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Die Gartenlaube (1899)/Heft 21

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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  21. Heft.   Preis 10 cents.   10. Oktober 1899.



Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.
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Inhalt.

Seite
Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (2. Fortsetzung) 645
Zum dreihundertjährigen Jubiläum von Freudenstadt. Von Alfred Freihofer. Mit Abbildungen 652
Vincenz Prießnitz. Zur Wiederkehr seines hundertsten Geburtstags. Von C. Falkenhorst. Mit Bildnis 655
Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Der geheimnisvolle Runenstein zu Jesteburg. Von Heinrich Niebuhr 656
Die Röntgenstrahlen im Dienste der Medizin und Chirurgie. Von Dr. J. H. Baas 660
Die schlaue Sabine. Erzählung von Victor Blüthgen. Mit Illustrationen von Fritz Bergen 664
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Mit Abbildungen 670
Die Marienburg. Von Ernst Wichert. Mit Abbildungen nach Photographien von H. Ventzke 671
Blätter und Blüten: Gutenberg-Feier in Mainz. S. 675. – Das Wittekind-Denkmal in Herford. (Zu der Abbildung S. 645.) S. 675. – Straßenkampf in Leipzig am 19. Oktober 1813. (Zu dem Bilde S. 648 und 649.) S. 675. – Vor der Gärtnerei in Rheinsberg. (Zu dem Bilde S. 657.) S. 675. – Die „Hansa“-Bowle. (Mit Abbildung.) S. 676. – Audifax und Hadumoth. (Zu dem Bilde S. 661.) S. 676. – Das erste Telegramm in Deutschland. S. 676. – Schwarzwälderin. Von J. J. Hoffmann. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 676.
Illustrationen: Das Wittekind-Denkmal in Herford. S. 645. – Straßenkampf in Leipzig am 19. Oktober 1813. Von Robert Haug. S. 648 und 649. – Abbildungen zu dem Artikel „Zum dreihundertjährigen Jubiläum von Freudenstadt“. Das alte Murgthalthor. S. 652. Freudenstadt, vom Schöneck aus gesehen. Der Marktplatz mit dem Rathaus. S. 653. Der Marktplatz mit der Kirche. Inneres der Stadtkirche mit Altar und Kanzel. S. 654. Der Herzog Friedrichsturm. S. 655. – Vincenz Prießnitz. S. 656. – Vor der Gärtnerei in Rheinsberg. Von M. Hünten. S. 657. – Andifax und Hadumoth. Von M. Wunsch. S. 661. – Abbildungen zu der Erzählung „Die schlaue Sabine“. Von Fritz Bergen. S. 664, 665, 666, 667, 668. – Kulturbeleckt. Von A. Weczerzick. S. 669. – Abbildungen zu dem Artikel „Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit“. S. 670. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Marienburg“. Initiale. Die Marienburg von Südwest. Brückenthor. Herren-Dansk. Stadtkirche. S. 671. Das Mittelschloß: Rechter Giebel der Nordseite. Die Schloßkirche. Der Pfaffenturm. S. 672. Das Hochschloß von Nordwest. Das Mittelschloß (Hochmeisterschloß) von Nordwest. S. 673. Das äußere Einlaßthor zum Hochschloß vom Hof des Mittelschlosses aus. Der Hof im Hochschloß mit dem Brunnen. S. 674. – Die vom Hamburger Senat dem Kreuzer „Hansa“ gestiftete Bowle. S. 676.
Hierzu Kunstbeilage XXI: „Schwarzwälderin.“ Von Fritz Reiß.

Kleine Mitteilungen.

Der Senior der deutschen Kunsthistoriker Dr. Theodor Gaedertz hat am 7. September in Lübeck das seltene Fest seines sechzigjährigen Doktorjubiläums gefeiert. Er ist der Verfasser gediegener kunstwissenschaftlicher Schriften über Adrian van Ostade, Hans Holbein den Jüngeren, Rubens, Hans Memling u. a.; auch die 1889 erschienene Sammlung von Aufsätzen auf dem Gebiete der Kunstkritik und Kunstgeschichte „Kunststreifzüge“ enthält viel Wertvolles. Um das Kunstleben seiner Vaterstadt Lübeck hat sich Gaedertz noch besondere Verdienste erworben. Kurz nachdem er 1847 vom Senat zum Obergerichtsprokurator ernannt worden war, wurde er zum Schriftführer des vaterstädtischen Kunstvereins gewählt, dessen Direktor er nicht lange darauf wurde. Mit dem Direktor des Bremer Kunstvereins C. Mertens gründete er im Jahre 1850 den „Norddeutschen Gesamtkunstverein“. In demselben Jahre erließ er zusammen mit Dr. Lucanus in Halberstadt einen Aufruf, um in Berlin eine Generalversammlung der deutschen Kunstvereine zu ermöglichen. Diese ist dann auch grundlegend für das Kunstausstellungswesen in allen deutschen Ländern geworden.

Gaedertz war ein Jugendfreund Emanuel Geibels, mit dem er in Bonn studierte; die Geibel-Biographie seines Sohnes Karl Theodor Gaedertz weiß über diesen Verkehr ansprechende Einzelheiten zu berichten.

Der letzte Veteran von 1813, August Schmidt in Wolgast, der am 11. Februar d. J. seinen hundertfünften Geburtstag mit frohem Behagen und unter allgemeiner Teilnahme feiern durfte, ist nun auch, in der Nacht zum 12. September, dem Tode erlegen. Der brave Mann, der im Jünglingsalter als Freiwilliger des 1. pommerschen Infanterieregiments in den drei Feldzügen von 1813 bis 1815 gegen Napoleon so oft dem Tod ins Auge gesehen hatte, konnte sich nach dem Kriege noch 84 Jahre lang des Lebens in Frieden erfreuen! August Schmidt war als Sohn eines Uhrmachers in der pommerschen Stadt Anklam geboren. Er wurde Goldschmied und folgte am 17. März 1813 dem Aufrufe seines Königs zum Befreiungskampfe gegen den Korsen. Bei Bautzen, Großbeeren, Dennewitz, Leipzig, Laon, Ligny, Waterloo hat er tapfer mitgefochten. Nach der Heimkehr ließ er sich als Goldschmied in Wolgast nieder, wo es ihm vergönnt war, bei gesegneter Arbeit und in behaglich sich gestaltenden Verhältnissen das hohe Alter zu erreichen, das bis kurz vor dem Ende kaum durch Krankheit getrübt war. Er wurde genau 104 Jahre und 7 Monate alt. Als vor vier Jahren die „Gartenlaube“ einen Aufsatz über die fünf noch am Leben befindlichen Veteranen aus den Freiheitskriegen brachte (vgl. Jahrg. 1895, S. 144), sagte „Vater Schmidt“ in seiner behaglichen Weise: „Noch fünf? Dann werde ich wohl der letzte bleiben, ich dränge mich nicht vor.“ Als letzter der ungezählten Tapfern, die Deutschland vom Joche Napoleons I befreiten, ist er denn auch zur Großen Armee hingegangen.

Seltene Metalle und ihr Wert. Die Metalle spielen in unserem Dasein eine große Rolle, denn auf ihnen beruht in der Hauptsache unsere ganze Kultur. Wir sprechen von der Steinzeit, in der es noch keine Metalle gab, als einer sehr alten und niedrigen Entwickelungsstufe des Menschengeschlechts und verstehen unter Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit aufeinander folgende Epochen der menschlichen Kulturentwickelung. Unsere Zeit könnten wir vielleicht die Metallzeit schlechthin nennen, denn wir haben uns alle, oder doch wohl fast alle im Erdkörper enthaltenen Metalle dienstbar gemacht.

Was nun die Seltenheit und damit auch den Wert der Metalle anlangt, so wechseln dieselben sehr. Noch vor dreißig Jahren konnte z. B. das Aluminium nur auf sehr umständlichem und unvollkommenem Wege gewonnen werden und war darum sehr teuer, das Kilogramm kostete an tausend, das Gramm also eine Mark. Heute kostet das Gramm noch nicht einmal einen Pfennig. Dieser Preisrückgang hat seinen Grund in den sehr vervollkommneten Darstellungsmethoden.

Viel weniger selten als früher ist jetzt auch das Gold, von dem im letzten Jahre etwa doppelt so viel als vor einem Jahrzehnt, nämlich an 350 000 Kilogramm im Werte von einer Milliarde Mark, gewonnen wurde. Aber trotzdem ist Gold nicht im Preis zurückgegangen, einesteils weil es jetzt von den bedeutendsten Staaten als Währungsmetall angenommen ist, dann aber auch um seines praktischen Nutzens und seiner vielfachen Verwendbarkeit willen. Dagegen hat nun wieder das Silber, das früher allein Währungsmetall war, sehr an Wert verloren, er beträgt heute noch nicht einmal den dreißigsten Teil von dem des Goldes. Das hat seinen Grund sowohl in der Häufigkeit dieses Metalls, als auch in der Leichtigkeit, mit der es aus seinen reichen Erzen gewonnen werden kann. Es ist also alles andere, nur nicht selten.

In dem Sinne selten, den man gewöhnlich mit diesem Worte verbindet, ist aber auch nicht einmal das Gold. Das ist vielmehr so außerordentlich auf unserer Erde verbreitet, daß es nur wenige Körper giebt, in denen sich nicht wenigstens Spuren von ihm überhaupt finden. Was Gold selten macht, das ist die Schwierigkeit, mit welcher seine Darstellung vielfach verbunden ist. Nur wenige Metalle finden sich ja bekanntlich gediegen, d. h. als fertiges Metall, in der Erde, und auch die, bei denen das der Fall ist, meist nur in ganz verschwindend geringen Mengen im Verhältnis zum Gesamtvorkommen. Fast immer müssen sie aus Verbindungen, die sie mit Sauerstoff, Schwefel oder anderen Körpern eingegangen sind, erst dargestellt werden. Das ist auch bei dem schon vorgenannten Aluminium der Fall, das aus der Thonerde dargestellt wird, von welcher der ganze Centner höchstens ein paar Groschen kostet, während der Preis für den Centner Aluminium doch mehrere Hundert Mark beträgt. Seine Gewinnung ist aber heute mit Schwierigkeiten nicht mehr verbunden.

Noch viel mehr wird es aber bei dem Calcium und Silicium deutlich, wie sehr Seltenheit und Preis von der Schwierigkeit der Darstellung abhängig sind, trotz größter Häufigkeit des betreffenden Metalls. Aus den Verbindungen dieser Metalle, die uns als Kalk und Kieselsäure gut bekannt sind, besteht unsere Erde zum allergrößten Teile. Trotzdem kostet das Gramm reines Calciummetall etwa 18 Mark und reines Siliciummetall gar 30 Mark. Ebenso teuer ist das Strontium, aus dem Strontian dargestellt – Strontiansalze werden bei der Zuckerfabrikation aus Rüben verwandt – und noch um 3 Mark teurer das Thorium, aus Thorerde gewonnen, die uns als Bestandteil der Gasglühstrümpfe bekannt ist. So häufig wie Kalk und Kieselsäure sind nun freilich Thorerde und Strontian nicht, immerhin hat man ganz bedeutende Fundorte derselben bereits entdeckt und wird, allen Zweifeln zum Trotz, mehr finden, wenn die Fortschritte der Technik es erfordern. Denn das hat sich stets gezeigt: mag etwas noch so selten bislang gewesen sein, es wird von dem Augenblick an, fast möchte man sagen, Gemeingut, in welchem Menschengeist und Menschenwitz sich daran machen, es herbeizuschaffen. Das kann man, wie bereits bemerkt, bei dem Golde beobachten, dessen Produktion mit jedem Jahre gewachsen ist, seitdem der Bedarf so erheblich zunahm – sie stieg einmal sogar auf das Vierfache innerhalb eines Jahrzehnts – und wenn nicht alles täuscht, noch viel mehr wachsen wird. Das würde man auch bei den Verbindungen des Wolframmetalls haben beobachten können, wenn man den Gedanken, den man vor etwas weniger als einem Jahrzehnt hegte, verwirklicht hätte. Damals galt es, ein kleinkalibriges Geschoß mit möglichst großer Querschnittsbelastung zu konstruieren, und zu dessen Herstellung beabsichtigte man das Wolframmetall zu benutzen. Nach den heutigen Preisverhältnissen – das Gramm Wolfram kostet zur Zeit 43 Pfennig – würden die Schüsse, und nun gar erst die Treffer, freilich recht teuer zu stehen kommen, und es wäre viel billiger, Silber zu nehmen, von dem man fünf gleich schwere Kugeln für eine Wolframkugel verschießen könnte.

Wirklich seltene Metalle, was das Vorkommen anlangt, sind Gallium, das in einigen Zinkblenden vorkommt, und von dem das Gramm 700 Mark kostet, das also fast dreihundertmal so teuer ist als Gold, und Germanium, das einen Preis von 150 Mark für das Gramm hat.

Außer den bereits angeführten giebt es nun aber noch eine Menge seltener Metalle in Preisen von 40 Mark bis herab zu 3 Mark für das Gramm, zu denen auch das Beryllium gehört, aus dem der grüne Smaragd, gegenwärtig unser geschätztester Edelstein, in der Hauptsache besteht, und von dem das Gramm etwa 39 Mark kostet. Ebenso teuer, 40 Mark das Gramm, ist das Tellur, das Indium dagegen kostet nur 17 Mark, Niobium, Didym 16 Mark, Yttrium 14 Mark, Lithium 10 Mark, Rhodium und Osmium 4 Mark und Zirkonium – durch das Glühen einer Verbindung desselben im Knallgasgebläse, der Zirkonerde, kann man ein außerordentlich helles Licht erzeugen – 3 Mark. Dr. – t.     

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SCHWARZWÄLDERIN
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Reiss

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 21

[645]

Halbheft 21.   1899.


Der König der Bernina.

Roman von J. C. Heer.

     (2. Fortsetzung.)

5.

Besuch in St. Moritz!

In der Sommerfrühe gehen Pfarrer Taß und Cilgia den herrlichen Pfad durch Lärchen- und Tannengrün dahin und in die tiefe, stille Waldfröhlichkeit scheinen von rechts her die blanken Dörfer Samaden und Celerina.

„Gerade hier bei dieser alten bärtigen Lärche war es,“ sagt der Pfarrer, „wo mich Lorenz Gruber so dringend gebeten hat, daß ich alles thue, um dich seinem Sohn geneigt zu stimmen. Du wirst sehen, daß der Jüngling eines Tages vor das Pfarrhaus geritten kommt.“

„Es wäre umsonst,“ antwortet Cilgia, die ein reizendes helles Sommerkleid nach jenem Schnitte trägt, der mälig aus Frankreich ins Hochland gekommen ist.

Allerliebst und wie das Waldmärchen sieht sie aus, dachte der Pfarrer.

Plötzlich aber bricht sie, in die Hände klatschend, in einen hellen Jubelruf aus:

„Ein Spiegel – nein – eine Seele – die Seele des Waldes!“

Sie waren vollends in die Lichtung getreten, wo auf der Anhöhe zwischen Pontresina und St. Moritz der moorige Statzersee schweigend im Kreis der Tannen ruht.

„Was für ein sonderbarer kleiner See,“ fährt sie nachdenklich fort. „Von weitem scheint er undurchdringlich und unheimlich wie die Nacht, aber jetzt – da sehe man her, diese perlende Klarheit! Den Himmel spiegelt er, die Spitze des Piz Rosatsch und tief ist er doch nicht! Man sieht bis auf den schwarzen Grund, da liegen modernde Stämme wie Leichen.“

Sie war an das flache Ufer getreten, kniete nieder und wollte die Hände in die Flut strecken.

Da schrie sie plötzlich: „Das Ufer schwankt!“

„Ja, zurück, du Unvorsichtige!“ rief der Pfarrer, und lachend über ihren eigenen Schreck kam sie gelaufen.

„Bestrafte Neugier!“ lachte der Pfarrer, stillstehend, „aber schau ihn an, den kleinen, stillen See! Scheint er nicht harmlos wie ein schlafendes Kind? Dennoch hat im Engadin keiner so viel Menschenleben gefordert wie er. Die warme, klare Flut lockt zum Bad. Wer aber mit den Armen das Ufer los läßt, ist rettungslos verloren. Der eine Fuß sinkt im Moorgrund ein; wie sich der andere sperrt, packt der Schlammrachen auch ihn und jeder Atemzug treibt den Badenden tiefer in den Grund. Mit jedem Herzschlag sinkt er um Fingersbreite, das Wasser steigt ihm an die Brust, an den Mund, ein letzter Schrei, dann ragen nur noch zwei Hände empor, zuletzt schließen sich Wasser und Schlamm über den Fingerspitzen, und fände nicht ein zufällig Vorübergehender die Kleider am Ufer, so würde

Das Wittekind-Denkmal in Herford.
Nach einer Aufnahme von Photograph E. Schuckert in Herford.

[646] man nie erfahren, daß hier ein armes Menschenkind elend versunken und ertrunken ist.“

„Der entsetzliche kleine See. Wer dächte, daß er so abgründig ist – er ist doch so schön!“

In düstrer Träumerei blickte Cilgia vor sich hin.

„Der See ist ein Camogasker,“ sagte der Pfarrer.

Da wurde der Ausdruck ihres Gesichtes noch schmerzlicher. Sie dachte an Paltram.

Wie dieser See sollte er sein? In was für ein wunderbares, begeistertes Augenpaar aber hatte sie jüngst dort am Waldbord geblickt, in was für ein Angesicht voll geistiger Wucht! Die heiße Hoffnung und Ueberzeugung lebte seither in ihr, daß Paltram durch sie doch ein Mann von großer That werden würde. Sie hielt aber ihre Hoffnung so tief und geheim, daß sie selbst zu ihrem Onkel nicht davon sprechen mochte.

Schweigend schritten sie von dem kleinen unheimlichen See hinweg – durch die von der Morgensonne rot überleuchteten Stämme und betraten eine kleine stille Wiese, auf der sich ein einsames Gehöft erhebt. Vor ihnen lachte jetzt mit einem Schlag die Landschaft von St. Moritz.

Aus einem frischen See, der ihnen märchenhaft zu Füßen lag, zuckten grüne und blaue Strahlen, und St. Moritz, das Dörfchen, das mit seinem schiefen, schlanken Kirchturm altväterisch lieblich an seinem Berghang stand, spiegelte sich in der anmutigen Wasserfläche. Hinter dem See glänzten smaragdene Wiesen, tiefer noch, von Waldhügeln halb versteckt, schimmerten wieder Wasser im Opalglanze. Ueber ihnen hoben die Margna ihr schönes, sanftes und der Piz Julier sein stolzes, schroffes Haupt und wunderbares Schneelicht rann von ihnen in das Sommerbild.

Cilgia stand, die Finger ineinander verkreuzt, stumm vor der reinen Schönheit des Thales.

„Du hast recht,“ sagte der Pfarrer, mit einem Lächeln auf die gefalteten Hände seiner Nichte blickend, „es ist ein Bild wie ein Gebet.“

„Welche Gegensätze, die zwei einander so benachbarten Seen!“ sagte sie. „In jenen Wassern wohnt die Nacht und kein Sonnenstrahl vermag sie daraus zu tilgen, in diesen aber sonnt sich der Tag, und was an Licht und Frohsinn in den Lüften und um die Bergspitzen schwebt, hat er in seine Flut gesogen.“

„Er ist wie die ruhige, heitere Volksseele des Engadins,“ bestätigte der Pfarrer mit Behagen.

Da glitten von rechts her zwei Fischerboote durch die lichte türkisne Flut. In jedem standen zwei Jünglinge und schwenkten, als sie Cilgia und den Pfarrer entdeckten, die Hüte.

„Konradin von Flugi und Luzius Planta, Fortunatus Lorsa und Andreas Saratz,“ jubelte Cilgia.

Ein prächtiges Vierblatt von Freunden! In aller Frühe hatten sie sich zusammengethan und überraschten den lieben Besuch durch den Empfang am Seegestade.

Cilgia stieg in den ersten, der Pfarrer in den zweiten Kahn und in glücklicher Fahrt trugen die Schifflein die scherzende Jugend und den fröhlichen Pfarrherrn über den lichten See, an dessen einem Ufer ein schöner Bergwald seine Zweige in die Flut niedersenkt, während sich am anderen aus dem schwellenden Sammet einer grünen Wiesenanhöhe das weiße Dörfchen St. Moritz erhebt.

„Wir wollen,“ sagte Konradin von Flugi, „unsere Gäste weder hungern noch dürsten lassen, aber Euch doch zuerst das Wunder unseres Thales, die herrliche Sauerquelle, weisen, die dort drüben, wo der Inn in den See fließt, aus dem Erdreich sprudelt.“

„Diesen Brunnen möchte ich allerdings gern sehen,“ erwiderte Cilgia mutwillig, „denn es geht sonderbare Mär von ihm. Einem sinnigen Knaben, der nirgends lieber als an der Quelle weilte, erklangen, als er stundenlang in die strudelnde Klarheit blickte, mit dem Summen des Quells die Rhythmen der Seele, und er wurde Poet!“

Herr Konradin errötete unter dem sonngoldenen Blick Cilgias, denn er machte aus seiner Dichterei ein Geheimnis. Der Pfarrer im andern Boot unterhielt sich indessen angelegentlich mit Luzius von Planta, den er wegen seines feinen, klaren Wesens besonders liebte.

Mit einem Lied glitt die Gesellschaft über die leuchtkräftige Flut, die sich im frischen Thalwind leise zu kräuseln begann, und jugendliche Arme trieben die Boote noch ein gutes Stück im kristallklaren Fluß des Inns aufwärts, der durch ebene Matten zum See geschlängelt kommt. Dann landete die kleine Gesellschaft und lenkte ihre Schritte gegen ein altes steinernes Gebäude, das sich zwischen dem Inn und dem Piz Rosatsch in den Wiesen erhob.

„Unsere Trinklaube!“ erklärte Herr Konradin.

In bunten Gruppen lagerte zusammengewürfeltes Volk auf dem grünen Rasenteppich vor der Halle. Manche hatten ein Feuer angezündet, zu dem sie das dürre Reisig im nahen Wald gesammelt, um den Trunk aus der Sauerquelle etwas zu erwärmen, andere spielten mit Karten oder Würfeln, einige streckten sich an der Sonne, noch andere liefen im Schweiß ihres Angesichts hin und her, um die Wirkung des Wassers zu erhöhen, und die meisten holten oder brachten in Gefäßen mannigfaltigster Art frischen Trunk.

„Es ist lustig,“ meinte Cilgia, „die Leute passen ja gar nicht zusammen. Da sind Frauen aus dem Unterengadin mit ihrer dunklen nonnenhaften Tracht, da sind ernste Bündner aus den deutschen Thälern, leichtsinnige italienische Fahnen mit schreiendem Rot und die fröhlichen Bursche und Mädchen aus Tirol.“ –

Gefesselt von dem schönen Sommerbild, schaute Cilgia um sich.

Hier trafen ihre Blicke einen alten gebrechlichen Mann, der den Trinkbecher in zitternden Händen hielt, dort sah sie ein blasses, in ein Tuch eingeschlagenes Mädchen, dem die Mutter den Trunk bot.

„Ist die Quelle denn für alle gut?“ fragte sie.

„Das ist nicht anders,“ lachte der Pfarrer, „die Dünnen trinken das Wasser, um dick zu werden, und die Dicken erwarten von ihm jugendliche Schlankheit.“

„Doch merkwürdig,“ erwiderte sie, „es ist meist armes Volk, das hier zusammenkommt.“

„Herrenleute sind allerdings keine da!“ lächelte der Pfarrer.

Sie hatte den langen Hitz bemerkt. Da sie nicht wollte, daß er sie anspreche, trat sie mit dem Pfarrer und den Jünglingen in die nach Süden offene, stark verwetterte und verlotterte Trinklaube. Der rasche Lorsa bückte sich zum Quellenbehälter, schöpfte mit blechernen Bechern das perlende Naß und bot es dem Pfarrer und Cilgia.

„Willkommen zu St. Moritz, liebe Freundin!“

„O, was für feine kleine Silberkügelchen steigen in dem Wasser auf!“ rief Cilgia überrascht, und als sie den Becher an die frischen, schwellenden Lippen geführt hatte, sagte sie lebhaft: „Das schmeckt ja köstlich, das prickelt wie fröhliches Leben. Daß aus der Erde so herrliche Spenden kommen, dachte ich nicht.“

Ueber Herrn Konradins Gesicht ging ein glückliches Leuchten, er selber und die Jünglinge tranken das Wasser nach Herzenslust.

„Wie häßlich aber der Behälter für das wunderbare Geschenk Gottes ist: zwischen halb verfaulten Brettern sprudelt die arme herrliche Quelle und sie ist doch so reich, daß sie fast ganz ungenützt weiter fließen muß. Da könnte ja ein ganzes Volk trinken! Ist das nicht ein Unrecht gegen die Güte der Natur!“

Aufmerksam blickte Cilgia in die Grube, wo der klare Quell flutete und brodelte und mit leisem Summen und Zischen die silbernen Bläschen stiegen und zerplatzten.

Nun erzählte Herr Konradin von den berühmten Gelehrten, die die Quelle in früheren Zeiten aufgesucht und mit ihrem Lobe bedacht hatten, von Theophrastus Paracelsus, einem gar wunderlichen Kauz und großen Gelehrten, der im Jahr 1525 zu St. Moritz erschien und nachher schrieb, daß er den Sauerbrunnen allen in Europa voranstelle. Dann sprach er von Cesat, dem italienischen Arzt, der St. Moritz großen Ruhm bereitete, und von dem Naturgelehrten Scheuchzer aus Zürich, der vor hundert Jahren die Quelle pries.

Drüben in St. Moritz läutete jetzt die Elfuhrglocke. Da mahnten die Jünglinge zum Aufbruch.

Ein Häuflein italienischer Bauern kochte am Feuer ihren Mais und neben der Pfanne schlug einer auf der Guitarre ein Volkslied; die Tiroler aber hatten kalte Mundvorräte ausgepackt und ließen sich das einfache Mahl schmecken.

„So ist’s halt,“ sagte der Pfarrer, „wer nach St. Moritz zum Brunnen kommt, muß das Essen auf dem Rücken mitbringen, wie die Schnecke ihr Haus, und froh sein, wenn man ihm irgend einen Verschlag oder Estrich im Dorf zum Nachtquartier giebt. Darum haben sich die vornehmen mailändischen Familien zurückgezogen, die vor hundert Jahren St. Moritz besuchten.“

[647] „Ich verstehe das nicht,“ versetzte Cilgia eifrig, „mit Schmerzen läßt man das junge Volk in die Fremde ziehen und mühsam ringen die Engadiner in fremden Städten um ihr Brot. Warum sollten nicht zwei oder drei, die sich draußen im Heimweh verzehren, ihr Auskommen als Gastwirte in St. Moritz finden?“

„Eben das will man nicht,“ erklärte der Pfarrer in seiner gemütlichen Ruhe. „Wir Engadiner haben unsre Mucken und treiben uns wohl in der Fremde gern und geschickt unter den Fremden um, daheim aber lieben wir es, unter uns zu sein. Und nicht wahr, Herr Konradin,“ fügte er lachend bei, „die von St. Moritz sind die stärksten Aristokraten?“

Allein Herr Konradin, an den sich der Pfarrer wenden wollte, war nicht mehr bei der Gesellschaft. Tiefsinnig schlenderte er fünfzig Schritte hinter ihr her. Man war bei dem Steg angelangt, der über den Inn führte. Dort blieb Cilgia plötzlich stehen und staunte in die klaren Wasser.

Die drei Jünglinge aber, die mit dem Pfarrer weiter schritten, deuteten scherzend an, daß sie wohl auf Herrn Konradin warte und sich allein mit ihm unterhalten wolle.

„Jetzt schüttet er ihr wieder das Herz aus,“ spottete Luzius von Planta, nach den Zweien zurückblickend.

Und allerdings sahen Cilgia und Konradin im sanften Aufstieg gegen das Dörfchen nicht, wie der See unter ihnen leuchtete und funkelte.

„Ja, Ihr habt recht,“ erwiderte Konradin eben auf eine lebhafte Ansprache Cilgias, „etwas thun, was vielen zu gute kommt! – In der untern Schweiz blühen Baden und Schinznach an ihren Quellen, im Appenzeller Land sammelt sich eine feine Welt im Heinrichsbad – aber es ginge mir schlimmer als jenem, der es schon versucht hat, mit dem Brunnen von St. Moritz Leidende erlösen zu wollen.“

„Erzählt doch, Herr Konradin!“ bat Cilgia.

„Es ist eine Historie für einen Kalender!“ lachte er bitter. „Unser Dorf ist damals statt zu einem Mineralbad zu einer überflüssigen Kirche gekommen.“

Da lachte auch sie neugierig.

„Es mögen jetzt zehn Jahre her sein,“ erzählte Konradin. „Weil immer etwa noch vornehme Reisende, selbst Prinzen und Fürsten an unsern Gesundbrunnen kamen, glaubte ein junger St. Moritzer, der die Welt gesehen, unser Dorf könnte ein Heilbad werden und dadurch großer Wohlstand in die Gegend ziehen. Schon neigte sich ihm die Gemeinde zu. Allein ein einflußreicher Mann widersetzte sich: ‚Was brauchen wir ein Bad mit seiner Unruhe!‘ Und da er von echter Frömmigkeit und im übrigen wohlmeinend war, machte er einen Gegenvorschlag: ‚Unser altes Wallfahrtskirchlein ist baufällig, sein Turm steht schief, laßt uns statt eines neuen Bades eine neue Kirche bauen!‘ Parteien bildeten sich. Und plötzlich kam ein stellenloser Pfarrer, der ein St. Moritzer Kind war, ins Dorf, man fand, es sei billig, daß man für ihn sorge, und unser Dörfchen mit seinen hundertachtzig Seelen bekam statt eines Bades nicht nur zwei Kirchen, sondern auch zwei Pfarrer, bis der eine starb.“

„Das ist wirklich eine komische Geschichte!“ lachte Cilgia.

„Mich aber däucht sie traurig,“ versetzte Konradin, „denn hört: der das Bad wollte, war der junge, thatkräftige Melcher – der uns die überzählige Kirche gab, die noch nicht bezahlt ist, mein Vater.“

„Und Ihr liebt die Tochter seines Gegners,“ ergänzte Cilgia die Gedanken Konradins. „Aber sagt: es ist ja doch alles anders worden durch den Veltliner Raub – das Engadin schreit nach neuem Leben – das muß doch auch Euer Herr Vater einsehen!“

Schweigend waren sie weiter gegangen und ins Dörfchen St. Moritz auf der sonnigen Höhe gekommen.

„Da steht die thöricht erbaute Kirche,“ zürnte der Jüngling, „gleich neben ihr wohnen wir!“

„Und wessen sind die schönen Blumen, die Euch gegenüber die Fenster schmücken?“ fragte Cilgia.

„Menjas,“ erwiderte Herr Konradin.

Einander in die Fenster schauten die Häuser der zwei Männer, die so bittere Gegner waren!

Richtig: oben hinter den Nelken und Geranien im kleinen Fenster erschien der liebliche blonde Mädchenkopf, und nickend grüßten die Freundinnen.

Die übrige Gesellschaft begrüßte die beiden Nachzügler fröhlich, und man trat in das stattliche Junkernhaus, durch das die Luft bäuerlich-herrischer Vornehmheit wehte.

Voll aristokratischer Liebenswürdigkeit kam ihnen der Landammann, der schöne würdige Mann mit glattrasiertem Gesicht und wohlgepflegtem Wesen, entgegen und führte sie an den festlich gedeckten Tisch. Er sprach sein Ladin mit einer gewissen Umständlichkeit und Zierlichkeit, die er selbst beim Tischgebet nicht ablegte, und besaß die Gabe, sich mit allen zugleich zu unterhalten.

Besonders zuvorkommend war er gegen Cilgia, auch für jeden der Jünglinge hatte er ein aufmerksames Wort, nur für Konradin nicht, sondern vernachlässigte ihn, während der Sohn mit fast ängstlicher Spannung auf das Gesicht des Vaters sah und prüfte, ob das, was er thue, auch seinen Beifall habe. Und im Gefühl innerer Unfreiheit benahm er sich linkisch.

Cilgia wandte sich mehrmals sehr freundlich an ihren Schützling, und die wackere einfache Mutter Konradins, die sich besonders mit dem Pfarrer unterhielt, aber gleichsam immer auf der Wacht stand, um mit einem glättenden Wort zur Stelle zu sein, wenn der Vater den Jüngling kränken sollte, dankte es ihr mit einem warmen Blick.

Den hatte der Landammann aufgefangen.

„Ja, ja, Fräulein,“ wandte er sich an Cilgia, „ich bin manchmal in Sorge um Konradin. Er ist jetzt zwanzig Jahre alt, aber man weiß nicht: ist der Duckmäuser beschränkt oder klug, wird er im Leben Axt oder Stiel?“

„Axt wird er – nicht wahr, Herr Konradin, Axt?“ Und sie reichte dem errötenden Jüngling freimütig die Hand.

„Glauben Sie ganz fest, Herr Landammann, Sie werden an Herrn Konradin noch große Freude erleben! – Er kommt nur etwas später als andere; denn Kirschen und Trauben werden nicht zu gleicher Zeit reif.“

Und mit ihren großen schönen Augen sah sie den alten Aristokraten siegreich an. Der Landammann lachte: „Wohlan! Das will ich noch gern erleben, was aus Konradin Kluges wird!“

Nach dem Mittagsmahl sagte der Pfarrer: „Jetzt bitte ich um Entschuldigung, ich möchte gern noch Melcher grüßen.“

Ein Schatten der Verdrießlichkeit huschte über das Gesicht des Landammanns.

Pfarrer Taß aber scherzte beschwichtigend: „Zwei so gescheite Männer wie ihr sollten überhaupt gut miteinander auskommen. Daß Melcher Euch bei Oberst Diriviliez verraten habe, glaubt Ihr wohl selbst nicht mehr?“

„Hm, hm,“ versetzte der Landammann, „dafür haben wir uns doch etwas zu stark auf dem Strich.“

„Und Frau Landämmin,“ wandte sich der Pfarrer an die Mutter Konradins, „ich nehme also, um unparteiisch zu sein, heute abend Eure und Cilgia Melchers Gastfreundschaft in Anspruch. Und morgen in aller Frühe geht’s auf die Forcla sur Ley.“

„Auf die Forcla sur Ley? Was habt Ihr dort auf den wüsten Felsen zu suchen?“ bemerkte der Landammann verwundert.

„Da müßt Ihr Cilgia fragen!“ scherzte Taß; „ich weiß nur eins: die alten Pfarrersknochen müssen mit.“

„Die Schönheit des Landes wollen wir sehen,“ lachte Cilgia glücklich.

Der Landammann schüttelte den Kopf: „Es spuken so merkwürdige neue Ideen in der Welt; man stellt alles auf den Kopf!“

Frohmütiger war es im Hause Melchers, in welches Pfarrer Taß jetzt seine Nichte führte. Menja stand, als sie eintraten, wie ein Mütterchen unter einer Schar jüngerer Kinder, Mädchen und Buben.

Mit einem Ruf der Freude eilte sie auf die Freundin von Samaden zu; auch der lebhafte, selbstbewußte Melcher, der das rotbraune Kleid des Viehhändlers trug, erhob sich überrascht und legte die Kreide zur Seite, mit der er eben auf dem Schiefertisch gerechnet hatte.

„Also den alten Lorenz habt Ihr abblitzen lassen!“ lachte er nach der ersten Begrüßung. „Es ging ihm sehr nah’ – er ist ja ganz verschossen in Euch. Vielleicht besinnt Ihr Euch doch noch anders – der junge Gruber ist eine Partie!“

„Hinaus ins Freie!“ rief er dann dem Halbdutzend Kleiner zu. „Menja, eine Flasche Sasella!“

Bald nachher saßen die beiden Männer am großen Schiefertisch und tranken den Veltliner aus dem uralten Familienfaß,

[648]

Straßenkampf in Leipzig am 19. Oktober 1813.
Nach dem Gemälde von Robert Haug.

[649] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [650] das, vielleicht vor dreihundert Jahren zum erstenmal gefüllt, immer vollgehalten und nur bei festlichen Gelegenheiten angestochen und mit den edelsten Jahrgängen nachgefüllt wird.

Die beiden Freunde waren bald in ein politisches Gespräch verwickelt, wie es üblich ist, wenn zwei Engadiner zusammentreffen.

„Jetzt können wir gehen, jetzt bringt man sie nicht mehr vom Tische weg!“ flüsterte Menja, die frische, zierliche Hagrose, Cilgia zu.

Mit einem schelmischen „Auf Wiedersehen!“ verließen die Mädchen die Stube.

Sie schwärmten durch das Dörfchen. Bald waren einige Mädchen beisammen und gingen gegen das uralte Wallfahrtskirchlein am obersten Ende des Dörfchens hinauf.

Die Jünglinge standen schon plaudernd auf der Wiese, und als nun die Mädchen kamen, grüßte man sich mit Nicken und Neigen, wie es der Sitte der Zeit entsprach.

Es ist einer der herrlichsten Orte im Engadin, die Höhe, wo das uralte Wallfahrtskirchlein von St. Moritz steht.

Das Auge überblickt die wechselvolle, entzückende Gebirgs- und Wasserlandschaft gegen den Maloja und darüber hin ferne, traumschöne Spitzen, über die sich italienische Bläue spannt – der Blick versinkt in das Lichtmärchen des St. Moritzersees, er steigt hinauf zu den reinen weißen Flammen der Berge und schweift hinab durch das Thal des Inns bis wieder zu fernen kühnen Höhen.

Die Gesellschaft labte sich an dem Bild. Da zog einer der jungen St. Moritzer, die sich den Freunden angeschlossen hatten – der junge Badrutt – eine Mundharmonika aus der Tasche und blies darauf ein Tänzchen. Alsbald tanzte die Gesellschaft auf dem kurzen frischen Rasen in Luft und Sonne den Ringelreihen und nachher machte sie ihre Pfänderspiele.

Konradin von Flugi und Menja Melcher waren besonders glücklich. Alte Sitte schützte das Recht der Jugendgesellschaften, und selbst Junker Flugi oder Melcher hätten es nicht gewagt, ihre Kinder zu tadeln, daß sie sich im gemeinsamen Spiel freundlich begegneten.

Als dann aber wieder ein Ringelreihen beendet war, wandte sich Fortunatus Lorsa, der kraftvolle Jüngling, mit glühendem Gesicht an die Jungmannschaft und den Mädchenkranz.

„Freunde, Freundinnen,“ rief er, „mich und Konradin von Flugi brennt ein Wort, das unser liebes Fräulein Cilgia Premont in der Trinklaube des Sauerquells gesprochen hat! Sie sagte: ,Vergeßt nicht, daß ihr a Portas, des großen Menschenfreundes, Schüler seid!‘ Und vergessen wollen wir es nicht, sondern Freunde der Menschen sein, Freunde vor allem der bedrängten Heimat. Wir Jünglinge, wir wollen uns zu einer Gesellschaft, ‚Gioventüm d’Engadina‘, ‚Jugend des Engadins‘, zusammenschließen und uns vorbereiten, daß wir da sind und jeder seinen Mann stellt, wenn die enge oder die weite Heimat ruft!“

Da stürmte Konradin von Flugi in flammender Begeisterung auf den Sprecher los und umarmte ihn: „O, Fortunatus, woran ich ersticke, das sagst du!“

Lorsa aber fuhr fort: „Und ihr, edle Mädchen, mögt mit uns sein, wenn wir die Zukunft beraten, damit eure Gegenwart die Freude am Werke erhöhe und euer Beifall uns anfeuere. Es ist ein alter Brauch, daß sich die Jugend des Engadins, im Winter zumal, bald zu St. Moritz, bald zu Madulein oder Zuoz, bald zu Samaden oder Pontresina begegnet. Das laßt uns in Zukunft häufiger thun und dann uns nicht nur der edeln Unterhaltung, sondern auch ernster Rede widmen, indem wir das besprechen, was dem Engadin frommt. Laßt rechtschaffene Jünglinge und Jungfrauen aus allen Dörfern zu uns treten! Du, lieber Konradin, den die Muse geküßt hat, magst unser Spielmann sein, und gemeinsam mit dir will ich, wenn unsere Zeit da ist, aus dem Gesundbrunnen von St. Moritz eine Stätte machen, wo viele Freude, Trost und Erquickung finden! Du aber, bedächtiger Saratz, der du den Blick für die derbe Wirklichkeit hast, werde der, der uns Straßen baut, und du, kluger Luzius von Planta, der du die Gabe feiner Beredsamkeit hast, bereite dich auf die Ratsäle vor, daß du dort mit gewichtigem Wort für das Gedeihen des Engadins kämpfest! So gründen wir denn die Gioventüm, den Bund der Jugend!“

Es war eitel Freude und Begeisterung im Kreise und die Wangen der Jünglinge und Mädchen glühten.

Als nun aber Lorsa fragte, was für Jünglinge und Mädchen in den Dörfern man noch zur „Jugend des Engadins“ laden wollte, und niemand einen ersten Vorschlag wagte, da trat Cilgia mit ruhiger Festigkeit vor und sagte: „Ich empfehle euch Markus Paltram von Madulein, Büchsenmacher zu Pontresina.“

Eine Bewegung entstand, denn niemand hatte diesen Namen erwartet, und Luzius von Planta fragte vorsichtig: „Ist sein Ruf auch gut?“

Nun aber wehrte sich Konradin von Flugi für Paltram und rühmte sein heldenmütiges Wesen, das er durch die Rettung des Tirolers bewiesen, und Lorsa sagte: „Brauchen wir mehr als das Wort unserer Freundin Cilgia?“

So sollte Paltram eingeladen werden, in den Freundeskreis der „Jugend des Engadins“.

Vorschläge und Namen folgten sich nun, man tanzte und spielte – bis zum Sonnenuntergang, der eine Garbe Goldes auf das Thal und den See von St. Moritz streute und funkelnde Lichter an den Bergen entzündete, schwärmte man für den Jugendbund.

*               *
*

Ein freundlicher Abend, dann standen die beiden Freundinnen am Fenster ihres gemeinschaftlichen Schlafkämmerchens und schauten in die schweigende Hochgebirgsnacht und auf den See, in dem sich die Sterne spiegelten.

„Der Vater,“ erzählte Menja, um die Cilgia den Arm gelegt hatte, „hätte es gar nicht ungern gesehen, wenn Lorenz Gruber mich statt Eurer für seinen Sohn gewollt hätte. Er hält so große Stücke auf den Handelsfreund – Gott sei Dank hat sich Gruber nicht um mich gekümmert.“

Da gab Cilgia der kleinen Freundin lachend einen Kuß. „Nein, liebe Menja, bleibe du unserm Herrn Konradin treu!“

„Das kann ich nicht anders!“ erwiderte Menja und blickte lächelnd und hoffnungsreich zu Cilgia auf.

„Und gefragt hätte ich dich gern schon oft – hast du auch einen Jüngling lieb?“

„Still, still, Menja!“ versetzte Cilgia heftig, und „Ich weiß es selber nicht!“ fügte sie lachend hinzu.

„Lorsa?“ fragte Menja flüsternd.

„Lorsa? – nein!“ erwiderte Cilgia träumerisch. „Wir wollen schlafen gehen, Menja – und beten, daß auf der Jugend des Engadins der Segen Gottes sei.“

6.

Der Pfarrer und Cilgia schritten über die Forcla sur Ley, hoch über den im Lichtglanze ruhenden Seen des Engadins, auch noch über den vom Sturm zerspellten, von Lawinen halb erschlagenen letzten wipfeldürren Arven in menschenferner Einsamkeit.

„Findest du jetzt nicht auch, Cilgia, daß du mit deiner Bergsteigerei absonderliche Gelüste hast,“ fragte der gemütliche Herr, der unter dem Rucksack und unter der eigenen stattlichen Leibesfülle keuchte und den Schweiß von der Stirne wischte, „hier ist vor dir gewiß kein Weib gegangen!“

„Dann freu’ ich mich, Onkel, daß ich die erste bin!“ jubelte sie. Spannkräftig schritt sie, zum freieren Gehen den Rock leicht aufgeheftet, am Bergstock über die Platten des Felsgetrümmers, zwischen dem die Alpenrosen in purpurnen Gluten wogten.

„Ein Meer von Rosen, ein ganzes Meer!“ jubelte sie und steckte die funkelnde Pracht in Brust und Gürtel und auf den Hut und zwischen die Alpenrosen stahlblaue, tiefsinnige Kelche des Enzians.

Und wieder brach sie in einen Ruf des Entzückens aus: „Edelweiß! Schau, Onkel, Stern an Stern. – Die Blume der Kühnen!“ Freudvoll und gierig wie ein Kind raffte sie die schönsten der Blüten, thalergroße Stücke, zusammen und heftete sie zu den anderen.

Lebenslust und Anstrengung hatten ihre Wangen mit einer lebhaften Röte gefärbt, ihre Augen sprühten, ihre Brust wogte, und wie ein Märchenkind sah sie in der reichen Blumenpracht aus, die sie um sich gethan hatte.

„Du Bacchantin des Lebens!“ stieß der Pfarrer bewundernd hervor.

Sie aber stellte sich auf einen freien, mit Moos überwachsenen Felsen und blickte über das Land.

„Onkel, vier Seen wie heilige Kelche des Lichtes, wie Frühling das Thal! Darin hingestreut wie Häufchen weißer Kiesel die Dörfer, und aus friedlichen Hüttendächern schwebt der Rauch [651] aufwärts und zergeht in der Klarheit der Luft! Die unersteiglichen Berge heben drüben selig die weißen Kronen – ein Traum der Schönheit ruht über dem Land – Onkel, Onkel, und wir sind die einzigen, die ihn kosten und trinken! Und vielehunderttausendmal schon ging die Riesenblume auf und funkelte den langen Tag und kein Mensch hat sie gesehen! Ist das nicht schrecklich, Onkel?“

„Du weiblicher Rousseau!“ spottete der Pfarrer. „Gehe hin und sage es, daß die Berge schön seien. Niemand als ein paar Schwärmer glauben es dir in weiten Landen. Meinst du, die Menschen hasten umsonst mit bleichen Gesichtern und ein Stoßgebet auf den Lippen über die Pässe?“

„Das ist aber im Winter,“ versetzte Cilgia.

Fern und nah ertönte der schrille Warnpfiff des Murmeltiers – sonst umgab sie die feierliche, grenzenlose Stille des unbetretenen Gebirges.

Und auch Cilgia wurde ernst.

Still schritten sie gegen die Höhe, wo zwischen zwei mächtigen Felskuppen die Trümmerwüste der Forcla sur Ley, des Gemsjägerübergangs vom Seethal des Engadins zum Gletscherthal des Roseg, eingebettet liegt.

Da flutet ihnen plötzlich überirdisches Licht entgegen und schlägt wie eine weiße Flamme gegen sie, und zurückweichend bedeckte Cilgia ihr Angesicht.

„Die Bernina!“ sagte der Pfarrer. Und auf einen freien Felsen warf er den Rucksack und setzte sich behaglich.

„Da halten wir Mittagstisch!“

Langsam gewöhnt sich Cilgia an das Uebermaß der Sonnenflut.

Sie steht und staunt.

Nur durch den tiefen Abgrund des Rosegthales von ihnen getrennt, ragt die Bernina, mit ihren Schildhaltern Piz Roseg und Piz Scerscen vor ihnen – Königin und Pagen vom Fuß zum Haupte frei in funkelndem Weiß – eine Phantasmagorie des Lichts. Und über den strahlenden Häuptern brennt die kleine Sonne aus schwarzblauem Himmel. Wortlos staunte Cilgia eine Weile.

„Kind, komm, iß Brot und Bindenfleisch[1], stärk’ dich am Veltliner!“ mahnte der Pfarrer.

Und sie tafelten. Plötzlich aber erschrak Cilgia – ein kurzer Knall und ein leises Rollen an den Gebirgswänden.

Auch der Pfarrer horchte.

„Es ist kein Lawinendonner,“ sagte er, „dafür ist der Knall zu kurz; es muß ein Jäger im Gebirge sein. Es wundert mich nur, wer es sein möchte. Es ist doch noch nicht Jagdzeit?“

Er stand auf, nahm den Rohrspiegel aus der Hülse, trat etwas vor, musterte damit aufmerksam das Thal und die gegenüberliegenden Gebirgswände.

„Ich sehe dort Gemsen, sie ziehen eilig nach oben – den Jäger aber kann ich nicht entdecken.“

Rüstig gingen sie dann weiter. Bald stiegen sie, thaleinwärts haltend, gegen die Stelle hinab, wo sich die aus den jähen Flanken des Schneegebirges quellenden Gletscher, die mit blauen Grotten und Spalten prangen, zu einem einzigen, mächtigen Eisstrome vereinigen, der in fächerförmiger schöner Wölbung in den grünen Grund des Rosegthales hinausfließt.

Und dann und wann psalterten die Berge im Donnergeroll und von den Flanken der Bernina stürzte Schnee wie leuchtende Wasserfälle. Wieder unterbrach ein kurzer, schwacher Knall die Stille des Gebirgskreises.

„Es muß doch ein Jäger da sein!“ bemerkte der Pfarrer.

Sie erreichten die Bergamaskeralp Ota, und plötzlich stand vor ihnen ein Schäfer aus den südlichen Bergen.

Was für eine Gestalt! Ungebeugt von der Last der Jahre, in einen malerischen, weißgrauen Mantel geschlagen, die Beine mit Filz umwickelt und umschnürt, auf dem zerzausten Haupt wieder einen viereckigen Filz, neben sich den knurrenden Wolfshund, so stand er markig bei seiner Herde.

Bei ihm ein fast ebenso malerischer Bube, der die Augen wie vor einem Wunder aufriß, als er das schöne Mädchen erblickte.

Der alte, würdige Senn, dieses Urbild des ungezähmten, doch gutmütigen Sohns der Wildnis, litt es nicht anders: der unerwartete Besuch mußte in seine Hütte treten und aus flachen Holzschüsseln Milch trinken und einen Bissen Schafkäse kosten.

Da hallte wieder ein Schuß durch die Berge.

„Ja, es wird schon Paltram sein, der jagt,“ wandte sich der Alte an den Pfarrer, „am hellen Werktag sah ich ihn zwar noch nie im Rosegthal, aber am Sonntag ist er immer auf den Grasbändern. Wenn ich in Pontresina Brot holte, traf ich ihn schon des Nachts im Thal, und wie das entsetzliche Wetter über die Bernina zog, wer klopfte um Mitternacht, als der Hagel und die Graupeln prasselten, alle bösen Geister los waren, an meine Thüre und bat um Unterkunft? – Markus Paltram!“

Also hat die Pia doch nicht gelogen, dachte Cilgia, und in ihr gärte ein Mißbehagen.

Schweigend schritt sie neben ihrem Onkel von der Hütte auf dem Gras- und Geröllweg über dem gefurchten Strom des Gletschers dahin und der Pfarrer zeigte Cilgia die an den Felswänden äsenden Gemsen.

„Ja, nun sehe ich, daß sich dort auf den Grasbändern etwas bewegt – aber es sind nur braune, unsichere Schatten. Gebt mir das Fernrohr, daß ich sie deutlich erkenne!“

Sie waren jetzt an den Ort gekommen, wo sich der Gletscher in schillernden Brüchen und jäher Wölbung zu Ende neigt, der Rosegbach mit silbernen Wellen aus einem Eisthor strömt und durch erfrischend grünen, kurzen Rasen thalauswärts sich schlängelt.

„Eine wundervolle Stelle,“ sagte Cilgia. „Die weißen Wände noch ganz nahe, wenige Schritte unter uns der Gletscher und neben uns schon der erste herrliche Wald. O dieser Hain! Ist er nicht wie ein Friedhof des Südens? Die mächtigen kantigen Blöcke, die so wunderlich aufeinander gestürzt liegen, sind die Gräber und Denkmäler, die seit Jahrhunderten verwittern, und wie gleichen die Arven, die zwischen ihnen ragen und auf ihnen stehen, den Pinien, den feierlichen Gräberbäumen!“

„Und,“ stimmte der Pfarrer den freudvollen Ton seiner Nichte herab, „gleich über dem schönen Wäldchen ist an den Felsen eine Salzlecke, zu der immer Gemsen kommen! Sie sind jetzt aus Furcht vor uns gegen die Forcla gestiegen, aber wenn wir uns verbergen, kommen sie wieder, und am obern Rand des Wäldchens sehen wir sie bequem.“

Der gute Pfarrherr schnupperte in die Luft und prüfte mit angefeuchtetem Finger ihren Strom. „Sie treibt über den Piz Rosatsch gegen uns,“ sagte er befriedigt. „Ich will vorangehen, damit du den Weg durch das Labyrinth von Blöcken findest.“

Am obern Rand des Hölzchens, im Schutz der Arven und eines großen Blockes, der sie verbarg, setzten sie sich.

Die Bernina warf schon blaue körperliche Schatten und der Gletscher erglänzte in den weichen Farbenspielen des Abends.

„Sie müssen bald erscheinen,“ flüsterte der Pfarrer, „sonst kommen sie nicht mehr. Sobald hier Schatten herrscht, wagen sie es nicht mehr. – Schau, der Durst und die Lust nach Salz treibt sie. Da kommen sie schon!“

Im Galopp springen die Gemsen von oben links die Felsen- und Geröllhalden herab. Sie halten auf halbem Weg – es ist ein Rudel von elf Stück. Sie wittern in die Luft. Sie kommen vorsichtig näher. Nun stehen sie wieder still.

Atemlos belauscht Cilgia das Schauspiel.

Die schlanken, rotbraunen Tiere strecken elastisch die Hälse, eines macht einen lustigen Quersprung, andere reißen einen Wisch kargen Alpengrases ab, andere bekämpfen sich mit den zurückgebogenen Hörnern; die einen nahen arglos, die andern vorsichtig. Wie behend, frisch und anmutig ist ihr Gang und Spiel, so voll Gescheitheit alles, was sie thun!

Und so herrliche Tiere hat Sigmund Gruber in grausamer Falle erschlagen können!

Cilgia pocht das Herz. Nur wenig hoch über ihr hält die Schar. Allen voran naht sich eine Gemse mit ihrem Jungen dem tropfenden Fels. Dicht hält sich das Zicklein an die Alte, und Cilgia sieht in die schönen, schwarzen, glanzvollen Augen des mütterlichen Tieres.

Das Junge senkt den Kopf zierlich zum Trunk, die Muttergemse hebt den ihren über den schmalen Rücken des Kleinen empor, als wolle sie sich noch einmal versichern, daß ihm keine Gefahr drohe, und drängt die Brust nach vorn.

Und nun weiß Cilgia nicht wie ihr geschieht.

[652] Ein Blitz – ein Schuß – ein Krach!

Die Muttergemse springt auf allen Vieren hoch auf, berührt den Boden wieder, setzt über den Felsen – stürzt mit den Füßen rudernd und fällt wenige Schritte vor ihr.

Ein stöhnendes, wehes „Oh“ entringt sich Cilgia. Der Pfarrer aber murmelt: „Ein Kapitalschuß!“

Die Tiere, die zum Wasser nachgedrängt haben, stehen einen Augenblick wie versteinert, ein gellender Pfiff tönt aus ihrer Mitte, Bewegung kommt in ihre Gruppe, wie Windessausen fliegen sie bergwärts.

„Ein tüchtiger Jäger – daß er sich nicht zeigt, bis die Tiere ihn nicht mehr sehen, das lobe ich mir!“

So spricht der Pfarrer. In seinem Jagdeifer, der ihm den Kopf rötet, sieht er es nicht, wie blaß Cilgia ist.

Sie hört ihn nicht – ihre Gedanken sind gebannt durch das rührende Bild vor ihr.

Das halbwüchsige Zicklein ist nicht geflohen, sondern der Mutter nachgelaufen; es steht neben der Alten, über deren Leib das Zucken und Zittern der Todesschauer geht und deren Füße sich wie zu einem letzten ohnmächtigen Fluchtversuch bewegen. Selber zitternd, leckt das Zicklein die Sterbenswunde.

Da regt sich’s oben in den Felsen – das Gewehr im Arm, zwei Alpenhasen auf dem Rücken, tritt Markus Paltram hinter einem Felsen hervor. Er steht überstrahlt vom Abendglanze, und über sein Gesicht geht der Triumph des glücklichen Jägers. Er steigt nicht über die Felsen herunter, er springt, er stürzt sich zu der sterbenden Gemse – das Zicklein flieht vor ihm mit einem pfeifenden, klagenden Laut von der verendenden Mutter. Paltram aber wirft sich in unheimlicher Lust und mit Augen, die wie beim Kampf zu Samaden glühen, auf den zuckenden Leib des Tieres, drängt ihm mit Stößen des Knies das Leben aus der Brust und saugt das rauchende Blut aus der Wunde am Hals!

Die entsetzten Augen des Tieres verglasen sich.

„Markus Paltram!“ Eine bebende Stimme ruft das Wort. Er hört es. – Er läßt ab von seiner entsetzlichen Gier – in seinen Augen steht der Schrecken – er taumelt auf.

Und er sieht in ein totenbleiches, edles Gesicht – die Gestalt trägt die Blumen der Alpen auf dem Haupt, an der Brust und im Gürtel.

In abergläubischer Furcht weicht er zurück – ist die Gestalt eine Erscheinung der Sage, die das gemarterte Tier schützt! – Erst wie er Pfarrer Taß sieht, ist er der Wirklichkeit zurückgegeben.

„Fräulein Premont!“ Er stammelt es und sein Gesicht verliert jede Farbe.

Sie aber steht vor ihm in zitternder Bewegung, in flammendem Zorn.

„Herr Pfarrer!“ ruft Paltram; er sucht Erlösung aus seiner bittern Verlegenheit und streckt ihm die Hand entgegen.

Der Pfarrer schüttelt sie verständnisvoll. „Ein Kapitalschuß – ich wünsche Euch Glück!“

Als Paltram die Hand aber zögernd auch Cilgia bieten will, flüchtet sie ihre Rechte.

„Euch gebe ich die Hand nicht! Ihr seid nicht besser als der, den Ihr angeklagt habt bei mir!“

Sie sagt es in kaltem Zorn und ein niederschmetternder Blick trifft ihn.

Markus Paltram weiß, daß er in ihren Augen gerichtet ist.

„Fräulein, es ist seit vier Jahren die erste Gemse, die ich schieße,“ stammelt er, „es hat mich gerade heute übernommen!“

Allein sie wendet den stolzen Kopf nicht zurück.

„Was willst du?“ fragt der Pfarrer zürnend, „das Bluttrinken ist Jägersbrauch; bei der ersten Gemse, die er schießt, thut es jeder. Mein Vater hat es mich geheißen – ich that’s mit Widerwillen; aber was ich selbst gethan, dafür kann ich einem andern keine Vorwürfe machen.“

Mühsam schleppt sich Cilgia, sie antwortet nicht, sie sieht den Goldrauch nicht, der die grünen Lärchen am Ausgang des Rosegthales durchzieht.

Erst nachdem sie lange gegangen, kommt ein abgerissenes Wort von ihr.

„Wie will Gott einmal richten und sühnen, was der Mensch an der Kreatur verbricht!“

Trotz aller Erschöpfung wacht sie in die Nacht hinein und preßt die glühende Stirn ans Fenster.

„Dieses Bild wird mich verfolgen, so lange ich lebe. Und was ich bei Menja noch nicht wußte, das weiß ich jetzt, ich – es ist schrecklich – ich liebe ihn!“

Sie schluchzt, die starke, stolze Cilgia Premont – sie weint vor brennender Scham, vor ingrimmigem Zorn gegen sich selbst, daß sie Markus Paltram am Abend nach Grubers Besuch – ihr Herz offenbart hat.

„Nein – sie hat sich geirrt. – Markus Paltram, der die Mutter vor den Augen des Kindes erschießt, wird nicht der Held sein, der das Engadin erlöst!“ (Fortsetzung folgt.)     

  1. Bindenfleisch ist an der Luft gedörrtes Ochsenfleisch, eine Delikatesse des Bündnerlandes.

Zum dreihundertjährigen Jubiläum von Freudenstadt.

Von Alfred Freihofer.

Das alte Murgthalthor.

Die schwäbischen Städte und Städtchen reichen fast alle, wie dies ihr Aussehen bis zum heutigen Tag verrät, ins hohe Mittelalter hinauf; ihre Geschichte verliert sich meist in graue Vorzeit, so daß keine Kunde übriggeblieben ist, wann und von wem sie gegründet wurden; viele sind ursprünglich römische Ansiedlnngen gewesen. Zwei Städte aber besitzt das heutige Königreich Württemberg, die erst in neuerer Zeit durch ven Herrscherwillen des Landesfürsten sozusagen „künstlich“ aus dem Nichts erschaffen worden sind. Die bekanntere von beiden ist Ludwigsburg, das Württembergische Potsdam, eine Schöpfung des Herzogs Eberhard Ludwig aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts. Mehr als ein Jahrhundert älter ist Freudenstadt, von Herzog Friedrich gegründet, einem der interessantesten Fürsten aus dem an kraftvollen Gestalten so reichen Hause Württemberg. In der politischen Geschichte des Landes spielt er eine minder sympathische Rolle, denn er suchte den Württembergern ihre alten Verfassungsrechte zu entreißen und ein selbstherrliches Regiment aufzurichten; aber er bethätigte diesen seinen Eigenwillen auch durch einen kühnen Unternehmungsgeist: seine Pläne, den kleinen und kleinlichen Verhältnissen des Landes durch Handel, Industrie, Bergbau u. s. w. aufzuhelfen, zeigen große Gesichtspunkte und eine ganz modern anmutende Vorurteilslosigkeit. Dabei war er aber doch ganz ein Kind seiner barocken Zeit, dem Abenteuerlichen zugeneigt und so insbesondere auch der Goldmacherei. Er bevorzugte seine Alchimisten bis zum Galgen, denn er hängte sie, wenn sie ihre Versprechungen nicht lösen konnten, nicht wie die kleinen Diebe, sondern errichtete ihnen prächtige Käfige auf hohen Eisengerüsten und ließ sie, mit goldflitternden Gewändern angethan, darin baumeln. Eben die Goldmacherei führte ihn, da er ein kluger Mann war, aber auch dazu, dem ernsthaften Bergbau seinen Eifer zuzuwenden, und die Wiederbelebung der uralten Eisenwerke des Christophsthals im Schwarzwald gab den direkten Anlaß zur Gründung der „Freudenstadt“.

Die landläufige Geschichte erzählt, Herzog Friedrich habe die Stadt gegründet, um den vertriebenen protestantischen Salzburgern eine Heimstätte zu bereiten. Das ist nur beschränktermaßen richtig, denn der Fürst, der einige Jahre zuvor gegen den schärfsten Widerspruch seines Hofpredigers Osiander die Juden ins Land gelassen hatte, um den Handel zu beleben, hat auch [653] den Salzburgern gegenüber nicht aus Glaubenseifer gehandelt, sondern sie waren ihm willkommen, weil sie tüchtige Bergleute waren. Es giebt eine angebliche Chronik des Magisters Georg Stöffler, der 1632 bis 1668 Stadtpfarrer in Freudenstadt war, in welcher die Vertreibung und die Irrfahrten der Salzburger bis zur Gründung ihrer neuen Heimat grausig und rührend beschrieben sind. Leider hat sich neuerdings herausgestellt, daß diese Chronik eine Erfindung aus dem 19. Jahrhundert ist. Als Erzähler wird in derselben der blinde Orgelmacher Konrad Schott redend eingeführt, der hiernach ein vertriebener Salzburger Knabe gewesen wäre, der all die Greuel der Vertreibung mitgemacht, Vater und Mutter dabei auf grausame Weise verloren und selbst auf der beschwerlichen Flucht das Augenlicht eingebüßt hätte. Allein es ist nachgewiesen, daß dieser Konrad Schott ein Schwabe und in Stuttgart zuhause war.

Freudenstadt, vom Schöneck aus gesehen.
Nach einer Photographie von Joh. Zimmermann in Freudenstadt.

Uebrigens giebt die Chronik selbst an, daß das Häuflein der Salzburger, als es bei der neuzugründenden Stadt anlangte, auf 89 Köpfe zusammengeschmolzen war, und andrerseits ergeben die alten Kirchenbücher Freudenstadts, daß der größere Teil seiner Ureinwohner aus den umliegenden Gegenden des württembergischen und badischen Schwarzwalds stammte. So viel aber ist richtig: jenes Häuflein Salzburger hat zusammen mit den vorhandenen Leuten des obenerwähnten Christophsthals den Grundstock der bergbautreibenden Bevölkerung der neuen Stadt abgegeben, die zehn Jahre nach ihrer Gründung schon 2000 Einwohner zählte.

Als Gründungsjahr gilt allgemein das Jahr 1599; in diesem Jahre hat man jedenfalls begonnen, den Wald auf der Anhöhe über Christophsthal auszuroden, auf welche nach der Wahl des Herzogs die Stadt zu stehen kam. Die erste sichere Urkunde datiert vom 3. November 1601; es ist ein „Ausschreiben des Herzogs Friedrich, um Unterthanen in die Freudenstadt einzunehmen“, und es heißt darin folgendermaßen:

Der Marktplatz mit dem Rathaus.

„Wir, Friedrich von Gottes Gnaden, Herzog zu Württemberg etc., geben allen und jeden, wes Stands und Würden sie seien, hienach zu erkennen, nachdem Wir bei Unsern Bergwerken in St. Christophsthal (welche durch den gnädigen Segen Gottes nicht allein in fruchtbarlichen Anfang allbereits kamen, sondern auch täglich zu mehrerem ersprießlichen Nutzen und Eintrag sich erzeigen) um besserer Bequemlichkeit willen von neuem eine Stadt, die Freudenstadt genannt, zu bauen angefangen, darin auch eine ziemliche Anzahl von aus- und inländischen Personen zu Bürgern auf- und eingenommen haben, daß Wir demnach solches zu kontinuieren und nicht Unsere zuvor verpflichteten Angehörigen allein, sondern andere Fremde oder Ausgesessene, welche redlichen und ehrlichen Herkommens und Thuns sind, in genannter Freudenstadt bürgerlich einkommen und jedem eine Hofstatt zur Erbauung eines Hauses sammt nöthigem Bauholz, auch etliche Morgen Felder zu Baugütern umsonst und ohne Bezahlung widerfahren zu lassen gemeint seien, welches Wir auf geschehen Ansuchen zu männiglichs Nachrichtung und Wissenschaft hiemit vermelden wollen.

Gegeben zu Dornstetten unter Unserer Handschrift und vorgedrucktem Fürstlichen Sekret-Insiegel, Dienstags den 3. November 1601 Friedrich.“     

Nach dieser bisher wenig bekannten Urkunde ist die Ueberlieferung abzuweisen, daß die Stadt zuerst „Friedrichsstadt“, [654] dann wegen ihres raschen Aufblühens „Friedrichs Freudenstadt“ und erst später „Freudenstadt“ genannt worden sei. Den Plan der neuen Stadt hat Herzog Friedrich selbst erdacht und durch seinen berühmten Baumeister Heinrich Schickhardt ausarbeiten lassen. Der Herzog wählte eine völlig quadratische Anlage und Schickhardt führte sie aus, obwohl er nicht damit einverstanden war. Um einen riesigen freien Platz von 141/2 Morgen = 4,6 ha, der noch heute der „Marktplatz“ der Stadt ist, wurden in Parallelen, dem Mühleziehbrett ähnlich, die Straßen rechtwinklig herumgelegt. Die Häuser der inneren-vier Fronten erhielten Arkaden, unter denen noch heute die Freudenstädter Kurgäste bei schlechtem Wetter trockenen Fußes lustwandeln; in jede Ecke des inneren Vierecks kam ein größerer Bau in Form eines Winkelhakens: Kirche, Rathaus, Kaufhaus und Spital, von denen die Kirche und das Kaufhaus bis heute erhalten sind. Die Ecken der äußeren Parallelstraßen erhielten vier Thore, Meisterwerke Schickhardts, die man leider in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts weggerissen hat. Inmitten des großen Platzes sollte ein herzogliches Schloß zu stehen kommen, das aber nie zur Ausführung kam; der Platz war als Exerzierplatz geplant. Herzog Friedrich gedachte nämlich, die Stadt zu einer Festung zu machen, und sein Enkel, Herzog Eberhard III, versuchte 1661, „zu mehrerem Schutz, Rettung und Defension des Landes“, diesen Plan mit beträchtlichen Kosten auszuführen, bis im Jahr 1674 auf einen sachverständigen Bericht des Oberstleutnants Kieser, welcher den Platz zu einer Festung „ganz untauglich“ erklärte, die Bauten wieder eingestellt wurden. (Uebrigens tauchten auch später wieder Befestigungspläne auf, denn Freudenstadt liegt am Fuß des Kniebis, des in der Kriegsgeschichte der letzten Jahrhunderte vielgenannten Schwarzwaldpasses, den die Franzosen so manches Mal als Einfallsthor benutzten. Noch 1821 sollte Freudenstadt deutsche Bundesfestung werden, und 1871 handelte es sich eine Zeit lang darum, eine Garnison hinzulegen, was aber beides nicht zur Ausführung kam.)

Der Marktplatz mit der Kirche.     
 Inneres der Stadtkirche mit Altar und Kanzel.

Die Hauptsehenswürdigkeit der Altstadt ist heute die Kirche, ein bauliches Kuriosum, das einzig dasteht. Wie erwähnt, hat die Kirche, wie die anderen Eckbauten des Hauptplatzes, die Form eines Winkelhakens; zwei Schiffe stoßen rechtwinklig aufeinander, zwei gleich hohe Ecktürme schließen den Winkel ab Diese für eine Kirche nie dagewesene Grundanlage, die sich aus dem Stadtplan ergab, reizte den Baumeister, etwas zu ersinnen, was den Beginn einer eigenen protestantischen Kirchenbaukunst bilden sollte. Bisher hatte es sich die neue Konfession in den von der alten Mutterkirche überkommenen Heiligtümern heimisch gemacht; Schickhardt wollte der neuen Form des Gottesdienstes nun auch neue, ihm angepaßte Bauformen schaffen. Der protestantische Hauptgottesdienst besteht aus Predigt und Gesang der Gemeinde; Kanzel und Orgel sollten also in den Mittelpunkt rücken. So stellte er die Kanzel in die Ecke des Winkels, von wo sie beide Schiffe beherrscht, die Orgel ihr gegenüber. In die Schiffe teilen sich die Geschlechter, so daß die männlichen und weiblichen Kirchenbesucher wohl beide den Pfarrer, aber nicht einander sehen können. Auf die Orgel wurde der Hauptschmuck verwendet; das sie umgebende bilderreiche Schnitzwerk gab eine ganze Geschichte des Alten und Neuen Testaments. Dem Mangel des protestantischen Kults an Emblemen und Symbolen begegnete der Erbauer damit, daß er die netzgewölbte Decke mit den Wappen des württembergischen und der ihm verwandten Fürstenhäuser, mit den Insignien des Hosenbandordens (auf dessen Verleihung der Herzog besonders stolz war) und mit einer Menge Wappen von Städten und Klöstern verzierte. Im übrigen aber genierte man sich auch nicht, in diesen Mischbau von Gotik und Renaissance für Altar, Taufstein, Evangelienpult und Krucifixus altchristliche Kunstschätze herbeizuschaffen, die der Ueberlieferung nach aus dem nahen Kloster Alpirsbach (vgl. „Gartenlaube“ 1898, S. 628), der höchst merkwürdige frühromanische Taufstein aber wahrscheinlicher aus dem ebenfalls benachbarten, noch älteren Kloster Hirsau stammen. Die ganze Farbenpracht der Kirche, die jahrhundertelang übertüncht war, ist neuerdings durch eine gelungene Restauration wieder aufgefrischt worden.

Die Bauformen der Freudenstädter Kirche sind aber in der Folge nicht wiederholt worden, der eigene protestantische Stil ist nicht entstanden. Auch die quadratische Anlage der Stadt hat keine Nachahmung gefunden, denn es zeigten sich bei der Bauart der Häuser ohne Hofräume und dem Umstand, daß in den Parallelstraßen Vorder- und Hinterfronten gegeneinander gekehrt sind, schwere Nachteile, gegen welche die Altstadt noch heute ankämpft. Auch mit dem Riesenmarktplatz, in welchen manch andere schwäbische Kleinstadt hineingestellt werden könnte, hat man bis heute nichts Rechtes anzufangen gewußt. Im Jahre 1826 überließ der [655] württembergische Staat den ganzen Platz um 3600 fl. an die Stadt, aber bei den damaligen ärmlichen Verhältnissen wußte diese nichts anderes zu thun, als ihn parzellenweise wieder an die einzelnen Bürger zu verpachten, so daß derselbe jetzt größtenteils mit regellos angelegten Nutzgärten bedeckt ist. Auch hat man zu Ende des vorigen Jahrhunderts auf die unpassendste Weise ein Staatsgebäude, die Oberamtei, quer hineingesetzt.

Die Schicksale der Stadt haben in der Folgezeit wenig zu dem freudigen Namen gestimmt, den der Gründer ihr gegeben hat. So schlimm wie irgend eine der schwäbischen Städte ist Freudenstadt im Lauf der Kriegszeiten des 17. und 18. Jahrhunderts nacheinander von Schweden, Kroaten und Franzosen mitgenommen worden. Besonders greulich haben die verschiedenen Kriegsvölker des Dreißigjährigen Kriegs gehaust, so daß die schön aufblühende Stadt auf 200 Einwohner zurücksank. Der obenerwähnte Stadtpfarrer Stöffler – und das ist historisch – weigerte sich 1639, den französischen und weimarischen Plünderern das Behältnis der Kirchengefäße zu entdecken; sie wollten ihn aufhängen, aber ein Kapuziner bat ihn los. Seitdem wurde bis in unser Jahrhundert jeder durchreisende Bettelmönch freigehalten.

Doch verweilen wir nicht länger bei diesen trüben Bildern der Vergangenheit, sondern werfen wir nun auch noch einen Blick auf das heutige Freudenstadt, das für Einheimische und Fremde wieder eine wirkliche Stadt der Freuden geworden ist. Auch das heutige Freudenstadt darf sich eines Kuriosums rühmen, um das seine Bürger viel beneidet werden: nicht nur daß die Stadt von ihnen keine Steuern erhebt; sie zahlt ihnen sogar aus dem Ertrag ihres großen Waldbesitzes (7000 Morgen, 1833 vom Staat gegen Ablösung der alten Holzgerechtigkeiten abgetreten) alljährlich noch eine Gabe in Natura oder Geld heraus.

Der Herzog Friedrichsturm.

Freudenstadt ist aber heute vor allem eine Stadt der Fremden, einer der besuchtesten Luftkurorte. Von Stuttgart, Karlsruhe, Straßburg bequem mit der Bahn zu erreichen, sieht es von Jahr zu Jahr mehr Sommerfrischler und neuerdings auch Winterfrischler bei sich. Neue Stadtteile, Vorstädte, Villenviertel, eine große Anzahl Gasthöfe, Pensionen etc. sind in den letzten zwei Jahrzehnten erstanden. Schon hat man auch angefangen, den „Marktplatz“ für den Kurort modern umzugestalten, und wenn den Freudenstädtern die Neigung der Sommerfrischler treu bleibt, woran bei der ausgezeichneten Wald- und Höhenluft nicht zu zweifeln ist, so können sie mit Hilfe erfinderischer und geschmackvoller Leute mit der Zeit etwas daraus machen, was vielleicht noch eine Weltberühmtheit heißen wird.

Manches wäre über die Umgebung Freudenstadts zu sagen. Als Höhenluftkurort (740 m über dem Meer) nimmt es wegen des fast unermeßlichen Waldgebirges, in dem es gelegen ist, eine der ersten Stellen in Süddeutschland ein. Berühmt sind die in seiner Nähe gelegenen Bäder Rippoldsau, Griesbach, Petersthal etc., ein herrlicher Ausflug ist die Kniebistour, sowie der Besuch des mehrerwähnten Klosters Alpirsbach, des echten Schwarzwalddorfes Baiersbronn, von Klosterreichenbach, den Sankenbachwasserfällen etc., worüber der reich illustrierte Spezialführer für den „Höhenluftkurort Freudenstadt“ vom Stadtschultheiß Hartranft die zuverlässigste Auskunft giebt.

Zu ihrem Jubiläumsfeste hatte die Stadt große Vorbereitungen getroffen: am Montag den 25. September Festgottesdienst in der neu restaurierten Kirche, nachmittags Einweihung des „Herzog Friedrichsturms“, abends ein Bankett mit lebenden Bildern; am 26. September, als dem Haupttag, zu welchem auch König Wilhelm II erschienen war, ein historischer Festzug mit 1100 Teilnehmern, 30 Wagen und nicht weniger als 220 Reitern und Reiterinnen, abends „italienische Nacht“ auf dem Marktplatze. Der letzte Tag, der 27., hat ein Frühkonzert, ein Kinderfest und einen Festball auf dem Programm.


Vincenz Prießnitz.

Zur Wiederkehr seines hundertsten Geburtstags.

Bei den alten Griechen und Römern wurde das kalte Wasser bereits von Aerzten als Heilmittel für gewisse Krankheiten empfohlen. Das Mittelalter brachte wie auf vielen anderen Gebieten des Wissens auch in der Medizin einen Rückschritt. Das einfache kalte Wasser wurde als Heilmittel gering geschätzt; nur Quacksalber wandten es von Zeit zu Zeit an gegen Wunden und Geschwüre, aber sie verbanden ihre Wasserkuren mit allerlei geheimnisvollen Zeichen, die auf die abergläubischen Gemüter ihre Wirkung nicht verfehlten. Vergebens versuchten aufgeklärte Aerzte den wahren Sachverhalt aufzudecken.

Mit den Fortschritten der Aufklärung wurde es aber auch auf diesem Gebiete lichter. In Deutschland, England und Frankreich traten einzelne Aerzte auf, die Wasserkuren versuchten und für die „neue“ Heilmethode in Büchern und Zeitschriften eintraten. Es gab schon gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts eine Litteratur der Wasserheilkunde; aber weder der deutsche Arzt Hahn, noch der Engländer Floger konnten erfolgreich durchdringen. Sie bereiteten nur den Boden vor für das Auftreten eines schlichten Mannes aus dem Volke, dem es beschieden bleiben sollte, dem kalten Wasser den Ruf als Heilmittel ersten Ranges für alle Zeiten zu sichern.

Vor hundert Jahren standen auf dem Gräfenberge bei Freiwaldau in Oesterreichisch-Schlesien nur einige einfache Bauernhäuser. In einem derselben erblickte der Begründer der Kaltwasserkur oder Hydrotherapie, Vincenz Prießnitz, am 4. Oktober 1799 das Licht der Welt. Sein älterer Bruder wandte sich dem Studium der Theologie zu, aber der junge Vincenz mußte dem augenleidenden Vater in der Landwirtschaft helfen. Darüber wurde der Schulunterricht vernachlässigt: Lesen und Rechnen hat Vincenz wohl gelernt, aber im Schreiben blieb er sehr zurück. Bücherweisheit blieb ihm für die erste Zeit seines Lebens völlig verschlossen; das große Buch der Natur lag jedoch offen vor des Jünglings Augen und in ihm verstand Vincenz Prießnitz zu lesen.

An viele Wild- und Mineralbäder knüpft sich die Sage, daß Tiere die Menschen auf deren Heilkraft hingewiesen haben. Aehnliches wird auch von Prießnitz erzählt. In den Waldungen, in welchen der Knabe die väterlichen Kühe hütete, sprudelte eine frische Quelle. Die „Prießnitzquelle“ hieß sie im Volksmunde, da an ihr im siebzehnten Jahrhundert die Schweden einen Prießnitz erschlagen haben sollen. Der Knabe sah nun einmal, daß ein angeschossenes Reh an jene Quelle kam und sich in dem Moostümpel daneben die Wunde auswusch und daß es wiederkehrte, bis die Heilung erfolgte. Seit jener Zeit soll Prießnitz das kalte Quellwasser für ein Heilmittel gehalten haben. Fünfzehn Jahre alt, konnte er es an sich selbst erproben. Beim Transport schwerer Holzklötze zerquetschte er sich einen Finger; er tauchte ihn in kaltes Wasser und kurierte ihn vollends durch kalte Umschläge. Nun wuchs sein Vertrauen. Knechten und Mägden in Gräfenberg empfahl er bei Verletzungen das kalte Wasser und wandte es auch bei krankem Vieh an. Im Jahre 1816 erlitt er einen schweren Unfall. Das Pferd vor seinem Wagen scheute und ging durch. Prießnitz wurde überfahren; das Rad brach ihm einige Rippen. Ein Arzt wurde herbeigerufen, als aber seine Behandlung nicht anschlug, sann Prießnitz auf Selbsthilfe. Durch Pressen des Brustkorbs an eine Stuhlkante brachte er die gebrochenen Rippen in geordnete Lage und machte kalte Umschläge, indem er sich mit einem ins Wasser getauchten Linnen umgürtete. Er genas, aber die inneren Schäden, die er dabei davontrug, sollten später den Grund seines frühzeitigen Todes bilden.

Seit jener Heilung empfahl Prießnitz allen Freunden und Bekannten bei äußeren Verletzungen die Anwendung des kalten Wassers; seine Ratschläge halfen, und er wurde bald in der nächsten Umgebung bekannt. Die Leute kamen zu ihm und ließen sich von ihm behandeln. Die Verhältnisse trugen ihn; ohne daß er es beabsichtigt hatte, wurde er ein gesuchter Wasserdoktor, und mit der zunehmenden Praxis wuchs auch seine Erfahrung. Zunächst verordnete er den Kranken Ganzwaschungen, Umschläge und Wassertrinken.

Prießnitz verlangte für seine Bemühungen keine Belohnung; aber es konnte nicht ausbleiben, daß Leute, denen er geholfen hatte, sich auch [656] durch klingende Münze dankbar erwiesen. Im Jahre 1822 war er bereits im Besitze einer kleinen Geldsumme, die ihn in stand setzte, an Stelle des alten hölzernen Häuschens, in dem er geboren war, ein steinernes zu errichten. Dies war um so mehr nötig, als manche Kranke bei Prießnitz blieben, bis sich ihr Leiden besserte, und aus Mangel an Raum in Scheunen und Ställen nächtigen mußten. In einer Kammer des Hauses wurde ein großer Trog aufgestellt, den die Hausquelle mit Wasser speiste. Das war der Anfang der Kaltwasserheilanstalt, die später einen Weltruf erlangte.

Mit seinen Erfolgen konnte der junge Wasserdoktor zufrieden sein; sein Wissen mehrte sich, und allmählich baute er seine Heilmethode aus; er führte nach und nach das Schwitzen, Bäder und Duschen ein, aber je größer sein Ruf wurde, desto üppiger schoß der Neid der Nachbarn auf. Es hieß bald, daß er sich als Wunderdoktor gebärde, geheime Worte bei Abwaschungen murmele und allerlei Hexenzeichen mache. Diese Verleumdung veranlaßte die Geistlichkeit zum Vorgehen gegen den „schlechten Propheten und seinen verderblichen Aberglauben“. Die Aerzte der Umgegend erblickten in Prießnitz einen gefährlichen Kurpfuscher, gegen den von Rechts wegen eingeschritten werden sollte. In der That wurde er auch bald in Untersuchungen und Prozesse verwickelt. Es blieben ihm die Kämpfe nicht erspart, die jeder Neuerer bestehen muß: aber die Verfolgung war nicht hart. Im Gegenteil, wenn man die damaligen Gesetze in Betracht zieht, drückten die Behörden eher ein Auge zu. Nur vorübergehend und für kurze Zeit wurde seine Badeanstalt geschlossen, dann ließ man Prießnitz ungehindert kurieren.

In dieser Zeit der Kämpfe führte Prießnitz die Schulzentochter Sophie Prießnitz aus Böhmischdorf als Frau heim. Anfangs waren die Eltern der Erwählten gegen die Verbindung. Nachdem aber Prießnitz die Mutter von der Gicht kuriert hatte, durfte er die Hand der Tochter als Honorar erbitten.

Vincenz Prießnitz.

Im Jahre 1830 wurde die kleine Badeanstalt auf dem Gräfenberge wieder eröffnet und der Ruf des Wasserdoktors breitete sich immer weiter aus. Die Zahl der Kurgäste stieg; die benachbarten Bauernhäuser wurden mit ihnen belegt, aber der Raum genügte nicht und Prießnitz sah sich genötigt, Neubauten aufzuführen.

Der Zudrang in Gräfenberg wuchs von Jahr zu Jahr. Die Zahl der Kurgäste betrug im Jahre 1836 über 400 und im darauffolgenden Jahre 500. Die Preise waren um jene Zeit gar nicht teuer. Für das Zimmer zahlte man wöchentlich drei bis vier Mark, für Frühstück und Abendbrot zusammen fünfzig Pfennig, Mittagessen siebzig Pfennig. Dabei wurde in Gräfenberg sehr viel gegessen – aber nur Wasser getrunken. Im Jahre 1839 stieg die Zahl der Kurgäste auf 1700 und die Einnahme Prießnitzens betrug 120000 Gulden. Diese ist auf die glänzenden Honorare zurückzuführen, welche die Geheilten dem Wasserarzte gaben; denn Gräfenberg war inzwischen derart in Ruf gekommen, daß es von Fürsten, Prinzen und Grafen aufgesucht wurde. „Es ist wiederholt vorgekommen,“ schreibt Philo vom Walde in seinem jüngst erschienenen Buche „Vincenz Prießnitz. Sein Leben und Wirken“ (Berlin, Wilh. Möller), „daß polnische Edelleute Prießnitz außer dem Honorar noch ein Reitpferd oder auch ein ganzes Gespann dedizierten. Büsten und Porträts, Gemälde, silberne und goldene Denkmünzen, silbernes und goldenes Geschirr waren häufige Andenken beim Abschiede dankbarer Kurgäste.“ Schon im Jahre 1838 erbaute Prießnitz das „große Kurhaus“; aber auch im nahen Freiwaldau mußte man neue Häuser bauen, in denen sich die „Crème der Noblesse“ mit Vorliebe aufhielt und die Stadt mit ihren Köchen, Lakaien und Grooms überfüllte. Es gab eine Winter- und eine Sommersaison, und Prießnitz war unermüdlich thätig; er besuchte fleißig die Kranken und ritt zwischen Gräfenberg und Freiwaldau. Das verfeinerte Leben der Kurgäste in der Stadt mißfiel ihm. Er wünschte von denen, die Genesung suchten, eine einfachere Lebensart.

„Wenn ich das Wasser nicht hätte, würde ich mit der Luft kurieren,“ hat Prießnitz einmal gesagt. So forderte er auch möglichst reichlichen Aufenthalt im Freien und Schlafen bei offenen Fenstern. Auch hielt er viel auf Bewegung. Man sah seine Kurgäste ohne Ansehen des Standes Holz hacken und im Winter Schnee schaufeln. Es wurden in Gräfenberg auch Luft- und Sonnenbäder genommen, und man sah Damen, wie sie barfuß über tauiges Gras schritten.

An äußeren Zeichen der Verehrung hat es Prießnitz nicht gefehlt. Man trieb mit ihm eine Art Kultus. Da ist eine Quelle in Marmor gefaßt und auf ihr steht zu lesen: „Dem unsterblichen Prießnitz die dankbaren Preußen. 1846.“ Auf einem Aussichtspunkte der Koppe ruht auf einem Sockel ein eherner Löwe. Schwanthaler, der 1839 in Gräfenberg zur Kur war, hat ihn im Auftrage der Ungarn modelliert. Ebenso haben Böhmen, Franzosen und Polen in Gräfenberg Dankmonumente errichtet. Der Körper Prießnitzens war den Anstrengungen, die er sich auferlegte, nicht gewachsen. Der notdürftig geheilte Rippenbruch machte ihm zu schaffen und reizte, wie er sich selbst ausdrückte, die Leber. Schon im Jahre 1847 stellten sich bei ihm Ohnmachtsanfälle ein, aber er wollte von Schonung nichts wissen. Er starb am 28. November 1851. Mit seinem Tode hörte jedoch sein Wirken nicht auf. Nach Gräfenberg waren viele Berufene und Unberufene geeilt, um die Heilmethode des schlichten Bauern zu studieren. Sie gingen in alle Richtungen der Welt, um Wasserheilanstalten zu gründen.

Prießnitz konnte nicht alle Leiden heilen, das sagte er selbst, und er war auch nicht unfehlbar, er suchte allmählich seine Heilmethode zu vervollkommnen, und wie er sie hinterließ, so hatte sie neben glänzenden Treffern auch schwerwiegende Fehler aufzuweisen. Aufgabe der Wissenschaft ist es gegenwärtig, für die Anwendung des kalten Wassers in der Heilkunde die richtigen Grenzen zu ziehen und ein verderbliches Uebermaß zu verhüten. Vincenz Prießnitz bleibt aber unbestritten das Verdienst, zum Wohl der leidenden Menschheit der Wasserheilkunde siegreich die Bahn gebrochen zu haben. C. Falkenhorst.     


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Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Der geheimnisvolle Runenstein zu Jesteburg.
Von Heinrich Niebuhr.

In dem Altertumsmuseum zu Stade befindet sich ein uralter Runenstein. – Er hat den Namen „der geheimnisvolle Runenstein“ erhalten, weil kein Forscher bisher imstande gewesen ist, die seltsamen Zeichen, welche ihm vor Jahrtausenden eingegraben wurden, zu entziffern.

Erst im Jahre 1879 gelangte der Stein in dieses Museum; bis dahin hatte er seinen Platz im Pfarrgarten zu Jesteburg, einem hannoverschen Kirchdorf, und diente als Rückwand einer von Moos überwucherten steinernen Ruhebank. Ein volles Jahrhundert befand er sich dort; im Jahre 1780 hatte der Pastor Johann Karl Gottlieb Runge, ein gelehrter Mann und leidenschaftlicher Altertumsforscher, den Stein von seiner ursprünglichen Ruhestätte in einem Forste, nahe dem Dorfe Seppensee, fort und nach Jesteburg schaffen lassen. Runge legte sich dann darauf, die Runen zu entziffern, und verlor darüber den Verstand! – Sein Eifer, die unklaren Zeichen zu deuten, artete zu dem Wahn aus, daß es ihm gelingen müsse, die Inschrift zu erklären und zu verdeutschen. Es sind seltsame Runen, welche entschieden Aehnlichkeit mit den Grundrunen der alten Germanen haben, aber mit unverständlichen Figuren durchkreuzt und verwoben sind.

Die meiste Zeit des Tages weilte Runge vor dem Steine und des Nachts träumte er nur noch von dessen Inschrift; schweißgebadet fuhr er aus dem Schlafe und schrieb auf bereitgehaltenes Papier seine Gedanken nieder. Er glaubte endlich, den Schlüssel zu seinem Runenrätsel gefunden zu haben, und dicht beschriebene Seiten reihten sich zu einem dicken Manuskript zusammen, das die vermeintliche Deutung der Runeninschrift, ins Deutsche übertragen, am Ende seiner Darlegung enthielt.

Er bot seine „wissenschaftliche Arbeit“ Verlegern in Hamburg, Hannover und Celle an. Er scheute nicht die zu jener Zeit kostspieligen Reisen nach den Städten, den teuren Aufenthalt in den Gasthäusern. Aber von allen wurde er zurückgewiesen, die Verleger erkannten in der Arbeit nur das verworrene Geschreibsel eines Irrsinnigen mit gelehrten Floskeln durchzogen – es war ein trauriger Wirrwarr.

Wohin das sonderbare Manuskript schließlich gekommen ist, weiß man nicht. Das Ende seines Verfassers war tief tragisch. Pastor Runge mußte schließlich in das ehemalige St. Michaeliskloster zu Hildesheim, das schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts zur Aufnahme für Wahnsinnige diente, gebracht werden. Dort lebte er noch Jahre hindurch. In Hildesheim war der arme Kranke mit den früh ergrauten Locken und dem feinen, geistreichen Kindergesicht, aus dem die dunklen Augen so seltsam hervorschauten, allgemein bekannt. Man konnte den harmlosen Mann von der Straße aus im Garten vor einem großen Holzblock sitzen sehen. Er starrte den Block an und schrieb und schrieb immer

[657]

Vor der Gärtnerei in Rheinsberg.
Nach dem Gemälde von M. Hünten.

[658] wieder mit einem Bleistift auf ein vollgekritzeltes Pergament. Er glaubte, in dem Holzblock den Runenstein vor sich zu haben.

Und weiter wird erzählt: Eines Tages war Pastor Runge aus dem Hildesheimer Irrenhause entwichen. Man suchte ihn vergebens, keine Spur war von ihm zu entdecken. Tage-, ja wochenlang setzte man die Nachforschungen fort, der unglückliche Irre war und blieb verschwunden.

Da wurde der neue Pfarrer zu Jesteburg an einem herrlichen Julimorgen durch die Kunde aufgeschreckt: draußen auf dem „Blutstein“ läge ein toter Mann, mit schneeweißem Haar. Und wirklich sah er, als er den Garten betrat, lang ausgestreckt über den Runenstein, die Leiche seines unglücklichen Amtsvorgängers, das abgeschossene Pistol noch krampfhaft in der Rechten haltend.

Die Todesart des bedauernswerten Mannes wurde verheimlicht. – In die Pfarrakten eingetragen findet sich nur die Nottz, daß der Pfarrer Johann Karl Gottlieb Runge am 5. Juli 1794 im Alter von 51 Jahren plötzlich verstorben sei.

Der „Jesteburger Runenstein“ hatte in ihm sein letztes Opfer gefunden. –

Schon früher war er von Menschenblut gefärbt worden, weshalb er ringsum von den Bewohnern der zerstreut liegenden Walddörfer der „Blutstein“ genannt wurde, unter welchem Namen er auch nach Jesteburg kam. Auch „Teufelsstein“ und „Hexenstein“ nannte ihn das Volk. Jedermann mied die Stelle, wo er lag.

Der „Blutstein“ sollte an einem bestimmten Tage im Monat August Blut schwitzen. „Teufelsstein“ wurde er geheißen, weil der Teufel mit seinen Knöcheln dem Steine die seltsamen Zeichen eingegraben haben sollte, und als „Hexenstein“ wurde er bezeichnet, weil eine junge Hexe, der Sage nach, mit ihrem Buhlen, dem Bösen selber, an dieser Stelle Zusammenkünfte gehabt hatte. Schweres Seufzen, wie von dem Stein ausgehend, vernahm man an dem Tage, an welchem die Hexe in Hamburg verbrannt worden war.

Wenngleich der „Runenstein zu Jesteburg“ in der alten Kriminalstatistik nur Bedeutung hat, weil er thatsächlich in einem Hexenprozeß des Jahres 1661 eine Rolle spielt, sind die Sagen über ihn doch gewiß interessant genug, um sie hier im Zusammenhang darzustellen.

Die älteste der drei Sagen erzählt, wie der Stein zu dem Namen „Teufelsstein“ kam. Seppensee ist ein auf dem Wege der Bahn von Harburg nach Celle gelegenes freundliches Dorf, das ehemals im Walde förmlich versteckt lag. Das mächtige Waldrevier stand unter Obhut des Jägers zu Lohbergen. Zwischen Seppensee und Lohbergen erhob sich abseits vom Wege eine Anhöhe, auf welcher sich ein von Moos und Kräutern umwachsener Stein befand. Dieser Stein war unser Runenstein, der aber zu jener Zeit von keinem Menschen als solcher erkannt ward.

Nun lebte damals in Seppensee ein Schneider, der zugleich Musikant war. Nebenbei betrieb unser Schneiderlein auch noch die Kunst, mit Spielkarten allerlei Hokuspokus zu machen, über die sein erstauntes Bauernauditorium sich jedesmal schier zu Tode lachen wollte. Zu verwundern war es da wohl nicht, daß unser Meister Zwirn mitunter die häuslichen Sorgen von sich warf und bei Spiel und Tanz, sowie bei den dann gewöhnlich folgenden Kartenkunststücklein einen Schluck über den Durst nahm und mit schwerem Kopf und schwachen Beinen mitten in der Nacht nach Hause wankte. –

In einer schönen Sommernacht kam der Schneider denn auch mal wieder von einer Kirchweih heim und wanderte, seine Fiedel über den Rücken gehängt, durch den Lohbergener Forst seinem Heimatsdorfe Seppensee zu.

Der Mond schien taghell. Der Weg war lang und einsam, mutterseelenallein schritt er den Waldpfad dahin, allmählich schwanden die Geister der genossenen Getränke aus seinem Gehirn und die Wehmut des beginnenden Katzenjammers überkam ihn. Er warf sich mitten im Walde nieder und rief: „Das Leben ist doch gar zu erbärmlich! Die Woche über muß ich nähen, daß mir die Augen blind und die Hände lahm werden, am Sonntag fiedle ich vom Nachmittag an bis in den helllichten Morgen hinein; dazu ein immer keifendes Weib, fünf nimmersatte junge Mäuler – wahrlich, das Leben möge der Teufel holen, wann er’s haben will!“

Plötzlich trat ein Mann in reicher Jägertracht hinter dem Hügel hervor und sagte: „Ist’s Euch so leid ums Leben? Irre ich nicht, so seid Ihr doch der lustige Schneider und Fiedler von Seppensee?“

„Der bin ich, Herr!“ entgegnete der Schneider, „aber hol’ mich der Teufel, es ist wahr, was ich sagte: es ist eine Schand’, wie wir armen Leute uns quälen müssen. Was hab’ ich von all meinem Arbeiten und Fiedeln? Nichts als das trockne Brot für mich und die Meinen.“

„Ihr sollt ja trefflich Karten spielen und Zauberstücklein mit Euren Karten machen können,“ sagte wieder der Fremde, „da geht auf Reisen! Eure Karten können Euch ein schön Stück Geld draußen im Lande, namentlich in den großen Städten, eintragen.“

„Und während dessen verhungern Weib und Kinder!“ meinte der Schneider.

„Mache Euch einen Vorschlag,“ erwiderte der Jäger und zog aus seiner Jagdtasche einen Beutel, den er von seiner Schnur befreite und aus dem nun blanke Goldstücke dem Schneider entgegenblinkten. „Hier, dieser Beutel voll Goldgulden ist Euer, wenn Ihr dreimal hintereinander im Kartenspiel mit mir gewinnt.“

Der Schneider blickte den Fremden groß an, betrachtete dann die rotglänzenden Goldstücke und fragte gedehnt: „Und wenn ich verspiele?“

„Dann seid Ihr der Meine, ich bin Euer Herr und Ihr folgt mir; aber das Gold hier könnt Ihr zuvor Eurer Familie geben.“

Der Schneider that einen Luftsprung, der Handel war gar zu verlockend.

„Nun, wollt Ihr?“ fragte der Jäger. „Könnt es getrost mit mir wagen.“

„GutI“ rief der Schneider, seiner Spiel- und Kartenkunst vertrauend. „Aber – soll’s gleich sein? Wir haben ja keinen Tisch?“

Der Jäger zeigte nach der Anhöhe hinauf.

„Dort oben liegt ein Heidenstein,“ bestimmte er, „an dem spielt sich’s vortrefflich.“

Die beiden erstiegen die Anhöhe und lagerten sich zu Füßen des Steins. Der Schneider nahm seine Karten, die er allzeit bei sich trug, ließ den Fremden mischen und das Spiel begann.

„Ein wenig rasch, seid so gut!“ befahl der Fremde, „möchte vor dem ersten Hahnenschrei zu Hause sein, der Mond wird bleicher, und es beginnt schon zu dämmern.“

Stich um Stich wurde nun gethan; mit dem Beginn des Spiels hatte der Schneider seine ganze Denkkraft wieder gewonnen, um so mehr, als ein wahrer Goldschatz für ihn zu gewinnen war. Das erste Spiel war zu Ende, der Schneider hatte gewonnen.

„Verflucht!“ rief der Fremde und seine Stimme klang krächzend wie die einer Nachteule.

Sie spielten weiter. Stich um Stich siegte wieder der Schneider, während dessen Gegner bei jeder neuen Karte mit seinen Handknöcheln auf die Steinfläche schlug, daß ein harter, schriller Laut ertönte. Zugleich gewahrte der Schneider, daß mit jedem Schlag, den sein Mitspieler auf den Stein that, dieser tiefer in den Erdboden sank. – Auch das zweite Spiel war zu Gunsten des Schneiders entschieden.

Der Mond schien mehr und mehr zu erbleichen, sein Licht wich der Morgendämmerung, die den Osten zu erhellen begann. Der Jäger that einen neuen gotteslästerlichen Fluch und streckte, wohl um bequemer zu lagern, seine Beine lang aus.

Da erschrak der ungläubige Schneider bis ins Herz hinein. War ihm schon das Schlagen des Fremden mit seinen Handknöcheln auf den harten Stein, das Einsinken des Steines gar unheimlich erschienen, jetzt erblickte er mit Grausen, daß des Jägers linker Fuß einem Klump- oder Pferdefuß glich. Mit einem Male war es ihm klar: er hatte den Teufel gerufen, und dieser war gekommen!

Jetzt galt es Fassung, sollte nicht alles verloren sein. – Ein Spiel war noch übrig! Wer konnte wissen, welche Teufelskniffe der Satan anwenden würde, dies zu gewinnen. Aber der Schneider von Seppensee verlor nicht die Courage.

„Seid nicht unwirsch, Herr!“ rief er, „will Euch zur Kurzweil erst mal ein Kunststücklein zeigen, dann werdet Ihr freundlich gestimmt und wir spielen weiter.“

Und im selben Augenblick hielt er dem Jäger die Karten hin und sagte: „Zieht eine Karte und behaltet sie in der Hand.“

Der Jäger that, wie der Schneider wollte. Dann forderte dieser ihn auf, die Karte, welche er in der Hand hielt, in seinen Hut zu legen und diesen wieder auf den Kopf zu setzen. – Auch dies that der Jäger. Der Schneider mischte nun wieder die Karten, nahm die oberste davon und reichte sie dem Fremden [659] mit den Worten: „Da habt Ihr Eure Karte – nun gebt mir die aus dem Hut.“

Die Karte, welche der Jäger selber in seinen Hut gelegt hatte, war verschwunden.

„Beim Beelzebub! Kerl, wie habt Ihr das gemacht?“ lachte der Jäger.

Der Schneider ergriff die Karten, warf sie dem Fremden ins Gesicht und rief dann: „Jetzt, Herr, nehmt mal wieder vorsichtig Euren Hut ab und seht, was darin ist.“

Der Fremde nahm seinen Hut wieder ab – und dieselbe Karte war in seinen Händen.

„Holla, Schneider, Ihr seid ein Spitzbube,“ rief der Jäger und seine dunkelglühenden Augen richteten sich nach Osten, „nun vorwärts, rasch das dritte Spiel!“

„Ja, ja,“ antwortete der Schneider, „sucht nur die Karten erst mit zusammen, dann spielen wir weiter.“

Der Fremde raffte hastig die Karten auf, unser Schneider beeilte sich nicht zu sehr, eine geheime Furcht schien ihn zu verwirren. Endlich war das Spiel beisammen. Der Fremde, der diesmal mischen mußte, zählte, es fehlten noch zwei Karten.

„Verdammter Spitzbube,“ donnerte er dem Schneider zu, „wo habt Ihr die Karten? Die Zeit verrinnt, es wird Morgen!“

„Bei Euch, Herr, müssen sie niedergefallen sein und noch liegen,“ entgegnete dieser, und nach geraumem Nachsuchen fand der Jäger wirklich die zwei noch fehlenden Karten.

Das dritte Spiel begann. – Der Beutel mit den funkelnden Goldstücken lag neben dem Stein. – Der Jäger schien sich bei jedem Stich zu besinnen, er blickte mit seinen glühenden Augen den Schneider an, als ob er ihn durchbohren wollte, aber dieser sann ebenfalls bedächtig nach, und nur langsam folgte Stich auf Stich.

Da plötzlich, mitten im Spiel, flammte es blutrot auf über dem Wald, die Dämmerung war verschwunden – und drüben überm Walde krähte laut ein Hahn. Die Sonne stieg rotglühend im Osten empor. Der Schneider hatte plötzlich das Gefühl, als sei er vom Blitze getroffen – taub, blind, gelähmt. Erst allmählich kam er wieder zu sich. Als er die Gegenstände vor und um sich wieder zu unterscheiden vermochte, war der Fremde verschwunden. Zu seinen Füßen aber fand der Schneider den Beutel mit all den Goldgulden. Jetzt begriff er! Beim ersten Hahnenschrei hatte der Teufel nach „Teufels- und Hexengesetz“ entweichen müssen; er konnte ihm jetzt nichts mehr anhaben. Aber ein „grundehrlicher Teufel“ war es doch gewesen, denn er hatte sich als Ueberwundener gefühlt und, was man einem Teufel nimmermehr hätte zutrauen sollen, dem armen Schneider redlich den versprochenen Gewinn gelassen.

Der Schneider von Seppensee aber verließ nach dieser Begegnung sein Heimatsdorf und siedelte nach Bremen über, weil er sich da vor einer zweiten Begegnung mit dem Teufel gesicherter hielt. Er ist alldort ehrsamer Meister und Bürger geworden und soll bis zu seinem hoffentlich seligen Ende ein großes Schneidergeschäft betrieben haben, das er dann seinen Kindern vererbte.

Der Stein, an welchem Teufel und Schneider gespielt hatten, war also in jener Nacht bis auf einen Fuß hoch in die Erde gesunken und die ganze obere Fläche zeigte wunderliche Vertiefungen, welche beim Ausspielen der Karten die Handknöchel des Teufels eingedrückt haben sollten. Wir kennen sie als Runenzeichen. –

Von tragischem Charakter sind die Vorgänge, durch welche der Runenstein von Jesteburg zu dem Namen „Hexenstein“ kam. Ihr Schauplatz ist hauptsächlich Hamburg.

Nach 1550 wurde in Hamburg die Folter eingeführt, und von da an mehrten sich die Hexenprozesse, welche früher nur vereinzelt vorgekommen waren. Man kann nicht ohne Entsetzen lesen, wie viel arme, unschuldige Menschen damals dort, wie anderwärts, dem Hexenwahn zum Opfer fielen.

Sein letztes Opfer in Hamburg war ein blutjunges, unschuldiges Mädchen, das bei dem Bürgermeister Berthold Möller dort im Jahre 1661 im Dienste stand.

Das junge, hübsche Ding hieß Grete Feindt und war die Enkelin des Waldwächters zu Lohbergen.

Janssens handschriftliche Aufzeichnungen erzählen uns, daß die Frau Bürgermeisterin mit dem Mädchen in der ersten Zeit gar wohl zufrieden gewesen ist, doch sei die Grete oft kopfhängerisch gewesen und habe immer nach ihrer Heimat zurückverlangt. Der Großvater wäre aber mit der Heimkehr seiner Enkelin nicht einverstanden gewesen und habe deren Bleiben im Hause ihres Herrn befohlen.

Das junge Mädchen sei dann immer seltsamlicher geworden, habe sich oft in seinem Schlafkämmerlein eingeschlossen, und während der Nacht habe man es gar mitunter bei ihr rumoren gehört, und es sei gewesen, als ob sie mit jemand spräche, bis es plötzlich totenstill geworden wäre.

Da trug sich eine gar rätselhafte Begebenheit zu, welche von den schrecklichsten Folgen begleitet war.

Der bereits über fünfzig Jahre alte Gerichtsdiener Peter Lukas Meineke, welcher bei dem Bürgermeister ein- und ausging, hielt um die schöne Grete Feindt an, erbot sich auch, dieselbe in aller Kürze zu ehelichen. Der Bürgermeister muß in dem Antrage des bejahrten Mannes, der doch eigentlich nicht zu dem sauberen, jungen Mädchen paßte, nichts Ungeeignetes erblickt haben und berichtete darüber an deren Großvater, den alten Forstwächter zu Lohbergen, ließ aber zugleich der Grete durch seine Frau von dem Heiratsantrag Mitteilung machen.

Während von dem Forstwächter ein höchst devotes Schreiben einlief, in welchem der alte Mann für die hohe Ehre dankte und seine Einwilligung ohne weiteres gab, ging mit dem jungen Mädchen eine große Veränderung vor. Grete saß fortan, anstatt zu arbeiten, vor sich hinbrütend am Spinnrocken und Nähtische und weigerte sich heftig, dem Gerichtsdieuer die Hand zum Ehebunde zu reichen, ja, als dieser eines Tags zu ihr ins Zimmer trat und ihr persönlich seinen Antrag machte, floh sie auf die Galerie und sank dort wie leblos zusammen.

Man mußte sie ins Bett tragen; sie geriet in Phantasien, und in diesem Zustande rief sie nach einem „Gerhard“, der sein Pferd satteln und kommen sollte, sie zu holen und zu retten.

Als sie nach einigen Tagen wieder zu sich kam, wußte sie von all dem, was sie phantasiert hatte, nichts mehr, blieb von nun an aber wie in einer Lethargie befangen und starrte mit den großen, blauen Augen gedankenlos vor sich hin.

Mit dem alten verliebten Gerichtsdiener Meineke ging’s aber noch ärger. Der grauköpfige Narr gebärdete sich wie ein Toller. Er erzählte aller Welt, die Grete habe es ihm angethan, sie müsse ihn behext haben, er könne nicht ohne sie leben und er würde sich töten, wenn er das Mädchen nicht zur Frau bekäme.

Da nun aber Grete in ihrem Starrsinn beharrte und durchaus nichts von der Liebe des alten Thoren hören wollte, erhängte sich dieser wirklich und noch dazu in dem bürgermeisterlichen Hause im zweiten Stocke auf der umlaufenden Galerie, an der oberen Angel der Kammerthür, hinter welcher das junge Mädchen schlief, das er mit seiner wahnsinnigen Liebe verfolgt hatte.

Der Fall machte erklärlicherweise ein ungeheures Aufsehen in der ehrsamen Hansestadt; es konnte hierbei unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein! Der Selbstmörder hatte all seinen Freunden, Verwandten und Bekannten unter Thränen und heiligen Beteuerungen versichert, das Mädchen müsse es ihm „angethan haben“, und eine geheime, unerklärliche Macht zwänge ihn, sich selber zu töten. Es war sonnenklar: man hatte es hier mit einer Hexe, mit dem Teufel als Urheber und Beihelfer, zu thun.

Viel geringere Ursachen vermochten dazumal eine Weibsperson in den Verdacht zu bringen, daß sie eine Hexe sei, und wo der Verdacht erst gegen eine solche Unglückliche Platz gegriffen hatte und erhoben war, da waren auch Anklage und Folter nicht mehr weit entfernt!

Grete Feindt wurde der Hexerei, des bösen Zaubers, ausgeführt an dem so schmählich zu Tode gekommenen Gerichtsdiener Peter Lukas Meineke, angeklagt und nach dem Berg in die Frohnerei gebracht. Der Hergang bei Hexenprozessen war immer derselbe: eine Folge der qualvollsten, unerträglichsten Martern, unter deren schrecklicher Wirkung auch der Unschuldigste endlich alles gestand, was seine grausamen Peiniger haben wollten.

So auch hier. Das schöne, bejammernswerte Mädchen bekannte unter den Folterqualen, daß es mit dem Teufel in Verbindung stehe, den es in dem Hause des Großvaters im Walde zu Lohbergen kennengelernt hatte, er habe sich Junker Gerhard von Rehden genannt und sie zu nächtlichen Zusammenkünften am „Teufelsstein“ überredet.

Grete Feindt gestand ferner, der Teufel sei ihr stets in Gestalt eines hannoverschen Reiteroffiziers erschienen und habe sie [660] auch im Hause des Bürgermeisters nächtlicherweile besucht. Auch habe er ihr gezeigt, wie sie es zu machen habe, wenn sie zur Kurzweil Männer in sich verliebt machen wolle. Dies Mittel, das im Sprechen eines „Hexenspruches“ bestanden, habe sie auch bei dem Herrn Gerichtsdiener angewandt.

Nachdem man dies wahnsinnige Bekenntnis dem unschuldigen Mädchen abgefoltert hatte, wurde das Urteil gesprochen, das wie gewöhnlich lautete: die Hexe sei, in ein härenes Bußgewand gekleidet, zu verbrennen.

Und so geschah es: am 31. Juli 1661 wurde die achtzehnjährige Grete Feindt aus Lohbergen vor dem Steinthor zu Hamburg als Hexe verbrannt. – Sie war dort das letzte Opfer des Hexenprozeßwahns.

Die „handschriftlichen Aufzeichnungen“ bleiben uns eine Aufklärung über die schauerliche Affaire nicht schuldig. Sie sind so einfach, wie natürlich.

Die schöne Grete hatte in ihres Großvaters Waldhause die Bekanntschaft eines jungen hannoverschen Reiteroffiziers gemacht, der in der Stadt Celle eine zeitlang einquartiert gewesen und den Namen Gerhard von Rehden trug oder solchen angegeben hatte. Ob der junge Offizier es ehrlich mit dem schönen, unschuldigen Waldkinde gemeint hat, davon wird nichts weiter berichtet.

Das unerfahrene Mädchen mochte mit ihm wohl hinter dem Rücken des alten Forstwächters auch nächtlicherweile am „Teufelsstein“ zusammengetroffen sein; die Liebe kennt ja keine Furcht, und ein Jägerkind erst recht nicht. Der Großvater mochte dann hinter die Liebschaft gekommen sein, und da der alte Mann wohl mit Recht ein böses Ende fürchtete, entfernte er seine Enkelin und brachte sie in Hamburg im Hause des Bürgermeisters Berthold Moller unter.

Geraume Zeit nach der Verbrennung der schönen unglücklichen Grete wurde es dann auch in der Gegend von Seppensee und Lohbergen kund, daß die Enkelin des Waldwächters Feindt eine Hexe gewesen und zu Hamburg verbrannt worden wäre. Auch daß der Teufel mit ihr in Gestalt eines jungen Reiteroffiziers Umgang gepflogen, blieb nicht geheim, und der Runenstein erhielt neben dem Namen „Teufelsstein“ nun den „der Hexenstein“. –

Seinen dritten Namen, „Blutstein“, trägt er von einer grausen Begebenheit, die sich dort im Waldesdickicht einst abspielte.

Im Dorfe Seppensee liebte des Vogts einzige Tochter, die blonde, blauäugige Lene, den jungen, hübschen Jäger im Forsthause der Herrschaft Lohbergen, und jedermann glaubte, daß, wenn der alte Förster, ein hoher Siebziger, die Augen schlösse, dann der junge Jäger Marten zum Förster ernannt und die beiden Liebenden ein glückliches Ehepaar werden würden.

Endlich starb der alte Förster, von Lüneburg her aber wurde ein neuer Förster für Lohbergen ernannt: ein heruntergekommener Mensch, der jedoch von Adel war, hohe Fürsprache besaß, auch als vortrefflicher Schütze galt und für alles, was er nicht wußte, an Marten einen ausgezeichnet tüchtigen Gehilfen hatte.

Der Förster sah bald die blonde Lene, verliebte sich in sie und gewann die Gunst ihres Vaters, der gerne mit seinem schönen Kinde hoch hinaus wollte. Als er um Lenes Hand anhielt, da gab der Alte seine Einwilligung, und aller Bitten und allen Jammerns ungeachtet, mußte die Tochter des neuen Försters Weib werden.

Das würde nimmer gut thun, sagten da die Leute, das könne nur Unglück bringen. Und sie behielten recht. Die Ehe wurde höchst unglücklich; schon nach kurzer Zeit mißhandelte der rohe Mensch sein Weib, sobald er angetrunken war, und wenn die arme Frau den Marten nicht zur Seite gehabt hätte, so wäre sie schier verzweifelt und würde sich selber ein Leids angethan haben.

Der Jäger Marten war ein rechtschaffener, ehrlich denkender Mensch. Anfangs hatte er davongehen und in die weite Welt hinauswandern wollen, aber die Lene hatte ihn beschworen, zu bleiben, und er blieb, um sie zu beschützen.

So war das frühere Liebespaar miteinander unter einem Dache. Das Forsthaus lag einsam, tief im Wald versteckt. Durch den Wald führte der Hauptweg, welcher die Ortschaften miteinander verband; Forsthaus und Wald waren verschwiegen und verrieten nichts von den Vorgängen, deren Zeugen sie vielleicht waren. Aber Menschenaugen spähen und werden zu Verrätern, und so hatte denn auch der Hundejunge, den der neue Förster sich von Lüneburg her mitgebracht hatte, gemerkt, daß die Frau Försterin mit dem Marten tief im Walddickicht, abseits von der Fahrstraße, nahe bei dem „Hexenstein“ Zusammenkünfte hielt. Und was der listige Junge erlauscht hatte, das berichtete er getreulich seinem Herrn.

Tags darauf gab der Förster vor, nach Lüneburg reiten zu müssen. Als er aber eine kurze Strecke geritten war, trat der von ihm dorthin bestellte Hundejunge aus dem Walddickicht hervor, diesem übergab der Förster sein Pferd und ging dann selber auf einem Umweg nach dem „Hexenstein“. Bewaffnet mit einer Jagdflinte, erstieg er vom Waldweg aus den Hügel und kauerte sich hier, wohlversteckt, im Gebüsch nieder. Er vermochte von hier aus in den Wald nach dem Platze zu lugen, wo sein ungetreues Weib ihr Stelldichein abhalten sollte.

Er brauchte nicht lange zu warten, da tauchte das Paar, Arm in Arm gehend, wie zwei Liebende, aus dem Walddunkel hervor und setzte sich an einer lichteren Stelle auf eine von der Natur gebildete Rasenbank nieder. Die Gesichter des Paares waren dem Spähenden zugekehrt. Der Förster sah, wie der Jäger dem ungetreuen Weibe über das blonde Wellenhaar strich, wie sie ihn mit ihren schönen blauen Augen, die gar seltsam glänzten, liebend und schmachtend anblickte. Und der Förster erhob das todbringende Rohr, er legte den Lauf auf den „Hexenstein“ – der Hahn des Gewehrs knackte.

Im selben Augenblick war des Jägers scharfes Auge – war’s Zufall, war’s Geschick? – auf den „Hexenstein“ gerichtet. Er erkannte den Kopf des Försters, erkannte zugleich die Gefahr – sah die kleine Mündung des auf ihn gerichteten Gewehres. Ein Moment, und auch seine Flinte war, indem er aufsprang, in Anschlag gebracht. Zwei Schüsse krachten zur gleichen Sekunde durch die Stille des herrlichen Sommermorgens.

Der Jäger Marten griff nach seiner Brust und fiel vornüber zur Erde nieder – der Förster sank mit dem Haupte auf den „Hexenstein“, und ein Blutstrahl, der aus der zerschmetterten Stirn des Mannes floß, färbte die Platte des Steins purpurrot. Das Fürchterliche war geschehen. Die Männer hatten sich gegenseitig gut getroffen, zwei blutige Leichen lagen da.

Die Erschossenen wurden noch am selben Tage gefunden; die Försterin, des Vogts von Seppensee schöne Tochter, war verschwunden. Erst zwei Wochen später entdeckte man am Ufer des damals noch vorhandenen Waldweihers im Schilfe den Leichnam einer Ertrunkenen; es war die unglückliche junge Frau des Försters.

Diese düstere Schauergeschichte am Hexenstein mag sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ereignet haben.

Scheu und ängstlich schlichen die Menschen an dem Hügel, auf welchem der Stein, von Moos und Schlingkraut fast verdeckt, lag, vorüber, ein stilles Gebet sprechend.


Die Röntgenstrahlen im Dienste der Medizin und Chirurgie.

Von Dr. J. H. Baas.

Das erste in der ärztlichen Wissenschaft und Kunst ist: die Krankheiten zu erkennen; das zweite: sie zu heilen, soweit das überhaupt die engen Grenzen menschlichen Könnens gestatten. Das Erkennen der Krankheiten aber beruht zunächst auf der Feststellung der Krankheitserscheinungen mittels unserer Sinne, deren Ergebnisse dann durch Nachdenken an der Hand der Erfahrung zum jeweilig sich ergebenden Krankheitsbilde verbunden werden. In der Regel spielen bei diesen Feststellungen der Diagnostik Geruch und Geschmack eine untergeordnete Rolle, eine wichtigere und ausgedehntere schon der Tastsinn, diagnostische Hauptsinne aber sind das Gehör und das Gesicht. Doch selbst der letztgenannte und höchste Sinn hat seine gemeinsamen Schranken und Mängel, die in einem bekannten Laienwort zum Ausdruck kommen: „Ja, wenn der Körper durchsichtig wäre wie Glas, oder wenn er doch wenigstens Thürchen hätte, durch die man ins Innere desselben hineinsehen könnte!“ – dann würden, will

[661]

Audifax und Hadumoth.
Nach dem Gemälde von M. Wunsch.

[662] das sagen, die Aerzte seltener in der Krankheitserkenntnis irren und demgemäß auch mehr Heilerfolge haben.

In unserem „Jahrhundert der Erfindungen“ aber ist nach und nach eine ganze Reihe Hilfsmittel zur Verschärfung der Sinne beim Diagnosticieren erfunden worden. Und mancher innere Krankheitsvorgang, der früher nur unvollkommen oder gar nicht diagnosticiert werden konnte, wird mit Hilfe der überraschend vervollkommneten Ausnutzung des Gehörs – durch Behorchen und Beklopfen der Körperoberfläche – und durch chemische und mikroskopische Untersuchung sicher erkannt, und auch das Auge drang weiter ins Innere der Körperhöhlen vor – wir erinnern nur an den Augen- und Kehlkopfspiegel, an die Beleuchtung des Magen- und Blaseninnern mittels Spiegeln und elektrischen Lichts etc. Vieles und Wichtiges jedoch blieb trotzdem dunkel und unsicher, das jenen alten Laienwunsch auch bei den Aerzten wach erhalten mußte. Da verbreitete sich gegen Ende des Jahres 1895 die staunenswerte Kunde, daß der Würzburger Professor W. K. Röntgen eine wunderbare Strahlen- oder Lichtart entdeckt habe, die selbst dichte Stoffe, Holz, Pappe etc. und auch Rumpf und Glieder, sogar dünne Knochen des menschlichen Körpers durchdringe wie gewöhnliches Licht das Glas, so daß mit ihrer Hilfe das in die Tiefe gebettete Knochengerüst, in Weichteilen, Körperhöhlen und Knochen sitzende Fremdkörper, wie Kugeln, Nadeln etc., im photographischen Bilde nach Größe, Lage und Sitz festgehalten und erkannt werden könnten. Die Nachricht von dieser Entdeckung durchlief sofort die ganze Welt (vgl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1896, S. 83) und, was erfreulicher und wichtiger war, sie hielt auch den alsbald vorgenommenen Nachprüfungen der Gelehrten aller Nationen stand, war kein Märchen, sondern blieb eine unumstößliche Thatsache.[1]* Und ein mächtiges, in seiner Tragweite nicht übersehbares Hilfsmittel war durch das neue Licht der Krankheitserkenntnis geschenkt, aber nicht bloß das: es war auch, was nicht von allen diagnostischen Erfindungen unseres Jahrhunderts gesagt werden kann, dadurch der Krankheitsheilung vielfach ein sicherer Weg gewiesen. Die ersehnten Thürchen waren mehr als ersetzt, der Körper ist nunmehr für den Arzt in mancher Beziehung wirklich durchsichtig wie Glas!

Diese an sich unsichtbaren Strahlen sind in dem Licht enthalten, welches der elektrische Funken beim Ueberspringen von einem Pol zum andern in einer luftleeren Glasröhre erzeugt. Sie besitzen ganz besondere von denen des gewöhnlichen Lichtes abweichende Eigenschaften, dessen chemische Wirkung auf photographische Platten sie jedoch teilen. Vor allem haben sie, wie schon bemerkt, die Kraft, die meisten, auch die festen Stoffe zu durchdringen, freilich die weniger dichten und dicken besser als die entgegengesetzten, so daß die dichteren Körper einen im Verhältnis stärkeren Schatten werfen, also ein dunkleres Abbild bei der photographischen Aufnahme geben als die weniger dichten. Auf solchen Photographien erscheinen Licht und Schatten in schroffem Gegensatz, so z. B. die fleischigen Teile eines Armes einfach hell, die Knochen dunkel, metallische Körper innerhalb beider aber noch dunkler. Sind die Röntgenstrahlen von großer Stärke oder währt deren Einwirkung zu lange, so sieht man auf dem photographischen Bilde die Umrisse der Fleischteile, namentlich bei dünneren Lagen, z. B. am Kopfe und an der Hand, gar nicht mehr, selbst die der dünnen Knochen undeutlich und nur die dicksten in schärferer Zeichnung. Es bedarf daher zur Herstellung guter Röntgenbilder noch größerer Uebung in Bemessung der richtigen Stärke und Dauer der Strahlenwirkung auf die Platte als beim gewöhnlichen Photographieren. Durch fortgesetzte Verbesserung der Apparate ist übrigens die in der ersten Zeit nach der Entdeckung nötige sehr lange Expositionsdauer derart abgekürzt worden, daß sie jetzt von der beim gewöhnlichen Photographieren erforderlichen nicht mehr viel abweicht. Weiter pflanzen sich die Röntgenstrahlen immer nur in gerader Richtung fort und lassen sich durch nichts, weder durch starke Magnete, noch durch Sammellinsen etc., ablenken. Deshalb sind auch die letzteren beim Photographieren mittels jener nicht nötig. Zu ihrer Eigenart gehört weiter, daß sie fluorescierende Wirkung haben, d. h. im Dunkeln scheingebende Flächen zum Aufleuchten bringen, und selbst durch keine, wie immer auch beschaffene Oberflächengestaltung eines Körpers, wie das z. B. bei gewöhnlichem Lichte seitens polierter Metallflächen u. dgl. der Fall ist, zurückgeworfen (reflektiert) werden.

Der Wert dieser neuentdeckten Strahlenart und der damit herzustellenden Photographien gerade für die ärztliche Kunst wurde allseitig zwar sofort betont, merkwürdigerweise jedoch die Tragweite der Entdeckung für diese eher unter- als überschätzt, selbst von berühmten Aerzten und Chirurgen. Bald nämlich hatte sich herausgestellt, daß man oft bei den auf Grund der photographischen Bilder unternommenen Operationen zur Entfernung der durch Röntgenstrahlen entdeckten Fremdkörper den wahren Sitz derselben verfehlte, daß man durch das Verfahren also irregeführt ward. Dies war geschehen, weil man bei den Aufnahmen es versäumt hatte, nicht bloß gerade von vorn oder hinten her, sondern auch zugleich horizontal (senkrecht zu dieser Richtung), also von einer der beiden Seiten her, Bilder aufzunehmen, wodurch allein man doch erst instand gesetzt wird, den Schnittpunkt der beiden Aufnahmerichtungen und damit die wirkliche Lage des gesehenen Fremdkörpers, nicht nur nach dem Orte, sondern auch nach der Tiefe zu bestimmen und zu finden. Erst nach Beseitigung dieses Uebelstandes wurde die Verwendung der Strahlen allgemeiner, so daß heutzutage kein auf der Höhe der Zeit stehendes, namentlich kein chirurgisches Krankenhaus eines „Röntgenapparates“ entbehren kann. Für die tägliche ärztliche Praxis aber besorgen in vielen Städten bereits Specialisten und eigene „Röntgeninstitute“ die „Röntgenphotographien“, nicht nur in Deutschland, dem Geburtslande der Entdeckung, sondern in allen Kulturländern der Erde. Darin gleicht die neue Entdeckung Röntgens der älteren Erfindung des Augenspiegels durch Helmholtz, der man sie in der That auch als eine Art Augenspiegel für das Innere der Festteile des Gesamtkörpers zur Seite stellen kann. Man hat in neuester Zeit sogar mit Hilfe des bei dem Verfahren gebräuchlichen Leuchtschirmes gelernt, ohne weiteres, d. h. ohne vorausgegangene Anfertigung einer Photographie, Gegenstände aus dem Körper zu entfernen. Ebenso beobachtet man die Bewegungen des Herzens, der Lunge, des Zwerchfells etc. direkt.

Betrachten wir nunmehr die Verwertung der Entdeckung Röntgens in der inneren Medizin, so muß zum voraus gesagt werden, daß sie innerhalb dieser im großen und ganzen bis jetzt den seitherigen diagnostischen Verfahren dennoch kaum ernste Konkurrenz bereitet.

Bei tuberkulöser Erkrankung der Lunge läßt dieselbe im Anfangsstadium der Krankheit im Stich, was um so mehr zu bedauern ist, als gerade in diesem Stadium erhöhte Aussicht auf die Möglichkeit einer Heilung existiert; erst stärkere und ausgedehntere Verdichtungen in der Lungenmasse oder Höhlen sind sicher nachweisbar, freilich selbst später als mittels der Untersuchung mit dem Ohr. Dasselbe gilt für Lungenentzündung. Manche Geschwülste dagegen, sowie nach abgelaufenen Lungenentzündungen zurückgebliebene Verdichtungen, Verkalkungen und Steinbildungen in der Lunge, dann Fremdkörper in Lunge und Luftröhre, voran metallische, lassen sich, namentlich bei mageren und jüngeren Personen, zum Teil früher und bestimmter nachweisen. Gewonnen wird in der Regel dadurch aber nicht viel, desgleichen nicht bei der mit dem neuen Hilfsmittel bewirkten Feststellung vorhandener Lungenerweiterung (Emphysem) resp. des veränderten Zwerchfellstandes in manchen Fällen von Atemnot (Asthma) etc., kurz, für die Erkenntnis der eigentlichen Lungenerkrankungen hat vorerst das Röntgenverfahren, das hier außerdem besondere Uebung verlangt, nur den Wert einer Bestätigung der mit den alten Methoden erlangten Resultate, die immerhin in einzelnen Fällen erwünscht sein kann.

Dasselbe gilt für die Erkrankungen des Brustfells, bei Ergüssen in den Brustfellraum und Geschwülsten innerhalb desselben: dagegen sind die häufigen Verwachsungen der Lunge mit Brustwand und Zwerchfell infolge des Wegfalls der Beweglichkeit beider gegeneinander leichter durch das Röntgenverfahren zu erkennen. Der allgemeinen Verwendung aber steht auch hier, wie in vielen Fällen, die Umständlichkeit, Schwierigkeit und Kostspieligkeit des Verfahrens, der hohe Preis und die geringe [663] Transportfähigkeit der Apparate und bei schweren, rasch verlaufenden Krankheiten die mit ihrer Anwendung verbundene Belästigung des Kranken entgegen. Mit ausschlaggebendem Nutzen wird dasselbe an der hinten in der Brust verlaufenden Speiseröhre angewendet werden, um Erweiterungen, Verengerungen und Geschwülste derselben sicher nachzuweisen, zu welchem Zwecke man jedoch öfters mit Lösungen von Metallsalzen gefüllte Kautschukröhren oder metallische Sonden als Hilfsmittel verwenden muß, was bei Aufsuchung der so häufig von Kindern verschluckten und im Schlunde steckengebliebenen Knöpfe, Münzen u. dgl. nicht nötig ist. Wie segensreich gerade in den zuletzt genannten Fällen die Röntgenphotographien sich erweisen können, geht am besten daraus hervor, daß wegen Unauffindbarkeit mit den alten Untersuchungsmethoden bisher von solchen Fremdkörpern gar manches Kind nicht befreit werden konnte und infolgedessen nach langem Leiden daran sterben mußte. Auch die nicht seltenen Geschwülste und Verengerungen des Mageneingangs sind auf die gleiche Weise leicht zu erkennen. Ebenso sind Vergrößerungen resp. Verkleinerungen des Herzens durch das neue Verfahren, das ja auch bei der Kaiserin von Oesterreich kurz vor ihrer schmachvollen Ermordung angewendet ward, festzustellen; doch muß betont werden, daß hier Täuschungen leicht möglich sind. Weniger der Fall ist das bei Erweiterungen (Aneurysmen) der aus dem Herzen unmittelbar entspringenden großen Schlagadern und namentlich bei den so häufigen Kalkeinlagerungen in die Wände dieser und auch aller übrigen Pulsadern und der Herzklappen.

Seitliche Verdrängung des Herzens durch wässerige oder eiterige Ergüsse in die Brusthöhle oder durch Geschwülste lassen sich mit Sicherheit für das Auge nachweisen, gleichwie auch Füllung und Ausdehnung der häutigen Umhüllung des Herzens, des sogenannten Herzbeutels, durch Flüssigkeitsansammlungen in diesem infolge von Entzündungen oder Wassersucht. Auch die ebenso interessante wie seltene angeborene umgekehrte Lage des Herzens – und in der Regel auch der Leber und Milz –, wobei das Herz und die Milz rechts und die Leber links, also dem gewöhnlichen Zustande gerade entgegengesetzt, zu finden sind, sowie das noch seltenere Fehlen der knöchernen Brustwand vor dem Herzen lassen sich mittels Röntgenverfahrens sichtbar machen. Im Gehirn aber hat man damit in vereinzelten Fällen durch die Schädelknochen hindurch Geschwülste nachweisen können. Manchmal gaben die Röntgenphotographien wertvolle Aufschlüsse über Erkrankungen und Veränderungen in der Unterleibs- und Beckenhöhle, z. B. bei Magen- und Darmerweiterungen und -Verengerungen, Geschwülsten des Magens, der Leber und Nieren (Blasenwürmer), der Milz, bei Anschwellungen dieser beiden letzten Organe. Verschluckte Münzen, Knöpfe, Kugeln, Nägel etc., welche in dem Darmkanal weiter wandern, Darmsteine, die besonders bei Pferden in außerordentlicher Größe oft vorkommen, und Nadeln die, in den Darmwandungen sitzen, lassen sich unter Umständen leicht erkennen. Gar nicht oder doch nur in seltenen Fällen sind dagegen Gallensteine durch die Röntgenstrahlen zu erforschen, obwohl dies bei der Häufigkeit und großen Schmerzhaftigkeit derselben von großem Vorteil wäre, was auch für Nierensteine gilt, während Steine im Blaseninnern mittels Röntgenphotographien nachzuweisen vielfach gelungen ist.

Wenn in vielen der bisher aufgeführten Krankheiten noch Zweifel über die Unersetzlichkeit des neuen Erkennungsmittels aufkommen konnten, so ist das nicht mehr der Fall, wenn es sich um die Aufsuchung und den Nachweis gewisser Verletzungen und Erkrankungen der Knochen und des Sitzes von im Körper zurückgebliebenen, namentlich metallischen Fremdkörpern handelt. Hier ist die Feinheit desselben so groß, daß man noch die Gegenwart z. B. von kleinen Eisensplittern, Nadelspitzen etc. bis herab zur Länge von Millimetern und zum Gewichte von Hundertsteln eines Gramms nachgewiesen hat. Und das nicht bloß in oder nahe unter der Haut, sondern auch tief im Fleische und in Körperhöhlen: im Schädel, in den Augenhöhlen, im Augeninnern, in der Brust, im Unterleib, im Kniegelenk, in der Knochenhaut etc. Man fand Kugeln, Schrotkörner, Draht- und Nadelstücke, die zum Teil in Knochen staken, nicht bloß in frischen Fällen, sondern auch in ganz veralteten, in denen die Kranken die Ursache ihrer Beschwerden gar nicht kannten und nicht wußten, daß sie z. B. Nadeln in den Fingern beherbergten, sondern ihre Schmerzen den „Nerven“ zuschrieben, die keinem Mittel wichen, dann aber mit Hilfe von oft nur kleinen chirurgischen Eingriffen rasch beseitigt wurden. Uebrigens muß bemerkt werden, daß es nicht gerade immer notwendig ist, die durch die Röntgenstrahlen gefundenen Fremdkörper auch zu entfernen, wie der Laie glaubt, im Gegenteil wird man, wenn sie, wie das nicht selten der Fall ist, ohne Beschwerden zu machen, eingeheilt sind, sie nach wie vor unberührt lassen und nur dann operativ gegen sie vorgehen, wenn sie Schmerzen und Gesundheitsstörungen bewirken. In solchen Fällen weiß man aber jetzt ganz genau, an welcher Stelle sie bestimmt zu finden sind, und kann, wenn nötig, gerade auf sie losschneiden, ohne, wie früher, halb oder ganz im Dunkeln zu tappen.

Bei Zerschmetterungen der Knochen, Knochenbrüchen, Verrenkungen, Absplitterung von Knochenstücken, wie sie namentlich in der Nähe der Gelenke häufig sind, falschen Stellungen der Knochen etc. blieb man seither oft über deren Ausdehnung und Art im Ungewissen und damit auch über Mittel und Wege der Behandlung. Das fällt nunmehr auch zum großen Teile weg durch die Röntgenphotographie. Mit ihrer Hilfe kann man z. B. bei frischen Knochenbrüchen und Verrenkungen, trotz bedeutender Anschwellung der Weichteile, die gegenseitige Lage der Knochenenden feststellen und dann sich davon überzeugen, ob die Einrichtung derselben vollkommen gelungen oder ob Neueinrichtung oder Nachhilfe nötig ist; man kann also die Diagnose und den Heilungsverlauf überwachen, nach der Verheilung aber sehen, ob die Knochen richtig oder falsch zu einander stehen.

Ein anderes Gebiet für die Röntgenphotographie liefern die angeborenen Miß- und Verbildungen im Knochensystem – aber auch, wie hier nachträglich bemerkt werden soll, eben solche an inneren Organen –: Klumpfüße, überzählige Finger und Zehen, Knochenspalten, Ausfall einzelner Knochen etc., bei denen die photographische Platte jetzt genaue Einsicht in die vorhandenen Abweichungen giebt, die am Lebenden seither unmöglich war. Auch unter den im engeren Sinne so genannten Erkrankungen des Skeletts wurde die Liste der mit Röntgenstrahlen erkannten immer größer, da man heutzutage nicht bloß knöcherne Verwachsungen der Gelenkflächen, Gichtknoten resp. Kalkablagerungen um und in den Gelenken, knöcherne Auswüchse und Geschwülste an den Knochen, Verknöcherungen der Knorpel an den Knochenenden, frei im Innern der Gelenke bewegliche Körper, sogenannte Gelenkmäuse, durch Knochenfraß abgestorbene Knochensplitter in ihren eigentümlichen Knochenhülsen, Knochenerweichung (Osteomalacie) und Knochenendeverdickung bei Englischer Krankheit etc., sondern auch schwere Erkrankungen des Knocheninnern, wie Knochenmarkentzündung und namentlich tuberkulöse Knoten und Erweichungen viel früher und sicherer als vordem erkennt.

Auch als Heilmittel hat man die Röntgenstrahlen bereits angewandt. Es sollen damit namentlich Besserungen, ja Heilungen von sogen. fressenden (Lupus) wie gewöhnlichen Flechten (Eccem) und Beseitigung von behaarten Muttermälern, überhaupt von falschen Haarbildungen bewirkt worden sein. Freilich, auch die normalen Kopfhaare sind schon den Strahlen zum Opfer gefallen, insofern manchmal die Anwendung derselben diese unliebsame Folge hatte, wie sie auch ernste Entzündungen der Haut, gleich der Sonne beim Sonnenstiche, zeitigte, die man aber neuerdings zu vermeiden gelernt hat. – Angefügt soll noch werden, daß man sie in Zukunft zur Desinfektion verwerten will, da sie Bakterien zu töten imstande sind, wie übrigens das elektrische Bogenlicht und das Sonnenlicht auch. – Schließlich lassen sie sich oft mit Nutzen zur Entlarvung von Simulanten verwenden, umgekehrt aber manchmal auch dazu, einem, der als solcher gilt, zu seinem Rechte zu verhelfen.

Somit wurde durch die Röntgenstrahlen, obwohl sie selbst noch niemand gesehen hat, da die Netzhaut des Auges für sie unempfindlich ist, in der Medizin und Chirurgie ein neues Licht geschaffen. Und so findet denn das ergreifende Sehnsuchtswort, mit welchem einst Goethe sein lichtspendendes Leben beschloß, „Mehr Licht!“, in immer neuen Formen zum Heile der Menschheit seine Erfüllung.

  1. Die neuentdeckten Strahlen, von denen im folgenden die Rede ist, wurden nach ihrem Entdecker „Röntgenstrahlen“ oder auch „X-Strahlen“ benannt. Wir behalten die erste, in den Sprachgebrauch übergegangene Bezeichnung bei. Sie ist mundgerechter als „Röntgens Strahlen“, „Röntgensche Strahlen“ u. ä.

[664]

Die schlaue Sabine.

Erzählung von Victor Blüthgen. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Der Winter hatte in diesem Jahre ungewöhnlich hart eingesetzt. Unerlaubt früh: schon Mitte November, während er ja nach dem Kalender erst am 21. Dezember das Recht dazu hat; und dann gleich mit 8 Grad Reaumur Kälte, nachdem der Thermometer am Abend zuvor noch 2 Grad Wärme gezeigt hatte. Mitte Dezember war das klare Winterwetter in naßkaltes Schneewetter umgeschlagen, schlackrig unbestimmbar; nun hatte sich das beruhigt. Es fror, und dabei hing der Himmel schwergrau voll Schneewolken, die unablässig fast seit drei Tagen dicke, bedächtig schwebende Flocken niedersandten.

Es war Heiligabend, das heißt erst Nachmittag. In einer hinterpommerschen Kreisstadt mit Landgericht und anderen respektablen Behörden saß eine nicht mehr ganz junge, aber zweifellos hübsche Dame, mit aristokratisch geschnittenem Gesicht und ungewöhnlich klugem Ausdruck in den grauen Augen und um die schmalen tiefroten Lippen, im Wartezimmer zweiter Klasse des Bahnhofs, an der Ecke des einen langen Gasttisches. Bei ihr ein kleiner Herr mit Brille und einem glattrasierten Juristengesicht.

In der That: dieser ist der Doktor Grabbe, neben seinem Kollegen Winnemeyer der weitaus beste und beschäftigtste Anwalt am Orte; seine Nachbarin aber ist Fräulein Sabine von Rassow, eine Gutserbin „ohne Anhang“, jedoch mit einem juristischen Fragezeichen hinter der Erbschaft. Das Gut, Schlowitten, liegt ein paar Meilen ins Land hinein, und man erreicht es von hier aus vermittelst Klingelbahn und Wagen oder Schlitten.

Daß Fräulein Sabine noch unverheiratet ist, hat zwei Gründe. Erstlich war der einzige nächste Anverwandte der jungen Dame, ihr Vater, der vor einem halben Jahre gestorben, jahrelang gelähmt gewesen. Infolgedessen hatte sie sich der Wirtschaft annehmen müssen, was sie schließlich so geschickt und erfolgreich besorgte, daß sie den Landjunkern sowohl wie den Vieh- und Getreidehändlern der Gegend eine mit Grauen gemischte Bewunderung einflößte. Nicht minder unentbehrlich wie für die Wirtschaft war sie für den ziemlich eigensinnigen Patienten gewesen, der außer sich geriet, wenn er glaubte, daß sich jemand um sie bewerbe, und der sie deshalb möglichst in die Nähe seines Rollstuhles fesselte. So war ihr Verkehr nach außen hin seit Jahren auf ein Mindestmaß beschränkt.

Der zweite Grund, weshalb sich in all den Jahren kein Mann für sie gefunden, ist im vorstehenden bereits angedeutet: sie war allen, die sich der künftigen Erbin genähert hatten, zu klug, zu energisch, zu selbständig, und jene wiederum ihr zu simpel, zu ländlich natürlich und zu durchsichtig mit ihren Absichten. Ausgenommen vielleicht zwei oder drei, und diese hatte Papa, sobald er gemerkt, daß sie ihr nicht unsympathisch waren, alsbald moralisch hinausgeworfen. „Verdammte Kerls – ich brauch’ meine Tochter nötiger; und das sage ich dir: wenn du mit einem anbändelst, enterbe ich dich!“

Nun war er tot, und Sabine die „natürliche“ Erbin; nur diese, denn leider hatte Papa Rassow unterlassen, ein Testament zu machen. So konnte es kommen, daß Vetter Hans Jochen von Rassow auf Rassow ihr eines Tages in einem Schreiben höflichst mitteilte: aus gewissen im Rassower Archiv befindlichen Schriftstücken scheine mit Bestimmtheit hervorzugehen, daß Schlowitten nach Erlöschen des dortigen Mannesstammes dem Rassowschen Majorat zuzuschlagen sei, so daß er, Hans Jochen von Rassow, derzeitiger Majoratsinhaber, der eigentliche Erbe von Schlowitten sein würde. Daß Onkel, wie verlaute, kein Testament gemacht habe, müsse ihn in seiner Auffassung der Sachlage bestärken, und so beabsichtige er, was Cousine Sabine ihm nicht verdenken könne, da er die Rechte des Majorats zu wahren habe, Ansprüche auf das Gut zu erheben. Sollte sie indessen rechtserhebliche Gründe geltend machen können, die ihr das Gut zusprächen, so bäte er um gefällige Mitteilung.

Hans Jochen von Rassow genoß keines guten Rufes in Schlowitten. Er hatte sich als verschuldeter Kavallerieoffizier auf das Majorat zurückgezogen, nachdem er dafür gesorgt, daß dasselbe bis hart an den Sequester überlastet worden. Das war in der Gegend kein Geheimnis, dazu lagen die Güter einander zu nahe. Infolgedessen bekam Hans Jochen, als er seinen Besuch auf Schlowitten machte, vom Onkel so bösartig die Wahrheit zu hören, daß er beim besten Willen nicht wohl anders konnte, als sich zu empfehlen und Schlowitten zu meiden.

Sabine war damals nicht zum Vorschein gekommen, sie hatte sich auf Weisung des Vaters zurückziehen müssen.

Nach dem Tode des Alten hatte Hans Jochen, da sich inzwischen eine passende Partie für ihn nicht gefunden, Schlowitten und Sabine wieder ins Auge gefaßt. Allein bei der Wiederholung seines Besuches dort war die Cousine wiederum nicht zu Hause gewesen, und er fuhr mit der Ueberzeugung heim, daß die Tochter die feindselige Stellung zu ihm vom Vater geerbt und sich habe verleugnen lassen.

Ihre Antwort auf seinen Brief bestärkte ihn darin. Sie bedauerte sehr kühl, ihm in der beregten Sache keinerlei Mitteilung machen zu können; sie müsse ihm den Versuch überlassen, sie ihres Erbes zu berauben.

Gut. Sein Anwalt sagt ihm, daß ein Prozeß für ihn nicht aussichtslos sein würde – so klagte er.

Das ist ja doch unmöglich! sagte sich Sabine empört und fuhr in die Kreisstadt, um sich mit dem Anwalt, der schon ihren Vater beriet, zu besprechen. Der war ja im ganzen auch dafür, daß ein Verlieren des Prozesses ihrerseits nicht wahrscheinlich sei. Aber er nahm die Sache doch nicht so leicht, wie sie gedacht hatte. „Die Richter,“ sagte er und schrumpelte die Stirn über den Brillengläsern – „die Richter! Es kommt alles auf ihre Auffassung an. Aber es giebt ja im Notfall noch ein Kammergericht in Berlin und ein Reichsgericht in Leipzig.“

Fräulein Sabine von Rassow war eine resolute Person, aber den Aufregungen eines Prozesses, bei dem so viel – im Vertrauen gesagt: mehr als die Welt ahnte – auf dem Spiele stand, war sie doch nicht völlig gewachsen. Sie hatte zuvor nicht gewußt, wie so ein Prozeß aussieht! Es gab Monate mit verschiedenen schlaflosen Nächten bis zum ersten Termin – der Gegner erschien nicht, setzte durch seinen Anwalt die Verschiebung des Termins durch. Wieder eine Zeit des Wartens, ganz geeignet, um die besten Nerven mürbe zu machen. Den neuen Termin hat das Gericht auf den 24. Dezember anberaumt. Auf den Tag vor Weihnachten! Und nun solch ein Wetter!

Dagegen ist nichts zu machen. Sabine ist da, der Vetter [665] Hans Jochen auch. Zum erstenmal stehen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber; nicht eben freundlich, wie man sich denken kann, doch wird der Vetter im Verlauf der Verhandlung merklich höflicher und sozusagen verwandtschaftlicher.

Leider kommt bei dem Termin keine Entscheidung heraus. Das Gericht wünscht ein paar Leute zu vernehmen, welche von beiden Teilen als Kenner der Verhältnisse vorgeschlagen werden. Ein Vergleich, den der Vetter anbietet, wird von Sabine auf Rat ihres Anwaltes abgelehnt.

Hinterher ist sie schwankend geworden, ob sie nicht doch besser gethan hätte, die Vorschläge des Vetters anzuhören. Und sie kommt jetzt wieder darauf zurück, wo sie im Wartezimmer neben dem Anwalt sitzt, der ihr höflich das Geleit gegeben.

„Ich versichere, gnädiges Fräulein, die Sache steht nicht schlecht für Sie; ich habe den Eindruck aus dem Gange der Verhandlungen gewonnen …“

„Aber wieso denn? Diese Herren Richter, so eiskalt und unnahbar – ich fand, daß sie nichts, rein gar nichts verrieten.“

„Doch! Sie haben wohl nicht scharf beobachtet, als der Vorschlag eines Vergleichs von seiten Ihres Gegners fiel. Es gab da bei zweien einen Augenblick der Besorgnis und nachher, als Sie ablehnten, einen der Genugthuung. Ich kenne die Gesichter. Aber auch in der Fragestellung …“

Er stockte, drehte den Kopf überseite und Sabine von Rassow blickte auf und neigte nachlässig den ihren: ein großer schlanker Herr im Pelz, der einen Augenblick in der Thür gestanden und jetzt umkehrte, hatte ihr seine Verbeugung gemacht; eine elegante Erscheinung, den Jahren nach vielleicht Ende der Dreißig, vielleicht Anfang der Vierzig; der Typus des ehemaligen Reiteroffiziers, und zwar eines, der das Leben genossen hat. Weshalb Hans Jochen von Rassow umkehrte? Möglich, daß ihm doch das Zusammensein mit der Gegenpartei in dem mäßig großen, wenig gefüllten Raume unbehaglich vorkam. Was für häßliche, begehrliche Augen er hatte!

Der Anwalt bemühte sich weiter, seine Klientin zu beruhigen, allein der Erfolg war ein ungenügender. Schon die Thatsache, daß die Richter die Ansprüche des Rassowers ernstlich in Betracht zogen, genügte, um sie pessimistisch zu stimmen. Welch eine Gerechtigkeit, die solch einem Raubrittertum Vorschub leistet! … Endlich erschien der Beamte, der zum Einsteigen mahnte.

Der Zug stand auf dem Geleise, mitten in wahnsinnigem Schneegestöber. Sabine stieg in ihr Frauencoupé, der Anwalt mußte ihrem Drängen nachgeben und sich verabschieden. Der Raubjunker von Vetter hatte längst im Nebencoupé Platz genommen. Ein gedehnter Pfiff, und die Lokomotive ächzte in die flockenwirbelnde Finsternis hinaus.

Heiligabend! Ein paar Stunden Eisenbahnfahrt, und dann noch eine Stunde Schlittenfahrt. Sabine wird ja noch zur Leutebescherung zurecht kommen, die man ihrer Weisung gemäß diesmal auf eine spätere Stunde verschoben hat. Sie sitzt allein im Coupé, lehnt sich in die Kissen zurück und grübelt. Die Erregung zittert noch in ihr nach, dieses unruhvolle Ob? – ob nicht? hält ihre Gedanken im Banne.

Aber endlich wird sie müde, abgespannt, schließt die Augen. Ein paarmal hört sie nebenan den Vetter Hans Jochen husten. Andere Bilder kommen, beschäftigen sie reizvoll und quälend – ja, ja, sie weiß es, weshalb ihr so viel, so sehr viel daran liegt, diesen Prozeß zu gewinnen …

Es ist so heiß im Coupé, und sie schläft ein.

Das rollt und rollt, wer weiß wie lange. Ab und zu läutet es vorn an der Lokomotive.

Plötzlich schreckt sie auf; der Zug steht, draußen giebt es ein Rufen, ein lebhaftes Durcheinanderreden. Was ist das? Sie haucht an das Fenster, sieht Nacht und Schneewirbeln. Ein Beamter kommt, und ihre Coupéthür wird geöffnet.

„Was ist?“ fragt sie.

„Wir stecken im Schnee fest, die Herrschaften müssen sich gedulden.“

„Mein Gott – wie lange denn?“

„Ein paar Stunden, genau läßt sich’s nicht sagen; wir müssen Leute besorgen zum Schneeschippen.“

„Das ist ja schrecklich! Können Sie nicht wenigstens bis zur letzten Station zurückfahren?“

„Das schaffen wir nicht, die Steigung ist zu groß hier und die Schienen sind zu glatt.“

„Ja, was thun wir? Sollen wir die ganze Zeit im Coupé zubringen?“

„Wie die Dame wünscht. Sonst ist hier ein kleines Gehöft, ein Bahnaufseher wohnt hier; und zehn Minuten weiter liegt ein Dorf.“

„Wo sind denn die anderen Passagiere! Sind sie im Zug geblieben?“

„Wir haben bloß sechs Leute im Zug, Heiligabend ist der Zug immer leer. Sie sind alle gegangen.“

Sabine schwankte. Endlich kam es ihr zu unheimlich vor, mutterseelenallein in diesem totliegenden Ungetüm von Zug zu bleiben. „Wollen Sie mich zu dem Hause hinüber begleiten?“ fragte sie.

Der Mann bejaht, und sie nimmt ihren Schirm und steigt aus. Der Zug liegt vor einem Hohlweg im ebenen Felde, der Hohlweg ist mit Schnee angefüllt und der eisige Wind weht mehr und immer mehr hinzu. Der Schirm schwankt in ihrer Hand, daß sie ihn kaum zu regieren vermag; und sie klopft ganze Schneefladen von dem Pelzmantel, als sie in der Hausthür steht, die gleich in die Küche führt und deren Oeffnen eine Klingel in Bewegung gesetzt hat. Eine Frau öffnet die Stubenthür, eine Küchenlampe in der Hand; sie ist eine hagere, freundliche Person in mittleren Jahren. „Bitte nur einzutreten,“ sagt sie. „Das ist ja eine schlechte Fahrt zu Heiligabend!“

„Wo sind wir eigentlich?“ fragt Sabine, ihr folgend.

„In Menow, gnädiges Fräulein – gehen gnädiges Fräulein nur durch, dort ist die gute Stube …“

In dem Zimmer, das sie durchschreiten, giebt es Betten; um einen Tisch, auf dem sich ein mageres, mit ein paar Aepfeln, Nüssen und etwas Zuckerzeug behangenes Weihnachtsbäumchen erhebt, sitzen und stehen vier Kinder mit Spielzeugkleinigkeiten in den Händen und machen neugierig befangene Gesichter. „Ist niemand sonst hier?“ fragt das Fräulein.

Die Frau hält schon die Klinke in der Hand. „Vier waren hier, die sind aber ins Dorf, ins Wirtshaus gegangen. Nur ein Herr ist drinnen …“

In der guten Stube steht eine Lampe auf dem Tische, und von einem Lehnstuhl wendet sich ein Kopf nach der Thür herum – Sabine hat es gefürchtet: Vetter Hans Jochen.

Sie kann nicht wohl zurück, er ist aufgesprungen: „Angenehmer Zufall, gnädigste Cousine, wie?“ – sie hat auf einmal alle ihre Geistesgegenwart beisammen. Der Humor der Situation geht ihr auf. Sie wird dies Beisammensein durchfechten. Wer weiß …?

[666] „Bitte sich nicht zu derangieren, Vetter Rassow,“ sagt sie. „Wir können ja für ein paar Stunden das Kriegsbeil begraben. Der Himmel scheint das ausdrücklich zu wünschen. Ich behalte wohl auch am besten den Mantel an, es ist nicht übermäßig warm hier.“

„Ich bringe gleich noch Kohlen,“ fällt die Frau ein. „Es ist nur gut, daß mein Mann schon vor einer Stunde sagte: Heize die gute Stube, ich glaube nicht, daß der Zug weiterkommt. Er hatte eben einmal revidiert.“ Damit ging sie.

„Sehr erfreut, Cousine, daß meine Gegenwart Ihnen nicht ganz so unerträglich ist, wie ich dachte,“ lächelt er. Das Lächeln hat einen ironischen Beigeschmack. „Vielleicht gruppieren wir uns um diesen Kanonenofen – ist’s Ihnen recht?“

„Gewiß … danke!“ Sie nahm auf dem Stuhl Platz, den er ihr hingesetzt hatte, und nestelte an Schleier und Hut. „Sie können ja nicht erwarten, daß ich Ihnen besondere Begeisterung entgegenbringe, denn selbst gesetzt, das Recht wäre auf Ihrer Seite, so ist es doch keine Kleinigkeit, wenn man in Gefahr gebracht wird, ein Rittergut zu verlieren, das man mit Selbstverständlichkeit als sein Eigentum betrachtet hat. In unserem Fall aber, wo ich nicht einmal überzeugt bin, daß Sie selber an Ihr Recht glauben, ist’s doppelt begreiflich, wenn ich wenig nett über Sie denke …“

„Oho, dagegen muß ich doch protestieren, Cousine, das geht mir an die Ehre! Wie kommen Sie auf diese Ueberzeugung?“

Sie legte, sich ein wenig vorneigend, die Hände übereinander, von denen sie noch nicht die Handschuhe gestreift hatte, und sah ihn mit gut gespielter Verwunderung an. „Also doch? Ja – warum haben Sie mir dann einen Vergleich angeboten? Aus Gemütsrücksichten?“

Er lachte gezwungen auf. „Alle Achtung vor der Schärfe Ihrer Logik, Cousine Rassow, aber – verzeihen Sie – wie käme ich gegen Sie zu Gemütsrücksichten? Man hat mich doch in Schlowitten nicht danach behandelt, weder Onkel noch Sie selber. Ein Prozeß ist eben ein Prozeß – man kann nie wissen, wie er ausfällt, Sie auch nicht; ich dachte, es wäre uns beiden damit gedient, wenn ich Ihnen eine gute Hypothek auf Schlowitten eintragen ließe. Wie wär’s, Cousine? Entschließen Sie sich! Ich bin noch immer bereit.“

„Ich danke,“ sagte sie. „Sehen Sie, Vetter, das ist der Unterschied von uns beiden: Sie glauben nicht an Ihr Recht, denn sonst würden Sie, wie ich, Ihr ganzes Recht verlangen. Sie versuchen nur, ob Sie Recht bekommen. Ich würde nicht einen Finger rühren, um mir einen Vorteil zu verschaffen, wenn ich nicht davon durchdrungen wäre, daß er mir gebührt.“

„Teufel auch, mit Ihnen ist schlecht disputieren, Cousine. Sie fassen die Sache persönlich, wie alle Frauen in solchen Fällen. Ich fasse sie sachlich und denke als einfacher praktischer Mann: was das Gericht mir zuspricht, kann ich ehrlich an mich nehmen. Man braucht schließlich doch nicht fest zu glauben, man kann auch vermuten, daß man Recht hat; man läßt die Gerichte darüber befinden, bekommt man Recht, nachher glaubt man.“

„Sie nicht, Vetter,“ betonte sie hartnäckig. „Ich stelle das als meine Privatüberzeugung hin. Aber – da kommt ja – sorgen wir lieber für eine warme Stube.“

Die Hausfrau brachte einen Korb voll Kohlen herein und schüttete sie in den hölzernen Kasten beim Ofen – Hans Jochen von Rassow war aufgestanden und hatte seinen Sessel überseite gerückt, jetzt stand er gebeugt, die Arme über der Lehne verschränkt, und sah zu, wie die Frau mit der Schaufel Kohlen aufwarf, während er zwischendurch mit raschem Aufblick die interessante Cousine streifte. Wahrhaftig, sie war es wert, daß man sich angelegentlichst mit ihr befaßte; wer sie zur Frau gewann, konnte sich mit ihr sehen lassen. Sie hatte nicht viel Meinung für ihn – er wußte ganz gut, wie sein Ruf beschaffen war, und Onkel schon hatte schwerlich damit gegen sie hinterm Berge gehalten. Aber im Grunde: man konnte ihm keine ehrenrührigen Dinge nachsagen. Weshalb sollte er nicht Aussichten haben? Seiner Schulden halber? Bah – Sabine hatte mit dem Vatererbe genug hinter sich, um aufzubessern; und es ist eine Kleinigkeit, einem jungen Mädchen, wenn es eine Neigung gefaßt hat, einzureden, daß man sich ändern wird.

Sie hat ihn einst nicht empfangen wollen – hier hat man sie mit aller Sicherheit neben sich. Man kann nichts besseres thun, als die günstigen Umstände nutzen. Daß der kecke Versuch, den Prozeß zu gewinnen, eine recht fragwürdige Sache für ihn ist, davon ist er weit mehr überzeugt als Sabine. Wenn man sie gewinnen könnte, so wäre das ein entzückendes Mittel, den verzweifelten Flibustierzug zu einem guten Ausgang zu bringen!

Während er so denkt, schwatzt die Wirtin, indem sie im Oefchen schürt, auf Sabine ein: von dem schauderhaften Wetter, und daß die aus dem Dorf geholten Leute schon bei der Arbeit sind, und wie lange sie wohl gebrauchen würden, um den freien Raum zu schaffen, den der Wind immer wieder zuweht … und nebenan wird die Abwesenheit der Mutter benutzt, um zu trommeln und zu trompeten … „Nein, diese Kinder! Wollt ihr gleich ruhig sein …“

„So,“ sagt Hans Jochen von Rassow, als sich die Thür hinter der Gefälligen schließt. „Wollen wir noch weiter disputieren, Cousine? Ich denke nicht.“

„Ganz einverstanden,“ nickt sie lächelnd. Sie hat recht wohl bemerkt, welchen Eindruck sie auf den Vetter macht. Mein Gott, wenn es ihr gelänge, ihn von diesem unseligen Prozeß abzubringen, der sie so unbeschreiblich quält – so unbeschreiblich, wie niemand sich denken kann, der das nicht weiß, was sie weiß … Sie bezaubert ihn, es kann nichts schaden! Ist das perfid von ihr? – ah, perfid ist dieser Prozeß, der sie um ihr Erbe bringen will … dieser Vetter da …

„Ja, was dann?“ sagt er. „Hier so trocken sitzen, am Heiligabend? Ich habe mir den besten Karpfen aus dem Fischkasten in die Küche befördern lassen und mecklenburgischen Punsch bestellt; wenn nicht das – etwas müssen wir doch genießen. Haben Sie keinen Hunger? Wir sitzen die halbe Nacht sicher hier fest.“

„Meine schöne Weihnachtsfeier! Die vermisse ich reichlich ebensosehr wie mein Abendessen. Mir liegt’s auf der Seele, ob wohl meine Leute sich haben abhalten lassen, ihren Baum anzuzünden und ihr Vergnügen zu haben. Am liebsten ginge ich in die Nebenstube, um wenigstens einen Christbaum zu sehen.“

„Wissen Sie was, Verehrteste? Wir werden hier ein reguläres Weihnachten feiern,“ ruft er, plötzlich lebhaft aufspringend. „Ist Ihnen das recht?“

„Wie denken Sie sich das?“ fragt sie zweifelnd.

„Ueberlassen Sie mir das Arrangement. Trinken Sie Punsch?“ Er zieht den Pelz an.

„Vorausgesetzt, daß ich mein Maß einhalten darf – warum nicht?“

Er steht schon bei der Thür zum Nebenzimmer, in dem man die Bahnaufsehersfrau mit den Kindern sprechen hört, und jetzt öffnet er und läßt sie allein. Sie hört ihn drüben reden, mit seiner harten, knarrenden Stimme, versteht jedes Wort.

[667]

„Sie bringen die Kinder zu Bett? Gut. Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich den Baum da zu uns hinüber schaffe? Haben Sie noch Wachsstock genug, um neue Lichter aufzustecken?“

„Gerne, gnädiger Herr – ich bitte, hier ist der Wachsstock …“

„Warten Sie, ich hebe ihn herunter … so; vielleicht besorgen Sie das Lichteraufstecken, bis ich wiederkomme. Sagen Sie mal, Sie können wohl rasch heiß Wasser machen – schön, schön, bringen Sie nur erst die Kinder unter – und: ist das Wirtshaus leicht aufzufinden?“

„Der gnädige Herr brauchen nur gerade zum Dorfe zu gehen, das dritte Haus links ist das Wirtshaus. Aber bei dem Wetter – wenn ich vielleicht etwas besorgen soll …“

„Das will ich schon lieber selber besorgen.“

Er ist fort. Sabine sitzt einsam bei dem Oefchen, in dem der Zug faucht und die Glut schürt. Eine wunderliche Lage, in die sie gekommen: sie wird mit diesem unsympathischen Vetter, der so häßliche Augen und eine so brutale Männlichkeit an sich hat, eine Weihnachtsfeier halten! Sie haßt ihn, wenn sie an alle die Qualen denkt, die sie ihm verdankt – o, er ist so ruhig bei diesem Prozeß, er hat nichts zu verlieren. Da giebt es einen ganz anderen Mann, einen Edelmann durch und durch – wie schön und warm leuchtend die braunen Augen, wie klug und liebenswürdig das Lächeln … ja, mit dem allein so Weihnachten feiern! … Ach, dieser unselige Prozeß ist schuld; sie muß, sie muß ihn gewinnen … oder davon befreit werden! … Vielleicht daß es gelingt, diesen Abend noch; es ist nicht aussichtslos … gar nicht unmöglich …

Und sie nimmt ein Knie über das andere und schlingt die Hände drum, und die klugen grauen Augen gehen unruhig, wie ihre Gedanken.

Nein, dies Grübeln führt doch zu nichts – sie hat genug davon; sie wird aufstehen, der Frau drüben helfen.

Die Kinderköpfe fahren bei ihrem Eintritt neugierig herum, je zwei und zwei in einem Bette; die plappernden Stimmchen schweigen. In der Küche knistert und klirrt es, und die Frau ruft: „Ich komme gleich, gnädiges Fräulein!“ Sabine nickt den Kindern zu, indes sie zum Tische geht, zu den schon vom Wachsstock abgeschnittenen Stücken.

„Hat euch denn der Weihnachtsmann Schönes gebracht?“ Erst Stillschweigen; dann sagt der größte Junge: „Ja, mir eine Trommel und viele Hefte, alle mit Schildern drauf.“ Sabine fragt ihn weiter, was die Geschwister bekommen haben, während sie die Wachslichter am Baum zu befestigen beginnt; mitten in der Aufzählung erscheint die Mutter und will ihr wehren, aber, Sabine läßt sich nicht stören, und die Redselige bleibt bei ihr und hilft. Draußen saust der Wind, und ein paarmal rutscht es auf dem Dache und klatscht unter dem Fenster auf.

Dann geht plötzlich die Hausthür auf – Vetter Hans Jochen klopft den Schnee ab und tritt mit einem Jungen herein, der einen Korb trägt. „So, hier sind Viktualien, und ich komme auch zu meinem Punsch. Mit der Qualität müssen wir wohl Nachsicht haben. Das Wetter ist rein des Teufels! Kocht das Wasser?“

„Jawohl, gnädiger Herr.“

Sie packen aus. Sabine arrangiert den Tisch, Vetter Hans Jochen braut Punsch, trägt den Baum auf den Tisch der guten Stube. Nun wird gespeist: kalte Dorfküche.

Zehn Minuten später sitzt Sabine wieder mit dem Vetter in der guten Stube am Ofen, und sie haben einen Holzstuhl zwischen sich, auf dem ein großer dampfender Topf und zwei Gläser stehen. Die Wachslichter an dem kleinen struppigen Christbaum brennen; ein starker Würzduft durchzieht den engen Raum, der außer der Polstergarnitur, etlichen Rohrstühlen und einem Glasschrank mit Porzellan und Nippsachen weiße Fenstergardinen und an den schablonierten Wänden reichlich billige Bilder und Photographien aufzuweisen hat.

„Ihr Wohl, Cousine! … aber Sie nippen, als hätten Sie Angst vor dem Punsch. Ist er zu schlecht? Zu stark ist er nicht, wenigstens bekommt er vorzüglich.“

Sie lächelt, mit einer Liebenswürdigkeit, deren Absichtlichkeit sie nicht ganz verbergen kann – oder will. „Er ist mir nur zu heiß.“

„Also warten Sie noch. Ich bin dran gewöhnt.“

Sie plaudern, über die Familie, über Bekannte, über allerlei sonst; er in seiner harten, roh zugreifenden Art, aber mit wachsender Vertraulichkeit und mit Augen, die sie halb mit Besorgnis, halb mit Befriedigung studiert. Sie hat Herzklopfen, und ihr ist gar nicht wohl bei der Sache, ihre Nerven schwirren und zuweilen fliegt ihr die Hitze in das Gesicht. Dann sieht sie doppelt reizend aus. Manchmal hat sie Mühe, die Gedanken zusammenzunehmen, dann erscheint sie verwirrt, und er deutet das zu seinen Gunsten.

Sie trinkt tapfer; sie verträgt etwas, und ihr ist, als müsse sie sich Mut trinken. In der That: sie wird mit der Zeit innerlich freier und lebhafter, beinahe lustig, und läßt munter die Augen werben. Er erst recht. Er ist völlig verliebt, seiner Sache sicher und zu jeder Unvorsichtigkeit fähig, so viel Punsch wie er schon getrunken hat.

„Famos, Cousine!“ ruft er auf einmal polternd, da Sabine über einen Witz von ihm lacht. „Was? Zwei Feinde, die so vergnügt Weihnachten zusammen feiern! Na, ich will Ihnen das Herz ein bißchen erleichtern: mein Advokat ist auf einmal der Meinung, daß ich bei dem Prozeß hereinfalle. Wenn ein Advokat schon so denkt, bringt er nicht viel fertig. Schade, wir hätten uns früher kennen sollen, vielleicht wäre dann jeder Prozeß überflüssig gewesen – was, Cousine Sabine?“

Er reicht ihr die Hand hin, und sie setzt sich heroisch über ihren Schauder hinweg und legt flüchtig ihre Fingerspitzen hinein. Seine punschselige Beichte wegen des Advokaten … ein Glücksgefühl durchflutet sie! Nun versteht sie, weshalb er einen Vergleich angeboten hat; aber sie spricht nicht mehr davon.

„Wie kommen Sie eigentlich dazu, Vetter, zu behaupten, ich hätte Sie in Schlowitten schlecht behandelt? Sie sagten das vorhin. Ich habe keine Ahnung … habe Sie nie in Schlowitten gesehen …“

„Das ist’s ja, Verehrteste! Besinnen Sie sich gefälligst: ich mache Ihnen Visite und Sie geruhen, nicht zu Hause zu sein. War das etwa nett von Ihnen?“

Diesmal ist die Verblüfftheit von Sabine echt. „Bei Gott,“ sagt sie ehrlich, „das ist ein Mißverständnis. Ich war im Felde, als Sie kamen; ich fand nachher Ihre Karte.“

„Ah – wahrhaftig? Da muß ich abbitten, das ändert die Sache. Habe auf Ehre fest geglaubt, Sie hätten mich refüsiert. Dummkopf, der ich war! Darf ich nachholen, Cousinchen? Was? Komme morgen, wenn Sie gestatten – frage mal nach, wie Ihnen Heiligabend bekommen …“

Sabine fühlt, daß sie eiskalt wird. Sie zieht die Brauen hoch, lächelt mit Anstrengung, zuckt die Achseln: „Solange wir Feinde sind, Vetter Rassow …“

„Ach, der verfluchte Prozeß – ich verliere ihn doch …“ Er ist ganz aufgeregt, hat einen roten Kopf. „Wissen Sie was, Cousinchen? Ich schenke Ihnen die Sache. Famos, famos, wir legen uns Weihnachtsgeschenke auf den Tisch: Sie mir die Erlaubnis, nach Schlowitten zu kommen, ich Ihnen den ganzen Prozeß! Einverstanden?“

Sie legt wieder die Fingerspitzen in die dargebotene Hand, [668] die er diesmal den Versuch macht fester zu fassen. „Schriftlich, Vetter Rassow! Ich traue Ihnen doch nicht recht.“ Sie lacht fröhlich, ganz ungezwungen, wie es scheint, und zieht ihre Hand wieder an sich.

„Machen wir, machen wir! Famos!“ Und er holt sein Notizbuch vor, reißt zwei Blätter heraus, nimmt den Bleistift und schreibt auf das eine: „Hierdurch verpflichte ich mich, meinen Prozeß gegen Fräulein Sabine von Rassow, betreffend ihr Vatererbe, für alle Zeiten zurückzuziehen. Hans Jochen von Rassow.“ … „Wie heißt doch das Nest hier?“

„Menow,“ sagt Sabine. Innerlich schüttelt sie das Fieber dabei.

Er fügt Ort und Datum hinzu. Dann reicht er ihr den Stift und das zweite Blatt: „Nun Sie!“

Und sie schreibt mit bebender Hand die Erlaubnis für ihn nieder, sie in Schlowitten zu besuchen. Dann tauschen sie aus.

Eine tödliche Erschlaffung kommt über Sabine, als sie das Blatt eingesteckt hat, eine unheimliche Ruhe. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.

„Sind Sie nicht wohl, Cousinchen?“

Sie wehrt mit der Hand. „Nur einen Augenblick,“ haucht sie. In diesem einen Augenblick überwiegt die köstliche Gewißheit, daß sie ihre Erlösung in Händen hat und eine glückselige Zukunft dazu. Nein, man kann ihr keinen Vorwurf machen; perfid gehandelt? – Bah, eine Kriegslist war es, sie hat ihn übertölpelt, den Räuber, den halbberauschten, der im übrigen selber nicht mehr an seinen Erfolg glaubte … Und doch nagt etwas in ihr, heimlich, ganz heimlich …

Nein, die dummen Skrupel sollen schweigen.

Als sie die Augen aufschlägt, fällt ihr Blick auf den lichterblinkenden Weihnachtsbaum: die Flämmchen flattern tief niedergebrannt; angesengte Nadeln duften. Sie ist völlig nüchtern und sieht Hans Jochen von Rassow an: „Wie wäre es, Vetter, wenn Sie einmal nachsähen, ob wir nicht bald weiterfahren können?“

Und als er gehorsam gegangen ist, ein wenig schwankend, legt sie sich wieder zurück, fröstelnd – denn das Feuer im Ofen ist ziemlich ausgegangen – zieht den Pelzmantel, auf dem sie gesessen, um die Schultern und schließt wieder die Augen.

Dies fatale nagende Gefühl in der Brust! Und vor ihren Ohren spricht etwas, mit feiner Stimme: „Das ist erschlichen … ist nicht adlig gehandelt … hinterlistig, perfid … perfid …“

Die heiße Scham steigt ihr auf, vom Herzen bis in die Haarwurzeln läuft es. Und nun giebt es einen Streit hin und wider in ihr. Sie soll ihm das „Schriftliche“, das sie von ihm erschlichen, zurückerstatten; soll sich lieber wieder der Qual der Ungewißheit in die Hände geben, als ihr Gewissen beschweren.

Perfid … perfid …

„Mein Gott,“ haucht sie, „das kann doch niemand von mir verlangen, das wäre doch übermenschlich …“

Von den heruntergebrannten Lichtern löscht eins nach dem andern aus, hier und dort flammen laut knisternd die Nadeln auf, glühen, vergehen.

Unter den blinzelnden Lidern Sabinens hervor quellen langsam zwei schwere Thränen …

*               *
*

Sie sind beide bald nach Mitternacht heimgefahren, der Vetter hat sich von Sabine eine Station früher verabschiedet, ohne daß diese ihm das Papier zurückgegeben hat.

Auf der Station, wo Sabine auszusteigen hatte, haben zwei Leute die Nacht hindurch ihrethalben gewacht, ihr Inspektor und ein Bote, der, dank dem Telegraphen, rechtzeitig laufen und das heimgesandte Fuhrwerk wieder holen konnte.

Dieser Inspektor ist nach dem Tode des Vaters in den Dienst Sabinens getreten, ein schöner, stattlicher Mann mit den besten Manieren. Sabine nennt ihn „Herr von Ernsthausen“, und sie reden beide mit gedämpfter Stimme, indes sie zum Wagen gehen.

Obwohl todmüde, thut Sabine im Bett kein Auge zu. Perfid … perfid …

Gegen zehn Uhr trifft in Rassow ein reitender Bote aus Schlowitten ein und hat einen Brief an den Majoratsherrn abzugeben. Herr Hans Jochen, der eben beim Kaffee sitzt, öffnet ihn mit einiger Neugier – beim Entfalten gleitet ein Blättchen auf den Teppich: sein mit Bleistift geschriebener Verzicht.

„Aha!“

Der Brief lautet:
 „Vetter Rassow!

Sie waren gestern abend vom Punsch aufgeregt und haben, wie ich glaube, außerdem in der Erwartung gehandelt, daß Ihre Besuche in Schlowitten ein nahes Verhältnis zwischen uns ergeben könnten. Es war nicht mein guter Geist, der mir riet, Sie in dieser Hoffnung zu bestärken. Mein Herz ist nicht mehr frei. Was einigermaßen zu meiner Entschuldigung dient, ist, daß derjenige, der es gewonnen, mittellos ist und daß, wenn mir mein Erbe genommen wird, uns jede Hoffnung auf eine Vereinigung schwindet: so lag die Versuchung nahe, Ihr Vertrauen in meine Ehrlichkeit zu mißbrauchen.

Ich lege Ihren Verzicht in Ihre Hand zurück. Ich bin eine Rassow und will keinen erschlichenen Vorteil. Gott mag entscheiden.
Sabine.“ 

Hans Jochen von Rassow lachte einen Moment kurz und spöttisch auf, besann sich, erhob sich und setzte sich wieder. Gut also, es wird weiter prozessiert, sie will es ja haben! Und er nahm die Kaffeetasse auf, that mechanisch einen Schluck, stellte sie weg. In seinem Kopfe sprach es: Ich bin eine Rassow und will keinen erschlichenen Vorteil. Auf einmal schob er einen Fuß überseite und sagte für sich zwischen den Zähnen: „Eh, wenn denn doch der Winnemeyer so sehr rät, an den Prozeß kein Geld mehr wegzuwerfen …“ und in Gedanken schloß er: so will ich dabei wenigstens für meinen guten Ruf etwas herausschlagen.

Er drückt auf die Tischglocke.

„Ist der Bote von Schlowitten noch auf dem Hofe?“

„Ich glaube wohl,“ sagt der Diener.

„Esel – was heißt das? Wenn du’s nicht sicher weißt, so sieh nach! Wenn er noch da ist, soll er warten.“

Eine Stunde später hat die blasse Sabine den Bleistiftverzicht wieder und liest folgende Begleitzeilen:
 „Cousine Rassow!

Hier der Verzicht. Ein Rassow widerruft nicht, was er zugesagt hat.
Hans Jochen.“ 

Und zehn Minuten später darf der Inspektor von Ernsthausen seine Herrin küssen.


[669]

Kulturbeleckt.
Nach einer Originalzeichnung von A. Weczerzick.

[670]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Ein gutes Handfernrohr.

Das Fernrohr ist im Laufe der Zeit zu einem alltäglichen Gebrauchsgegenstand geworden. Der Soldat, der Tourist, der Sportsmann, der Jäger, der Theaterbesucher, sie alle brauchen Feldstecher und Operngläser. Kein Wunder, daß bei einem so großen Bedarf die Industrie sich nicht begnügte, nur Massenware zu erzeugen, sondern auch bestrebt war, das Handfernrohr immer vollendeter zu gestalten. Die Anforderungen, die an sie gestellt wurden, waren mannigfaltig. Ein gutes Handfernrohr muß kleine handliche Form besitzen, es soll gleichmäßig scharfe und klare Bilder zeigen und bei angemessener Vergrößerung und ausreichender Lichtstärke dem Beobachter ein möglichst großes Gesichtsfeld bieten.

Lange Zeit konnten alle diese Eigenschaften in einem Fernrohr nicht vereint werden. Die ersten Fernrohre, welche zu Anfang des 17. Jahrhunderts in Holland erfunden wurden, waren aus einer konvexen Objektivlinse und einer konkaven Okularlinse zusammengesetzt. Für den Handgebrauch erwiesen sie sich durchaus geeignet und sind noch heute als Operngläser und Feldstecher ungemein verbreitet. Man sieht durch sie die Gegenstände in aufrechter Stellung, ihr Rohr ist kurz und das Instrument darum handlich; sie haben jedoch einen schwerwiegenden Mangel: das Gesichtsfeld ist bei ihnen außerordentlich klein, bei einigermaßen stärkerer Vergrößerung kann man nur sehr kleine Flächenstücke übersehen.

Mit einem den Holländern nachgemachten Fernrohr hat Galilei seine staunenerregenden Entdeckungen in der Sternenwelt gemacht. Er sah, daß der Mond mit Bergen bedeckt ist, daß die Milchstraße aus zahllosen kleinen Sternen besteht und daß der Jupiter von Trabanten begleitet wird. Für astronomische Beobachtungen wurde indessen das holländische oder galileische Fernrohr bald durch ein anderes ersetzt, das der große deutsche Astronom Kepler gleichfalls zu Anfang des 17. Jahrhunderts erfand. Dasselbe ist aus zwei konvexen Linsen zusammengesetzt; es hat ein großes Gesichtsfeld und bedeutende Lichtstärke und läßt sehr starke Vergrößerung zu. Seine höchste Vollendung zeigt es in den Riesenrefraktoren der Sternwarten, aber zu Beobachtungen auf der Erde ist es ganz und gar nicht geeignet, denn es zeigt Bilder, die umgekehrt sind oder auf dem Kopfe stehen, und besitzt eine beträchtliche Länge.

Triëder-Binocle.

Der erste Uebelstand wurde bereits im Jahre 1665 durch den Kapuziner A. M. de Rheita beseitigt. An Stelle der einfachen Okularlinse im Keplerschen Fernrohr setzte dieser ein System von vier Kinsen, welche das umgekehrte Bild noch einmal umkehren, es also dem Beobachter in aufrechter Stellung erscheinen lassen. So entstand das terrestrische oder Erdfernrohr, das in vielfacher Hinsicht dem galileischen überlegen ist, aber eine solche Länge besitzt, daß es bei stärkeren Vergrößerungen beim Gebrauch als Handfernrohr unbequem wird.

Erst in unserem Jahrhundert fand die Wissenschaft ein Mittel, das beide Mängel des vorzüglichen Keplerschen Fernrohres zugleich beseitigt. Gegen Ende der vierziger Jahre zeigte der Optiker Porro, daß die umgekehrten Bilder des astronomischen Fernrohrs durch Zwischenschaltung von Spiegelprismen[1], deren brechende Kanten zu einander senkrecht stehen, in aufrechte Bilder verwandelt werden. Bei dieser Anordnung wird aber die Länge des Fernrohrs zugleich auf den dritten Teil verkürzt, da die Lichtstrahlen zwischen den Spiegelprismen im Zickzack geführt werden.

Gesichtsfeld mit altem Opernglas.

Gesichtsfeld mit Goerz’ Triëder-Binocle No. 10.

Nach diesem Prinzip wurden von Porro terrestrische Fernrohre gebaut, aber die optische Technik um die Mitte des Jahrhunderts war noch nicht so weit fortgeschritten, um auch die Konstruktion brauchbarer tadelloser Doppelfernrohre nach den neuen Grundsätzen möglich zu machen. Erst in der neuesten Zeit ist die Lösung der Aufgabe gelungen, und so besitzen wir heute Handfernrohre, welche die älteren weit übertreffen. Namentlich Carl Zeiß in Jena gebührt das Verdienst, auf diesem Gebiet bahnbrechend vorgegangen zu sein.

Als ein Beispiel eines modernen Feldstechers führen wir unseren Lesern das „Triëder-Binocle“ vor, das von der optischen Anstalt C. P. Goerz, Berlin-Friedenau, hergestellt wird.

Die innere Einrichtung zeigt uns Fig. 1. Der Gang der Lichtstrahlen wird durch die Pfeillinie bezeichnet. Sie treten durch die Objektivlinse ein und treffen zuerst das obere Spiegelprisma; in diesem erfahren sie eine rechtwinklige Ablenkung und gelangen zu dem unteren Prisma, hier erleiden sie nochmals eine rechtwinklige Richtungsänderung und gelangen am oberen Prisma vorbei direkt zum Okular.

Das Prismendoppelfernrohr ist das kleinste aller Fernrohre, denn bei gleicher Vergrößerung ist es dreimal kürzer als das terrestrische Fernrohr und etwa um die Hälfte kürzer als das holländische Theaterglas. Abgesehen von der großen Schärfe und Klarheit, zeichnet es sich vor allem durch ein großes Gesichtsfeld aus. Wie weit es den alten Operngläsern in dieser Hinsicht überlegen ist, beweisen am besten die untenstehenden Abbildungen. Sie veranschaulichen den Unterschied der überblickbaren Flächen mit einem alten Opernglase und einem Triëder-Binocle von gleich starker Vergrößerung.

Um das Sehen möglichst genau zu gestalten und die Ermüdung der Augen zu verhüten, ist das neue Handfernrohr noch mit zwei Einrichtungen versehen. Der Pupillenabstand ist bei einzelnen Menschen verschieden, er wechselt von 59 bis etwa 70 mm; in diesen Grenzen lassen sich nun die beiden Rohre des Binocle gegeneinander verschieben. Bei vielen Menschen ist die Sehkraft beider Augen ungleich, dies erschwert die Beobachtung durch ein Fernrohr. Um diesen Uebelstand zu beheben, ist das Triëder-Binocle mit einer besonderen Einstellung des rechten Okulars versehen. Die Gläser werden in vier Größen hergestellt. Das schwächste bietet eine dreifache, das stärkste eine zwölffache lineare Vergrößerung. Die eignen sich wegen ihres großen Gesichtsfeldes für Theater, Jagd, Rennen etc., die stärkeren für die Reise, Regatten und alle Fälle, wo es darauf ankommt, auf sehr große Entfernungen deutlich zu sehen.

Leider ist der Preis der modernen Handfernrohre, in denen die optische Technik einen neuen Triumph feiert, noch hoch und nicht für jeden erschwingbar. Hoffen wir, daß mit der Zeit Mittel und Wege gefunden werden, auch diese Errungenschaft der Neuzeit zu verbilligen und weiteren Kreisen zugängig zu machen. M. H.     


  1. Dreikantige durchsichtige Glaskörper, die den Lichtstrahl spiegeln und ohne Farbenzerstreuung austreten lassen.


Zwei neue Lampen von Edison und von Auer von Welsbach.

Mehr als je vordem tobt im Augenblick der Kampf um das schönste, billigste und gesundeste Licht. Soeben erst hat Professor Nernst mit seiner auf S. 499 dieses Jahrganges geschilderten Lampe den Preis davongetragen, und schon wird ihm der Erfolg bestritten. Keine Geringeren als Edison und Auer von Welsbach, also die Großmeister auf dem Gebiete der Beleuchtungstechnik selbst, suchen die Nernst-Lampe zu übertrumpfen und aus dem Felde zu schlagen.

Seit einigen Jahren sind die Elektriker mit heißem Bemühen bestrebt gewesen, die sogenannten Seltenen Erden – also das Zircon, Thor, Cer etc. – die sich beim Glühstrumpf des Auerschen Gasglühlichtes so außerordentlich bewährt haben, auch zur Herstellung der Glühfäden in den elektrischen Glühlampen zu verwenden. Das schwierige Problem wurde fast zu gleicher Zeit von Edison und von Auer gelöst.

In einer Beziehung ähneln die neuen Lampen der Nernst-Lampe. Sie verwenden wie diese elektrische Nichtleiter und zwingen sie in ganz originaler Weise zur Führung des Stromes.

Betrachten wir zunächst die neue Edison-Lampe. Ihr Glühfaden, der ja das Wesentlichste der Erfindung ausmacht, besteht aus einer Sauerstoffverbindung der Seltenen Erden Zircon und Thor. Um diese leitend zu machen, sind in den Faden Kohlenteilchen eingestreut. Der Strom, der in den Faden eintritt, springt nun in Form von kleinen Funken von Kohlenteilchen zu Kohlenteilchen; und die dabei erweckte Energie erhöht die Fadentemperatur zur Weißglut. Um eine gleichmäßig strahlende Oberfläche zu erzielen, taucht Edison den Faden noch auf kurze Zeit in ein Salz der Seltenen Erden. Ganz entsprechend den Forderungen der neuen Elektrotechnik, wird auch diese Lampe, um ihren Gebrauch wohlfeil zu gestalten, mit Strömen von verhältnismäßig hoher Spannung beschickt.

Die neue Lampe von Auer von Welsbach ähnelt sehr der soeben geschilderten Edison-Lampe. Auch hier baut sich der Glühfaden aus den Sauerstoffverbindungen Seltener Erden auf. Er enthält aber, neben den Kohlenteilchen, noch Zusätze von Osmium, einem Metall, das sich zumeist mit Platin zusammen findet. –

Die Glühfäden der Edison- und der Auer-Lampe sind in luftentleerte Glasbirnen eingeschlossen: just wie es jetzt bei den elektrischen Glühlampen gebräuchlich ist. Das Licht der neuen Lampen soll schön und weiß sein. Franz Bendt.     

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[671]

Die Marienburg.

Von Ernst Wichert. Mit Abbildungen nach Photographien von H. Ventzke in Rathenow.

Um Marienburg von Berlin aus zu erreichen, bedurfte es früher einer mehrtägigen, beschwerlichen Postreise; heute genügt hierzu eine bequeme Schnellzugfahrt von acht Stunden. Das ist keine Entfernung mehr, und doch sind die Fälle wohl noch immer verhältnismäßig selten, in denen ein Reisender, der die Reichshauptstadt besichtigt hat, oder ein Reichshauptstädter selbst sich zu einem „Abstecher“ dorthin (und nach dem nahen Danzig) entschließt. Wer die Ostbahn benutzt, um in Königsberg und weiter in Rußland seinen Geschäften nachzugehen oder in umgekehrter Richtung deutsche Bäder und ferne Länder zu besuchen, begnügt sich meist mit einem Blick durch das eiserne Maschenwerk der langen Nogatbrücke auf Schloß und Städtchen am Ufer; und doch läßt sich dreist behaupten, daß es niemand bereuen würde, da abgestiegen zu sein und einige Stunden seiner noch so kostbaren Zeit geopfert zu haben. Denn was sich ihm bietet, ist etwas Außergewöhnliches und geradezu Unvergleichliches, ein in die Gegenwart zurückgezaubertes Stück Mittelalter von mächtigster Form und nachdenklichstem Inhalt.

Es darf nicht vergessen werden, daß der Deutsche Orden, der sich in blutigen Kämpfen mit den heidnischen Preußen und Litauern das Nordostland erobert hatte, im 14. Jahrhundert und bis zur unglücklichen Schlecht bei Tannenberg 1410 eine Großmacht war und daß in „Haus Marienburg“ (die Bezeichnung Schloß war den Rittern fremd) die Hochmeister des Ordens 145 Jahre lang residierten. Wie sah das Haupthaus dieser höchst eigenartigen ritterlich-mönchischen Körperschaft aus, die gewaltigste Landesfeste, und wie die Wohnung ihres fürstlichen Oberhauptes? Jetzt nach der glücklichsten Restauration haben wir wieder die ganze Herrlichkeit dieses stolzen Baues vor Augen, von dem die Geschichtschreiber erzählen und der bis in den Anfang unseres Jahrhunderts hinein, in seinem wichtigsten Teil sogar noch vor kurzem, nach traurigem Verfall nur als mißachtete Ruine dalag, kaum dem Kenner verständlich.

Zwar völlig deckt sich das heutige Bild der Gesamtanlage nicht mit dem, das sich den deutschen Gästen bot, die zur „Kriegsreise“ anlangten und in der Marienburg festlich bewirtet wurden. Damals führte eine Pfahlbrücke zum festen Brückenthor zwischen zwei Rundtürmen, und wo sich jetzt die Stadt mit ihren freundlichen Häusern, soweit sie die furchtbare Feuersbrunst nicht jüngst zerstörte, um das Schloß herumzieht, starrten Festungswerke mit doppelten oder gar dreifachen Mauern und einem Kranz von Türmen um die weit nach links (Nordost) ausgebaute Vorburg, die mit ihren vielen Werkstätten zur Bereitung von Kriegsmaterial, mit ihren Speichern, Stallungen und Beamtenwohnungen selbst einer Stadt glich. Aber die Hauptbaulichkeiten, das „obere“ oder „rechte“ Haus (Hochschloß) und das „mittlere“ Haus mit der „Hochmeisterwohnung“, unterschieden sich sicher nicht wesentlich in ihrer äußeren Gestalt, jetzt auch nicht mehr in der inneren Einrichtung. Das Schloß Marienburg von heut’ ist, nach Möglichkeit getreu, das Ordenshaupthaus, in welchem Winrich von Kniprode glänzend Hof hielt und Ulrich von Jungingen den Kampf gegen Polen rüstete.

  Brückenthor.   Herren-Dansk.       Stadtkirche.
Die Marienburg von Südwest.
Nach einer photographischen Aufnahme von H. Ventzke in Rathenow.

[672] Voran ging eine fast hundertjährige Bauzeit mit allmählichem Wachstum und vielfachen Veränderungen, und es folgten drei Jahrhunderte des erst langsamen, dann rapiden Verfalls. Auch die Wiederherstellung im letzten Säkulum hat ihre interessante Baugeschichte.

Das Mittelschloß: Rechter Giebel der Nordseite.

Nachdem der zweite Aufstand der heidnischen Preußen blutig niedergeschlagen war, wurde von dem Landmeister des deutschen Ordens Konrad von Thierberg um 1276 bis 1280 zur besseren Sicherung des Landes auf dem hier etwa 70 Fuß hohen rechten Nogatufer eine Feste erbaut, welche nach der Schutzpatronin des Ordens den Namen Marienburg erhielt. Dieses „Hus“ bestand aus einem fast quadratischen Viereck (außen 190:160 Fuß) von festen Gebäuden, von denen die zwei ungefähr nach Norden und Süden gelegenen die Giebel gegen den Fluß richteten, die beiden anderen zwischeneingebaut waren. Sie umgaben einen Hof, 102 Fuß lang und 85 Fuß breit, auf welchem ein gemauerter Brunnen stand. Arkaden in zwei Stockwerken liefen innen rundum und vermittelten den Zugang zu den verschiedenen Gemächern. An der Südwestspitze trat, schräge gestellt, ein starkes mit einem viereckigen Turm über dem schnellfließenden Mühlgraben abschließendes Gemäuer vor, der als Latrine benutzte „Herren-Dansk“. Nördlich schloß sich eine Vorburg an, südlich die Stadt, ebenfalls durch betürmte Mauern und Gräben befestigt. Die Weichsel- und Nogatdämme, durch welche 30 Quadratmeilen fruchtbares Land gewonnen wurden, entstanden erst in den Jahren 1288 bis 1294 unter Meinhart von Querfurt.

Als dann 1309 der Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen den Regierungssitz von Venedig nach der Marienburg verlegte, ergab sich die Notwendigkeit einer Erweiterung der ursprünglich nur für einen Konvent von zwölf Rittern bestimmten Baulichkeiten von selbst. Es wurde deshalb die Vorburg weiter nach Norden vorgeschoben, und zwischen das obere Haus und sie ein „mittleres“ Haus, bestehend aus einem gegen das erstere offenen und von ihm nur durch einen tiefen Graben getrennten Viereck von Gebäuden, eingelegt, diesem darauf auch gegen die Nogat hin ein palastartiger Bau zur Hochmeisterwohnung vorgebaut. Zugleich wurde das obere Haus teilweise erhöht, mit Türmchen an den Giebeln und einem über 150 Fuß hohen Glockenturm in der Ecke neben der Schloßkirche geschmückt und diese selbst durch einen Vorbau über den Parchan (Rundgang außerhalb der Schloßmauer) hin über der St. Annenkapelle und der Hochmeistergruft erweitert, im Inneren der Zugang zur Kirche durch Einfügung der „Goldenen Pforte“ würdiger gestaltet. Diese Neubauten mochten in der Mitte des 14. Jahrhunderts vollendet sein. Winrich von Kniprode endlich krönte das Werk dadurch, daß er das bis dahin aus bemaltem Stuck bestehende, 26 Fuß hohe Muttergottesbild in der äußeren Nische des polygonen Abschlusses der Annenkapelle und Schloßkirche mit farbigem Mosaik überziehen ließ.

So stand die Burg, ein Wunder gotischer Architektur im Ziegelbau und mittelalterlicher Befestigungskunst, als Heinrich von Plauen, ihr heldenmütiger Retter, sie gegen den wilden Ansturm von 60000 Polen unter König Jagello siegreich verteidigte. Damals soll der Büchsenmeister, der sein Geschütz auf das Marienbild richtete, auf der Stelle erblindet sein, damals auch eine noch heute in der Wand steckende Steinkugel die einzige Säule, auf welcher das Gewölbe des Sommerremters ruht und auf deren Zertrümmerung bei einer Versammlung der Ritter es abgesehen war, nur um ein geringes gefehlt haben. So stand die Burg auch, als 1457 Ludwig von Erlichshausen, der letzte Hochmeister, welcher sie bewohnte, mit Schmach bedeckt und blutige Thränen weinend, mit den letzten Rittern auszog, nachdem das Land vom Orden abgefallen war und die nicht bezahlten böhmischen Söldner ihren Pfandbesitz an den Polenkönig und die Städte Thorn und Danzig verkauft hatten.[1]

  Der Pfaffenturm.
Die Schloßkirche.

Es folgten dreihundert Jahre polnischer Herrschaft. Mährend derselben verlor die Marienburg als Festung gänzlich ihre Bedeutung; die Werke nach den Regeln der neueren Befestigungskunst umzugestalten, fehlte es an Geld und gutem Willen. Nur die „großen Städte“, Danzig, Thorn, Elbing, deren Handelsvorteil der Anschluß an Polen begünstigte, nahmen einen Aufschwung und behaupteten längere Zeit eine gewisse Unabhängigkeit; der „Adel“ polonisierte sich mehr und mehr, die „kleinen Städte“, zu welchen auch Marienburg gehörte, gerieten rasch in den traurigsten Verfall; das „Land Preußen“, anfangs staatsrechtlich nur in Personalunion mit Polen, verkümmerte bald als polnische Provinz. Der Hochmeisterpalast wurde für den Besuch der Könige notdürftig instand gehalten; für die übrzgen Teile des Schlosses geschah nichts, wenn auch absichtliche Beschädigungen unterblieben. In längeren Zeiträumen gab es amtliche Revisionen, deren erhaltene „Lustrationen“ (Beschreibungen) den jedesmaligen Zustand erkennen lassen. Danach hatte die Marienburg bis 1565 freilich keine erhebliche Veränderung erlitten; schon 1649 aber fanden sich die Mauern verfallen, die Gräben verschüttet, [673] im Hochschloß Süd- und Ostflügel ohne Bedachung, ein Giebel eingestürzt, Gewölbe eingeschlagen, ein Teil des Turmes mit Glocken und Uhr vernichtet, der Brunnen unbrauchbar gemacht, das Gewölbe der Kirche rissig, nur das Mittelschloß noch ziemlich erhalten und bewohnt; 1724 war nur noch eine Ruine sichtbar.

Das Hochschloß von Nordwest.

Die Schweden hausten 1626 und nochmals 1655 bis 1660 im Schlosse arg und zerstörten Teile der Befestigung durch Minen. Schatzgräber trieben ihr Unwesen. Den Hauptschaden aber verursachte ein Brand im „rechten“ Schlosse 1644, hervorgerufen durch Unvorsichtigkeit. Als nämlich zur Feier des Fronleichnamsfestes im Wehrgang die Kanonen gelöst wurden und unten in der Stadt eine Prügelei entstand, warfen der Büchsenmeister und seine Gesellen die brennenden Lunten fort und liefen neugierig hinab. Das Holzwerk entzündete sich, und bald stand das ganze Dach in Flammen, beim Zusammenbrechen die oberen Gewölbe einschlagend und die Arkaden teilweise zerstörend. An ein Löschen des Feuers war nicht zu denken gewesen; eine Wiederherstellung des Baues wurde nicht einmal versucht. Man begnügte sich, übrigens erst nach 60 Jahren, mit einem schwachen Notdach, das auch nur kurze Zeit Schutz gewährte.

Die eigentliche Zerstörung durch Menschenhand erfolgte aber erst, als das Weichselland 1773 an Preußen gekommen war. Zwar wurde noch die Huldigung der Stände in dem dreisäuligen Konventsremter des Mittelschlosses abgehalten, bald aber dieser herrliche Raum als Exercierhaus, Strafanstalt, zum Spießrutenlaufen, als Reitschule und Gefängnis benutzt, 1814 zur Feier des Pariser Friedens durch eine hölzerne Fußdecke in der Höhe der Säulen geteilt, endlich der obere Raum auch zum Komödiespiel vergeben. Ebenso war der große Remter der Hochmeisterwohnung durch eine Decke halbiert, jede der beiden Etagen wieder durch Wände in mehrere Räume geteilt, die zur Wollspinnerei und als Elementarschule gebraucht wurden. Friedrich der Große hatte den Marienburgern die Wahl einer höheren Lehranstalt oder eines Regiments Soldaten freigestellt. Sie entschieden sich für das letztere.

Das Mittelschloß (Hochmeisterschloß) von Nordwest.

Infolgedessen wurde das Hochschloß in eine Kaserne umgestaltet, was das Ausschlagen von 165 Fenstern für 111 Stuben nebst Kammern und Küchen in jetzt fünf Etagen notwendig machte. Die Gewölbe wurden meist noch geschont. Sie fielen erst, als gegen Ende des Jahrhunderts die Kaserne sich in ein Getreidemagazin mit einer Reihe von Schüttungen übereinander verwandelte. Von dem alten Bau wären nur noch die Grundmauern übriggeblieben. – Die erste Anregung zur Renovation wenigstens der Prachträume im alten Hochmeisterschloß und der Kirche im Hochschloß gab der verdiente Oberpräsident von Schön in einem am 22. November 1815 an den Kanzler von Hardenberg gerichteten Schreiben. Es heißt da: „Dieses schöne Denkmal einer Zeit, in welcher die Begeisterung für das Heiligste erhabene Bilder schuf, kühne und große Ideen weckte und dem Menschen Beharrlichkeit und Kraft zu ihrer Ausführung gab, zugleich ein würdiges Zeugniß von dem Standpunkt damaliger Bildung und ein von jedem Kenner gepriesenes seltenes Werk der Baukunst, ist … zertrümmert und in Kasernen und Magazine verwandelt.“ Einige Jahre darauf begann wirklich eine reiche Bauthätigkeit. Der Staat, die Provinz, verschiedene Korporationen und Private steuerten bei, und so zeigte sich denn in den vierziger Jahren der Palastbau und ein Teil des Kirchenflügels im rechten Hause im ganzen glücklich wiederhergestellt. Eine neue Bauthätigkeit mit größeren Mitteln, schließlich durch eine Lotterie aufgebracht, begann nach dem Kriege von 1870 bis 1871, besonders seit der Kronprinz, der spätere Kaiser Friedrich, sich mit der ihm eigenen Wärme des schönen Werkes anzunehmen anfing und der damalige Kultusminister von Goßler ihm die dankenswerteste Unterstützung zuwendete. Glücklicherweise fand sich in dem Baurat Steinbrecht der rechte Mann für die geistige Ausspürung und dann auch praktische Herstellung des ursprünglichen Zustandes der so arg zerstörten Burg, und jetzt zeigt sie sich wieder dem staunenden Beschauer, abgesehen von einigen Teilen des Mittelschlosses, in [674] ihrer alten Herrlichkeit äußerlich und innerlich, soweit wenigstens die Architektur ihre Aufgabe zu erfüllen hatte.

Das äußere Einlaßthor zum Hochschloß
vom Hof des Mittelschlosses aus.

Unternehmen wir nun einen Rundgang um die äußeren Mauern, beginnend bei der Brücke, die vom Hof des Mittelschlosses zum äußeren Einlaßthor des Hochschlosses führt. Es ist von zwei Türmchen überhöht. Rechts und links ragen die mit gotischem Maßwerk kunstvoll verzierten Spitzgiebel der beiden anderen Flügel auf. In diesem Querhause befanden sich zur Ordenszeit die Firmarie (Krankenhaus der Ritter) und die Gemächer des Großkomturs. Zwei Türme flankieren gegenüber den Ecken den Graben. Links herum gehen wir entlang dem Ostflügel, welcher die noch nicht restaurierten Gastkammern enthielt und mit der kleinen St. Adalbertkapelle nach dem Hofe hin abschloß. Weiter zwischen dem mittleren und dem rechten Hause erhebt sich über den tiefen, beide Baulichkeiten trennenden Graben der 80 Fuß hohe „Pfaffenturm“, in welchem die Priesterbrüder ihre Wohnung hatten, von denen mehrere zu jedem Konvent gehörten. Nun tritt der Vorbau uns entgegen, in welchem sich die St. Annenkapelle und darüber die Schloßkirche befindet. Die drei Abschlüsse des Polygons und die Seitenwände sind mit Spitzgiebeln gekrönt. In der Nische vorn steht das auf unserer Abbildung Seite 672 deutlich erkennbare mächtige Marienbild, ein Wunderwerk seiner Zeit. Eine Restauration unter Schön hatte nicht den erhofften Erfolg, da das benutzte Bindemittel der Feuchtigkeit schlecht widerstand. Besser geglückt scheint die 1869 von Dr. Salviati in Venedig unternommene zu sein. Das die ganze Statue und auch den Hintergrund der Nische überziehende Mosaik besteht aus farbigen kubischen Emailpasten, von denen die vergoldeten noch mit einer dünnen Glasschicht überzogen sind. Maria trägt ein goldenes Gewand, einen roten, mit goldenen Vögeln gemusterten, blaugefütterten Mantel; sie ist durch Krone und Scepter als Himmelskönigin bezeichnet. Auch das Christuskind ist gekrönt und hält in der Linken die Weltkugel. Die großartigen Linien des Faltenwurfs, sagt ein berühmter Kunstkenner, stimmen sehr wohl mit dem Ernste, den das Angesicht der Himmelskönigin trägt, und dieser Ernst ist wieder sehr glücklich durch die Schönheit edelster Formbildung gemildert, die sich glücklicherweise in der ganzen Gestalt wie in der sorgfältigen Anordnung der verschiedenartigen Gewänder zeigt. Die gleichen Vorzüge teilt auch die Farbengebung der Mosaiken, welche ebenso glänzend wie harmonisch ist.

Unseren Weg, entlang dem heut’ mit alten Bäumen bewachsenen Graben, fortsetzend, blicken wir um die wieder mit einem prächtigen Giebel ausgestattete Südostecke auf die nach der Stadt führende hölzerne Laufbrücke, welche schon zur Ordenszeit bestand, und auf den aus der folgenden Ecke herauswachsenden Herren-Dansk. Hier versuchte, als Ludwig von Erlichshausen das Schloß verlassen hatte, sein tapferer Soldhauptmann Bernhard von Zinnenberg mit den Marienburgern unter ihrem treuen Bürgermeister Blume den nächtlichen Sturm; das gewaltige, den Parchan schließende Mauerwerk des Dansk hielt sie auf. – Der Westflügel des Hochschlosses endlich, dessen Dach von den beiden Eckgiebeln überragt wird, kehrt sich dem Flusse zu und ist durch sechs hohe Blendbogen ausgezeichnet, innerhalb deren die kleinen Fenster unregelmäßig eingelegt sind. Ueberall sind die massigen Mauern durch Streifen und andere Muster von schwarzglasierten Ziegeln belebt. Oben herum läuft ein schöner Fries, und darüber erhebt sich bis unter das Dach eine Art von Attika mit fast quadratischen Fensteröffnungen für den Wehrgang.

Das etwas tiefer gelegene Mittelschloß steht ganz frei und fesselt durch den palastartigen Vorbau den Blick. Zwei riesige Eckpfeiler tragen ein weitausladendes, sich wie eine Blume aufblätterndes Steingesims mit Zinnenkranz. Dazwischen tritt die Mauer in vier tiefe Nischen zurück, in welcher die hier nach oben geradlinig abgeschnittenen Fenster liegen. Wundersam sind die drei Zwischenpfeiler da, wo die großen Fenster der hochmeisterlichen Prunkgemächer ihre Lage haben, durch zierliche Säulchen unterbrochen, was der sonst schweren Fassade plötzlich den Charakter anmutigster Leichtigkeit giebt. Diese Architektur hat etwas Zauberhaftes, besonders wenn bei schräger Sonnenbeleuchtung sich tiefe Schatten in die Nischen senken und teilweise noch auf den farbigen Fenstern die Lichter spielen. Auch die anderen Seiten zeigen hohe Nischen zwischen kräftigen Pfeilern, jedoch ohne diesen Säulenschmuck. Was war das für ein Baumeister, der dieses Werk erdacht und ausgeführt hat! Wir kennen seinen Namen nicht. Wir wissen auch nicht, wer das obere und wer das mittlere Schloß erbaut hat, dessen Westflügel uns nun die acht farbigen Fenster des großen Konventsremters (Rittersaals) zuwendet, von dem schon gesprochen ist.

Der Hof im Hochschloß mit dem Brunnen.

So haben wir den ganzen Bau umkreist und gelangen wieder zu den das Standbild Friedrichs des Großen umschließenden Gartenanlagen, welche einen Teil der früheren Vorburg einnehmen. Wir wandern nun über die Brücke, durchschreiten den Thorbogen im Nordflügel des Mittelschlosses, den geräumigen Hof desselben und gehen, an der Hinterfront des Hochmeisterpalastes vorbei, über die Brücke, welche über den breiten und tiefen, übrigens auch schon zur Ordenszeit trockenen Graben führt, zunächst nach dem Hochschloß als dem ältesten Bau.

Wir treten in den links von einem Turm, rechts vom Thorhause flankierten Zwinger ein und heben nun den Blick auf den in der Nordwestecke gelegenen Eingang. Da er schräge gegen die Ecke des Hofes hin geführt ist, zieht sich auch die Mauer hier schräge gegen den Eckpfeiler ein. Das Portal ist 15 Fuß breit und wohl dreimal so hoch, bis zum Fries von wechselnden schwarzglasierten und roten Ziegeln eingewölbt. Hier besonders entzückt die „tiefviolett bräunliche Farbe des alten Mauerwerks, teilweise mit zartgrünlicher Patina überzogen.“ Diese hochaufstrebende Spitzbogennische und noch mehr das vertieft liegende und verhältnismäßig niedrige eigentliche Portal von wunderbarer [675] Formbildung und Ausschmückung erinnern den Kenner lebhaft an orientalische Vorbilder, namentlich in Sicilien; der innere Thorbogen besteht aus Granit, über welchen eine Einfassung von Sandstein mit halbrunden Buckeln gelegt ist; der Granitbogen ist umkränzt von einer Reihe kleiner Ziegelbogen zierlichster Form. Wie bei orientalischen Bauwerken häufig, finden sich Inschriften, aus einzelnen quadratischen Ziegelsteinen mit Majuskelbuchstaben zusammengesetzt, welche fortlaufende Friese oder auch Bogeneinfassungen bilden. Es war nicht vergessen, daß der deutsche Orden seine ersten Häuser in Syrien baute.

Durch das finstere Thor blicken wir auf das Spitzdach des Brunnens, welcher nicht ganz in der Mitte des inneren, beinahe quadratischen Hofes steht. Ein Wappenadler erhebt sich darauf. Der Hof ist durch die in zwei Stockwerken ihn rings umgebenden Arkaden, mit Kreuzgängen hinter den gotischen Fenstern, auf jeder Seite um 10 Fuß eingeengt und so nur 82 Fuß lang, 65 Fuß breit. Im Erdgeschoß befinden sich große kellerartige Vorratsräume, Küchen, dicht am Thor ein Wachtlokal und daneben ein Gefängnis, in welchem der litauische Großfürst Witold lange nach der Freiheit geschmachtet haben soll, die er auch endlich in einer Verkleidung erreichte.

Sehenswert ist die St. Annenkapelle im Vorbau des Kirchenflügels. Sie ist doppelt so lang als breit, nur etwa 17 Fuß hoch und mit einem gedrückten, im Rundbogen ausgeführten Sterngewölbe eingedeckt, mit kleinen Kapellen in den starken Umfassungsmauern versehen und durch drei Fenster matt erleuchtet. Zwei einander gegenüberliegende Eingangspforten (vom Parchan her) bilden in der dicken Mauer gewölbte Vorhallen und sind aufs kunstvollste mit Stuckarbeiten, Stabwerk, Blätter- und Tierarabesken, Darstellungen aus der biblischen Geschichte, geschmückt.

Unter dem Fußboden der Kapelle befand sich die Hochmeistergruft. Einige Leichensteine sind noch erhalten, darunter der Heinrichs von Plauen, der als Komtur die Marienburg rettete, zum Dank dafür zum Hochmeister gewählt, aber schon nach drei Jahren, weil er Adel und Städte bei der Landesregierung beteiligen wollte, schmählich abgesetzt wurde und sein Leben als Pfleger der Burg Lochstedt in halber Gefangenschaft endete. In der Annenkapelle hatten die Jesuiten für sich ein niedriges Grabgewölbe errichtet. Um von ihrem quer durch den trockenen Graben zwischen den beiden Schlössern erbauten Wohnhause einen leichteren Zugang zur Stadt zu schaffen, war ein Brettersteg darüberhin quer von einem Fenster zum andern und durch dieselben gelegt worden, wegen des dumpfen Schalls beim Auftreten Böller-(d. h. Polter-)Brücke genannt. Sie wurde noch zu Anfang dieses Jahrhunderts vom Publikum benutzt.

(Schluß folgt.)     



Blätter und Blüten.


Gutenberg-Feier in Mainz. Die altehrwürdige Rheinstadt Mainz rüstet sich, im nächsten Jahr den Tag festlich zu begehen, an welchem vor 500 Jahren ihr großer Sohn Johannes Gutenberg zur Welt kam. Der Oberbürgermeister von Mainz Dr. Gaßner hat soeben einen Aufruf veröffentlicht, der von zahlreichen Männern aller Kreise und der verschiedensten Nationen unterzeichnet ist und die ganze gebildete Welt einladet, an der Gedächtnisfeier teilzunehmen. Gutenbergs Andenken zu ehren, hat die Geburtsstätte der Buchdruckerkunst das erste Anrecht und die besondere Pflicht. Aber wie Gutenbergs Werk den Erdkreis umspannt und die Völker verbindet, so muß an einer Gedächtnisfeier für ihn, den Wohlthäter der Gesamtheit, die gesamte Menschheit dankbaren Anteil nehmen. Aller Fortschritt in Bildung und Gesittung, an welchem wir uns am Ende des 19. Jahrhunderts mit freudigem Stolz beteiligt fühlen, hat in der edlen Kunst Gutenbergs ihren mächtigsten Hebel gehabt. Der Plan der Feier, die am Johannistage 1900 das „goldne Mainz“ begeht, wird noch bekanntgegeben werden; zur bleibenden Erinnerung ist als Ehrendenkmal für den großen Meister vor allem die Gründung eines Gutenberg-Museums in Aussicht genommen.

Das Wittekind-Denkmal in Herford. (Zu der Abbildung S. 645.) Während wir in Karl dem Großen den großen Herrscher verehren, der das von ihm mächtig erweiterte Fränkische Reich zum starken Hort des Christentums machte, ist der Sachse Wittekind die heldenhafte Verkörperung des treuen Festhaltens am Glauben der Väter bis zum letzten Entscheidnngskampf. Als die Mehrzahl der sächsischen Edelinge sich auf dem Reichstag zu Paderborn dem siegreichen Kaiser Karl unterwarf, blieb der tapfere Westfalenhäuptling Widukind von Engern allein fest im Widerstande. Seinem Beispiel folgend, erhob sich aber das ganze Sachsenvolk. Acht Jahre lang, bis zu seiner Taufe in Attigny, wußte Wittekind dem Frankenheere zu trotzen. Doch nachdem er sich der Macht des Christengottes gebeugt hatte, war und blieb er ein treuer Vasall Kaiser Karls, der ihn zum Herzog der Sachsen erhob. Seine Residenz hatte er in Enger, wo die Stammburg seines Geschlechts stand. Dort ruhen auch seine Gebeine, in der über der Grabstätte erbauten alten Stiftskirche. Im Jahre 1414, als Enger zu veröden drohte, wurden die Gebeine nach der benachbarten Reichsstadt Herford übergeführt, wo sie verblieben, bis sie im Jahre 1822 der neue Landesherr, König Friedrich Wilhelm III von Preußen, zurückschaffen ließ. Seit kurzem erinnert in Herford ein schönes Denkmal an Wittekind, das ihn in lebensvollster Verkörperung zeigt. Der Sage nach bestimmte den tapferen Sachsenführer bei seinem Entschluß, sich taufen zu lassen, das plötzliche Aufspringen einer Quelle unter den Hufen seines Rosses, während er in Zweifeln dahinritt. Der Bildhauer Wefing in Berlin, ein Herforder Kind, hat diesen Vorgang gestaltet. Er entnahm ihm zugleich das Motiv, dem Denkmal den Charakter eines Brunnens zu geben. Am 28. Juni war die feierliche Einweihung dieses Wittekind-Brunnens; er hat seinen Platz in den Anlagen des Wilhelmsplatzes gefunden. Am Tag der Feier wurde von Herforder Bürgern ein wirkungsvolles Festspiel von Hedwig Müffelmann aufgeführt, das unter dem Titel „Sonnenwende“ Wittekinds Heldentum feiert.

Straßenkampf in Leipzig am 19. Oktober 1813. (Zu dem Bilde S. 648 und 649.) Die Würfel waren gefallen. Nach mehrtägigem heißen Streiten war am 18. Oktober 1813 bei Leipzig die entscheidende Völkerschlacht geschlagen worden. Die verbündeten Heere der Preußen, Oesterreichs, Russen und Schweden hatten über die Franzosen jenen weltgeschichtlich so bedeutenden Sieg davongetragen, der Europa von der französischen Herrschaft befreite und den Grund zu Deutschlands Einigkeit und Größe legte. Aber der Morgen des 19. Oktobers sollte neue blutige Arbeit bringen. Napoleon hatte wohl den Rückzug seiner Armee angeordnet, zur Deckung derselben aber in Leipzig einen Teil der Truppen zurückgelassen mit der Aufgabe, die Sieger aufzuhalten und so an der Verfolgung seines in westlicher Richtung über Lindenau nach Thüringen zurückweichenden Heeres zu verhindern. Aus allen anderen Himmelsrichtungen wurde die Stadt von den Verbündeten hart bedrängt. Die Franzosen leisteten heftigen Widerstand, und nur langsam und unter stetigem Ringen konnten die Verbündeten in die Vorstädte eindringen. Besonders heiß entbrannte der Kampf um das äußere Grimmaische Thor, das fest verrammelt, mit eisernen Widerhaken geschützt und mit Schießluken versehen war. Aber endlich gelang es doch, das Thor zu erstürmen. Früher ward diese That der Königsberger Landwehr unter Major Friccius’ Führung zugeschrieben, dem an dieser Stelle auch ein Denkmal errichtet ist, heute weiß man, daß Major Otto Freiherr von Mirbach mit den pommerschen Füsilieren der Erstürmer war. Aber der Kampf war mit der Erstürmung des Thores noch nicht beendet, sondern setzte sich in den angrenzenden Straßen mit wachsender Erbitterung fort, von Freund und Feind noch viele Menschenleben fordernd.

Unser Holzschnitt, die Nachbildung eines Gemäldes des besonders durch seine Darstellungen aus der Zeit der Freiheitskriege rühmlichst bekannten Malers Professor Robert Haug, das sich im Museum der bildenden Künste zu Leipzig befindet, stellt den Straßenkampf dar, der sich unmittelbar an die Erstürmung des äußeren Grimmaischen Thores anschloß. Der Schauplatz ist der hinter dem Thore gelegene Grimmaische Steinweg, welcher zu einem freien Platz, dem heutigen Augustusplatz, dicht vor der inneren Stadt führt. Ein Morgensonnenstrahl dringt durch den Oktobernebel und Pulverdampf und beleuchtet die links sich hinziehende Häuserreihe. Die Franzosen haben auf dem von tagelangem Regen durchweichten schwer befahrbaren Wege Kanonen aufgefahren und richten auch aus den Häusern Gewehrfeuer auf die siegreich vorwärts stürmenden Preußen. Diese gehören verschiedenen Waffengattungen an, haben sich hier aber zu gemeinsamer That vereint. Jedes Haus ist vom Feind zu einer Feste umgestaltet und muß einzeln genommen werden. Weiter hinten im Mittelpunkt des Bildes hat sich ein Trupp Franzosen zum Schutz einer Kanone aufgestellt. Aber dem Ruf der Trompete folgt eine von Begeisterung erfüllte, todesmutige Kriegerschar und dieser werden sie trotz verzweifelter Gegenwehr doch weichen müssen. Geschütz um Geschütz wird in die Hände der Sieger fallen, Haus um Haus erobert werden, bis die gänzliche Einnahme der Stadt vollzogen ist. – Im Hintergrunde erkennt man das innere Grimmaische Thor und Dächer und Giebel der schwer geprüften Lindenstadt, über die sich der Turm der Nikolaikirche – ein stummer Zeuge all des Kriegsgreuels ringsum – zum Himmel emporhebt.

Vor der Gärtnerei in Rheinsberg. (Zu dem Bilde S. 657.) Das Schloß zu Rheinsberg, als der Aufenthaltsort des jungen Kronprinzen Friedrich, der hier nach der Einweihung des jahrelang dauernden Umbaues, 1736 bis zu seiner Thronbesteigung 1740, wohnte, ist einer [676] der ruhmreichsten fürstlichen Landsitze, weil sich hier in einer den Musen und Grazien gewidmeten Idylle das Genie eines großen Herrschers glänzend entfaltete. Gegenüber dem trockenen Ton, der in Berlin am Hofe des schlichten, barschen Soldatenkönigs herrschte, war hier den Künsten und Wissenschaften ein Asyl bereitet: der junge Prinz studierte die großen Schriftsteller und Dichter des Altertums und der Franzosen, stand in lebhaftem brieflichen Verkehr mit manchen der hervorragenden Geister, welche dem Jahrhundert seine Bedeutung gaben, griff selbst zur Feder, um einen Macchiavelli zu widerlegen, und bereitete sich in aller Stille auf seinen hohen Beruf vor. Ein geistvoller Kreis gleichgesinnter Freunde, wie Jordan, Kayserling, Bielefeld, umgab ihn, und in diesen Kranz waren auch einige Blumen weiblicher Schönheit geflochten, Edelfrauen und Edelfräulein aus dem Preußenlande. Bisweilen wurden wohl Gelage gefeiert, bei denen es wild genug herging und es auch an Trunkenheitsscenen nicht fehlte, doch im ganzen bewährte sich auch hier der Dichterspruch: „Trinken wir, sind wir begeistert!“ Ueberschäumender Geist, nicht die Roheit sinnlichen Genusses war die Losung. Friedrich selbst liebte die Musik; mit seinem Kapellmeister Graun gab er häufige Konzerte im Schloß: er war ein vortrefflicher Flötenspieler und zeichnete sich besonders durch das Rührende und Edle im Vortrag der Adagios aus; er selbst erklärte, daß beim Flötenspielen ihm die besten Gedanken kämen. Für einen künftigen berühmten Kriegsmann mußte es auffällig erscheinen, daß er das sanfteste Instrument bevorzugte; für seine stillen Neigungen sprach aber noch mehr seine Vorliebe für den Gartenbau, für Obst- und Blumenzucht; er selbst hatte die berühmten Gärten von Rheinsberg, die schönen Treibhäuser angelegt und schrieb darüber im November 1736 an seinen Vater: „Anjetzo bin ich beschäftigt, mit dem Flantzen der Bäume fertig zu werden, derweil wir anjetzo noch schöne Tage haben.“ Die Pflege des Gartens, die Früchte, die er zog, dienten ihm besonders dazu, die guten Beziehungen zu seinem gestrengen Vater, die sich nach dem heftigen Konflikt der ersten Jugendzeit wieder eingestellt hatten, aufrechtzuerhalten: er schickte pünktlich Spargel und Blumenkohl, Kirschen, Erdbeeren, Melonen und Weintrauben an seinen Vater nach Berlin. Er selbst liebte das Obst sehr, und noch in späterer Zeit standen in allen Zimmern des Schlosses von Sanssouci Teller mit Früchten und er langte beim Auf- und Abgehen bald hier, bald dort zu. Unser Bild zeigt uns den jungen Kronprinzen vor der Gärtnerei in Rheinsberg; der Gärtner macht ihn auf eine neugezogene Pflanze aufmerksam. Der Prinz betrachtet sie mit lebhafter Teilnahme, indem er aus seiner Schnupftabaksdose eine Prise nimmt, eine Gewohnheit, welcher er bis in sein hohes Alter treu geblieben ist. †      

Die „Hansa“-Bowle. (Mit Abbildung.) Am 16. August hat der neuerbaute Kreuzer „Hansa“ im Kieler Hafen seine erste Ausreise nach Ostasien angetreten. Die Taufe des Schiffes hatte der Präsident des Senats der alten Hansestadt Hamburg vollziehen dürfen. Der Hamburger Senat faßte in seiner Freude darüber den Beschluß, der „Hansa“ für die Messe ihrer Offiziere eine prächtige Bowle zu stiften, und das kostbare silberne Gefäß ist noch vor der Abreise feierlich dem Kommandanten des Schiffes, Fregattenkapitän Pohl, überreicht worden. Dasselbe ist von Alexander Schönauer in Hamburg nach dem eigenen Entwurf ausgeführt worden. Der Bestimmung der Bowle, auf einem Schiffe in Gebrauch zu kommen, entspricht die gedrungene, massige Form und der breite, gewichtige Fuß. Der kleine Fries über demselben hat Fische, Sternkorallen und Algen zu Ornamenten. Der große Reif der leicht gebuckelten Schale, auf welchem der Deckel sitzt, trägt ein Relief mit Festons von Ananas, Weintrauben und anderen Früchten. In der Mitte schmückt den Reif auf der einen Seite das große hamburgische Staatswappen, auf der anderen eine Tafel mit der Widmung: „S. M. S. Hansa der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg 1899.“ Der Deckel der Bowle hat an den gleichen Seiten das Hanseatenkreuz in Email als besonderen Zierat. Gekrönt wird der Deckel durch die Nachbildung eines der alten Orlogschiffe Hamburgs.

Die vom Hamburger Senat dem Kreuzer „Hansa“
gestiftete Bowle.

Nach einer Aufnahme von Franz Rompel in Hamburg-Barmbeck.

Audifax und Hadumoth. (Zu dem Bilde S. 661.) Wie ein Märchen, das in alten Zeiten in der Seele des Volks entstand und dann weiterlebte in der Rede des Volkes, gleich den von den Brüdern Grimm gesammelten, berühren in Scheffels „Ekkehard“ die Kapitel von den beiden Hirtenkindern Audifax und Hadumoth. „In jener Zeit lebte auf dem Hohentwiel ein Knabe, der hieß Audifax. Er war eigener Leute Kind, Vater und Mutter waren ihm weggestorben, da war er wild aufgewachsen, und die Leute hatten sein nicht viel Acht, er gehörte zur Burg wie die Hauswurz, die auf dem Dach wächst, und der Epheu, der sich um die Mauern schlingt. Man hatte ihm die Ziegen zu hüten angewiesen. Die trieb er auch getreulich hinaus und herein, und war schweigsam und scheu. Er hatte ein blaß Gesicht, und kurz geschnitten blondes Haupthaar, denn nur der Freigeborne durfte sich mit wallenden Locken schmücken.“ … „Damals hütete, was an Gänsen und Enten zum Hofe der Burg gehörte, ein Mägdlein, deß Name war Hadumoth, die war einer alten Magd Tochter und hatte ihren Vater nie gesehen. Es war Hadumoth ein braves Kind, rothwangig und blauäugig. … Ihre Gänse hielt sie in Zucht und guter Ordnung … Oft weideten sie vermischt mit den Ziegen des Audifax, denn Hadumoth hatte den kurzgeschorenen Ziegenhirten nicht ungern und saß oft bei ihm und schaute mit ihm in die blaue Luft hinaus – und die Tiere merkten, wie ihre Hüter zusammenstanden, da hielten auch sie Freundschaft mit einand. Jetzt trieb Hadumoth ihre Gänse auf die Berghalde herunter, und da sie der Ziegen Glöcklein drüben läuten hörte, sah sie sich nach dem Hirten um. Und sie erschaute ihn, wie er weinte, und ging hinüber, setzte sich zu ihm und sprach: Audifax, warum weinst du?“

So macht uns der Dichter mit den beiden wild aufgewachsenen Kindern des Hegaus bekannt, deren junges Lieben und Schwärmen, deren Leiden und Freuden so eng mit dem rauhen blutigen Kampf der Burgmannen des Twiel und der Klosterbrüder von Sankt Gallen und Reichenau gegen die wilden Hunnen verflochten sind. Schatzgräbersagen erfüllen den Sinn des träumerischen Hirtenknaben. Er hat im Felde eine alte römische Münze gefunden, rund, aber gewölbt wie eine Schale, mit etlichen unverständlichen Zeichen darauf, aus wirklichem Gold. Ihm verlangt nach dem Zauberspruch, der ihm den Schatz offenbaren muß, zu welchem die Münze gehört. Diese Sehnsucht verursacht die Thränen, welche Hadumoths Mitleid erregen. Mit dieser Sehnsucht im Herzen gerät er in die Gefangenschaft der Hunnen, um hier wirklich einen Goldschatz zu finden. Aber mehr wert als das Gold, das er findet und das er mit Hadumoth aus dem Lager der Hunnen entführt, ist der Schatz, den er gleichzeitig damit gewinnt. Der Traum seiner Jugend geht in Erfüllung, er wird von der Herzogin Hadwig der Leibeigenschaft enthoben, und als ein Freier kann er um seine treue Hadumoth werben.

Das erste Telegramm in Deutschland. Am 22. November 1794 wurde in Deutschland die erste telegraphische Depesche befördert, und zwar selbstverständlich mit dem optischen Telegraphen. Es geschah dies bei Gelegenheit des Geburtstages des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, und es wurde das nachstehende Gedicht durch den Mechanikus Böckmann auf die Entfernung von 11/2 Stunden nach Karlsruhe signalisiert:

„Groß ist das Fest und schön! Triumph, der Gute lebt,
Um dessen Fürstentum der Vorsicht Auge schwebt,
Heil ihm, so tönt es fern und nah;
O Fürst, sieh hier, was Deutschland noch nicht sah,
Wie Dir der Telegraph heut’ Segenswünsche schicket!“

Schwarzwälderin. (Zu unserer Kunstbeilage.) Eines der lieblichsten Thäler des Schwarzwaldes ist das mit allen Naturreizen reich ausgestattete Schapbacherthal, dessen besuchtesten Teil das Dorf Schapbach und das weiter oben idyllisch gelegene Bad Rippoldsau bilden. Natur und Kunst haben sich vereinigt, um aus diesem Fleck Erde ein Paradies zu schaffen – einen Gottesgarten, wo ein urwüchsiger, kräftiger und arbeitssamer Menschenschlag eines glücklichen und zufriedenen Daseins sich erfreut.

Altdeutsche Sitte und Bräuche sind hier noch allgemein vorherrschend, auch wird noch vielfach die alte malerisch schöne Landestracht getragen. Rot sind fast durchweg die kurzen Röcke der schmucken Töchter des Schapbacherthales. Aber auch himmelblau und smaragdgrün zählt zu den Lieblingsfarben. Als Kopfschmuck tragen die Frauen an Sonn- und Feiertagen, sowie bei festlichen oder außerordentlichen Veranlassungen schwarze Hauben – sogenannte Kappen, wie sie der Maler des Frauenkopfes auf unserer Kunstbeilage dargestellt hat. Der Deckel dieser Kappen ist meist von teurem golddurchwirkten Stoff und der Vorderrand weist vielfach einen feinen schwarzen Spitzenbesatz (Halbschleier) auf. An Trauerkappen ist der Deckel schwarz. Ein kurzes oben offenes dunkles Mieder trägt unten an einem fingerdicken Gurt den Rock. Die bauschigen Hemdärmel schließen mit einem engen Spitzensaum. Ueber das seidene Busentuch legt sich ein breiter weißer Spitzenkragen. Schulter und Brust sind mit roten Schleifen und die Verschnürung durch hübsche Bänder verziert. An den Sonntagen, sowie im Winter kommt dazu ein schwarzer Spenzer und auf den hellfarbigen Rock eine blaue oder grüne, gestreifte Schürze (Fürtuch genannt) mit breitem Schurzbande, dazu blaue, rotgezwickelte Strümpfe und Laschenschuhe. Junge Mädchen tragen das „Tschäppl“, eine niedliche Krone von Perlen und Glaskrystallen, welche durch zwei rote Bänder und eine Nadel auf dem Kopfe befestigt ist. Die Enden der langen, frei über den Rücken herabhängenden Zöpfe sind mit gelben Schlüpfchen geziert, während die breiten roten Tschäpplbänder fast bis zum Boden herabreichen. J. J. Hoffmann.     


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.

Schranktasche. Ordnung ist eine schöne Sache, aber man muß es dem Menschen erleichtern, sie zu halten. Für Damen, welche viel ausgehen, ist es deshalb recht praktisch, wenn inwendig an der Thür des Schrankes, wo Hut und Umhang zu finden sind, eine sogenannte Schranktasche hängt, bestimmt zur Aufnahme der zahlreichen Kleinigkeiten, als zum Beispiel Handschuhe, Visitkartentäschchen, Taschentuch, Krawatte etc. Die Tasche mißt 45 cm zu 39 cm, besteht aus Kretonne- oder Piquéstoff und wird durch eine am oberen Rande des rückwärtigen Blattes angenähte Klappe zum Ueberknöpfen geschlossen. Um noch mehr Raum zu bieten, ist ein Stück Stoff von 45 cm Länge und 15 cm Breite an den Seiten und der unteren Naht angeheftet, so daß eine Tasche auf der Tasche entsteht. Diese Obertasche sowohl als die Klappe sind mit aufgenähtem Schnürchen verziert. R.     

Schranktasche.

Nadelkissen.

Nadelkissen. Eine ganz besonders nette Form von Nadelkissen bildet eine Matratze in Miniatur, aus irgend einem fein gestreiften oder gemusterten Seidenstoff genäht und mit Kleie gestopft. Das Original zu unserer Abbildung war aus goldgemustertem weißen Brokat, Goldschnüre um die Ränder mit je drei Schlingen an den Ecken, fünfmal abgenäht und goldene Knöpfchen in die Vertiefungen gesetzt. Mit schwarzen und weißen Stecknadeln waren um diese Knöpfe her zierliche Sternornamente hergestellt, an den schmalen Seitenwänden steckten längere Nadeln für Shawl und Hut, das Ganze sah allerliebst und praktisch aus, und maß etwa 20 cm in der Länge auf 10 cm Breite, 3 bis 4 cm hoch. Die Teile sind einzeln geschnitten und überwendlich zusammengenäht, die Kleie muß das Kissen gut und fest füllen, ehe man es abnäht, und die ganze Arbeit recht pünktlich ausgeführt sein.


Für die Kinder- und die Krankenstube.

Ein neues Schaukelpferd. Ein allerliebstes Kindergerät, ein Schaukelpferd, das in Holland schon die kleinsten Weltbürger reiten, verdiente auch anderwärts in Aufnahme zu kommen. Der Transport von Holland ins Ausland ist teuer, aber die Herstellung so einfach, daß es ein einigermaßen geschickter Tischler nach genauer Angabe leicht ausführen kann. Die Hauptsache daran ist ein Kinderstühlchen mit runder Lehne, wie sie bei uns überall in Gebrauch sind, nur ist die Lehne vorn zu einem Ring geschlossen, so daß das Kind nicht herausfallen kann. Der Sitz ist in der Mitte nach vorn verlängert, und daran schließt sich Kopf und Bug eines Pferdes, mit zwei kurzen Quergriffen unterhalb der Ohren, zum Festhalten. Das Pferd ist nicht geschnitzt, nur flach aus einem dicken Brett gesägt, die Kanten etwas abgerundet, die Ohren kurz und nicht zu spitz gehalten. Das Stühlchen steht auf denselben zwei gebogenen Hölzern mit Querleisten wie unser Schaukelpferd. Je nach dem Geschmack des Reiters bildet man mittels Oelfarbe das Tier als Rappen oder Schimmel aus, giebt ihm eine schöne Mähne und gemaltes Zaumzeug, das in wirkliche Lederriemen übergehen kann. Das übrige Gestell wird hochrot oder blau angestrichen. Das Tier ist so fromm, daß es sich auch von jungen Damen ohne Gefahr reiten läßt.

Ein neues Schaukelpferd.

Spielgitter für Kinder unter zwei Jahren.

Spielgitter für Kinder unter zwei Jahren. Für die zahlreichen Familien, denen es schwer fällt, beständig eine erwachsene Person zur Bewachung des jüngsten Kindes anzustellen, bietet obengezeichnetes Gitter eine große Erleichterung. Es besteht aus vier Teilen, vier wagerechten Messingstangen von je 150 cm Länge, deren jede auf zwei senkrechten, 88 cm hohen, mit festen Füßchen versehenen Messingstangen ruht. Zwischen den Stangen ist ein Netz von dicker Seidenkordel oder Bindfaden gestrickt, so dauerhaft als möglich und straff gespannt. Die vier Teile, durch Messingklammern aneinander befestigt, ergeben einen umzäunten Spielplatz, den das kleine Menschenwesen nicht überschreiten, und der für dasselbe überall in Zimmer, Vorsaal und Garten aufgestellt werden kann, um des Abends wieder auseinandergehakt und flach an die Wand gelehnt zu werden. H. R.     

Der verstellbare Betttisch ist eine große Wohlthat für kranke Kinder. Sämtliche Verstellungen lassen sich leicht mit einer Hand in jeder Höhen- und Schräglage ermöglichen. Dabei greift die vollkommen fest ruhende Platte so weit in das Bett über, daß ein breiter Raum zum Spielen, Bauen und Malen dem Kinde zur Verfügung steht. Wer schon einmal das Spielen im Bette auf stets abwärts rutschenden Brettern und Pappendeckeln zu bewachen hatte, wird diesen Tisch, der übrigens auch für Erwachsene als Lese- und Schreibeplatte dient, zu den erwünschten Verbesserungen zählen.

Der verstellbare Betttisch für kranke Kinder.

Einnehmelöffel für Kranke. Für Kranke, die sich von ihrem Lager nur mit Mühe und Schmerzen oder gar nicht erheben können, empfiehlt sich der obenstehend abgebildete Patent-Einnehmelöffel „Bequem“. Derselbe besteht aus Glas und ist in Form einer großen Tabakspfeife gearbeitet. Der Kranke nimmt den Rohransatz in den Mund und kann liegend trinken, ohne daß die Medizin oder Suppe, die man ihm in dem Löffel reicht, vergossen werden. Dem Löffel wird eine kleine Reinigungsbürste beigegeben.

Einnehmelöffel für Kranke.

Krankentischchen.

Krankentischchen. Eine gute Form von Krankentischen hat sich in Davos, bei den vielen zum Stillliegen Verurteilten, herausgebildet; es ist ein kleiner vierbeiniger Tisch aus leichtem Holz, etwa 55 cm lang und 35 cm breit, an der Vorderseite mit einem flachen Ausschnitt versehen. Die Beine sind ungefähr 30 bis 35 cm hoch, je nach dem Umfang des Patienten. Auf diese vier Beine über den Körper des Kranken gestellt, dient er als Eßtisch; will man ihn auch als Lese- und Schreibpult benutzen, so erhält er an der Rückseite noch zwei längere Stützen, vermittelst deren man die Platte in eine beliebig schräge Lage bringen kann. Die Stützen sind entweder durch Scharniere unterhalb der Platte oder durch Schrauben an den Seitenkanten befestigt. Soll das Tischchen nur als Pult dienen, so genügen die Vorderbeine und die Stützen. Es empfiehlt sich dann das Anbringen einer schmalen Leiste am vorderen Rande – der Ausschnitt fällt dann weg – und eines von vier Leisten umgrenzten kleinen Vierecks für das Tintenfaß an der rechten oberen Ecke.

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Allerlei Kurzweil.


Bilderrätsel.0 Von Erhard Lipka.

Dominopatience.

Aus den 28 Steinen eines gewöhnlichen Dominospiels ist nebenstehende Figur zu bilden, so daß die Summe der Augen in jeder wagerechten und senkrechten Reihe, sowie in jeder Eckenlinie 2l beträgt. Die Felder ohne Augen und die mit 4 Augen sind in der Zeichnung angegeben. Bei den übrigen Feldern sind die mit gleicher Augenzahl durch gleiche Schraffierung angedeutet.
A. Stabenow. 

Scherzrätsel.

Vom Namen einer Stadt
Laß Kopf und Fuß verschwinden;
Was dann noch übrig bleibt,
O, das ist leicht zu finden.  E.S.


Auflösung der Skataufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 19.
  Kartenverteilung: Skat: eD., gD.
  Vorhand: gW., sW., eZ., eK., eO., e7, g8, rO., r7, sZ. = 34.
  Mittelhand: eW., rW., e8, gZ., gK., gO., g7, rZ., s0., s7 = 34.

 Verlauf des Spiels:
I. Wenn Vorhand a) eD. tourniert und rO., sZ. (+13) drückt:
     1. sW., rW., e9. (– 4)
     2. s7, sD., eD. (+ 22)
     3. gW., e8, g9. (+ 2)
     4. e7, eW., rD. (– 13)
     5. rZ., rK., r7. (– 14)
     6. sO., sK., g8. (– 7)
 Spieler gewinnt;

oder b) gD. tourniert und eD., sZ. (+ 21) drückt:
     1. g8, gZ., g9 (– 10)
     2. e8, e9, eZ. (+ 10)
     3. eK., gK., rD. (– 19)
     4. rZ., rK., r7. (– 14)
     5. s7, s9! e7. (0)
     6. r9, rO., sO. (+ 6)
     7. eO., gO., sD. (– 17)
     8. g7, s8, gD. (+ 11)
 Spieler verliert.

II. Wenn Mittelhand a) eD. tourniert und gZ., rZ. (+20) drückt:
     1. eO.! e8, e9. (– 3)
     2. e7, rW., g9. (+ 2)
     3. gD., s8, g8. (+ 11)
     4. gK., r8, eZ. (– 14)
     5. sW.! eW., s9. (+ 4)
     6. s7, sD., sZ. (– 21)
     7. r9. rO., eD. (+ 14)
 Spieler verliert,

und b) gD. tourniert und rZ., sO. (+ 13) drückt:
     1. eO., eD., e9. (+ 14)
     2. g7, g9, sW. (-2)
     3. eZ., e8, rD. (– 21)
     4. eK., s7, sD. (– 15)
     5. sZ., gK., s8. (+ 14)
     6. eW., r8, g8. (+ 2)
     7. rW., sK., gW. (– 8)
 Spieler gewinnt.

III. Hinterhand dagegen gewinnt, mag sie nun eD. oder gD. tournieren, nur muß sie das Trumpfdaus und am besten noch rK. oder sK. (+ 15) mit drücken; z.B.:
     1. e7! eW., e9. (– 2)
     2. e8. s8. eZ. (– 10)
     3. g8, g7, gD. (+ 11)
     4. rD., r7, rZ. (+ 21)
     5. sD., sZ., s7. (+ 21)
 Spieler gewinnt.


Wechselrätsel.

Mit e hat es die Frucht und das Ei,
Aus Glas auch geht’s zuweilen entzwei.
Mit k ist es manch niedliches Kind,
Das gerne lustige Streiche ersinnt.
Mit l es laut und plötzlich entsteht,
Doch ebenso rasch es wieder vergeht.
 F. Müller-Saalfeld.


Charade.

Die Erst’ ist eine Zweite, die vieles uns beschert,
Die Zweite für die meisten von unschätzbarem Wert;
Die Dritt’ und Vierte deuten das Gegenteil von fest,
Die Erste uns das Ganze in Fülle sehen läßt.
 Th. Biedermann.


Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 20.

1. S f7 – d8       K d4 – e5:
2. D f3 – g3+      beliebig
3. S d8 – e6, D g5

A.
1. . . .   K d4 – c5
2. D f3 – a3+      beliebig
3. S d8 – c6, D e3, d6 ≠.

B.
1. . . .   c4 – c3
3. D f3 – e4+      K d4 – c5
3. S f6 – d7 ≠.

C.
1. . . .   beliebig
2. S d8 – c6+      K d4 – c5
3. S f6 – d7 ≠.


Auflösung des Sternscheibenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 20.
Man beginne mit dem S der inneren Scheibe, lese dann das darüber stehende C und, nach rechts gehend, die Buchstaben der längsten Strahlen, hierauf jene der kürzeren, dann die weißen, hierauf die schwarzen und schließlich die Buchstaben des inneren schwarzen Randes. Man erhält:

Scharfes Auge, ruhig Blut
Sind zu allen Zeiten gut.“


Auflösung des Scherzrätseldistichon auf dem Umschlag von Halbheft 20.
Der Mast, die Mast.


Auflösung des Buchstabenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 20.
Augenlid, Ungnade, Galgen, Elend, Rain, Leu, In, D.


Auflösung des Homonyms auf dem Umschlag von Halbheft 20. 0 Klinge.




[ Verlagswerbung für „Gartenlaube-Kalender 1900“,
Werbung für das Technikum Altenburg und Produktwerbung für „Sapolio“
Zur Zeit hier nicht dargestellt. ]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. In des Verfassers Romanen „Heinrich von Planen“ und „Tileman vom Wege“ sind diese Begebenheiten umständlich geschildert.