzte Strauß verwelkt sein konnte, erschien er mit einem neuen, der Blumenduft blieb heimisch im Zimmer. Etwas anderes „mitzubringen“, war ihm verboten worden. Um so verschwenderischer erging er sich in dem erlaubten Vergnügen. Der Fensterplatz der Mutter glich einer blühenden Laube. Thomas konnte sich gar nicht genug thun in dem Ausdruck der wärmsten Sympathie. Die stille, gemütliche Klause hatte es ihm nun einmal sofort angethan, er war nicht mehr der verwöhnte Herr aus der Tiergartenstraße, wenn er hier eintrat. Das Mitgefühl für die gelähmte Frau durchwärmte das Herz, der Respekt vor dem stillen, unermüdlichen Fleiß des tapferen Mädchens erfüllte ihn mit Rührung, sein Entzücken über die Geschicklichkeit, mit der sie heute die Nadel, morgen das Schnitzmesser, übermorgen den Brennstift führte, war ohne Grenzen. In Ermangelung einer andern Möglichkeit, ihr zu helfen, fing er an, Bestellungen über Bestellungen zu machen, für sich, für Verwandte, Bekannte, die sich seiner als Vermittler zu bedienen hatten. Er schraubte ihre [555] Preise, die er lächerlich niedrig fand, in die Höhe und sie wurden anstandslos bezahlt.

Hanna war ihm für seine vielen Bemühungen herzlich dankbar. Es gab freilich Augenblicke, wo Bangigkeit und Beklemmung sie befiel, wenn sie seinen glänzenden, eindringlichen Blicken begegnete, Blicke, in denen mehr geschrieben stand als allgemeine menschliche Teilnahme. Doch warnte dies unruhvolle Herzklopfen nicht laut und nicht lange genug. Nicht so sehr, weil ihre persönliche Eitelkeit dazu nicht stark genug war, sondern vielmehr, weil das, was ihr mutig bezwungenes Herz einzig schwerer und härter schlagen machte, mit Ludwig Thomas nichts zu thun hatte. Auch fehlte es ihr einfach an Zeit, um eifrig Betrachtungen anzustellen. Es mangelte ihr die Seelenruhe des behaglichen Müßigganges. Sie arbeitete mit fieberhaftem Eifer. Sie nahm halbe Nächte zu Hilfe. Sie sagte sich, daß eine so günstige Gelegenheit für allerhand Aufträge kaum je wieder kommen werde und daß sie darum alles daransetzen müsse, um während dieser Frist so viel Geld ins Haus zu schaffen, wie nur irgend möglich. Sie fühlte aber auch, daß ihren Kräften mit dieser Rastlosigkeit zu viel zugemutet werde, daß ihre Augen begannen, zu leiden, daß ihre Nerven sich immer straffer anzogen, zu reißen drohten. Sie sagte sich zugleich, daß sie mit all ihrer Mühe das drohende Gespenst der Not nicht würde abwenden können, wenn es nicht gelinge, die Wohnungsfrage befriedigend zu lösen. Aber ein Mieter zum Juli wollte sich nicht finden, und Giesecke senior hatte sich zu dem Bekenntnis entschließen müssen, daß sein Sohn ihm an Charakterstärke „über“ sei.

Indessen gingen die Wochen hin. Man war aus dem April tief in den Mai geraten, ehe man es wußte.

Hanna und Rettenbacher waren ihren Pflichten im Kirchenchor mit gewohnter Pünktlichkeit nachgekommen. Es fiel keinem der beiden ein, der wehvollen Stimmung, die sich nach Stummsein sehnte, dieses Zugeständnis zu machen. Auch die Samstagabende waren nach alter Gewohnheit eingehalten worden, oder vielmehr dieser Gewohnheit zuliebe. Ohne den Pastor, der sich nach jenem Musikabend bei Frau Wasenius einstweilen in seiner Studierstube verkrochen hatte. Ohne Thomas, der zu Rettenbachers unendlicher Erleichterung nicht erst zur Teilnahme aufgefordert wurde, nachdem er bei einer Erwähnung des Kirchenchores gesagt hatte: Musik ist nett, aber ich kann famos ohne sie leben.

Sie hatten an diesen Abenden gesungen, beide, der Mann und das Mädchen. Beide fürchteten sich gleichermaßen vor dem Singen wie vor dem Schweigen, fürchteten, daß das eine wie das andere sie verraten möchte. Günther in seiner Harmlosigkeit aber war von dem Schleier, der über den beiden herrlichen Stimmen lag, nichts gewahr geworden. Freilich war es nur ein durchsichtiger Flor, zart wie Spinnwebe, mehr dem geschärften Ohr des selber Leidenden als dem dieses kindlich fröhlichen Musikers fühlbar. Wäre Günther Poet gewesen, dem eigene Melodien in der Seele blühten, so wäre ihm vielleicht der leidverklärte Ton, mit dem Hanna am Karfreitag in der Kirche gesungen hatte, in seinen Träumen wiedererklungen und hätte ihn zum Lauschen geweckt. So aber fühlte er nur immer wieder die Wonne über die Reinheit und Süße dieser Mädchenstimme, die sich mit dem edlen Goldklang der andern zu berückend schwermutvoller Harmonie verschmolz.

Ostern war längst vorbei, Pfingsten nahte. Die Welt stand in Blüte. Mit ihren schon fieberisch glänzenden Augen sah Hanna von der Arbeit in diese strahlende, sommerwarme Frühlingsseligkeit hinaus, zu ihrem düster umwölkten Sorgenhimmel empor und wieder hinab auf die Mutter, die in diesem wachsenden Unheilschatten von Tag zu Tag welker und blasser in sich zusammensank. Die Heiterkeit und Zuversicht, die ihr Thomas mit seinen ersten Besuchen ins Haus getragen hatte, war eine ärmliche Blume gewesen und schon lange verblüht. Es wollte ihm nicht mehr gelingen, die immer schweigsamer werdende Frau zum Lächeln zu bringen. Zurückgelehnt, von weißen Kissen umgeben, die Augen geschlossen, lag sie unter ihren Blumen da wie auf dem Totenbett.

Ein Windstoß fuhr daher, Regentropfen fielen vom wirklichen Himmel. Hanna erhob sich, um das Fenster zu schließen. Sie blieb dann neben der Mutter stehen und sah sie lange an.

Thomas, schon im Begriff zu gehen, trat noch einmal zu ihr her. Er schüttelte wehmütig den Kopf, dann winkte er, seinen Hut in der Hand, dem Mädchen, ihm vor die Thüre hinaus zu folgen. „Fräulein Hanna,“ sagte er draußen leise, „Ihre Mutter macht mir eigentlich Sorge. Ich muß es Ihnen einmal sagen.“

„Meinen Sie mir nicht?“ antwortete sie heiser, mit einer fliegenden Blässe. Die Hände, die sie fest zusammenfaltete, zitterten.

„Sie müßte ganz anders gepflegt werden, als man es hier kann,“ fuhr er fort, „sie müßte kräftigen Wein haben, alle möglichen guten Dinge –.“

„Keine Sorgen vor allem,“ unterbrach ihn Hanna. „Was reden Sie denn? Wem sagen Sie das alles? Kann ich helfen? Könnt’ ich’s “ – – ein thränenloses Aufschluchzen erschütterte ihren Körper – „meine Seele würd’ ich dem Teufel verschreiben dafür!“

Er sah sie mit einem eigentümlich funkelnden Lächeln an.

„Muß es gerade der Teufel sein?“ fragte er nach einer kleinen Pause.

„Sonst hilft ja niemand,“ antwortete sie mit schmerzlichem Humor.

„Wer weiß!“

Er nahm sacht ihre festverschlungenen Hände und löste die starren Finger. „Ich wüsste jemand, der die Sache mit einem Schlage in Ordnung bringen könnte, Fräulein Hanna. Keinen Teufel. Oder wenigstens einen sehr menschlichen.

„Was soll das heißen?“ Sie sah ihn erst jetzt aufmerksamer an. „Was wollen Sie thun? Wie wissen Sie plötzlich Hilfe? Sagen Sie! Sagen Sie!“

Er öffnete schon den Mund. „Nein,“ sagte er dann aber kurz abbrechend. „Wenn Sie so fragen, wenn Sie so gar nicht – heute sag’ ich kein Wort mehr. Denken Sie nach. Sie müssen ja verstehen. Ich komme wieder, bald, vielleicht morgen, übermorgen. Vielleicht erraten Sie es bis dahin! Adieu.“

(Fortsetzung folgt.)

Das Wiener Handschriften-Archiv.

Heutzutage, wo sich der Sammeleifer auf alles Sicht- und Greifbare erstreckt, ja selbst die bescheidensten Werkzeuge und Erzeugnisse menschlicher Kultur vom Standpunkt der Entwicklungsgeschichte der Sammlung und Aufbewahrung in prächtigen Museen würdig erachtet werden, da ist auch die Liebhaberei für Autographen in weite Kreise gedrungen. Unsere berühmten Männer und Frauen wissen ein Lied davon zu singen! Und dieser Eifer ist begreiflich genug. Die Freude am Autograph (richtiger wäre „Autogramm“ zu sagen.) hat wirklich ihren tieferen Sinn. Wer zu einem Schriftsteller oder zu sonst einer bedeutenden Persönlichkeit ein inneres Verhältnis gewann, hat das natürliche Bedürfnis, ein Stück von ihr sich physisch greifbar zu erwerben, und die Handschrift ist so ein greifbares Stück der Persönlichkeit. Goethe, der im Alter selbst eine Autographensammlung pflegte, nannte sie mit bezeichnendem Lob einen „Zauberkreis“, abgeschiedene oder entfernte Geister heranzuziehen. Eine allgemeine Betrachtung über den heutigen Autographenmarkt und die Entwicklung dieses ganzen Zweigs modernen Sammlerwesens hat die „Gartenlaube“ erst vor kurzem – Jahrgang 1896, S. 852 – unter dem Titel „Aus der Autographenwelt“ von Hans H. Busse gebracht.

Auf eine der merkwürdigsten Autographensammlungen, die vielleicht jemals ein Privatmann aus Liebhaberei, ohne irgendwelche geschäftliche Zwecke zu verfolgen, zustande brachte, lenken die hier beigedruckten Abbildungen die Aufmerksamkeit unserer Leser. Es ist dies das sogenannte Wiener Handschriften-Archiv von Herrn Alexander Posonyi. Sie ist nach der Zahl und dem Wert der Stücke, die sie vereinigt, die größte Privatsammlung, welche bekannt wurde. Als die Autographensammlung des Grafen Ludwig Paar, österreichischen Botschafters beim römischen Stuhl, nach seinem Tode (1893) zur Auktion gelangte, wurde sie sehr bewundert, denn sie zählte 12 000 Stücke. Die Sammlung Posonyis, der übrigens viele der wertvollsten Handschriften aus Graf Paars Nachlaß erworben hat, zählt 30 000 Stücke in runder Ziffer. [556] Der Mann, der diese Sammlung anlegte, ist seiner Gesinnung nach Kosmopolit. „Populus mundi – den Völkern der Welt“ – hat Alexander Posonyi über die Eingangsthüre seines Archivs geschrieben und es ist ihm voller Ernst damit. Sein Interesse hat sich ebensowenig auf eine einzelne Nation als auf einzelne Stände oder Rassen beschränkt. Was ihm an schriftlichen Denkmälern von historischem Werte erreichbar war, dessen trachtete er habhaft zu werden. er hat das eigene Sammelgenie und die spezifische Sammlerleidenschaft dabei entwickelt, und kein noch so schweres Geld ließ er sich reuen, um eine alte Stadturkunde,

A. Posonyis Handschriften-Archiv: Mozart-Zimmer.

ein päpstliches Breve, eine Handschrift von Luther, einen Brief Goethes, ein Notenblättchen Beethovens oder ein ungedrucktes Gedicht von irgend einem der bekannten Dichter zu erwerben. Gering gerechnet ist in seine Sammlung eine Summe von zweihunderttausend Mark aufgegangen.

Posonyi sammelte schlechtweg alles, was käuflich war. Autographen von Kaisern und Päpsten, Heiligen und Ketzern, Feldherren und Philosophen, Dichtern und Künstlern, Musikern und Malern. Und in dieser Universalität besteht das Eigentümliche seines Archivs. Wenn wir seine geschmackvoll ausgestatteten Räume durchwandern, dann überfällt es uns wie ein Rausch, in den uns die scheinbar lebendige Gegenwart aller Geister der Weltgeschichte versetzt.

Das ganze Deutschland soll es sein!
O Gott vom Himmel sieh darein!
Und gib uns rechten deutschen Muth,
Das wir es lieben treu und gut.
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!

Ernst Moritz Arndt.

Aber bei näherem Einblick erkennt man, daß Plan und Methode in dieser Sammlung und ihrem eifrigen Urheber bestehen. Vor allem durch die rasch überschaubare Ordnung selbst, in der die Autographen in Schränken und Fächern eingereiht und aufgeschichtet sind. Jedes Dokument ist sofort erreichbar. Die kostbarsten Stücke sind unter Glas und Rahmen an den Wänden aufgehängt. Da sieht man im ersten Zimmer (wo wir über der Thür Historia lesen) eine Urkunde von Graf Egmont neben einem höchst wertvollen Pergamentblatte des Domkapitels von St. Stephan in Wien aus dem Jahre 1376; dort hängt ein Armeebefehl Wallensteins neben einem Brief des Schwedenkönigs Gustav Adolf; ein Horoskop Keplers neben den Schriftzügen von Tycho de Brahe. In einem Rahmen vereinigt sind Handschriften berühmter Humanisten: Erasmus von Rotterdam, Comenius, Pestalozzi, Kaiser Josef. Von letzterem sind nicht weniger als hundert Briefe (eigenhändige Unterschriften unter Diktaten) vorhanden. In einer anderen Ecke sieht man die seltene bäurisch unbeholfene Handschrift Andreas Hofers, der irgend eine militärische Verfügung trifft …. In den Schränken liegen die Kostbarkeiten systematisch geordnet beieinander: über hundert Urkunden aus dem 13. und 14. Jahrhundert; Briefe und Schriftstücke aus der Reformationszeit; ja sogar hebräische Manuskripte aus dem Mittelalter fehlen nicht. Im daranstoßenden mit „Poesie“ überschriebenen Zimmer sind die deutschen Poeten von Opitz bis zur Gegenwart alle vereinigt. Von Goethe allein nicht weniger als 80 Schriftstücke, darunter freilich viele diktierte und schon gedruckte Briefe, aber auch viele originelle Handschriften, so das Gedicht „Ergo bibamus“, die Rede auf Shakespeare in Straßburg 1770, ein Streifen mit einigen Verszeilen aus dem „Faust“. Eine ganze Reihe von Briefen Schillers, dem bisher ungedruckten Entwurf zu einem „Seedrama“, eine philosophische Abhandlung über den Begriff Schönheit und die Musik. Briefe und Verse von Grillparzer, Theodor Körner, Uhland, Rückert, Freiligrath, Heine – dessen Testament, in französischer Sprache, ganz eigenhändig – Lenau, Anastasius Grün, Hebbel usw. Auch die Originalhandschrift von Arndts so wirkungsmächtigem Lied „Des Deutschen Vaterland“ befindet sich unter diesen Schätzen. Der Besitzer hat die „Gartenlaube“ in die Lage versetzt, die letzte Strophe in treuer Nachbildung wiederzugeben. Daneben ruhen auch unbekannte Briefe von Kant („Gedanken von der wahren Schätzung der Lebenskraft“), Schopenhauer, Herbart, Schelling, Fichte, Hegel. Ein besonderer Schrank vereinigt Briefe berühmter Frauen, angefangen bei Katharina von Medici bis auf Louise Michels Briefe aus dem Gefängnis, darunter rührende Zettel, hastig mit Bleistift hingeworfen in stürmischen Zeiten. Einer der größten Schätze Posonyis dürfte aber wohl seine Kollektion von Briefen und Gedichten an Michel Angelo Buonarotti und Briefentwürfen von seiner eigenen Hand sein: alles noch nie gedruckt!

Mit einer besonderen Vorliebe hat Herr Posonyi die Handschriften berühmter Komponisten gesammelt. In seiner Begeisterung für Mozart hat er diesem ein ganzes Zimmer gewidmet, dessen Wände mit Mozartreliquien bedeckt sind. Porträts von ihm und seiner Familie, Briefe von Freunden an Mozart oder über Mozart. Aber es fehlen auch die anderen großen Musiker nicht: Haydn, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Weber, Schumann, Liszt, Wagner. Die erste Korrektur der Tannhäuser-Partitur mit Wagners eigenhändigen Verbesserungen liegt hier auf. In einem Schranke, der auf unserem Bilde sichtbar ist, sind sämtliche Handschriften der Wiener Tänze von Lanner verewigt … .

Wir brechen ab. Es kann hier nicht entfernt ein vollkommener Begriff der Posonyischen Sammlung gegeben werden, an die sich noch eine reiche Porträtsammlung anschließt. Aber schon das Gesagte wird genügen, sie als eine Merkwürdigkeit erkennen zu lassen, die um so wertvoller ist, als ihr Eigentümer seinen Besitz in uneigennütziger Weise verwaltet und berufenen Männern so viel als möglich Einsicht in seine Sammlungen gewährt, damit sie wissenschaftliche Verwertung finden. Manches wertvolle historische Werk ist schon durch dieses Entgegenkommen gefördert worden, und das Archiv wird noch lange eine wertvolle Fundgrube für die geschichtliche Forschung bleiben.
M.R.
[557]

Durch die Blume.
Nach dem Gemälde von A. Müller-Grantzow.




Die Hexe von Glaustädt.
Roman von Ernst Eckstein.

(13. Fortsetzung.)

Die Gassen waren schon beinahe menschenleer. Ein verspäteter Zecher stolperte lallend an den Hausthüren vorüber, pochte hier und da an die Fensterläden und verschwand um die Ecke. Dann alles still. Schwarz und phantastisch hoben sich die Drachen- und Hundeköpfe der Dachtraufen gegen das tiefblaue Firmament ab. Die Häuser links glänzten im Mondlicht; rechts ballten sich schwere, undurchdringliche Schatten.

Wenige Minuten, nachdem Doktor Ambrosius schweren Herzens den Doktor Rolf Weigel verlassen hatte, kam er an die thorlose Maueröffnung des Gottesackers. Der alte, verlassene Kirchhof lag stumm und feierlich in der grasüberwucherten Einsamkeit seiner halb schon vermorschten Grabsteine. Hier und dort ragten breitästige Linden empor. Das Mondlicht rann und rieselte wie geschmolzenes Silber um die sanft rauschenden Zweige und übergoß die Grüfte mit einer glitzernden Schneeflut.

Wer doch hier längst schon gebettet läge! dachte Ambrosius in plötzlicher Weltmüdigkeit. Die verewigten, die hier unter den Steinen und Kreuzen ausruhten, fühlten nicht mehr das furchtbare Verhängnis, das so mitleidslos über der Stadt ihrer Heimat schwebte! Wie war das alles doch so schweigsam und friedlich! Es fehlte nicht viel, und Doktor Ambrosius hätte sich gramüberwältigt in den taufeuchten Rasen geworfen und geweint wie ein Kind.

Da mit einem Male fuhr er zusammen. Er machte Halt. Schritte ertönten durch die lautlose Mondnacht – fern und geheimnisvoll … Es war, als hätte einer der längst verscharrten Schläfer da drunten sein Grab verlassen, um sich noch einmal der jungblühenden Linden zu freuen und der köstlichen Sommerluft. Dem jungen Arzt grauste ein wenig. Er schüttelte sich. Wenn ihm die thörichte Einbildungskraft einen schreckhaften Streich spielte! Krankhaft erregt wie er war, schien ihm dies wohl möglich. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht lieber den weiteren Weg über die Frohngasse genommen und den Kirchhof umgangen hatte, gleich den übrigen Glaustädtern, die sich nach Sonnenuntergang dem verlassenen Gottesacker grundsätzlich fern hielten.

Alsbald aber schämte er sich dieser Anwandlung. Er ging mit ruhiger Bedächtigkeit vorwärts. Nun gewahrte er deutlich eine dunkle Gestalt, die von dem jenseitigen Thor langsam näher kam, nachdem sie gleichfalls einen Augenblick lang gestutzt hatte. Der Mann trug einen schwarzen, faltigen Mantel, dessen schwere Kapuze ihm breit über die Stirn hing. Sein vierschrötiger Wuchs und der wiegende Gang dünkten dem jungen Arzte nicht unbekannt. Und wie dann Ambrosius den seltsamen Nachtwandler unmittelbar vor sich hatte, sah er zu seiner unbeschreiblichsten Aufregung, daß dieser mantelverhüllte Mensch kein anderer war als der entsetzliche Vorsitzer des Malefikantengerichts. – Der lustfrohe Lebenskünstler hatte im Grundviertel jenseit des Kirchhofs heimlich geabenteuert.

Balthasar Noß prallte jählings zurück, als packe ihn bei dieser einsamen Begegnung eine tödliche Angst. Das Gerücht hatte den jungen Mann längst als Hildegard Leutholds Herzallerliebsten [558] bezeichnen. In den scheublickenden Augen des Blutrichters glomm unverkennbar die Feigheit eines bösen Gewissens.

Mehr bedurfte es nicht, um dem ohnehin fiebernden Doktor Ambrosius die letzte Besinnung zu rauben. Unbekümmert um alles, was folgen konnte, vielleicht auch halb unbewußt von der thörichten Hoffnung erfüllt, er werde auf diese Art noch am ersten sein Ziel erreichen, stürzte er auf Balthasar Noß zu, packte ihn mit eisernem Griff und warf ihn rücklings zu Boden.

„Elender!“ ächzte er heiser vor Aufregung. „Bete zu Gott um Verzeihung für all deine Schandthaten! Du kommst nicht mehr lebendig von dannen!“

Balthasar Noß machte verzweifelte Anstrengungen, sich von den Fäusten seines Gegners zu befreien. Doktor Ambrosius aber hielt fest.

„Hört jetzt, was ich Euch sage,“ raunte er ingrimmig und stemmte dem Blutrichter das Knie hart auf die Brust. „Gebt Ihr nur einen einzigen Laut von Euch, so mach’ ich die Drohung wahr! Ich töte Euch auf der Stelle. Er schwang in der Linken den blaublitzenden Dolch. „Mag dann mit mir geschehen, was der Himmel verhängt! Mir ist das Leben nichts wert mehr, falls ich nicht vollende, was ich mir vorgesetzt habe.“

Er ließ den Keuchenden los.

„Steht auf!“ befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch litt. „Tretet hier in den Baumschatten! So. Und nun hört! Ihr habt aus gemeiner Bosheit und Habgier die Tochter Franz Engelbert Leutholds in Haft genommen …“

„Nicht ich!“ röchelte Balthasar Noß. „Doktor Xylander, mein Beisitzer, hat das veranlaßt.“

„Gleichviel. Ihr, Balthasar Noß, führt den Prozeß, und bei Euch ist die Macht, sie frei zu geben. An das elende Ammenmärchen vom Teufelspakt glaubt Ihr ja selbst nicht. Aber an einen Gott werdet Ihr glauben, der den Eidbruch mit ewigen Strafen heimsucht. Wenn Ihr mir nun bei diesem allwissenden Gotte nicht schwört, gleich morgen nach Tagesanbruch das Fräulein aus ihrer Haft zu entlassen und ihre Schuldlosigkeit öffentlich auszusprechen, so stoße ich Euch noch in dieser Minute den Stahl ins Herz! Und auch das müßt Ihr geloben, daß Ihr auf keine Art Euch rächen werdet für diese Nötigung – weder an mir, noch an sonst wem! Könnt und wollt Ihr das schwören bei Eurer Seelen Seligkeit, so mögt Ihr ungekränkt weiterziehen. Andernfalls …“

Er zückte den Dolch.

„Wahrlich, Ihr seid von Sinnen!“ murmelte Balthasar Noß. „Wenn nun die Inkulpatin schuldig ist …! Bedenkt Ihr auch, was Ihr mit Eurem tollkühnen Verlangen Euch anmaßt? Ihr vergewaltigt den höchsten Vertreter unseres allergnädigsten Landgrafen!“

„Fahrt zur Hölle mit Eurem Landgrafen! Der ist kein Vater für seine Unterthanen, sondern ihr Peiniger! Ihr aber schwört jetzt, wie ich’s Euch vorsage, sonst – beim allmächtigen Gott – ist Euer Leben verwirkt!“

Balthasar Noß schaute sich angstvoll um. Aber rings auf dem weiten Friedhofe war es totenstill – und der blindwütige Mann da mit den stählernen Muskeln und dem wildflammenden Blick ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er zum Fürchterlichsten entschlossen sei. Und Balthasar Noß beugte sich. Heimlich schäumend sprach er Silbe für Silbe nach, was Doktor Ambrosius ihm vorsagte. Bei seiner Seelen Seligkeit schwur er, daß er morgen in aller Frühe Hildegard Leuthold entlassen und sich niemals an irgend wem für die erlittene Gewaltthat rächen wolle.

Nun gab ihn der junge Arzt frei. Keuchend und murrend brachte sich Noß den verschobenen Mantel in Ordnung und ging schnell seines Wegs. Innerlich tobte und raste er.

Doktor Ambrosius schaute ihm tief atmend nach. Während der heißen Erregung dieses unerwarteten Auftritts hatte er siegesfroh triumphiert. Je mehr aber die dunkle Gestalt zwischen den Kreuzen und Leichensteinen dahinschwand, um so rascher und peinvoller kehrte die kaum verwundene Beklommenheit wieder. Es schien ihm jetzt beinahe gewiß, daß Balthasar Noß den abgenötigten Schwur nicht halten würde. Ambrosius machte sich die heftigsten Vorwürfe. Er hätte der unseligen Eingebung des Augenblicks unter keiner Bedingung folgen dürfen. Nun war alles verloren, trotz der Bemühungen Weigels, der doch vielleicht einen Aufschub erzielt hätte! Er selbst, Ambrosius, durfte sich auf das Schlimmste gefaßt halten.

Gleichwohl sprach er sich alsbald wieder Mut ein. Der Eid war zu unzweideutig, zu schreckhaft bindend gewesen. Der nämliche Mann, der seine Mitmenschen dutzendweise dem Scheiterhaufen und dem Schwert überantwortete, weil er sie des Verrates an Gott zieh, konnte nicht selber ohne Scheu vor diesem Gott sein. Vielleicht war Balthasar Noß nur in der Form rauher und blutiger, aber bei all seiner Habgier doch ein Gesinnungsgenosse des gutgläubigen Adam Xylander.

Von solchen Erwägungen hin- und hergeschleudert, ging Doktor Ambrosius in trübster Stimmung nach Hause. Elma war aufgeblieben.

„Habt Ihr etwas erreicht?“ fragte sie schüchtern.

Er strich ihr schwermütig über das dunkle Haar.

„Ich hoffe es,“ sagte er halblaut. „Morgen erzähl’ ich dir’s. Gute Nacht, Elma!“ Dann stieg er langsam und trauriger Ahnungen voll die Treppe hinauf.

22.

Als er dann sein Schlafzimmer betrat, war sein Vertrauen auf eine glückliche Lösung vollständig gesunken. Der lauernde Blick, den ihm Balthasar Noß nach dem abgenötigten Eidschwur zugeworfen, malte sich dem Verzweifelnden jetzt in der Rückerinnerung so haßerfüllt, daß er kaum noch begriff, wie er dem tückischen Wicht auch nur sekundenlang hatte trauen können. Und niederschmetternd überkam ihn das dumpfe Gefühl, als öffne sich ihm dicht vor den Füßen der Abgrund.

Geraume Zeit durchmaß er die kleine Stube mit rastlosen Schritten. Er wollte sein pochendes Hirn gewaltsam zur Ruhe zwingen. Doch es gelang ihm nicht. Nun trat er ins Mittelzimmer, riß dort ein Fenster auf und starrte erschöpft hinaus auf den schlummernden Marktplatz, dessen längliches Viereck bald in hellster Bestrahlung aufglänzte, bald sich in bleigraue Schatten hüllte.

Vor der Mondscheibe glitt weißqualmendes, wild zerrissenes Gewölk einher, zu phantastischen Urweltsleibern geballt, zu Lindwürmern und schweifschlagenden Riesenschlangen. Die Wasser des Röhrbrunnens plätscherten müde und schläfrig um die bekränzte Standsäule des Drachentöters – und rechts und links dehnten sich, je nach der Beleuchtung greifbarer oder verschleierter, die märchenhaft altertümliche Stadt, die Giebel und Schornsteine, die Erker, die zackigen Wetterfahnen, die mächtigen, kraus verschnörkelten Dachtraufen.

Jetzt erhob sich von Osten her ein langgezogener, aufstöhnender Windstoß. Seltsame, leis schwirrende Töne durchbrausten die Luft, ein Rieseln, ein Klappern und Kreischen. Dann wieder starre Lautlosigkeit. Ringsher träumende Mondnacht.

Doktor Ambrosius ward plötzlich von wahnwitziger Sehnsucht ergriffen. Fern über den äußersten Dächern ragten die Wipfel des Lynndorfer Gehölzes auf. An dem Saum dieses Waldes führte der Weg entlang, den er damals mit Hildegard Leuthold gegangen war, als er ihr nach der Lustspielvorstellung in der Waldschenke sein volles Herz offenbarte. Wie unvergleichlich schön und gut war sie gewesen! Wie glücklich und hoffnungsreich! Und jetzt …?

Er trat vom Fenster zurück. Von neuem rannte er ruhelos auf und nieder. Er mühte sich krampfhaft, die entschwindende Hoffnung festzuhalten. Aber umsonst. Immer wieder packte ihn der zermalmende Qualgedanke: deine Rechnung ist falsch!

Endlich ging er ins Schlafzimmer. Geistig und leiblich todmüde, setzte er sich auf den Rand der Bettstatt. Eine wohlthätige Willensunfähigkeit übermannte ihn. Von Zeit zu Zeit betastete er die Brusttasche, wo er den Dolch trug. Er sprach sich vor: „Diese Waffe da ist deine letzte Zuflucht!“ Wie? – das blieb ihm noch unklar. Würde er sich in dämmernder Frühe den Weg zu Balthasar Noß bahnen? Oder den Stahl wider sich selbst kehren? Aber wer trat dann hilfreich ein für Hildegard Leuthold? Und was frommte ihr noch die Freiheit, wenn sie den Mann ihrer Wahl draußen nicht wiederfand?

Seine Gedanken verwirrten sich. Er sank schräg über das aufgedeckte Lager und schlief – angekleidet wie er war – ein.

[559] Auch Elma Wedekind genoß in dieser mondhellen Julinacht keiner erquicklichen Rast. Alle paar Augenblicke fuhr sie vom Schlummer empor, meinte, der Tag graue, ihr Vater begehre sie oder die häusliche Arbeit rufe. Halbe Stunden lang saß sie im Bett aufrecht, sann über das traurige Schicksal des Freundes nach und wiederholte sich inbrünstig, daß Hildegard Leuthold bei all ihrem Jammer doch tief zu beneiden sei. Denn das eine konnte ihr ja kein Blutrichter und keine Gewalt der Hölle rauben: daß Doktor Ambrosius sie lieb hatte! Von Hildegard und Ambrosius kehrten ihre Gedanken jedesmal rasch zur Mutter zurück. Sie wunderte sich, daß sie in ihrem unendlichen Weh noch Zeit fand, sich um den Schmerz andrer zu kümmern, die doch kein Band der Blutsverwandtschaft mit ihr verknüpfte. Aber das war ja eben das Rätselhafte: alles, was Doktor Ambrosius betraf, ging ihr ebenso nahe wie das eigene Leid. Ja, sie meinte, fast näher.

Um drei Uhr war es schon völlig Tag. Sie quälte sich noch eine Weile, wieder den Schlaf zu finden. Als dann aber die ersten Strahlen der Sonne über das Gärtchen zuckten und die Wipfel der fruchtbeladenen Kirschbäume in rötliches Gold tauchten, hielt sie’s nicht länger aus. Sie erhob sich schnell, wusch sich und zog sich an und ging nach der Vorderstube, wo auf der Fensterbank am Platze des Vaters die große Hausbibel lag. Als Tochter wohlhabender Eltern hatte sie leidlichen Schulunterricht genossen. Sie las fließend, Gedrucktes sowohl wie Geschriebenes. Nun schlug sie die Bibel auf und vertiefte sich beim Frühlicht des neuen Tages heilbegierig in das ihr längst vertraute Gotteswort.

Der schwere Band öffnete sich beim vierten Kapitel des Predigers Salomonis. Der Vater mußte hier gestern aufgehört haben, denn hier steckte das zopfartig geflochtene Buchzeichen aus rotem Leder. Und was Elma in diesem Kapitel fand, das schien ihr wie ausgewählt für die achtlose Stimmung ihres todbangen Gemüts. Es hieß da wie folgt:

„Ich wendete mich und sahe alle, die Unrecht leiden unter der Sonne. Und siehe, da waren Thränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster, und die ihnen Unrecht thaten, waren zu mächtig, und so konnten sie keinen Tröster haben.

Da lobete ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben hatten.

Und der noch nicht ist, der ist besser denn alle beide, weil er des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschiehet.“

Sie las und schaute dann über das Buch hinweg auf die getünchte Wand, wo jetzt ein schmaler, flimmernder Streifen der Frühsonne sichtbar ward. Sie dachte den Worten der Schrift gramerfüllt nach. Sie fragte sich seufzend, warum das so sein müsse – bis ihr dann heiß auf die Seele fiel, was der Herr Stadtpfarrer Melchers neulich über die Unerforschlichkeit des göttlichen Ratschlusses und die Sündhaftigkeit des Murrens und Grübelns gesagt hatte. Nun senkte sie voll Demut die Stirn, flehte zu Gott um Verzeihung und sprach ein stilles Gebet für all ihre Lieben, auf daß in Erfüllung gehe, was da geschrieben steht. Ich will ihre Thränen trocknen. – Dann las sie voll gläubiger Andacht weiter.

Mit einem Male glitt ein Schatten an ihrem Fenster vorüber, ein zweiter, ein dritter. Aufschauend erkannte sie zu ihrem Entsetzen die gelbgrauen Gewänder und Mützen der städtischen Rutenknechte. Und jetzt pochte es auch schon draußen wider die Hausthür.

Kurz entschlossen streckte sie ihren Kopf durch den kleinen Halbflügel. Ihr Herz krampfte. Aber sie hielt sich wacker. „Zu wem wollt Ihr?“

„Zum Doktor Ambrosius,“ versetzte der Obmann. „Oeffnet ohne Verzug!“

„Ist jemand erkrankt?“ Der Obmann lachte.

„Erkrankt? Wenn dem Herrn Doktor nur selber die Kur anschlägt! Nein, Jungfer! Wir kommen ihn festnehmen. Flink also! Oder ich stoß’ Euch die Thür’ ein.“

„Gleich, gleich! Vergönnt mir nur eine halbe Minute, um ein Gewand überzuwerfen. So wie ich bin, kann ich Euch jetzt unmöglich aufmachen.“

„Gut. Aber trödelt nicht!“

Elma bebte an allen Gliedern. Im ersten Augenblick war ihr zu Mut, als könnte sie keinen Schritt von der Stelle. Dann aber sauste sie wie ein Sturmvogel die steile Holztreppe hinan. Der Eingang zu den Wohnräumen des jungen Arztes war glücklicherweise nicht zugeriegelt. Elma trat geräuschlos hinein. Wie sie dann wahrnahm, daß Doktor Ambrosius vollständig angekleidet auf seiner Bettstatt ruhte, hätte sie beinahe vor heller Genugthuung aufgejubelt! Zweckmäßiger konnte sich das nicht fügen. Ohne sich zu besinnen, rüttelte sie ihn bei der Schulter.

„Flieht!“ raunte sie angstvoll, da er die Augen aufschlug. „Drunten am Hausthor stehen die Rutenknechte. Sie wollen Euch festnehmen. Durch den Garten entkommt Ihr leicht nach der Korngasse. Rechts an dem großen Ahornbaum steht eine Leiter. Wenn Ihr die Leiter mit über die Mauer zieht, haben die Schergen das Nachsehen. Eilt nur, eilt! Ich halte die Spitzbuben so lange noch auf, bis Ihr hinüber seid!“

„Also doch!“ knirschte Ambrosius. „Dank dir, du liebes Kind! Wenn du dich nur nicht selber ins Unheil bringst!“

„O, ich will mich schon ausreden!“

Hastig und doch ohne zu lautes Geräusch klommen die Zwei hinab in das Erdgeschoß. Elma wollte jetzt eben zur Hausthür schreiten um je nach Befund aufzumachen oder noch irgendwie Vorwände für eine weitere Verzögerung zu suchen, als schon ein breitblendender Lichtstreifen in das Halbdunkel der Flur hereinfiel. Rudloff, der Altgeselle, war von dem Pochen erwacht und hatte auf die zornige Drohung des Obmanns hin, sämtliche Insassen sollten für die unbotmäßige Langsamkeit Elmas büßen, sofort geöffnet.

Der Obmann sah noch gerade, wie Doktor Ambrosius im Hausgarten verschwand. Er wollte dem Flüchtling nachstürmen. Aber da stieß er auf ein unerwartetes Hemmnis. Zwischen den Pfosten des schmalen Hinterpförtchens stand bleich und verstört Elma Wedekind. Sie klammerte sich rechts und links mit verzweifelter Anstrengung fest und verlegte ihm so den Durchgang.

„Fort, Hexenbrut!“ rief er empört und suchte sie mit Gewalt zurückzudrängen.

Das Kind stöhnte. Aber der Griff, mit dem sie die Thürpfosten umklammert hielt, lockerte sich auch nicht um Haaresbreite. Die Todesangst um den teuren Mann, der für ihr kindliches Herz der Inbegriff alles Guten, Hohen und Herrlichen war, lieh ihr fast übermenschliche Kräfte.

„Er ist unschuldig!“ rief sie mit geller Stimme. „Ihr habt meine unglückliche Mutter geholt, wollt ihr auch ihn abschlachten?“

„Wahnsinnige!“ schrie der Obmann. „Willst du dich selbst auf den Block liefern? Gieb jetzt Raum, oder ich schlag’ dich zu Boden!“

Die beiden Mitknechte waren herangetreten. Der eine hob bereits seine Stoßwaffe.

„Ihr werdet doch nicht!“ rief der Altgeselle verzweifelt und fiel ihm rasch in den Arm. „Ich bitt’ Euch um Christi willen! Ihr seht ja doch, daß sie völlig von Sinnen ist! Der Schmerz um die Mutter hat sie wie toll gemacht! Und ein wehrloses Mägdlein!“

Etwas beschämt ließ der Knecht seine Waffe sinken. Unterdes hatte der Obmann das verzweifelte Kind doch auf die Seite geschleudert. Bei dem erneuten Anprall stürzte sie rücklings über die steinerne Beetumrahmung, aus deren Mitte der einst so liebreich gepflegte Pfirsichbaum an der Wand emporwuchs. Noch im Taumeln jedoch nahm sie wahr, daß Doktor Ambrosius bereits die Mauer erstiegen hatte und jetzt die Leiter über den First zog. Er hatte den Weg in die Freiheit, von dem sie beim Anblick des grellfarbigen Landschaftsbildes an der Mauer so oft geträumt hatte, glücklich gefunden. Eh’ man ihm folgen konnte, war er vielleicht schon in Sicherheit! Jedenfalls hatte er einen tüchtigen Vorsprung! Der laute Schrei, der sich von Elmas Lippen rang, war fast noch ein Freudenschrei. Dann stöhnte sie schwer auf. Ihr Antlitz entfärbte sich. Sie verlor die Besinnung.

Während die Stadtknechte wild fluchend und drohend das [560] Haus verließen, um dem Entwichenen über die Haingasse nachzusetzen, hob Rudloff das arme Kind auf und trug es fürsorglich in die Wohnstube, wo in dem nämlichen Augenblick der Zunftobermeister erschien – stumm und fahl wie der Tod. Elma ward auf die breite Polsterbank niedergelegt. Der Lehrbursche rannte nach Wasser und Kirschgeist und lief dann zum Bader, während Rudloff der bleichen Bewußtlosen etliche Tropfen einflößte und ihr mit rührender Vorsicht die Stirne wusch. Dem starr dreinschauenden Vater erzählte er unterdes in kurzen gestammelten Worten, was vorgefallen.

Karl Wedekind rang verzweifelt die Hände.

„Laß sie nur sterben!“ sagte er endlich mit einer fürchterlichen Gebärde der Gleichgültigkeit. „Es ist besser, Gott nimmt sie zu sich! Die Bluthunde kommen sonst wieder und schleppen sie fort …! Auch mein Kind, mein einziges, liebes Kind! O, und dann … dann …“

Er drückte die Faust hart auf die zuckenden Wimpern. Aber da quoll keine Thräne. Nur ein gräßlicher Druck lag ihm über den Brauen, als ob da hinter den dumpfschmerzenden Knochen der Wahnsinn laure.

Endlich schlug Elma Wedekind seufzend die Augen auf.

„Wo bin ich?“ fragte sie leise. „Ach ja, lieber Vater, bei dir! Jetzt weiß ich alles wieder … Der schreckliche Mensch …! Wie er mich anschaute! Wie er mich fortstieß! Aber ich hab’ ihm doch standgehalten! So lang’ ich nur konnte! Und Doktor Ambrosius …! O ich hab’s noch gesehen …! Die Stadtknechte kamen zu spät … Gott der Herr wird ihn auch ferner schützen. Ja, gewißlich! Das fühl’ ich tief im Grund meiner Seele!“

„Kind, Kind, was hast du gethan!“ stöhnte der Zunftobermeister. „Wer sich den Häschern des Tribunals widersetzt …“

Elma Wedekind lächelte.

„Freilich! Aber das geht nun wie Gott will! Ich konnte doch nicht …! Nein, das ging nicht. Einer, der in der Welt so nötig ist und so viel Gutes und Großes wirkt und eine herrliche Zukunft hat … O, er sagte mir’s gestern, daß noch alles gut für ihn werden kann! Ich aber bin nur ein Kind, und seit nun die Mutter fort ist, fehlt mir ja doch die Kraft, weiterzuleben. Tröste dich, Vater! Droben im Himmel sehn wir uns wieder! Nein, fürchte dich nicht! Ich spüre das deutlich, mir können die grausamen Leute nichts mehr anhaben.“

„Liebling, was redest du! So ein Fall auf die Steinkante … Davon stirbt man ja doch nicht gleich! Wo fehlt dir’s denn, meine gute, herzliebe Elma? Was? Da über den Hüften?“

„Ich weiß nicht, aber es war mir zu Mute, als ob ich gleich mitten entzwei bräche. Und dann, siehst du, Vater, die Beine und Füße sind mir wie abgestorben. Da sitzt schon der Tod. Ich kann mich nicht rühren noch regen. Und so wird’s denn auch bald heraufkommen bis an das Herz … Bleib’ du nur standhaft, mein armer Vater, und verlier’ nicht den Mut! Auch für dich wird noch einmal die Zeit kommen, wo du dein Weh’ verschmerzest und wieder glücklich und froh wirst. Ich sterbe gern, Vater! Mein Leben hat ja nun einen Zweck gehabt! Und eins noch, Vater …! Komm, beug’ dich hier über mich her! Das muß ich dir ganz leise ins Ohr sagen. Vater, um Gotteswillen, thu alles und jedes, was du nur irgend kannst, um diesen Greueln der Blutrichter ein Ende zu machen! Ich weiß ja nicht wie, aber ich meine, wenn ihr euch alle zusammenthut und dem Landgrafen ehrlich sagt, wie wir leiden … Ach, du wirst schon das Rechte finden, wenn du dir Mühe giebst! Vater, gelobe mir das!“

Der Schreinermeister küßte verzweiflungsvoll ihre Hände.

„Ja, mein Kind, das gelob’ ich dir feierlich! Aber stirb nur nicht, stirb nur nicht! Laß mich nicht so gräßlich allein in dieser traurigen Welt! Was soll ich da noch? Nimm mich gleich lieber mit! Allmächtiger Gott, Elma, was hast du? Elma, Elma!“

Ein leichter Schauer ging durch den zarten Leib, der mit zerbrochenem Rückgrat müde und lebensunfähig auf den Polstern lag. Eine Verletzung der Blutgefäße hatte den Tod beschleunigt. Zuckenden Herzens drückte der Altgeselle der kleinen Dulderin, die er so über die Maßen lieb gehabt, die erloschenen Augen zu. Karl Wedekind aber warf sich mit einem markerschütternden Schrei langwegs auf den Fußboden

(Fortsetzung folgt.)

Das Herzklopfen.
Ein Beitrag zur Hygieine des Herzens.
Von Dr. J. Herm. Baas.

Das Herz antwortet auf jede stärkere Gemütsbewegung, sowohl freudiger als trauriger Art durch vermehrte, seltener auch durch verminderte Thätigkeit. Es pocht und hämmert in freudiger Erregung; es schlägt langsam, „bleibt stille stehen“ bei Trauer und Schreck. Körperliche Anstrengungen beeinflussen gleichfalls die Herzthätigkeit, wie fliegen die Pulse beim Laufen und Tanzen, beim Springen und Bergsteigen oder beim Heben schwerer Lasten! Jedermann kennt aus eigener Erfahrung diese vermehrte Herzthätigkeit, das Herzklopfen, das unter gewöhnlichen Umständen sich rasch zu legen pflegt, wenn Gemüt und Körper zur Ruhe gelangen. Bei vielen Menschen tritt jedoch das Herzklopfen in verstärktem Maße, oft ohne leicht ersichtliche Ursache ein, bald stärker, bald schwächer, bald länger, bald kürzer dauernd, belästigt und beunruhigt es die von ihm Befallenen. Es ist alsdann keine normale Erscheinung und viele Menschen klagen, daß sie an Herzklopfen leiden.

In der That ist ein solches Herzklopfen eine krankhafte Erscheinung, aber keine Krankheit für sich, sondern nur das Symptom verschiedener Störungen der Gesundheit. Oft ist das Herzklopfen das erste Zeichen, daß wir unserem Körper zu viel zumuten, durch schädliche Einflüsse unsere Gesundheit stören, es ist alsdann eine Mahnung, daß wir eine falsche Lebensweise aufgeben. An die Betrachtung des Herzklopfens kann darum der Arzt eine Reihe wichtiger hygieinischer Ratschläge knüpfen. In diesem Sinne wollen wir in nachstehendem über ewige Ursachen und über Verhütung des Herzklopfens berichten.

Wir haben schon hervorgehoben, daß schwere körperliche Anstrengungen Herzklopfen hervorrufen. Dieselben können unter Umständen das Herz schwer schädigen, ja selbst Herzzerreißungen herbeiführen. Es ist darum nicht dringend genug vor sogenannten Kraftproben zu warnen, zu denen der sich immer weiter ausbreitende Sport oft genug verführt.

Geringere, aber fortgesetzte Ueberanstrengungen des Herzens durch verhältnismäßig zu schwere oder zu lange Arbeit namentlich seitens jugendlicher Individuen, bringen zwar keine augenblickliche Gefahr wie die übergroßen, plötzlichen – wohl aber führen sie nicht selten zu einfachen Herzvergrößerungen, ohne daß dabei der Klappenapparat der Herzpumpe leidet. Das Herz muß dann eine stärkere Blutbewegung zuwege bringen, mehr als gewöhnlich mitarbeiten und, um dies zu können, allmählich, wie die Arbeitsmuskeln auch, seinen Umfang vermehren; es wird größer und dicker und dadurch stärker. Man hat dies u.a. bei stramm exerzierenden Soldaten beobachtet, dann bei solchen jugendlichen Arbeitern, die viel heben, tragen, graben, dreschen u. dergl. müssen. Erste Zeichen dieses Leidens sind starkes Herzklopfen, gerötetes Gesicht, zeitweises Kopfweh, selbst vorübergehende Atemnot. Treten diese Beschwerden auf, so muß man, um schlimmere Folgen zu verhüten und die bereits vorhandenen zur Zurückbildung zu bringen, alsbald die schweren Arbeiten unterlassen und leichtere wählen, geschieht dies nicht oder kann dies nicht geschehen, so wird die Herzveränderung eine bleibende. Auch fortgesetzter Mißbrauch geistiger Getränke, wie er gerade bei jungen Leuten öfters aus einer Art Eitelkeit, um ihre Trinkfertigkeit zu beweisen, leider verübt wird, kann die gleichen Folgen nach sich ziehen, ebenso manche Sportsarten. Besonders leicht wird aber die einfache Herzvergrößerung herbeigeführt, wenn sich zur Ueberanstrengung der Muskeln noch der Alkoholgenuß gesellt. Derselbe braucht dabei nicht einmal ein übermäßiger zu sein. Schon kleine Mengen, die zur Anregung oder, wie der übliche Ausdruck lautet, „als Herzstärkung“ getrunken

[561]

Die Eggenthaler Straße mit Burg Karneid.
Nach einer Originalzeichnung von M. Zeno Diemer.

[562] werden, können verderblich wirken. Gerade diese verhängnisvolle Verbindung ist viel häufiger Ursache der Herzvergrößerung als schwere Arbeit allein. Wäre dem nicht so, dann müßte doch dieses Herzleiden zweifellos auch bei jugendlichen Arbeiterinnen, die nicht selten ebenso hart arbeiten müssen, z. B. in der Landwirtschaft, jedoch nicht so gern „ihr Herz stärken“, auftreten, was aber ganz entschieden nicht der Fall ist, wie jeder erfahrene Arzt weiß. Jugendliche Arbeiter, Rekruten usw. müssen also auch der Gesundheit ihres Herzmuskels wegen alkoholischer Getränke, namentlich während der Arbeit, und besonders bei schwerer, vermeiden.

Kommen, wie gesagt, bei jugendlichen Arbeiterinnen überhaupt bei der weiblichen Jugend, einfache Herzvergrößerungen viel seltener vor als bei jungen Männern, so ist ein anderes Herzleiden dafür bei ihnen um so häufiger, das reine Herzklopfen. Zwischen dem naturgemäßen Stoß des Herzens gegen die linke Brust und dem Herzklopfen ist nun zwar nicht scharf zu unterscheiden; für unsere Zwecke genügt es aber, zu sagen, daß das letztere dann als vorhanden angesehen werden muß, wenn das Schlagen des Herzens als solches unangenehm, und zwar als kürzer oder länger dauernde Störung des gesundheitsgemäßen Behagens, empfunden wird. Der Herzschlag ist dabei in Wirklichkeit nicht immer sehr verstärkt und heftig, sondern er wird oft nur von den Patientinnen dafür gehalten, in anderen, allerdings seltenen Fällen, wird er dagegen viel stärker von der aufgelegten Hand des Arztes gefühlt, als von den Leidenden wahrgenommen. Mit anderen Worten: Temperament und größere oder geringere Aengstlichkeit wirken bei den Klagen über Herzklopfen erheblich mit, als Regel darf aber gelten, daß die Klagen heftiger sind als das Herzklopfen. Charakteristisch ist für dasselbe, daß dabei weder der Herzmuskel vergrößert, noch der Klappenapparat im Herzinnern verändert ist.

Neuerdings tritt das reine Herzklopfen immer häufiger schon bei jüngeren Schülerinnen, seltener bei Knaben, besonders in höheren Schulen, auf, so daß man diese Form als „Schulherzklopfen“ bezeichnen kann. Namentlich sind die Besucherinnen der höheren Töchterschulen davon geplagt, oft schon nach ein- oder zweijähriger Dauer des Unterrichts. Dazu tragen mannigfaltige, aber nicht allein auf Rechnung dieser Anstalten zu setzende Schädlichkeiten und Fehler bei. Die letzteren haben das gemeinsam, daß sie hauptsächlich das Nervensystem treffen, während zugleich das Muskelsystem unbeschädigt bleibt. Zu dem langen Stillsitzen auf harten Bänken und der steten Aufmerksamkeit in der Schule kommt noch als Gesundheitsschädigung hinzu, daß auf Spielen im Freien seitens der Eltern zu wenig Gewicht gelegt wird. Die Mädchen sitzen auch zu Hause weiter oder werden mit Klavierspielen geplagt, halten Gesellschaften usw., nur selten kommen sie zu kurzen Gängen. Dadurch wird die Blutbildung und die Ernährung der Organe, und am meisten die des immerthätigen Herzens, herabgesetzt, dieses muß daher den Ausfall an Kraft durch häufigere, weil im einzelnen kraftlosere Schläge ersetzen; es entsteht Herzklopfen aus Schwäche des Herzens. Als Verhütungs- und Gegenmittel können die zwei wöchentlichen Turnstunden keinesfalls genügen, als solche dient hauptsächlich täglicher, mehrstündiger Aufenthalt in freier Luft mit körperlichem Ausarbeiten durch Spiel, Spaziergänge, Gartenarbeiten u. dergl., in schlimmeren Fällen Aussetzen des Schulbesuchs und Landaufenthalt. Besonders häufig treten Anfälle von Herzklopfen bei Mädchen in den Entwicklungsjahren ein. Sie sind dann Folgen einer mangelhaften Blutbildung und zumeist mit den Erscheinungen der Bleichsucht verbunden. Das Einnehmen der althergebrachten „Stahltropfen“ oder der modernen Eisenpeptonate wird zwar in Laienkreisen als das Hauptmittel dagegen betrachtet, ist aber ohne die Verbindung mit den genannten hygieinischen Maßnahmen wenig oder gar nicht wirksam.

Fast regelmäßig leiden die Frauen in späteren Jahren, wenn sie in das Matronenalter eintreten, an einem oft sehr lästigen Herzklopfen. Dagegen sind andere Maßregeln zu empfehlen. Wohl bleibt auch in diesem Falle ein ausgiebiger Aufenthalt im Freien ein Herz- und Gesundheitsschutzmittel ersten Ranges, aber es ist, dem höheren Alter entsprechend, eher körperliche Schulung als vermehrte Thätigkeit anzuraten nur darf man darin nicht so weit gehen, daß man dem in der Regel bestehenden übermäßigen Verlangen nach Ruhe völlig nachgiebt.

Anstatt der im Ausbildungsalter oft sehr heilsamen täglichen kalten Abwaschungen des Oberkörpers läßt man beim Herzklopfen während der beginnenden Matronenzeit vorteilhafter, wenn nicht täglich, so doch mehrmals wöchentlich kurze lauwarme Bäder nehmen. Daß bei beiden Arten von Entwicklungsherzklopfen alle erregenden Mittel, wie Thee, Kaffee in stärkerem Aufguß, „herzstärkende Tropfen“ und gar Getränke, in den meisten Fällen schädlich wirken müssen, ist selbstverständlich, doch darf man die Schablone nicht so weit treiben, daß man sie ganz verbietet, einesteils, weil sie in vereinzelten Fällen, in mäßiger Stärke genossen, wirklich nützen, andernteils, weil man durch unbedingtes Verbot einer langjährigen Gewohnheitsübung meist die begleitende Gemütsangst und somit die Neigung zu Herzklopfen erhöht.

Eine nicht seltene Ursache des Herzklopfens bildet sowohl bei Männern wie bei Frauen, wenn auch häufiger bei letzteren, vermehrte Fettbildung. Es rührt dann von einer Art Druck her, der durch Fettumlagerung des Herzens entsteht, gegen welche Einengung dieses sich durch Klopfen wehrt, und ist verschieden von dem aus Herzverfettung entstehenden, wobei das Muskelfleisch fettig entartet. Bei der ersten Form nützt hauptsächlich eine sogenannte Entfettungskur, bei der letztgenannten dagegen darf eine solche nicht angewendet, sondern es muß versucht werden, u. a. durch eine bessere Ernährung, dem Prozeß Einhalt zu gebieten. Die bei beiden Formen auftretende Atemnot hat ihre Begründung in der engen Wechselbeziehung, in welcher die Lungen- und Herzthätigkeit zu einander stehen wird; doch, was jedermann willkürlich herbeiführen kann, bei rascherer Atmung der Herzschlag schneller und bei künstlicher Verlangsamung derselben seltener. Bei Fettherz und Herzverfettung setzt das Herz gern aus, d. h. es fällt nach einer größeren oder geringeren Reihenfolge ganz regelmäßiger Zusammenziehungen und Ausdehnungen desselben eine aus, eine Erscheinung, welche aufmerksame Patienten meist sehr beunruhigt zu deren Trost sei aber gleich gesagt, daß dies durchaus kein Vorzeichen des gefürchteten Herzschlages ist, sondern auch bei ganz Gesunden hier und da auftritt, ja bei einzelnen Personen während des ganzen Lebens die Regel ist. Bei Herzklopfen durch Fettherz sowohl wie namentlich durch Herzverfettung müssen vor allem plötzliche und heftige Anstrengungen, wie Heben, Laufen u. dergl. vermieden und bei längerem Andauern desselben ruhige, horizontale Lage eingehalten werden. Unterstützt wird diese durch Auflegen kalter Umschläge oder einer Eisblase auf die Herzgegend.

Eine ganze Gruppe von Herzklopfen beruht auf Diätfehlern im weitesten Sinne. Wer sich aufmerksam beobachtet, wird gefunden haben, daß, wenn er nach langer und starker Erhitzung durch Fußtouren bei Sonnenhitze, auf Bällen u. dergl. seinem Durst mit einem Male ganz nachgiebt, er dies mit zuweilen recht unangenehmem Herzklopfen büßen muß. Das ist leicht erklärlich, denn das vorher durch Wasserverlust infolge starker Transpiration entwässerte und dadurch verengte Blutgefäßsystem nimmt dabei rasch größere Wassermengen in sich auf, deren Fortbewegung und Bewältigung nun plötzlich vom Herzen vermehrte Arbeitsleistung erfordert, die sich als Herzklopfen äußert. Daraus erwächst die Regel, daß man starken Durst nur durch Trinken kleinerer Flüssigkeitsmengen in größeren Zwischenräumen befriedigen darf, nicht auf einmal. Diese Vorsicht ist natürlich bei Fällen drohender Verdurstung noch mehr geboten, wie Wüstenreisende, z. B. Nachtigal, erfahren haben. Noch schlimmer wirkt natürlich plötzliche Löschung großen Durstes durch an sich erregende Getränke, in seltenen Fällen ist dadurch sogar schon augenblicklicher Tod durch „Herzschlag“ herbeigeführt worden. Gefährlich ist es geradezu, wenn die große aufgenommene Getränkemenge zugleich sehr kalt ist, denn dadurch ziehen sich die gerade im Unterleib äußerst zahlreiche Blutgefäße zugleich augenblicklich stark zusammen und führen ihren Inhalt dem Herzen zu, das dann um so leichter solcher Ueberanstrengung erliegt. Durch solche Fälle erscheint die Angst und Warnung vor dem unter gewöhnlichen Verhältnissen übertrieben gefürchteten „kalten Trunk“ wirklich gerechtfertigt, auch ist es leicht möglich, daß bei besonders zart organisierten weiblichen Naturen durch derartige Diätfehler bleibende ernste Störungen des Herzens und damit der Blutbewegung und Blutbildung entstehen können, deren Folgen dann als „Zehrung“ durch kalten Trunk bezeichnet werden.

[563] Sehr häufig ist das vielberufene „Kaffeeherzklopfen“, dessen früherer Alleinherrschaft neuerdings das „Theeherzklopfen“ zuzutreten im Begriffe ist.

Schwere Aufgüsse von Kaffee und Thee erregen, selbst bei Starknervigen, um wieviel mehr aber bei schwachnervigen Damen, neben allgemeiner Aufregung gewöhnlich auch Herzklopfen. Die Familien- und Gesellschaftsaufgüsse erreichen jedoch, zum Glück darf man sagen, selten diese gefährliche Stärke, wenn nicht gerade verhüllter Spirituosengenuß in Form einer Zuthat von Rum u. dergl. nachhilft. Als Regel darf man dies übrigens nicht aufstellen, sondern man muß reine schwache Lösungen als die Norm annehmen, deren Genuß wohl nur infolge mehrmaliger täglicher Wiederholungen schädlich werden kann. Das nach Kaffee- und Theegesellschaften auftretende Herzklopfen ist daher als ein Uebel aus zusammengesetzten Ursachen anzusehen, wobei der Kaffee- und Theegenuß nur Hilfsursache ist. Als erstes Begünstigungsmoment ist die ganz unhygieinische lange Dauer jener Zusammenkünfte bei ruhigem Sitzen zu bezeichnen, wobei lebhafte Geistes- und Mundthätigkeit das Nervensystem nur noch mehr beeinträchtigt. Eine weitere Schädlichkeit für dieses bildet der Aufenthalt in überhitzten Räumen – die Kaffee- und Theegesellschaftssaison fällt ja in den Winter –, wobei nicht immer die Ventilation der Zahl der Personen und den beengenden Toiletten entspricht. Ein weiterer Mißstand liegt darin, daß diese Art geselliger Vereinigungen gewöhnlich in die späten Nachmittags- und selbst Abendstunden fällt, so daß infolge der vorausgegangenen Aufregungen aller Art neben der diätetischen durch Kaffee und Thee der Schlaf oft unruhig wird. Ist es nach alledem ein Wunder, daß bei so gehäuften Schädlichkeiten das Herz bei nicht ganz wetterfesten Nerven oft ins Klopfen, wie der Kopf zur Migräne, kommt? Soll da geholfen werden, so müssen alle vorgenannten hygieinischen Sünden ausfallen.

Die letztgenannte Art des Herzklopfens galt früher, so lange nur Frauen „Nerven“ hatten, als ein ganz ausschließlich weibliches Leiden, neuerdings aber sucht es immer häufiger auch Männer heim, namentlich die fortwährend zahlreicher werdenden Neurastheniker und Hysteriker, die traurigen Resultate unserer hastigen Zeit mit ihrem erschwerten Kampf ums Dasein und daraus folgendem Auf- und Verbrauch der Nerven. Die Anfälle nervösen Herzklopfens sind, namentlich bei Neurasthenikern, oft recht quälend und anhaltend, übrigens bei beiden Geschlechtern in der Regel zugleich mit anderen Nervenleiden, wie Migräne, einzelnen neuralgischen Schmerzen, Schlaflosigkeit usw. vergesellschaftet. Eine dauernde Beseitigung dieses Herzklopfens ist nur von allgemeinen Abwehrmaßregeln zu erwarten. Da sind vor allem reichlicher und langer Aufenthalt in frischer Luft, kalte Waschungen, leichte körperliche Uebungen, kräftige Ernährung anzuraten, dabei darf auch eine moralische Selbsterziehung zur Wiedererstarkung des Willens nicht fehlen. Gegen die einzelnen Anfälle aber erweisen sich hauptsächlich Ruhe, horizontale Lage und Auflegen einer Kaltwasser- oder Eisblase auf die Herzgegend als Linderungs- und Beseitigungsmittel.

Es bliebe noch übrig, die große Gruppe von Herzklopfenanfällen infolge von Herzklappenfehlern, Verkalkung der Adern, besonders des Herzens u. a. zu besprechen, doch gehört dies nicht in den Rahmen unserer Betrachtung, weil die Hauptmaßregeln gegen dasselbe rein ärztlich-technischer Art sind und sein müssen, und selbst die diätetisch-hygieinischen bei so ernsten Leiden nicht der Handhabung von Laien überlassen werden können.



Blätter und Blüten.

Aus der Schlacht von Vionville-Mars-la-Tour. (Zu dem Bilde S. 553.) Ein glühendheißer Sommertag war der 16. August 1870, an dem zum zweitenmal der Schnitter Tod auf den Gefilden um Metz so reiche Ernte hielt. Um 9 Uhr morgens begann die Schlacht, die nach den Orten Vionville und Mars-la-Tour ihren Namen erhalten hat. Fast sieben Stunden hatte das III. Corps (von Alvensleben) beinahe allein gegen eine furchtbare Uebermacht gekämpft, als ihm endlich, zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags, die erste wirksame Hilfe wurde, zunächst in der linken Flanke bei Trouville durch die 20. Infanterie-Division (von Kraatz-Koschlau). Dann nahte auch von Westen her die aus dem 3. Westfälischen-Infanterie-Regiment Nr. 16 und dem 8. Westfälischen Infanterie-Regiment Nr. 57 bestehende 38. Brigade (v. Wedell), die ursprünglich in der Richtung auf Etain vormarschiert war, aber mittags bei St. Hilaire Befehl erhalten hatte, nach dem Schlachtfelde abzurücken. Gegen 4½ Uhr ging sie auf beiden Seiten des durch den Gegner in Brand geschossenen Dorfes Mars-la-Tour gegen die Höhen vor. Dort stieß die nur fünf Bataillone zählende Brigade aber auf die breit entwickelte Front des IV. französischen Corps, die Divisionen Grenier und Cissey, von denen sie ein gewaltiges Massenfeuer erhielt. Die wackern Westfalen ließen sich jedoch durch die furchtbaren Verluste nicht aufhalten, sondern drangen selbst noch durch eine vorher nicht sichtbare tiefe Schlucht an dem jenseitigen Hange empor. Dort erhebt sich nun in langen Linien die französische Infanterie und richtet ein so vernichtendes Feuer auf die so nahe an sie herangelangten Söhne der roten Erde, daß jeder Zusammenhang unter ihnen gesprengt wird. Fast alle Führer und Offiziere fallen, die Trümmer der Bataillone müssen in die Schlucht zurück, wo 300 Mann nach dem vorhergegangenem Gewaltmarsche nicht mehr den steilen Südabhang zu erklimmen vermögen und in Gefangenschaft geraten. Allen höheren Führern sind die Pferde unter dem Leibe erschossen, nur der Oberst der Siebenundfünfziger, von Cranach, ist noch beritten. Im Schritt reitet er, die zerschossene Fahne seines ersten Bataillons hoch in der Rechten, zurück, die Trümmer der 38. Brigade um sich sammelnd, wie uns Th. Rocholl den Augenblick auf seinem Gemälde vor Augen führt. 72 Offiziere und 2542 Mann der Brigade, über die Hälfte, waren in dem Kampfe gegen mehr als doppelte Uebermacht erlegen, und auch der um den tapfern Oberst von Cranach versammelten Rest wäre sicherlich den nachdrängenden Feindesmassen erlegen, wenn nicht die Gardedragoner sich ihnen mit völliger Selbstaufopferung entgegengeworfen hätten. Der Feind unterbrach seinen Vormarsch und zog sich auf die Höhen zurück, so daß also der heldenmütige Kampf der 38. Brigade kein vergeblicher gewesen war.Fr. R.     

Durch die Blume. (Zu dem Bilde S. 557.) Ein gemütliches Gaststübel in den Bergen sehen wir hier vor uns, wo die Kellnerin als gleichberechtigte mit am Tisch sitzt und das angebotene Glas Rotwein nicht ausschlagen darf. Etwas anderes ist es mit dem frisch „gebrockten“ Strauß Alpenrosen und Edelweiß, den ihr der junge Jägerbursch so verlockend hinhält. Den muß sie nicht nehmen, und ob sie will, darüber besinnt sie sich eben, indem sie den Faden und das Nadelöhr einer sehr genauen Betrachtung unterwirft. Der alte Förster sieht dieses Zögern mit Verwunderung: er denkt nicht mehr daran, welch tiefe Bedeutung solch ein „Busch’n“ haben kann, wenn ihn ein frischer Bursch mit vielsagendem Blick einem Dirndl reicht. Dem alten Mann wird’s aber wohl bald in den Sinn kommen, was für Gedanken hinter der Stirn des Mädchens lebendig sind. Auch er war einst jung und Mädchen bleiben Mädchen! Ob sie im groben Mieder gehen oder im seidenen Gesellschaftskleid, ihre kleinen Künste verstehen sie alle, und die Wirkung pfegt dem anfänglichen Versagen und späteren Gewähren jederzeit recht zu geben!

Im Eggenthal bei Bozen. (Zu dem Bilde S. 561.) Einer der erquicklichsten Ausflüge, die man in heißen Sommertagen von Bozen aus machen kann, ist der ins Eggenthal. Kaum eine Stunde Wegs von diesem vielgepriesenen Rast- und Erholungsort der Alpenwelt Südtirols entfernt, liegt links vom Eisak und der vom Brenner herkommenden Eisenbahn das Dorf Kardaun, hochüberragt von der steilen Höhe, welche das alte, doch noch heute bewohnte Schloß Karneid trägt. Als Wahrzeichen der Gegend beherrscht das letztere mit seinen Türmen und Zinnen das gegen Bozen sich öffnende Eisakthal, zugleich aber auch den Aufstieg in die großartige Porphyrschlucht, in welcher das vom Karneidbach durchströmte Eggenthal in das des Eisak mündet. Auf schöner gutgepflegter Kunststraße gelangt man bald hinter Kardaun in eine Felswildnis von wahrhaft romantischem Zauber. Gewaltige Felsenwände türmen sich senkrecht links und rechts von der Straße empor, neben der sich der stürmische Karneid über ein Wirrsal von Felsblöcken hinweg hochaufschäumend dahinwindet. Hier herrscht immer die erfrischendste Kühle, so daß das Durchwandern der Schlucht an Tagen, wo die Sonne des Südens über den Weinbergen Bozens brütet, ein wahres Labsal ist. Nur durch bedeutende Felssprengungen war der Ausbau der Straße möglich, oft wuchten die Felswände dräuend über ihr und an zwei Stellen führen Tunnel mitten durch das Gestein. Nach zwei Stunden erreicht man in einer Weiterung des Thals das Dörfchen Birchabruck, das einen schönen Blick auf die riesigen scharfgezackten Dolomitschrofen des Latemar, der Rotenwand und des Rosengartens bietet. An den Gehöften von Untereggenthal vorbei gelangt man dann durch den Wald zum Karersee, in dessen Fluten sich die genannten prächtigen Dolomitwände spiegeln und an dessen Ufer neuerdings eine Touristenstation entstanden ist, die den Ausgangspunkt für herrliche Hochtouren bildet.

Das Heimatsfest zu Hannoversch-Münden. (Mit dem Bilde S. 564.) In den Tagen vom 4. bis zum 11. Juli dieses Jahres ist in Hannoversch-Münden ein „Heimatsfest“ gefeiert worden. Von jeher wohnte in der Brust der Söhne Mündens ein Drang, hinauszuziehen in die Welt, das Glück in der Fremde zu suchen. Die hochbeladenen, mit hellem Plantuch überspannten Frachtwagen, die bis zur Mitte dieses Jahrhunderts aus Mitteldeutschland durch die hier „mündenden“ Thäler der Werra und Fulda zu unserer altberühmten Handelsstadt kamen, die Wellen der Wasser, die an den altersgrauen Mauern vorbeirauschten, die Schiffe und Flöße, die auf den Flüssen dahintrieben, die Erzählungen der [564] Fuhrleute und Schiffer konnten auch wohl in des Knaben Brust die Sehnsucht erwecken. Hinaus in die Ferne! Und so ist es auch erklärlich, daß überall, selbst in den weitesten Fernen, „Mündener Jungen“ sich eine zweite Heimat suchten. Sie sind hinausgezogen, viele fanden auch wohl eine Stätte, wo es ihnen gut ging, wo sie ein Nestlein bauten … doch eine neue Heimat fanden sie selten. Denn des Menschen Herz hängt immer an der Stätte, wo die Mutter uns hegte und pflegte… Wo das Vaterauge liebend auf uns ruhte, wo wir der Jugend Lust genossen. Der Heimat vergißt man nimmer.

Es war ein glücklicher Gedanke, die Feier eines Heimatsfestes anzubahnen, den in der Ferne weilenden Mündenern zuzurufen: Kehret zurück zur alten, schönen Heimat! Wir wollen mitsammen einmal der Heimat Glück genießen, der entschwundenen Jugendtage gedenken! Der Ruf drang hinaus über die Berge ins deutsche Vaterland, hinaus über die Meere bis in die fernsten Welten. Und im Herzen der Mündener Jungen ward aufs neue die Sehnsucht geweckt, und tausendfach erscholl die Antwort. Wir kommen! Nicht Meere sollen uns trennen, wir wollen uns wieder der Heimat freuen.

Datei:Die Gartenlaube (1897) b 564.jpg

Festwagen mit dem von Nixen umgebenen
 Turm der Tillyschanze.
Vom Heimatsfest zu Hannoversch-Münden: Wagen der Mundenia.
Nach dem Leben gezeichnet von A. Wagner.

Das alte Münden ist eine geschichtlich bedeutende Stadt, es blickt zurück auf eine lange, auf eine bewegte Vergangenheit. Durch seine Lage zu einem Handelsplatz geschaffen, durch Privilegien, die wohlgesinnte Fürsten ihm gaben, gestärkt, errang es einen klangvollen Namen in der Geschichte des nord- und mitteldeutschen Handels. – Es war Residenz der Herzöge zu Braunschweig-Lüneburg. In dem alten Fürstensitz an der Werra lebten Herzog Wilhelm und der ritterliche Herzog Erich. – Es kamen aber auch Tage der Not. Zur Frühlingszeit im Jahre 1626 lag Tilly vor den Thoren. Am dritten Tage der Pfingsten ward die Stadt im Sturm genommen, und am anderen Morgen lagen dreitausend Leichen in Mündens Straßen. Die Schanzen auf dem Rabanenkopfe, die Reste der Stadtmauern und Türme erzählen uns noch heute von den Schrecknissen des Dreißigjährigen Krieges, die „Totenwiese“ auf dem Hühnerfelde, die Schlachtfelder von Speele, Lutterberg und Sandershausen zeugen davon, wie heiß unsere Thäler im Siebenjährigen Kriege umstritten waren, siebenmal ward Münden in diesem Kriege von den Franzosen genommen, und siebenmal mußten sie es wieder räumen.

Diese wildbewegte Vergangenheit forderte, die Geschichte der Stadt bei dem Heimatsfeste in großen Zügen zu entrollen. Und dieser Aufgabe diente der historische Festzug.

Meister Johannes Gehrts zu Düsseldorf hat die Entwürfe geschaffen. Seine Entwürfe erhielten den Reiz von echten Kunstwerken. Eine „Mundeniagruppe“ eröffnete den Zug. Voran ritt ein Herold in mittelalterlichem Gewande, dann folgte, begleitet von wappentragenden Pagen, ein zweiter Herold, der das Stadtbanner trug. Der von vier Pferden gezogene „Mundeniawagen“ war ein in Gliederung und Gruppierung reiches und reizvolles Prunkstück. Unter herrlichem Baldachin thronte die „Mundenia“, ihr zu Füßen ruhten Mädchengestalten, durch Hammer und Zange sowie durch den Merkurstab Industrie und Handel darstellend. Am vorderen Teile des Wagens verkörperte eine Frauengestalt die Schiffahrt; ein Ruder hielt sie in der Hand und ein Anker lehnte ihr zur Seite. – Dann zogen lebenswahr und packend gestaltete Bilder aus der Geschichte der Stadt am Auge des Beschauers vorüber. Man sah zunächst einen Germanenzug, in dem ein Jagdzug, Schiffahrt, Fischerei, Priesterinnen, Sonnwendmaidgefährt mit dem Opferstein dargestellt wurden. Von weiteren Gruppen sind hervorzuheben: Die Einführung des Christentums an den Gestaden der Weser, freiwilliger Anschluß Mündens an Braunschweig-Lüneburg unter Herzog Otto Puer 1246, Mündens Handel zur Hansazeit im 15. Jahrhundert, Einzug Herzog Erichs des Aelteren von Braunschweig-Lüneburg mit seiner Gemahlin in Münden, Dreißigjähriger Krieg. – Auf der Stätte, wo Tillys Geschütze standen, von denen die Bresche in die schützende Stadtmauer gelegt ward, auf der Höhe des Rabanenkopfes, erhebt sich heute der herrliche Aussichtsturm. Er trägt kurz die Bezeichnung „Tillyschanze“. Mit ihm ragt die Vergangenheit Mündens in die Gegenwart hinein. Und so ward der historische Festzug mit einem Bilde aus der Gegenwart geschlossen, ein Festwagen trug, von Flußnixen umgeben, eine Nachbildung des Turms auf der Tillyschanze. Fr. Henze.

Daphnis und Chloë. (Zu unserer Kunstbeilage.) In der Litteratur des klassischen Altertums nahm die Hirtendichtung eine hervorragende Stellung ein. Laut einer griechischen Sage war Daphnis, der Sohn des Hermes und einer Nymphe, ihr Schöpfer. Eine Nymphe, deren Liebe er verschmäht hatte, strafte ihn mit Blindheit. Der unglückliche Hirte irrte nunmehr an den Abhängen des Aetna und tröstete sich in seinem Mißgeschick mit Flötenspiel und Gesang. In der späteren Zeit war Daphnis ein Name, den die Hirten oft ihren Söhnen beilegten, wie sie auch ihre Töchter gern Chloë (d. h. die Grünende, Keimende nannten.) Daphnis und Chloë sind auch die Namen der Helden eines Schäferromans, der vermutlich im 4. Jahrhundert n. Chr. von dem griechischen Dichter Lyngus geschrieben wurde. Beide entstammten edlen Geschlechtern, wurden aber als Kinder ausgesetzt und von Hirten gefunden und großgezogen. Daphnis weidete Ziegen und Chloë eine Schafherde, beide lernten sich kennen und lieben, ihrer Vereinigung aber stellten sich mannigfaltige Hindernisse in den Weg, bis endlich beide ihre Eltern wiederfanden und Hochzeit halten durften. Unsere Kunstbeilage stellt dieses Liebespaar dar. Im holden Lenz haben die Rastenden Blumen gepflückt und Kränze gewunden, um mit ihnen die Bildsäulen der Nymphen und des Hirtengottes Pan, die ihr stilles Liebesglück beschützen mit frommer Ehrfurcht zu schmücken. *     


☛      Hierzu Kunstbeilage XVIII: „Daphnis und Chloë.“ Von F. Gérard.

Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 33/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.