Die Höllenstrafe der Frömmler
[135]
[136] Herr Leberecht Fromm hat mich, als Uebersetzer des Dante, ersucht, dieses früher besonders abgedruckte Bruchstück der Sammlung meiner neueren poetischen Versuche anzuschließen. Diesen Wunsch erfülle ich um so unbedenklicher, als ich bekennen muß, nicht nur die darin ausgesprochene Ansicht und Gesinnung zu theilen, sondern auch Einiges zur Berichtigung der Form beigetragen zu haben. Die früher angekündigte Absicht, einen zweiten Gesang nachzuliefern, hat Herr Fromm zunächst aufgegeben, weil er, wie er versichert, schon wegen dieses ersten mancherlei Anfechtungen erfahren hat, deren Urheber er jedoch, da die Frömmelei ihr Wesen sehr geschickt im Finstern zu treiben weiß, nicht mit Bestimmtheit hat ermitteln können. Sollte ihm dies noch gelingen, so wird er vielleicht, den zu befürchtenden neuen Anfechtungen zum Trotz, den italienischen Mönch noch zu einem zweiten Gesange zu vermögen wissen, wenn dieser Gesang nicht etwa, wie wir vermuthen, schon gedichtet seyn sollte.
[137]
Als ich im Spätsommer des Jahres 1829 Italien auf seinen Seitenwegen durchstreifte, um auch die minder bekannten Gegenden des schönen Landes kennen zu lernen, befand ich mich eines Nachmittags, als eben der Himmel mit einem Gewitter drohte, in der Nähe des *** Mönchsklosters bei ***[1]. Aus der Einsamkeit desselben schloß ich auf die Gastfreundschaft seiner Bewohner und fand meinen Schluß durch den Erfolg bestätigt. Obwohl ich, jede Falschheit im Verhältnisse zu Andern überhaupt, und in Religionssachen insbesondere, verabscheuend, auf Befragen mein Vaterland, meine Verhältnisse, und, ungefragt, die evangelische Konfession, zu welcher ich gehöre, angab, wurde ich doch von dem Prior auf das freundlichste empfangen und aufgefordert, nicht nur das
[138] nahende Gewitter in diesen sichern und friedlichen Mauern abzuwarten, sondern auch die Nacht dort zuzubringen. Eben erscholl die Vesper-Glocke und der Prior stellte mir frei, ihn zum gemeinsamen Gottesdienste zu begleiten, oder wenn ich, als Protestant, dies nicht angemessen finde, ihn und die Brüder im Versammlungs-Saale zu erwarten. Ich wählte das Erstere, und erhob bei Orgelton und Gesang, ungestört von den mir fremden Formen, meine Gedanken nach meiner Weise zu dem gemeinsamen Gotte.
Nach der kurzen Vesper ward ich in die Versammlung der Brüder geführt und mild mit Speise und Trank erquickt. Ich fand die Gesellschaft, wie man sie meist in und außer dem Kloster zu finden pflegt. Einige Wenige sprachen mich an durch höhere Bedeutung in Angesicht und Rede, die Meisten waren unbedeutend, nur sehr Wenige abstoßend und widrig. Wenn auch Alle dem fremden Gaste mehr oder weniger neugierige Aufmerksamkeit schenkten, so war doch das Gespräch bald auf einen sehr engen Kreis beschränkt und drehte sich um allerlei Gegenstände der Kunst, der Politik und des Lebens. Der Religions-Angelegenheiten wurde nicht gedacht. Die ganze Versammlung wurde durch die Bildung und die Würde des Priors, die mehr eine innere als äußere schien, in angemessenen Formen zusammen gehalten.
Da sich im Laufe des Gesprächs meine literarischen Neigungen kund gethan hatten, sprach der Prior: „Sie werden wahrscheinlich in unserer Bibliothek Manches finden, [139] was Ihnen neu und angenehm seyn wird. Wenn Sie überhaupt Lust haben, sich mit unsern alten Büchern und Manuscripten die Finger staubig zu machen, so wählen Sie, ob Sie dies heut, oder, dafern Sie noch ermüdet sind, morgen thun wollen. Unser Bibliothekar ist immer bereit, Sie zu führen.“
Ich wollte am Morgen zeitig wieder abreisen, und entschied mich deshalb, sofort von diesem Anerbieten Gebrauch zu machen. Der Pater Bibliothekar stand sogleich auf, um dem Befehle seines Obern Genüge zu leisten. Er war ein Mann von mittleren Jahren, wissenschaftlich gebildet, wohlwollend, gemäßigt und von feiner Sitte, und mir vorher schon als einer der[WS 1] Bedeutendsten unter der Gesellschaft erschienen.
„Es thut mir leid“, fing er unterwegs an, „daß der Gehorsam gegen meinen Obern mich gehindert hat, ihn zu bitten, er möge einen Andern, besser Unterrichteten Ihnen zum Begleiter bestimmen. Ich selbst bin erst seit wenigen Monaten im Kloster, aus Rom auf mein Bitten hieher versetzt, weil ich in größerer Einsamkeit zu leben und den bis jetzt wenig geordneten reichen Büchervorrath dieses Hauses zu meiner weitern Bildung zu benutzen wünschte. Aber noch habe ich mir nur eine sehr allgemeine Kenntniß von unsern Schätzen verschaffen können, und werde nicht im Stande seyn, Sie auf das Merkwürdigste in der Kürze aufmerksam zu machen. Sie werden daher mit einer sehr mangelhaften Führung fürlieb nehmen müssen.“
[140] „Bei solchen Besuchen,“ versetzte ich, „kommt es nicht allein auf die Kenntniß, sondern hauptsächlich auf den Sinn des Führers an. Und in dieser Beziehung kann ich mich der Wahl Ihres Priors und Ihres Gehorsams nur dankbar erfreuen.“
Er dankte mit einer stillschweigenden Verbeugung und wir traten in das weitläufige Bibliotheksgewölbe ein.
Die Bücher waren in großer Anzahl an den Wänden umher und auf Repositorien im Innern des Gewölbes aufgestellt, und eine Ueberschrift gab, oft sehr allgemein, die Wissenschaft an, zu welcher sie gehörten. Einen Katalog anzufertigen, hatte erst der jetzige Bibliothekar angefangen, war aber bis jetzt noch nicht über die Kirchenväter hinausgekommen. Schon waren wir im Begriffe, die Bibliothek, ohne besondere Ausbeute für mich, wieder zu verlassen, als mir in einer Ecke ein besonderer kleiner Schrank, mit der Ueberschrift: Dante Alighieri – in die Augen fiel. Ich erbat und erhielt die Erlaubniß, diesen näher zu untersuchen, und mein Führer nahm mit Interesse an meiner Untersuchung Theil. Außer einer bedeutenden Anzahl gedruckter Ausgaben der Werke des Dichters und seiner Ausleger, fanden wir mehrere Abschriften der göttlichen Komödie, in der frühesten Zeit nach Erscheinung derselben von Mönchen des Klosters gefertigt, in welcher vielleicht durch Schreibfehler und Verbesserungslust der Abschreiber ein Varianten-Sammler reiche Ausbeute hätte finden können. Abhandlungen und Exkurse [141] mancher Art fehlten auch nicht. Endlich ließ mein Führer, indem er eine Schicht dicker, bestaubter Hefte aus dem Schranke nahm, ein kleines, nur wenige Blätter enthaltendes Manuscript auf den Boden fallen. Ich hob es auf, und las die Worte:
Dieser Titel, auf etwas Neues hinweisend, lenkte mich und meinen Führer sogleich von allen andern Büchern und Heften ab. Wir setzten uns, schnell einverstanden, in eins der Fenster, welche durch die Tiefe der Mauer kleine Gemächer für sich bildeten, und lasen, neben einander sitzend, schweigend den sonderbaren Fund. Mehrere Male sah ich den Pater während des Lesens den Kopf schütteln, und hörte ihn einzelne Laute ausstoßen, von welchen mir zweifelhaft blieb, ob sie Verwunderung, Beifall oder Mißfallen ausdrückten. Endlich, als wir fertig waren, fragte ich zuerst: „Nun, was meinen Sie dazu?“
„Eine sonderbare Erscheinung ist es“, erwiederte er. „Das Papier, die Schrift, der alte Staub darauf, deuten auf Alterthum, und doch ist der Inhalt ganz modern. Der Verfasser hat sich in die Sinnesart des großen Dichters hinein zu denken, er hat die Sprache, die eigenthümliche Derbheit und Geradheit desselben bestens nachzuahmen gesucht. Aber doch ist zuvörderst Eins ganz gewiß, dies nämlich: daß der Gesang nicht von Dante ist.“
[142] Ich. Und Ihre Gründe?
Der Pater. Deren habe ich mehrere und sehr überzeugende. Ein Dichter, wie Dante, läßt sich von einem andern, besäße er auch das achtungswertheste Talent – was in Hinsicht des Verfassers dieses Gesangs dahingestellt bleiben mag – nie so nachahmen, daß man die Werke Beider verwechseln könnte. Die Verschiedenheit zwischen der Hölle und diesem Gesange spricht sich in jeder Zeile aus. Doch Sie sind ein Ausländer, und unsere Sprache spricht daher nicht mit jedem einzelnen Worte in seiner eigentlichsten Bedeutung, mit jeder besondern Wortstellung so unmittelbar Ihren Geist und Ihr Gemüth an, als die unsrigen. Sie können daher auch nicht diese Verschiedenheit bei der ersten flüchtigen Durchlesung, wie wir, herausfühlen, und deshalb will ich solche nicht als einen Beweis für meine Meinung in Anspruch nehmen. Aber wenn ich auf Sprache und Form, auf Tiefe der Gedanken und Plastik der Darstellung auch gar keine Rücksicht nehme, so beweist doch der Inhalt selbst unwidersprechlich, daß diese Gesänge nicht von Dante sind, ja, daß sie erst lange nach der Reformation geschrieben seyn müssen.
Ich. Dies möchte ich gern näher bewiesen sehen.
Der Pater. Der Beweis ist geführt, wenn ich Ihnen sage, daß es solche Frömmler, wie sie in diesen Gesängen geschildert sind, in der katholischen Kirche überhaupt nicht giebt; daß sie wenigstens als ganze Sekten [143] nicht vorhanden, und soviel mir bekannt ist, auch nie vorhanden gewesen sind. Es hat zwar zu allen Zeiten Leute gegeben, welche diesen oder jenen Satz unserer Lehre mit mehr oder weniger Fanatismus bestritten, ganz neue abweichende Theorieen aufgestellt und sich gegen die Alleinherrschaft in der Kirche aufgelehnt haben. Diese Leute nennen wir in unserer scholastischen Sprache, nicht in der gesellschaftlichen (diese Worte sprach er lächelnd und mit einem wohlwollend bedeutenden Blicke), Ketzer. Von solchen aber ist in diesem Gesange die Rede nicht; wenigstens würde der Verfasser dadurch, daß er jede bestimmte Bezeichnung ihrer Ketzerei unterlassen, einen großen Fehler begangen haben, wenn er von ihnen hätte sprechen wollen. Auch finden Sie in Dante’s Hölle bereits einen besondern Platz für die Ketzer. In diesen Gesängen ist von den Ultra-Frommen die Rede, welche mehr thun, als die Kirche verlangt und zulassen kann, ohne von ihrem Systeme abzuweichen. Diese Ultra-Frommen aber können, als Verketzerer Anderer und als Sekte, in der katholischen Kirche kaum gedacht werden.
Ich. Ich erwarte zu hören, wie Sie mich davon überzeugen wollen.
Der Pater. Nun, so hören Sie. Das Gebäude unsers Kirchensystems ist in allen seinen Theilen, mit allen einzelnen Sätzen, mit jeder Auslegung, die man den Stellen der heiligen Schrift geben soll, fertig und in sich abgeschlossen. Wo etwas abgeändert werden soll, darf kein Einzelner Hand anlegen, sondern der Papst mit seinem [144] heiligen Kollegio, äußersten Falls mit der allgemeinen Kirchen-Versammlung, muß die Aenderung beschließen und ausführen. Diese wird dann als Resultat fortgesetzter Offenbarung, als vom heiligen Geiste selbst genehmigt, ja geboten, betrachtet. Alles ist daher sicher und fest. Wer seinen eigenen Willen geltend macht, ist ein Ketzer und wird, wenn er sich auf dem Wege der Kirchen-Disciplin nicht bessern läßt, ausgestoßen. Sie sehen also, daß Einzelne, welche als Verketzerer der Doktrin Anderer auftreten und als solche Sekten bilden wollen, bei uns gar nicht aufkommen können. – Ueberhaupt aber giebt unsere Kirche zur Ultra-Frömmigkeit wenig Anlaß. Während die Bestimmtheit ihrer Lehrsätze den Zweifel verbannt, dringen die mannichfachen Gebräuche, Bilder und Symbole, zum Theil durch die Sinne, ins Gemüth ein, und füllen jede Leere desselben aus. Ueberall und für Jeden ist ein bestimmtes Anhalten. Der wärmste Gläubige findet Gelegenheit, seine Gluth auszuhauchen, ohne daß der Kühlere durch den Anspruch auf gleiche Gluth belästigt wird. Die evangelische Kirche dagegen hat alles Besondere, an welches nun einmal der Mensch sich hält, weggeschafft, und Alles verallgemeinert, dadurch aber eben die bestimmten Haltpunkte weggenommen. Indem sie, das monarchische Prinzip in Religionssachen zerstörend, nur einige wenige Hauptgrundsätze für unverletzlich erklärt, giebt sie im Uebrigen Jedem freien Raum, sich das System der Religion nach seinem Bedürfnisse zurecht zu legen. Daher die verschiedenen Ansichten Ihrer Theologen, daher das Ultra-Wesen nach beiden Seiten hin, mit den [145] wahrhaft skandalösen Auftritten, die es hervorbringt. Daher will der Eine lediglich die Vernunft an die Stelle des Glaubens setzen, während der Andere dieses göttliche Geschenk in der wichtigsten Angelegenheit unsers Seyns ganz weggeworfen wissen will, und, durchaus nicht unterscheidend, was im alten Testamente Glaubenssatz, und was historische Ueberlieferung und Zeugniß für die Bildungsstufe damaliger Zeit ist, noch jetzt, allen untrüglichen Vorausberechnungen der Astronomen zum Trotz, sich nicht überzeugen kann, daß die Erde wirklich um die Sonne laufe, weil ja einst Josua dem Laufe der Sonne Stillstand gebot. Auf diese Zwietracht setzte Rom von jeher seine Hoffnung – ein Hoffnung, welche die Ereignisse der neuesten Zeit wieder belebt haben – daß wohl auch die evangelische Kirche, der ewigen ärgerlichen Streitigkeiten müde, und die Nothwendigkeit des nur in der geistlichen Monarchie begründeten Friedens fühlend, sich dem allgemeinen katholischen Bunde wieder anschließen werde.
„Eine Hoffnung aber“, setzte ich schnell und mit gereizter Empfindlichkeit hinzu, „die auch in der Zukunft eben so wenig erfüllt werden wird, als sie in den vergangenen drei Jahrhunderten erfüllt worden ist. Sie vernehmen hier in der Ferne das Schreien der Parteien von den beiden Endpunkten her, aber Sie lernen den Sinn derer nicht kennen, welche theils an diesem Parteiwesen gar nicht Theil nehmen, und in ihrem Glauben ohne irgend eine Störung ihre vollkommene Beruhigung finden – und dieses ist die weit überwiegende Mehrheit – theils [146] aber, hoch über den Parteien stehend, das Treiben der einen und der andern für gleich verwerflich erklären. Könnten Sie in das Innere unserer Kirche mit eigenen Augen hineinblicken, so würden Sie sehen, daß höchst freisinnige, die Vernunft als göttliches Geschenk verehrende Gottesgelehrte das Treiben der bloßen Vernunfttheologen eben so mißbilligen, als würdige strenge Orthodoxen das der blinden Verketzerer verabscheuen. Sie würden sehen, mit welcher tiefen Verachtung diese heuchlerischen Ultra-Frommen von allen Gebildeten und Wohlgesinnten betrachtet werden. Aber eben die Reibung, welche durch dies Alles entsteht, ist es, welche die evangelische Kirche vorwärts bringt, während die katholische still steht. Und so lange ich glauben darf, daß es der Zweck Gottes sey, sein Menschengeschlecht vorwärts zu einem uns noch unbekannten Ziele der Vollkommenheit zu führen, werde ich auch glauben, daß der Gang unserer Kirche der angemessenere für den Pfad sey, welchen die Vorsehung uns vorgezeichnet hat. Ja, ich werde glauben, daß unsere Kirche die Ihrige, ohne daß beide es wollen oder nur wissen, durch unausbleibliche Wechselwirkung fördert. Wollen Sie den Gegensatz beider Systeme kurz und scharf ausgedrückt haben, so hören Sie ihn in den Worten eines unserer geistreichsten Gottesgelehrten, welche eben darum, weil sie kurz, scharf und klar sind, mein Gedächtniß wohl behalten hat. Er spricht: der Protestantismus macht das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig von seinem Verhältnisse zu Christo; der Katholizismus aber umgekehrt macht das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig [147] von seinem Verhältnisse zur Kirche. Hierin ist ausgesprochen, was es heißt, in seinem Gewissen von kirchlicher Alleinherrschaft abhängig und von ihr frei seyn. Freilich ist da, wo Freiheit ist, auch Mißbrauch möglich. Aber deshalb der Freiheit entsagen, hieße Gott schmähen, welcher uns die auch von der katholischen Kirche anerkannte Willensfreiheit, mit derselben aber auch die Fähigkeit verliehen hat, sie zu mißbrauchen. Und soll ich Nachtheile und Vortheile im Einzelnen vergleichen, welche beide Kirchen –
„Halt!“ rief der Pater, ernst den Finger erhebend, als er bemerkte, daß der Eifer mich zu immer steigender Lebhaftigkeit fortriß. Dann setzte er, nach kurzer Pause, mild und mit Wohlwollen hinzu:
„Sie vergessen, daß es nicht meine Absicht war, unsere Kirche auf Kosten der Ihrigen zu erheben, sondern nur Ihnen den von Ihnen verlangten Beweis zu geben, daß Ultra-Fromme, wie sie in diesem Manuscript auftreten, in der katholischen Kirche überhaupt nicht, am wenigsten aber als Sekte aufkommen können. Vielleicht bin ich in meiner Beweisführung weiter gegangen, als die Nothwendigkeit es erfordert hätte. Aber Sie werden mir verzeihen, wenn ich Ihnen sage: Jeder, der den menschgewordenen Christus im Herzen trägt, und durch Wahrheit, Demuth und Liebe offenbart, daß der Glaube an ihn und sein göttliches Wort ihn durchdrungen habe, ist mir als Bruder willkommen, mit welchem ich einst am Quelle des Lichts im Anschauen des Unergründlichen beseeligt [148] zu seyn hoffe, möge er nun zu meiner Konfession gehören oder zu einer andern; möge er nach redlichem Forschen sich diese und jene Stelle der Schrift so oder anders erklären. Jeder aber, welcher in Lüge, Hoffarth und Haß dahin wandelt, ist mir ein Gräuel, und um so heftiger wird mein Abscheu gegen ihn, je häufiger er den Namen Christi im Munde führt; denn um so sicherer ist er ein niederträchtiger Heuchler. Möge er, wenn er in solchem Wesen beharrt und sich nicht reumüthig zum wahren Christus bekehrt, der die Quelle und der Inbegriff der Wahrheit, Liebe und Demuth ist, von Fels zu Fels sich zerschmetternd, hinabgeschleudert werden zur Hölle seines Bewußtseyns, wie in diesem Gesange angegeben ist. Sind Sie einverstanden?“
Er reichte mir die offene Rechte dar, in die ich vom Herzen einschlug. Und ohne daß ich selbst wußte, wie? wurde der Händedruck zur Umarmung, in welcher wir gewiß beide von der Verschiedenheit unsers Glaubensbekenntnisses nichts fühlten.
Aber, fuhr ich nach einer Pause fort, wenn ich Ihnen auch Alles, was Sie zu beweisen unternommen, als erwiesen zugebe, so kann ich mich doch davon noch nicht überzeugen, daß dieser Gesang modern sey. Sehen Sie nur den dicken Staub, der hier noch an meinen Fingern und an der Ecke des äußern Blattes haftet, wo er von unsern Fingern nicht weggewischt worden ist – sehen Sie das gelbe Papier, die veralteten Schriftzüge. Deutet denn dies nicht Alles auf ein bedeutendes Alterthum hin?
[149] Lächelnd antwortete der Pater: Sind Sie denn wirklich so neu in unserer neuesten Zeit, um nicht zu wissen, welche Fortschritte man in der Kunst gemacht hat, dasjenige, was wirklich, genau betrachtet, auf etwas ganz Neues hinausläuft – denn das Alte ist doch nun einmal dahin und wird nicht wieder kommen – mit altem Staube zu bedecken, um dadurch das Zeitalter, welches eben im Begriff ist, nach langem Taumel wieder zur Besinnung zu kommen, aufs Neue ganz wirr und toll zu machen? Wissen Sie nicht, daß die Neuerungslust der Zeit sich auch darin zeigt, daß man im Einzelnen alte Formen vorsucht, unbekümmert darum, ob sie auch zu dem Ganzen der Zeit, das man nicht ändern kann, passen, und ohne zu fühlen, daß sie sich ausnehmen, wie der Helm des Ritters zu dem schwarzen Frack und den seidenen Strümpfen des modernen Elegants? Wenn man Ihnen künftig etwas, als zu irgend einer Zeit gehörig, aufschwatzen will, werden Sie immer wohl thun, näher zu untersuchen, ob es auch wirklich in seinem Zusammenhange mit den übrigen Dingen in dieser Zeit habe Wurzel schlagen können; denn ohne diese Wurzel kann ich überhaupt zu keiner Zeit ein Ding für wirklich existirend erkennen. Deshalb kann ich das äußere Alterthum dieses Gesangs nur für eine Mystifikation halten, die jedoch unschuldiger als manche andere ist, die man sich in diesen Tagen erlaubt. Wahrscheinlich sind sie nur einige Jahre alt. Einer unserer Brüder hat, ehe er im Kloster aufgenommen worden ist, Reisen durch England, Deutschland und die Schweiz gemacht, und höchst wahrscheinlich dort [150] die Urbilder zu den Frömmlern gefunden, welche uns in dem Gesange vorgeführt werden. Er besitzt eine große Vorliebe für Dante und einiges poetisches Talent. Einige alte gelbe Bogen sind leicht aufzufinden, die Tinte ist eben so leicht mit etwas brauner Farbe zu versehen. Alte Schrift zu mahlen, versteht er trefflich, und den nöthigen Staub anzubringen, hat ihm nicht schwer fallen können. Ich wette darauf, er ist der Verfasser und sehnt sich angelegentlich darnach, daß wir sein Werk auffinden mögen. Es ist der kurze, untersetzte Mann mit dem schwarzen Krauskopfe und der Warze unter dem linken Auge. Vielleicht verräth er sich, wenn wir von unserm Funde erzählen.
Wirklich benahm sich der Bezeichnete, als wir, zur Gesellschaft zurückgekommen, die Entdeckung mittheilten, mit merklicher Befangenheit, und wurde verlegen, als mir der Prior auf mein Ansuchen die Erlaubniß gab, den Gesang abzuschreiben. Doch minderte sich die Verlegenheit, bei der mir vorgeschriebenen Bedingung, ihn in der Ursprache nicht bekannt zu machen, weil das Kloster sich die Verfügung darüber vorbehalten müsse. Gegen die Veranstaltung einer Uebersetzung und deren Verbreitung durch den Druck fand man nichts zu erinnern.
Geschrieben im März 1830.
[151]
Gedankenvoll – da rief mein Führer: Halt!
Und mich ergriff ein ungewohnter Schauer.
Blies Wind, jetzt, wie geschmolznen Erzes Dämpfe,
Jetzt, wie der Hauch des Eisthals, schaurigkalt.
Du mußt hinab durch diesen finstern Schacht,
Zum Anschaun neuer härtrer Qualen-Kämpfe.
Die Frömmler sind es, die im Grunde hausen,
Die betend, singend, seufzend, Gott verlacht.
Hier deckt ein Felsendach die ganze Schlucht,
Verengt, verdunkelt sie zu tieferm Grausen.
Gerühmt, daß ihr Blick nur gen Himmel flöge,
Bedrängt hier nah der Kerkerdecke Wucht.
Als dort, wo sie verhüllt ihr Thun und Seyn,
Und dir ihr wahres, echtes Bild entzöge,
Kraft jener Kraft, die mir der Herr gegeben,
Die Jene lästern mit verrücktem Schrein.“
Womit er mir die Augenlieder strich,
Und meine Sehkraft fühlt’ ich neu beleben,
Dann sah ich ihn zur Felsenöffnung schreiten,
In die er einstieg und nach ihm auch ich.
Sprang Zack’ um Zack’ aus grauer Felsenwand,
Beim Klimmen uns die Stiegen zu bereiten.
Streckt’ ich den andern rechts zur andern nieder,
Und hielt mich oben fest mit Hand und Hand.
Als ob bei mir vorbei ein Körper fiel,
Von Fels zu Fels zerschmetternd alle Glieder.
„Du rühmtest deinen Weg den einzig wahren,
Sieh deinen wahren Weg itzt, sieh dein Ziel.“
Bald bis zur Tiefe hin, zu einem Thor,
Das zu dem Strafort führt’, hinabgefahren.
Dem Kreuzgang eines Klosters zu vergleichen,
Und kalt und heiß blies Windzug, wie zuvor.
Jung war gemischt und Alt in dieser Schaar,
[153] Frau’n mit den Männern, Arme mit den Reichen.
Das Schurzfell der, der den Soldaten-Koller,
Der schien ein Richter, Jener ein Notar.
Zu Pauli Himmel hin schien der verzückt,
Der ging mit Seufzen hin, als Kummervoller,
Der predigt’, und in seltsamen Geberden
War blinder, wüth’ger Eifer ausgedrückt,
Der wackelt’ unaufhörlich mit dem Mund –
So zogen sie daher in ganzen Heerden.
Noch Andre schien die Krümmung zu verhehlen,
Denn dieser Ort war, wie die andern, rund.
Noch seh’ ich wenig Quaal!“ – Und Er begann:
„Nein, die du siehst, sind Teufel, die sie quälen.
Mit Sprach’ und Art und Angesicht und Mienen,
Daß er sich, wie er war, erschauen kann.
Und fühlen sie dann, was sie wirklich sind,
So haben sie den Lohn, den sie verdienen.
Hier blasen mag, wie in getrennten Schichten,
Da Kalt und Heiß zum Lauen sonst zerrinnt?
[154] Der Frömmler Herz war dort ein Klumpen Eis,
Doch heiß zu scheinen war ihr ganzes Dichten.
Sich gegenseits nicht wärmend und nicht kühlend,
Und also sind sie noch in diesem Kreis.
Mit kurzem Blick, durcheis’t vom Herzen aus,
Und doch dazu rastlose Gluthen fühlend.
Auf sie, wie Blitz, und kann das Eis nicht schmelzen,
Und nimmer kühlt das Eis der Flamme Graus.“
So fragt’ ich bangend meinen Herrn, und sah
Dabei die Flammen sprühn aus grauem Felsen.
Du sollst sie von den Sündern selbst erhalten;
Merk’ auf den Teufel hier, den Schatten da.“
Zur Höhe sah er, wie in Glaubensbrunst,
Dabei die Hände demuthsvoll gefalten.
Du Ungeheu’r, mein Ich! die Augen drehtest
Du oben so! Buhlst du auch hier um Gunst?
Für deiner Seele Heil, indeß, erpicht
Auf Förderung, du Saat des Mammons sätest.
Bis zu der himmlischen Posaune Klange,
Wenn Schlimmeres dir droht beim Weltgericht!“
Der nackte Geist sah wild empor zu mir,
Und wand sich gleich der steingetroffnen Schlange.
Ein Mann, mit altem starkem Rost am Degen,
Auch schienen Helm und Panzer von Papier.
Den Mund zu wildem unverstandnem Wort,
Und heftig auf und ab den Leib bewegen.
„Der Name, den er schändend dort erhoben,
Erschallen darf er nie an diesem Ort.
Doch du verstehst die Rede hier so gut,
Als die verblüfften Hörer einst dort oben.“
„Willst du auch hier im Brüllen nicht ermatten?
Gnügt’s nicht, was dort dein Frevel auf mich lud?
In Sektenhaß? den Vater von dem Sohn?
Willst du noch herrschen über leere Schatten?
Den treusten Freund des Alls zu Aller Feinde?
Willst du auch hier noch mit der Hölle drohn?
Die dein Gebrüll mit dem, was sie geglaubt,
Mit ihrem Hirten und sich selbst verfeinde.
[156] Zum Selbstmord wirst du Keinen mehr entzünden;
Denn was man rauben konnt’, ist längst geraubt.“
Und sah aufs Neue, daß der Herr, gerecht,
Der Strafe Maaß abmesse nach den Sünden.
Stand dort mit Salbung und erlogner Würde,
Gerüstet, schien’s, zu geistlichem Gefecht.
Noch immer die geschornen Schäflein her?
Wie? drückt dich nicht bereits der Wolle Bürde,
Was willst du noch? Hier giebt es nicht Erweckte,
Auch Pfarrherrn zu verketzern giebt’s nicht mehr.
Wie dort, wo für verfälschtes Gnadenbrot
Der Gläub’gen echter Braten trefflich schmeckte.“
Zwei Frevler höhnen, gräßliches Gelächter,
Und gleiches scholl von unten aus dem Koth.
Ein Mann im Doktorhut, das Haar zerzaust,
Hochmüthig, keck, als aller Welt Verächter.
Die linke hielt das Tonwerkzeug umfangen,
Das vor dem Zug der Reiterschaaren braust.
Am Boden lag: „Jetzt ohne Höllenwitz
Verkünde klar und schlicht, was du begangen.
Des Herrschers her die Rede dir befohlen.“
Da zückt’ es durch den Sünder wie ein Blitz.
Durchs Dunkel her, doch langsam, nach und nach,
Schien er von Schreck und Wuth sich zu erholen,
Jedoch mit schmerzenvollen, dumpfen Worten,
Indem er oft sich stöhnend unterbrach:
Im heitern Licht, der heil’gen Wissenschaft,
Die euch erschließen soll des Himmels Pforten.
Und treuem Forschen nur das Werk betriebe,
Sey Ruhm und Vortheil karg und zweifelhaft.
Und rief zur Hülfe Stolz und Haß herbei,
Daß meinem Streben keine Schranke bliebe.
Und heil’ger Wahrheit ein Gebäu zusammen,
Und schwor, daß dies der einz’ge Leuchtthurm sey.
Und was ein Andrer anders sprach und that,
Warf mit Drommetenstoß ich in die Flammen,
Vom Teufel, rief ich, seyen sie verleitet,
Der mir persönlich stets entgegen trat.
Weil sie der Einsicht Grenze wohl gewahrt,
[158] Und also selbst zum Höchsten vorbereitet,
Die deshalb von des ew’gen Geistes Hauchen
Nur dem, was ewig lebt, zu Theile ward –
Ich nenne sie – das Gottgeschenk Vernunft
Verdammt’ ich streng, sammt Allen, die sie brauchen.
Ihr zu entsagen, erste Glaubens-Tugend,
Befördernd goldner Zeiten Wiederkunft.
Zur Kett’ in meinen Händen Glied und Glied
Mit großer Schlauheit aneinanderfugend.
Wenn ihre Glieder ganz ihm angehören,
Leicht ist wohl einzusehn, was dann geschieht.
Anhäkeln neue Glieder, klug und dumm,
Die Eintracht und die Ordnung boshaft stören,
Zur Höh sich wie Schmarozer-Pflanzen ranken,
Laut schreiend, wenn es gilt, dann wieder stumm;
Der Andern scharf mit unserm Salz durchlaugt
So lange, bis Vertraun und Liebe wanken,
Und klug verspritzt, weil unter unserm Zeichen
Zum vollen Siege jedes Mittel taugt.
[159] Dann brauchen wir zu Gottes Preis den Stahl,
Als Schwert und Dolch, zu grad’ und schiefen Streichen.
Zum Haus des Wassermanns die Sonne kehren,
Dann wird sich, was wir sind, in Englands Quaal
Und, macht’ Erfahrung je die Menschen klug,
Dies gnügt’, um alle Zeiten zu belehren.
Zu ihrem Schaden alle die umspinnen,
Die eigner Unverstand mit Blindheit schlug.“
[160]
V. 1. Es scheint, nach dem, was V. 13 u. f. bemerkt ist, die Absicht des Verfassers gewesen zu seyn, den zehn Abtheilungen des achten Kreises der Hölle, worin Dante die verschiedenen Arten des Betrugs ihre Strafe finden läßt, eine eilfte beizufügen. Indessen hat der Verf. nicht die Geschicklichkeit oder nicht den Willen gehabt, den Anfang so einzurichten, daß man den Gesang an eine bestimmte Stelle anschließen könnte. Nach der moralischen Konstruktion würde er sich am besten hinter dem neunzehnten Gesange einschieben lassen.
V. 11. Betrachten wir den Inhalt des vorliegenden Gesangs genauer, so dürfen wir dem Verf. nicht die Absicht beimessen, die redlichen Frommen irgend anzugreifen, selbst wenn ihre Frömmigkeit bis zur Schwärmerei gesteigert seyn sollte. Was er aber unter Frömmlern versteht, giebt er im Texte sehr deutlich zu erkennen. Er meint damit solche Personen, welche die christliche Frömmigkeit äußerlich zur Schau tragen, welche man aber für heuchelnde Betrüger halten muß, weil ihre Werke die Früchte nicht zeigen, die der echte christliche Glaube unfehlbar und aus innerer Nothwendigkeit hervorbringt – welche vielmehr von Wahrheit, Demuth und Liebe sich lossagen, und mit Hochmuth und Haß Andere verfolgen und verdammen – welche endlich, in sektenartigem Zusammenhange mit Gleichgesinnten und Verführten, die Eintracht in den Familien und Gemeinden und die Ordnung im Staate stören, um Zwecke zu verfolgen, die mit der Religion nichts gemein haben.
[161]
V. 13. Die Felsendämme, welche die verschiedenen Abtheilungen des achten Kreises einfassen, sind, wie wir im achtzehnten Gesange der Hölle lesen, durch Felsenzacken verbunden, welche über den Strafort als Brücken von dem einen zum andern Damme springen. Die Sünder in der Tiefe haben daher, wenn sie nicht eben unter dieser Brücken sind, kein anderes Dach über sich, als die Erd-Rinde, von welcher die ganze Höhlung bedeckt ist. Der Verf., indem er die ganze Abtheilung mit einem niedrigliegenden Felsendache besonders bedeckt, scheint durch diese enge Beschränkung hier die Anmaßung der erlogenen geistlichen Erhebung bestrafen zu wollen.
V. 22. Virgil, der Führer Dante’s durch Hölle und Fegefeuer, stellt, nach der Meinung der meisten Ausleger, die menschliche Vernunft dar. Allerdings muß diese unsere Blicke klären, wenn wir die Frömmler in ihrer wahren Gestalt erkennen und von den Frommen unterscheiden wollen.
V. 28. Die Vernunft macht nicht Anspruch darauf, uns das volle Licht zu geben, welches wir im Glauben nur von einem bessern Jenseits erwarten dürfen. Sie ist zufrieden, wenn sie uns statt der Nacht milde Dämmerung gewährt, in welcher wir mehr ahnen als schauen können.
V. 37. Ein Sünder wird eben an den Ort hinabgeschleudert, wo er seine Strafe empfangen soll, zu welchem nur dieser Schacht als Zugang führt. Wer die Hölle des Dante in der Meinung lies’t, daß es die Absicht des Dichters sey, diejenigen, die er uns dort vorführt, als ewiglich Verdammte darzustellen, wird nicht umhin können, diese Absicht als eine frevelhafte Anmaßung streng zu tadeln, da das Urtheil nur dem göttlichen Richter gebührt. Aber der Zweck des Dichters ist, wie jeder aufmerksame Leser leicht erkennen wird, nur der, uns in sinnvollen Bildern den Zustand der Sünder vor dem Tode zu zeigen. Wir können auch dem Verfasser dieses Gesangs keine andere Absicht beimessen. Wahrscheinlich bezeichnet er in dem Sturze des Sünders den Augenblick, wenn sein Betrug enthüllt ist und er hinabfällt [162] in die jammervolle Tiefe seines Bewußtseyns. Vergl. V. 73 u. ff.
V. 65. Für diejenigen, welchen das Bild der Hölle nicht gegenwärtig ist, wird bemerkt, daß alle Straforte Kreise bilden, welche um das Innere des Höllentrichters herumlaufen.
V. 107. Der Verf. scheint hier V. 106 u. ff. den 6ten Ges. der Hölle im Angedenken gehabt zu haben, wo es heißt, daß nach der Lehre des Aristoteles ein Wesen, je vollkommner es sey, auch um so mehr Schmerz empfinde, daß daher, da nach der Wiedervereinigung der Seele und des Leibes das Wesen der Verdammten vollständiger werde, auch ihr Schmerz sich vermehren müsse.
V. 120. Der Name Christi wird in Dante’s Hölle nie ausgesprochen.
V. 142. Wenn wir hier einen Priester durch die geschorene Glatze bezeichnet sehen, so scheint dies zur Widerlegung des Pater Bibliothekar zu gereichen, welcher behauptet, daß Erscheinungen dieser Art nur in der protestantischen Kirche vorkommen, da bekanntlich nur die katholischen Priester die Tonsur tragen. Vielleicht erinnerte sich aber der Verf. dieses Unterschiedes nicht, oder wußte keine andere Art, in der Kürze einen heuchlerischen Priester zu bezeichnen.
V. 160. Das Fernrohr und die Trompete werden V. 107 u. ff. näher erläutert. Daß die Trompete nicht genannt, sondern durch ihre Wirkung bezeichnet wird, erinnert an mehrere Stellen Dante’s.
V. 166. An mehreren Orten der Hölle beruft sich Virgil auf das vom Himmel her an ihn ergangene Gebot, den Dichter zu führen, und dämpft hierdurch den Widerstand der höllischen Geister. Man sieht, daß der Verfasser des vorliegenden Gesangs die Nachahmung des Unwesentlichen nicht vernachlässigt hat, um glauben zu machen, daß das untergeschobene Werk von Dante selbst seyn könne.
V. 192. In der Doktrin der meisten Frömmler soll es begründet seyn, daß der Teufel wirklich auf Erden [163] persönlich umher gehe, wie ein brüllender Löwe – und daß, wer an diesen persönlichen Teufel nicht glaube, auch an Christus nicht glauben könne.
V. 199. Dem Sünder scheint es äußerst schwer zu werden, das Wort Vernunft auszusprechen, da die Frömmler allerdings die größte Ursache haben, sie zu scheuen. Denn ihr ganzes Seyn und Treiben mit aller seiner Wirksamkeit und mit allen Vortheilen, die es bringt, ist zu Ende, wenn die Vernunft der Andern es klar erkannt hat. Daher verschiebt er es so lange, dies fürchterliche Wort über seine Lippen zu bringen, bis er es gar nicht mehr verschweigen kann.
V. 226. Dante hatte seine wunderbare Reise in die heilige Woche des Jahres 1300 verlegt, und ohne Zweifel will der Verfasser, daß man von diesem Jahre aus zähle. Da nun die Sonne in der zweiten Hälfte des Januar in das Zeichen des Wassermanns tritt, so sind hier die greuel- und jammervollen Ereignisse gemeint, welche sich am Ende des Januars 1649 in England zutrugen.[WS 2]
Daß die Verdammten in der Hölle öfters prophezeihen, ist jedem Leser des Gedichtes bekannt. Allein sie sagen immer nur solche Ereignisse vorher, welche sich beim Leben des Dichters zugetragen haben. Auch können wir kaum voraussetzen, daß der Verfasser uns zumuthen wolle, zu glauben, Dante habe wirklich die Ereignisse des Jahres 1649 vorausgesehen. Doch wollen wir denjenigen, welche der Seherin von Prevorst Glauben schenken, nicht wehren, zu glauben, daß dieser Gesang, ungeachtet der weithinausreichenden Prophezeihung, wirklich von Dante seyn könne.
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- ↑ Das Kloster wird hier nicht näher bezeichnet, weil die Toleranz der frommen Väter, besonders des Pater Bibliothekar, ihnen leicht Rügen zuziehen könnte, wenn jemals diese Blätter in Rom bekannt werden sollten. Selbst Anzeigen aus evangelischen Ländern und von Genossen dieser Konfession gehören nicht zu den unmöglichen Dingen.