Die Heimath in der neuen Welt/Zweiter Band/Neunzehnter Brief
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Das letzte Mal, meine Agathe, schrieb ich Dir im Nationalhotel, einer Art heißen Ofens, voll von Senatoren und Repräsentanten, von reisenden Herrn und Damen, wo man von „heißem Hochdruckleben" (hot high pressure life) an Seele und Leib gebraten wurde, und wo ich blos darum so lange blieb, weil ich mit Miß Lynch zusammen sein wollte; wo wir aber durch die Kräfte unserer verschiedenen Naturen nach verschiedenen Seiten gezogen wurden, sie in dem Wirbel des Gesellschaftslebens, deren Zierde sie ist, ich, die Einsamkeit zu suchen, das Allerschwerste in der Welt, was in einer solchen Hotelwelt zu finden ist, wo man in Gesellschaft von 3-400 Personen lebt; gleichwohl gelang es mir, dieses Glück hie und da zu genießen, theils auf meinem Zimmer, theils Nachmittags, wenn ich auf der Gallerie nah dem Hof des Hauses umherspazierte, wo ich dem Geplätscher der Wasserstrahlen in dem mitten im Hof stehenden Bassin lauschte, und meine Seele ausruhte in einigen Gedanken oder Gefühlen, die in meinen einsamen Stunden stets wiederkehren, stets sich gleich bleiben, stets genügen, um Seele und Gemüth auszufüllen, so daß sie gleich dem Wasser der Quelle klare Strahlen emporsenden, die den Himmel begrüßen, die Erde befruchten.
Heute schreibe ich Dir von einer stillen Heimath aus, wo Ailantus und Sykomore vor meinem Fenster sausen, und wo die Frau vom Hause und ich um einander her springen, um uns drei bis vier Mal des Tags in ein kaltes Bad zu tauchen. Aber still jetzt von mir selbst, denn große, reichswichtige Ereignisse haben sich seit meinem letzten Schreiben zugetragen, sie stehen im Begriff, alle Bürger und alle Staaten der Union in starke Vibration zu versetzen, in vielen Dingen eine Umwälzung hervorzubringen, und von diesen Ereignissen muß ich Dir jetzt erzählen.
Vor einigen Tagen (am 5. und 6. Juli) hörte man hier und in Washington sagen, der Präsident (General Taylor) sei unwohl. Am 4. befand er sich noch vollkommen gut (es war der 3., als ich ihn das letzte Mal sah), aber er hatte von einer Austernpastete, glaube ich, zu viel gegessen und einen Cholerinaanfall bekommen; am 6. sagte man, er sei besser und werde bald wieder hergestellt sein. Gestern am 9. saß ich im Senatssaale und hörte geduldig oder vielmehr ungeduldig eine lange und breite Sklavenrede des südcarolinischen Senators Richter Butler (er ist sonst ein Ehrenmann und abgesehen von dieser Frage mein guter Freund), als eine hastige Bewegung wie von einem lautlosen electrischen Stoß in der Versammlung entstand. Eine Menge neuer Personen kamen durch die Hauptthüren herein, und auf einmal sah man Daniel Webster neben dem sprechenden Senator stehen und mit entschuldigender Geberde erklären, daß er ihn wegen einer wichtigen Angelegenheit unterbrechen müsse. Der Redner verbeugte sich und verstummte. Es wurde todesstill im Haus und alle Blicke hefteten sich auf Webster, der selbst einige Secunden lang ganz still dastand, als wollte er die Versammlung auf eine hochwichtige Nachricht vorbereiten. Hierauf sprach er langsam mit dem ihm eigenen tiefen und ausdrucksvollen Tone:
„Ich habe dem Senat eine traurige Nachricht zu verkünden. Ein großes Unglück bedroht das Land. Das Oberhaupt der Vereinigten Staaten, Präsident Taylor, liegt am Sterben und wird vermuthlich den heutigen Tag nicht mehr überleben.“
Wieder bemerkte man diesen stillen elektrischen Stoß; ich sah manche Personen erblassen, und ich fühlte, daß ich selbst erblaßte bei dieser unerwarteten Nachricht und dem Anblick des Eindrucks, den sie hervorrief. Ein Senator beugte den Kopf in seine Hand hinab, als hörte er den Donner des letzten Gerichts. Diese Regung der Bestürzung ging jedoch hastig vorüber. Bald gewannen die Gemüther ihre Spannkraft wieder. Der Senat vertagte sich, und Alles strömte in die Stadt, um Neues zu hören und zu erzählen. Im gegenwärtigen Augenblick des Parteihaders und während des Kampfes, der jetzt im Congreß ausgefochten wird, und auf dessen Entscheidung Präsident Taylor vermöge seines persönlichen Charakters bedeutenden Einfluß ausüben soll, machte die Nachricht von seinem Zustand einen ungeheuren Eindruck. Abends halb eilf Uhr starb der Präsident wirklich nach einem schönen und rührenden Abschied von den Seinigen. „Weine nicht, meine Theure,“ sagte er zu seiner Frau, die ihn mit unendlicher Zärtlichkeit liebte, „ich habe mich bestrebt meine Pflicht zu thun (I have endeavored to do my duty) und ich hoffe auf Gottes Gnade.“
Am folgenden Tag (10. Juli) wurde der neue Präsident, der bisherige Vicepräsident Fillmore, in sein Amt eingesetzt, denn nach den Landesgesetzen hat er die Stelle des Verstorbenen für die Dauer der noch übrigen Regierungszeit Taylors einzunehmen, und erst nach Abfluß derselben findet eine neue Präsidentenwahl statt. Der Präsident wird auf vier Jahre erwählt. Taylor hatte den Präsidentenstuhl ungefähr zwei Jahre, glaube ich, innegehabt, folglich bleiben für Fillmore ebenfalls zwei Jahre. Seine plötzliche Erhebung soll ihm nicht willkommen gewesen sein. Man sagt, er habe bei der Nachricht von Taylors Tod den Kopf in seine Hände gebeugt und gesagt: „Dieß ist mein erstes Unglück!“ Und sein Aussehen, als er, begleitet von zwei Congreßmitgliedern, einem von Massachusetts und dem andern von Louisiana, in das Repräsentantenhaus trat, um den Eid abzulegen, widersprach dieser Aeußerung nicht; er war in der That sehr bleich und sah unglücklich aus. Die männlich schöne Gestalt, die sich selbst so wohl trägt, sah jetzt, gestützt oder vielmehr hereingeschleppt von zwei andern Gestalten, die ihn jede unter einem Arm hielten, ganz und gar nicht gut aus. Nach dieser Dreimännergruppe folgten die Senatsmitglieder zwei und zwei, oder auch vereinzelt, ins Repräsentantenhaus. Nichts kann einfacher sein, als die Art, wodurch der neue Präsident in seine Würde eingesetzt wurde. Die Hand auf der Bibel, gelobte er, die Verfassung der Vereinigten Staaten zu beschützen, rief Gott als Zeugen seines Versprechens an, küßte das Buch und — das war Alles. Der Präsident und die Senatoren gingen hinaus, wie sie hereingekommen waren. Die meisten Senatoren gingen paarweise, einige Arm in Arm. Clay gieng allein, gleichgültig, müde, sehr vereinsamt, wie ich aus seinem Ausdruck und seiner Haltung schloß. Corvin, Senator von Ohio, von welchem ich Dir bald noch mehr erzählen werde, ging ebenfalls allein; er ist ein untersetzter kleiner Mann, behaglich und gemüthlich, und doch dabei ein gutmüthiger Polterer.
Der Congreß wird jetzt drei Tage ausruhen, bis der Präsident Taylor begraben ist. Aber die streitenden Parteien, die sich nunmehr auf eine neue Wendung vorbereiten, sie ruhen nicht. Sie arbeiten rastlos und haben kein anderes Gefühl, keinen andern Gedanken, als ihr Interesse. Als ich gestern vom Capitol herabging, hörte ich einen jungen Mann zu einem Andern sagen:
„Wenn er stirbt, so gelangt unsere Partei zum Sieg, und er wird sterben, so Gott will.“
Und jetzt, während die großen Angelegenheiten
ruhen und gleichwohl der Kampf fortdauert, will ich
Dir ein wenig von mir selbst und meinen Unternehmungen
ezählen.
Am 4. Juli, dem großen Tag der Vereinigten Staaten, fuhr ich mit Miß Lynch, Mr. Andrews und dem Senator von Ohio, Mr. Corvin, nach Washingtons Landsitz Mount Vernon. Mr. Corvin ist einer der selbstgemachten Männer (self-made men) des Landes; sein Vater war ein armer Farmer, und der Sohn genoß blos die Erziehung einer Gemeindeschule, hat sich aber auf eigene Faust zu einem der berühmtesten stump orators, d. h. Improvisatoren kurzer, aber körniger und geistreicher Reden, und was noch mehr ist, zu einem allgemein geachteten Beamten herangebildet, an dem man nichts auszusetzen hat, als daß er manchmal zu gut sei. Für uns war er ein höchst angenehmer unschätzbarer Gesellschafter, und sein Gespräch, besonders seine lebensvollen, lustigen, zuweilen etwas carrikirten Schilderungen seiner Collegen im Senat, deren Art und Ton er trefflich nachzuahmen wußte, sein glücklicher Humor, der gleich einem Springquell beständig aus frischen Adern emporsprudelte, Alles das machte die lange Reise auf schlechtem Wege, in einem holpernden Wagen und bei drückender Hitze zu einer wahren Lustfahrt. In Mount Vernon wurden wir von einem jungen schönen Paar, dem Sohn des Neffen des großen Präsidenten und seiner Frau, empfangen. Sie boten uns Kühlung und Ruhe und bewirtheten uns mit Milch und Beeren, was Alles vortrefflich schmeckte. Henry Clay hatte uns ein Empfehlungsschreiben an das junge Paar mitgegeben.
Die Lage des Wohnhauses am Ufer des Potomak ist unendlich schön; der im englischen Styl angelegte Park schien mir groß zu sein, zeugt aber, wie auch die Gebäude auf dem Hof, von Verfall. Im Park ist das Grab Washingtons und seiner Gattin, eine schöne Grabcapelle mit einem eisernen Gatter, hinter welchem man die Särge stehen sieht. Ich legte zwischen die Eisenstangen hindurch einen grünen Zweig auf das Grab.
Washington scheint mir im Leben und Charakter eine große Aehnlichkeit mit Gustav Wasa zu haben, obschon sein Leben weniger romantisch und sein Charakter phlegmatischer, weniger anregungskräftig war, als der des schwedischen Befreiers. Wasa ist eine mehr dramatische, Washington eine mehr epische Gestalt. Wasa ist mehr Held, Washington mehr Staatsmann. Wasa ist König, Washington Präsident. Beide waren große, starke, königliche Seelen, Beide würdig die Führer großer Völker zu sein. Washington stand in seiner reinen Uneigennützigkeit als höchster Beamter des Volks vielleicht höher als Wasa. An Selbstbeherrschung war er beinahe ohne Seinesgleichen, und nur ein einziges Mal ließ er, sagt man, in einem augenblicklichen Ausbruch die vulkanische Bewegung seines Innern ans Licht treten. Das amerikanische Persönlichkeitsideal, a well balanced mind, ein wohlgewiegter Charakter, mußte in dem großen Präsidenten sein Vorbild haben. Er war edel, und wenn er ein Unrecht beging, so konnte er es auch offen abbitten. Was ich an seinem Charakter und Leben am meisten bewundere, das ist die Beharrlichkeit. Zu seinem Benehmen und Umgang mit Andern war er nicht ohne Stolz. Er hatte einen Blick, der den Dummdreistesten verstummen machte, und ich habe mir sagen lassen, daß seine Anwesenheit, selbst wenn er schwieg, sich immer als eine imponirende Macht fühlbar machte. Aber dieß ist bei allen bedeutenden Charakteren der Fall.
Washingtons Mutter war eine stille, edle Frau, deren wohlgewiegter Charakter auf ihren Sohn übergegangen zu sein scheint, und die, so zärtlich sie ihn auch liebte, gleichwohl zu hoch von Pflicht und Vaterland dachte, um auf ihn und seine Thaten stolz zu sein. „Ich hoffe Georg wird seine Pflicht gegen sein Vaterland erfüllen,“ sagte sie bescheiden, als man einmal in ihrer Gegenwart seine Verdienste pries. Das Verhältniß zwischen Washington und seiner Mutter scheint ein ausgezeichnetes gewesen zu sein. Von seinem Verhältniß zu seiner Gattin habe ich blos folgende Anekdote gehört. Ein Gast auf Mount Vernon hatte sein Schlafzimmer neben dem des Präsidenten erhalten, und eines Abends, als man sich trennte, um zu Bette zu gehen, hörte er, wie die Frau Präsidentin ihrem Herrn Gemahl recht tüchtig den Text über Etwas verlas, worin er nach ihrer Ansicht nicht recht gehandelt hatte und anders hätte handeln sollen; eine Lektion, die er mit dem tiefsten Schweigen anhörte, bis sie zu Ende war. Dann that er seinen Mund auf, redete und sprach: „Jetzt schlaf wohl, meine Liebe!“ (Now, good sleep, my dear!) Portraits und Beschreibungen von ihr schildern sie als ein hübsches, gemüthliches, freundliches Weibchen, von welchem auch eine Gardinenpredigt just nicht so unangenehm sein konnte.
Washington war im Sklavenstaat Virginien geboren und war selbst beinahe bis zu seinem Tod Sklavenbesitzer. Kurz vorher schenkte er seinen Sklaven die Freiheit, und es ist wirklich merkwürdig in seinem Testament, das ich vor Kurzem gelesen habe, zu sehen, wie ihm Nichts mehr am Herzen gelegen zu haben scheint als die Sorge für seine Sklaven. Die Vorschriften über die Behandlung derjenigen, die freigegeben werden, sowie der alten oder kränklichen, die bis zu ihrem Tod wohl verpflegt werden sollten, füllen mehrere Seiten. Diese noch über seinen Tod hinaus reichende Besorgtheit um alte Sklaven stellt den republikanischen Helden der neuen Welt hoch über die Helden des alten Rom. Washingtons reine Menschlichkeit leuchtet in ihrem schönsten Glanz daraus hervor. Diese reine Menschlichkeit ist es mehr als sein staatsmännisches Talent, mehr als sein warmer Patriotismus, was Washington zu dem großen Manne der neuen Welt macht — ich will nicht sagen zum größten, denn auf diesen warte ich noch. — Sie ist es auch, was die einhellige, warme Huldigung hervorruft, welche das Volk der neuen Welt ihm widmet, und was ihm auch die Huldigung Europas erobert hat, so daß Rußlands großer Czar mit gleicher Verehrung von seinem Andenken spricht, wie die Staaten Amerikas. Washington suchte in Allem und vor Allem das Rechte und Wahre; darum stand er so fest und darum stand er so rein, inmitten stürmischer, unklarer Zeiten — eine Memnonssäule mitten in den Sandwirbeln der Wüste, unerschüttert von ihnen, bloß von dem Lichte bewegt und stets denselben reinen, harmonischen Ton von sich gebend.
Mount Vernon war Washingtons Jugendheimath; hieher führte er seine Braut; hier verlebte er glücklich jede Stunde seines Lebens, wo ihm die Staatsgeschäfte Ruhe gönnten. Mount Vernon war sein Lieblingsaufenthalt. Hier durfte er in hohem Alter, nach wohlvollbrachter ehrenvoller Arbeit, im Frieden sterben. „Ich fürchte den Tod nicht,“ waren seine letzten Worte.
Wir waren an diesem Tag allein an Washingtons Grab, und wir verbrachten unsere Zeit in stillen Gesprächen im Park, bald umher spazierend, bald im Gras unter den schattenreichen Bäumen sitzend, wobei Mr. Corvin, der während der Fahrt die Waffe der Satire und des Scherzes als Meister geschwungen hatte, im ernsten Gespräch jenen religiösen Tiefsinn, jenes Verlangen nach Ruhe in geistigen und ewigen Wahrheiten zeigte, was die Männer der neuen Welt immer auszeichnet, sie mögen nun von Cavalieren oder Puritanern stammen, und in ihrem äußern Leben noch so sehr von dem Treiben und Kampf des Tages in Anspruch genommen scheinen. Corvin ist ein entschiedener Antisklavereimann, er will von keinem Kompromiß mit der Sklaverei wissen, er ist daher gegen Clay und seinen Vergleichsvorschlag. Nach dem was er mir von Clay und seiner Art Personen von verschiedenen Talenten und Parteien zu behandeln erzähle, bekam ich, obschon seine Beschreibungen karikirt waren, einen hohen Begriff von Clays Fähigkeiten als politischer Führer.
Gegen Abend fuhren wir wieder nach Haus, und derjenige Theil der Reise, den wir auf dem Potomak zurücklegten, war sehr schön. Die Ufer des Flusses haben hier keinen eigentlich großen Charakter; sie sind jedoch romantisch und gewähren umfassende Aussichten über ein reiches Waldland mit Höhen und Thälern. In Alexandria, einem auf unserem Weg gelegenen Städtchen, nahmen wir einen kleinen Abendimbiß bei einer freundlichen Frau, die ihr Alexandria beinahe für ebenso merkwürdig zu halten schien, wie wir etwa die altklassische Stadt desselben Namens.
Ich habe täglich den Senat und das Repräsentantenhaus besucht, meistens jedoch den ersteren, weil ich da gut höre und weil er mir als parlamentarische Versammlung dem letzteren in jeder Beziehung voranzustehen scheint. Im Repräsentantenhaus darf ein Redner nicht länger als eine Stunde anhaltend sprechen. Sobald eine Stunde um ist und ein Glöckchen läutet, hat ein anderer Redner das Recht ihn zu unterbrechen, und wäre es auch mitten in seiner gründlichsten Beweisführung oder im höchsten Flug seines Geistes, und dieser andere Redner kann dann die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, worauf er ebenfalls seinem Nachfolger Platz machen muß. Da nun die Redner im Allgemeinen mit großer Leichtigkeit sprechen und viel zu sagen haben, so lassen sie sichs angelegen sein, ihre Stunde wohl zu benützen, und ich vermuthe, daß dieß die Ursache der stürmischen Hast ist, womit die Reden lawinenartig über das Haus hereinbrechen; wenigstens war dieß jedesmal der Fall, so oft ich da war. Im Repräsentantenhaus herrscht ein gewisser Untereinander, der gegen die Anständigkeit des Senats sehr absticht. Da kann jeder Senator sprechen so lang er will, ja er kann sich die ganze Sitzung hindurch, auf der Rednerbühne behaupten, ohne daß Jemand das Anrecht hat ihn zu unterbrechen, außer zu einer gelegentlichen Bemerkung oder mit seiner eigenen Einwilligung. Aber während dieser Reden sowohl im Senat als im Repräsentantenhaus mußte ich oft genug an Mr. Poinsett denken, der mir, als ich die amerikanische Leichtigkeit im Sprechen rühmte, zur Antwort gab: „dieß ist ein großes Unglück,“ (it is a great missfortune)! Aber ist dieses Unglück in andern Ländern, wo das Volk Reden halten darf, etwa weniger groß? Und seufzte ich auch hier bei der einen und andern Rede, so interessiren mich doch viele davon um ihrer Bestimmtheit und der Sache willen, die sie behandeln, und wegen der Persönlichkeit der Redner. Es ist mir ein Vergnügen, parlamentarische Versammlungen zu sehen und zu hören. Der Mensch erscheint mir groß, wenn er aufsteht, wenn er für eine Sache und Ueberzeugung kämpft, wenn er mittelst seiner Kraft oder seines Talents große Siege zu gewinnen versteht. Aber selbst ohne Talent bildet der Mensch hier als eine moralische Macht durch sein bloses Ja und Nein eine interessante Erscheinung. Eine solche Versammlung ist in Wirklichkeit ein großes dramatisches Schauspiel, und es kommen in ihr zuweilen Scenen und Episoden vor, die wirksamer sind, als manche Theatereffecte. Ich muß Dir von einigen solchen, denen ich als Augenzeugin angewohnt habe, erzählen. Zuerst aber ein Wort von dem Schauplatz und den Schauspielern hier, denn sie haben ein besonderes Interesse für mich, weil die Senatoren die Staaten repräsentiren und weil die charakteristischen und poetischen Züge derselben durch die Männer, welche sie repräsentiren, vor meiner Phantasie stehen.
Jeder Staat in der Union schickt 2 Senatoren zum Congreß. Diese ergeben sich im Senat und werden angeredet, nicht als Mr. so und so, sondern als der Senator von Kentucky, oder Massachusetts, oder Louisiana oder Missisippi u. s. w., und ich sehe dann sogleich ein Luftgebilde von Kentucky, Massachusetts, Louisiana oder Missisippi u. s. w., je nach dem was ich von dem Leben und Charakter dieser Staaten in Bezug auf Geist oder Natur weiß, wenn auch die menschlichen Repräsentanten diesem Bild nicht immer entsprechen; und auf diese Art steht die Bildung dieses ganzen Welttheils wie ein großes Drama vor mir, in welchem Massachusetts und Louisiana, Carolina und Pennsylvanien, Ohio und Alabama u. s. w. handelnde Mächte mit bestimmter Persönlichkeit sind. Die Persönlichkeit hinwiederum ist theilweise in den Beinamen bezeichnet, welche der Zufall oder Volkscharakter einigen Staaten gegeben hat, und womit man sie leicht alle taufen könnte. So sehe ich hier den Kaiserstaat (New-York), den Granitstaat (New Hampshire), den Schlüsselstaat (Pennsylvanien), den Luchsstaat (Michigan) u. s. w. mit dem Riesenstaat (Kentucky), dem Palmettostaat (Carolina), dem französischen Staat (Louisiana) kämpfen und sich turnierartig befehden. Und der Kampf, der jetzt wegen des Goldstaats, auch der friedliche Staat genannt (Californien) losgebrochen ist, ruft all die Grundzüge und Verhältnisse hervor, welche die Staaten des Nordens und des Südens[WS 2] von einander trennen, und die sie jetzt gegen einander ins Feld stellen. Habe ich Dir gesagt, wie der große Zankapfel aussieht, um den man sich jetzt schon seit sieben Monaten schlägt? Er heißt:
Californiens Eintritt als Staat in die Union, Einsetzung von Territorial-Regierungen für Utah (den Mormonenstaat) und Neu-Mexiko, nebst Antrag wegen Texas, betreffend die Bestimmung seiner westlichen und nordwestlichen Grenzen.
Und jetzt ein Wort zur Erklärung. Damit ein Staat das Recht hat, als solcher in die Union zu treten, muß er eine Bevölkerung von mindestens 55000 Seelen besitzen. Bis dahin wird jede einzelne Provinz der Vereinigten Staaten ein Territorium genannt und während ihrer Entwicklungs- und Unmündigkeitszeit unmittelbar von der Bundesregierung verwaltet, welche Gouverneure und andere Beamten einsetzt und Truppen zur Vertheidigung der Einwohnerschaft gegen die Indianer oder andere Feinde schickt, wenn nämlich die Einwohnerschaft darum nachsucht. Jeder Staat in der Union hat das Recht seine eigenen Gesetze zu geben, unter der Bedingung, daß diese nicht in die Verfassung der andern Bundesstaaten eingreifen und daß die Staatsform republikanisch ist. Das Territorium dagegen hat keine Staatsrechte, und man ist noch nicht darüber einig, wie weit seine Rechte auf Selbstregierung sich erstrecken sollen. Nun wohl: Californien, das sehr schnell eine Bevölkerung von mehr als 150000 Seelen erreicht hat, meist Auswanderer aus den freieren nordöstlichen Staaten, verlangt jetzt als freier Staat in die Union zu kommen. Neu-Mexiko, das in Folge der mexikanischen Gesetze von der Sklaverei frei ist, und Utah, das seine junge Bevölkerung die Heiligen des jüngsten Tags nennt, verlangen als Territorien das Recht, sich gegen die Einführung der Sklaverei auszusprechen; aber da diese drei Staaten, der mündige sowohl als die noch unmündigen, unter einer[WS 3] geographischen Linie, genannt die Missouri-Linie, liegen, die nach alter Uebereinkunft als Grenzlinie zwischen den freien Staaten und den Sklaven-Staaten gelten soll, so daß alle Staaten nördlich von ihr das Recht haben sollen, von Sklaven frei zu sein, alle Staaten südlich von ihr das Recht, Sklaven und Sklaven-Arbeit zu haben, und da drei neue Frei-staaten das Gleichgewicht zwischen der politischen Macht des Südens und des Nordens stören würden, so daß die Uebermacht auf die Seite des Nordens und der freien Staaten käme, so rufen die Südländer (jedoch nicht alle) „Nein, nein!“ und die Ultras unter ihnen fügen hinzu: „lieber brechen wir mit dem Norden und schließen eine besondere Union — die Union der südlichen Staaten! Lieber wollen wir dem Norden den Krieg erklären.“
Die Südländer wollen sowohl Californien als Neu-Mexiko zur Einführung ihrer Sklaven-Institution für sich offen haben, und zu diesem Behuf wollen sie, daß der Congreß ein Gesetz erlasse, welches den freien Staaten verbiete, den aus den Sklavenstaaten geflüchteten Sklaven Schutz zu verleihen, und den Südländern das Recht gebe, in den freien Staaten gesetzlichen Beistand zu verlangen, um ihr menschliches Eigenthum zurückzubekommen. Dazu rufen die Nordländer aus vollem Halse: „Nein, nein!“ und die Ultras ihrer Partei fügen hinzu: „Lieber blutigen Krieg! Wir wollen der Sklaverei keine Concessionen machen. Fort mit der Sklaverei! Mögen wir ein freies Volk werden! Der Congreß fertige ein Gesetz aus, das die Sklaverei in jedem neuen Staat verbiete.“
Mehrere Südländer gestehen inzwischen Californien das Recht zu als freier Staat in die Union zu treten, bestreiten aber dem Territorium das Recht in der Sklavereifrage für sich Gesetze zu geben. Die Südländer behaupten im allgemeinen, sie streiten nicht für die Sache der Sclaverei, sondern für die Sache des Staatsrechts und der Constitution. Einige haben mit dieser Sache Recht, bei den Meisten aber bemerkt man sehr leicht, daß das Sklaverei-Interesse ihrer Opposition die Färbung gibt.
Hiezu kommen noch andere Streitfragen in demselben Kapitel, wie z. B., ob der Bezirk Columbia, worin die Stadt Washington liegt, in Zukunft noch Sklaven haben soll oder nicht. (Washington im Bezirk Columbia liegt nämlich im Sklavenstaat Maryland.) Ein Theil der Südlander verlangt sehr angelegentlich auch hier seine geliebten häuslichen Einrichtungen, wie die Phrase lautet, behalten zu dürfen. Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage über die Grenze von Texas gegen Mexiko und über ein Stück Land zwischen dem Sklavenstaat und dem noch freien Territorium, oder wer dieses Stück haben, wer es abtreten soll, und Freiheit und Sklaverei schlagen sich auch hier von Neuem um diese Scholle Erde.
So ungefähr sieht der große Zankapfel aus. Er ist ein wahrer gordischer Knoten, zu dessen Lösung ein Alexanderschwert nöthig zu sein scheint.
Henry Clays Compromißvorschlag sagt: Californien soll seinem Verlangen gemäß als freier Staat in die Union einverleibt werden. Denn seine Bevölkerung von nahezu 200,000 Seelen hat das Recht, über ihre Verfassung zu bestimmen. Neu-Mexiko soll mit der Bestimmung über die seinige warten, bis seine Bevölkerung zahlreich genug ist, um der Verfassung gemäß einen Staat bilden zu können. Es soll inzwischen ein Territorium ohne Sklaverei sein. Eben so soll es mit Utah sein.
Dagegen sollen die Sklavenstaaten das Recht besitzen, von den freien Staaten ihre geflüchteten Sklaven zurückzuverlangen und dieselben, wenn sie auf diese Art gefordert werden, durch gesetzlichen Beistand zurückzuerhalten, wie die Verfassung es festsetzt.
Columbia soll ein freier Bezirk sein, aus welchem die Sklaverei verbannt sein soll.
Dieß, glaube ich, waren die Hauptpunkte in Clays Vorschlag, um Frieden zwischen dem Norden und Süden zu stiften. Aber sowohl der Norden als der Süden verlangen jeder seinerseits größere Zugeständnisse und verwerfen beide die Compromißbill. Diese Bill, welche viele Theile, die Clay, auf einmal zu erhalten wünscht, unter derselben Rubrik zusammenfaßt, ist deßhalb die Omnibus-Bill genannt worden und wird unter diesem Namen bekämpft. Mehrere Senatoren, die in gewissen Punkten mit Clay gingen, haben sich in andern von ihm getrennt, und es scheint, als habe die Omnibus-Bill als solche beinahe den ganzen Senat gegen sich bekommen, obschon einige besondere Fragen sich nach Clays Ansichten zu entscheiden scheinen: unter ihnen just die Hauptfrage von Californiens Einverleibung in die Union als Freistaat. Aber auch diejenigen, die in der Hauptsache dasselbe wollen, hadern mit einander wegen Nebensachen, und vor einigen Tagen hörte ich, wie Missisippi von Mississippi eine scharfe Lection wegen seiner „disunion“-Tendenz erhielt; die andere Hälfte von Missisippi schrie: „Pfui über die Disunionisten!“
Jetzt ein wenig von den dramatischen Personen oder von einigen unter ihnen, die mir am bemerkenswerthesten erscheinen.
H. Clay hat seinen Sitz ganz hinten an der Wand, rechts vom Eingang, ist immer gegenwärtig, aufmerksam, lebhaft, folgt der Discussion, wirft das eine oder andere Wort hinein und ergreift nicht selten das leitende Wort. Seine Wangen und Blicke haben eine fieberliche Gluth, seine Stimme und Worte, die immer energisch und vom Impuls der Seele getrieben sind, erzwingen sich die Aufmerksamkeit, seine Beweisführungen sind direct schlagend, scheinen mir den Stempel starker Ueberzeugung zu tragen und müssen überzeugend wirken. Und wenn seine starke klangvolle Stimme das Feldgeschrei „Californiae,“ dessen letzten Buchstaben er auf eigenthümliche Weise betont, während des Kampfes um Californiens Freiheit durch den Senat schleudert, so fühlt man, daß der alte Feldherr die Seinigen zum Siege führt. H. Clay hat, obschon er in einem Sklavenstaat (Kentucky) geboren und Vertreter desselben, auch selbst Sklavenbesitzer ist, offenbar seine Sympathien gänzlich auf der Seite des Freiheitssystems, und er hat bei Eröffnung dieser Sitzung unumwunden ausgesprochen, daß er niemals die Einführung der Sklaverei in irgend einem neuen Staat dulden werde. Und daran erkenne ich den großen Staatsmann und den freien Sohn der neuen Welt.[1] Auch soll er bei einer früheren Gelegenheit einen Antrag auf Befreiung seines Geburtslandes von der Sklaverei gestellt haben, und sein Antrag scheint ganz und gar nicht unpraktisch gewesen zu sein. Er geht dahin, daß alle Kinder von Sklaven, die nach einem gewissen Jahr (ich meine, es ist das Jahr 1850) geboren werden, frei erklärt, auf eine humane Art in Schulen erzogen und zu Handwerkern und Gewerbsleuten ausgebildet werden sollen. Dieser in seiner Tendenz so edle, so ausführbare Antrag, der eine doppelte Emancipation auf vernünftige Weise vorbereitete, ist gleichwohl bei Seite gelassen. Die Ultras beider Partheien im Anti-Sklaverei- und Pro-Sklaverei-Lager wollen nichts davon hören.
Daß Clay gegenwärtig, während er für Californiens Freiheit und Neu-Mexikos Neutralität kämpft, auf Concessionen gegen die südlichen Staaten in Betreff ihrer Zurückforderung geflüchteter Sklaven dringt, halte ich für eine durch die Nothwendigkeit der Dinge gebotene Maßregel. Nachdem ich mich in den Sklavenstaaten aufgehalten, und die Bitterkeit gehört und gesehen habe, welche da (besonders in Südcarolina) über das Verfahren und die Eingriffe der Nordländer in der Sklavereifrage herrscht, nachdem ich oft den Wunsch nach Trennung vom Norden gehört habe, der hier gährt und sich auch im Senat Luft schafft, glaube ich, daß diese Concession zur Vermeidung eines Bürgerkriegs nothwendig ist, zumal jetzt, da die Gemüther des Südens von Neuem aufgereizt sind, weil die Nordländer wahrscheinlich Californien, wie auch Neumexiko und Utah in ihre Staatengruppe gewinnen werden.
Die Concession hat ihre gesetzliche Begründung darin, daß nach der Verfassung der Vereinigten Staaten die einzelnen Staaten verpflichtet sind, die Gesetze von einander zu respectiren, und daß nach den Gesetzen der Sklavenstaaten die Sklaven einen Theil des gesetzlichen Vermögens der Sklavenbesitzer ausmachen. Ich begreife vollkommen die Erbitterung der Antisklavereipartei bei dem Gedanken, daß ihre freie Erde kein Asyl für unglückliche Sklaven sein dürfe, und daß die Sklavenfänger daselbst freies Spiel bekommen und von Beamten der freien Staaten unterstützt werden sollen; ich weiß, daß ich selbst lieber den Tod erleiden als einen unglücklichen Sklaven preisgeben würde, der sich zu mir geflüchtet hätte; aber gibt es wohl in diesem Augenblick eine Alternative zwischen dieser Concession und dem Bürgerkrieg? Clay scheint der Ansicht zu sein, daß es keine gebe, und mit ihm scheint Daniel Webster zu gehen, obschon er sich über die Compromißbill noch nicht öffentlich ausgesprochen hat. Ich glaube, daß Clay ungern das Zugeständnis macht, und daß er es nicht vorgeschlagen haben würde, wenn er dächte, daß es länger als eine gewisse Zeit bestehen könnte; wenn nicht sein eigenes großes Herz und sein staatsmännischer Blick ihm sagte, daß die Zeit nicht mehr fern sei, wo der höhere Herzschlag des Südens aus freiem Antrieb eine höhere menschlisch Gesetzgebung in der Sklavenfrage herbeiführen, und daß der Einfluß der freimenschlichen Bewegung in Europa wie in Amerika die neue Welt zur Abschüttlung ihrer größten Lüge veranlassen werde. Und daran glaube auch ich, Dank sei es den edlen Gemüthern, die ich im Süden kennen gelernt, Dank sei es dem freien Süden, der im Schooße des Sklavenstaates heranwächst und immermehr Raum gewinnt. Und wer kann die Bewegung des Geistes über diese ganze große Weltbildung verspüren, ohne zu fühlen, daß Gottes Geist über der Tiefe schwebt, und mit seinem allmächtigen Wort das Licht von der Finsterniß trennen wird? Die Morgenröthe ist bereits an den Bergen und färbt die Gipfel des Waldes. Wer dieß sehen will, der kann es sehen. Ich fürchte hier den Sieg der Finsterniß nicht.
Neben Clay und vor ihm in der Reihe erblickst Du den Repräsentanten des Granitstaats, Mr. Hale von Neuhampshire, mit einem Kopf, welcher an Napoleon erinnert, aber einem Körper und einer Haltung, wie man sie bei großen dicken Knaben zu finden pflegt; eine frische, starke Hochlandsnatur, fest auf ihrem Grund wie der Granitberg, und eine Gemüthsart so frisch wie der Wind, der um dieselben weht. Ein entschiedener Antisklavereimann und unerbittlich für jede Concession in dieser Frage, versetzt er mit seinem Humor und seinen witzigen sarkastischen Einfällen oft den ganzen Senat in muntere Laune. Neben ihm erblicke ich den Senator von Texas (den ersten Präsidenten des republikanischen Texas) General Houston, der einen ganzen Monat Zeit brauchte, um aus seinem Staat nach Washington zu reisen. Man hört den stattlichen alten General gern an wegen der pittoresken und frischen Schilderung in seinem Vortrag. Sein Ausdruck ist gutmüthig und mannhaft, verbunden mit einem Anstrich militärischer Ritterlichkeit. Er hat die Eigenheit, daß er während der Discussion im Senat immer mit dem Federmesser kleine Stückchen Holz zerschneidet.
Der Senator von Pennsylvanien, einen Mann von quäckerhafter Einfachheit und einem reinen, schönen Gesicht, erblicke ich hier in den Reihen der Antisklaverei. Die Senatoren von Ohio, Corvin und Chase gehören ebenfalls hieher. Den ersteren kennst Du bereits; im Senat sah ich ihn still und ruhig dasitzen — (er soll seine Rede in der Hauptsache bereits gehalten haben), und nur von Zeit zu Zeit wirft er bei den Reden der Südländer, die jetzt an der Tagesordnung sind, eine kurze Bemerkung dazwischen. Chase hat ein ausgezeichnetes edles und schönes Außere; ich habe selten eine würdevollere und stolzere Gestalt gesehen. Im Privatleben muß ein solcher Mann imponiren und Liebe oder auch Haß erwecken. Im öffentlichen Leben spricht er sich entschieden, aber wortkarg für das Freiheitsprincip aus.
Der Senator von New-York, Mr. Seward, ist ein kleiner Mann ohne persönliche Schönheit, und sein Organ hat jenen Nasenlaut, der bei den Söhnen Bostons (Seward ist aus dieser Stadt) nicht selten unangenehm auffällt. Gleichwohl hat diese Stimme hier einen der größten und edelsten Gedanken ausgesprochen, die während des Congresses an den Tag gekommen sind. Er ist ein entschiedener Antisklavereimann und erklärt sich gegen das Compromiß. „Ich will,“ sagte er neulich am Schlusse einer Rede, „für die Aufrechterhaltung der Union nicht durch Concessionen gegen die Sklaverei, sondern durch Förderung[WS 4] solcher Gesetze und Einrichtungen wirken, welche die Union zu einer Wohlthat für das ganze Menschengeschlecht machen.“ Wie gut und groß!
Gehe ich von dem Punkt, wo ich angefangen habe, weiter nach der Seite des Haupteinganges, so treffe ich nicht weit von Clay einen Südländer und Kämpen der Sklaverei, den Georgi’schen Senator Richter Berrian, einen Mann von Talent und Geist; er ist dabei auch ein braver und gottesfürchtiger Mann, ein Mann von feiner Bildung und der besten Lebensart, und es thut mir wirklich wehe, ihn als Advokaten der Schattenseite des Südens zu sehen, während er für die Rechte desselben kämpfen muß. Er steht jetzt mit Clay in Fehde über Californiens Recht und Freiheit, und die persönliche Abneigung zwischen beiden Männern ist so weit gediehen, daß Clay seinen Platz an unserer Table d’hote, wo Berrian neben ihm saß, aufgegeben hat. Clay speist jetzt auf seinem Zimmer und Berrian bleibt nach wie vor an der Tafel.
Mitten in diesem Lager sitzt der Coloß Daniel Webster gemächlich in seinem Lehnstuhl mit blaßgelber Wange und Stirne, und scheint beschwert von Gedanken oder von der Wärme, vielleicht von beiden; ich nenne ihn Coloß, nicht weil ich eine übermäßige geistige Größe in ihm erblicke, sondern um seines prächtigen Kopfes und massiven Aussehens willen (obschon er von Gestalt nicht groß ist), wie auch darum, weil sein Einfluß sich als etwas Colossales zu empfinden gibt. Er ist einer der schönsten Männer gewesen, ein Mann von natürlicher königlicher Würde, und er soll durch sein bloßes Auftreten eine beinahe magische Gewalt auf Menschenmassen ausüben. Er zählt jetzt über 60 Jahre und ist noch immer ein schöner kräftiger Mann, obschon die Jahre und die Masse der Gedanken ihn zu beschweren scheinen. H. Clay ist mit mehr als 70 Jahren im Vergleich zu Webster immer noch ein Jüngling in Aussehen und Wesen. Clay ist stets bereit Feuer zu geben. Webster scheint hauptsächlich darauf bedacht, seine Kanone wohl zu laden, bevor er die Lunte ansetzt.
Die Senatoren von Illinois, General Shield und Richter Douglas, sind klein von Person, aber beide Männer von Talent und Geist. Die tiefen schönen Augen des Letzteren flammen von einem dunklen Feuer, von welchem man sagt, es brenne für ehrgeizige Pläne und strebe nach dem Präsidentenstuhl. (Aber dasselbe Streben wird auch Clay, Webster, Seward und mehreren Andern untergeschoben.) Er spricht nicht viel, wenigsten in Gesellschaft, aber man spürt seine Gegenwart. Seinem Aussehen nach scheint er ein warmherziges, tüchtiges und schlaues Männchen zu sein. General Shield ist blond, blauäugig,[WS 5] hat einen schönen redlichen Blick und ist eine offenere Natur. Er hat sich im Krieg mit Mexiko ausgezeichnet und ist da schwer verwundet worden. Ich spreche gerne mit ihm und höre ihn gerne sprechen. Er ist ein aufgeweckter warmer Amerikaner und scheint die eigenthümlichen Vorzüge so wie den Beruf seines Landes wohl zu verstehen.
Laß uns jetzt einen Blick ins andere Lager hinüberwerfen. Der Habicht von Missouri, Senator Benton, sitzt da tief in der Mitte der Seinigen, wie der Löwe von Kentucky im andern Lager, und ihm schief gegenüber. Er ist einer der ältesten Senatoren im Congreß und hochgeachtet wegen seiner Gelehrsamkeit, seiner Festigkeit und seines Muthes. Er hat zwei oder drei Duelle bestanden, kaltblütig und langsam gezielt, und kaltblütig seinen Gegner über den Haufen geschossen. Er sieht aus, als könne er noch immer seinen Mann kaltblütig zusammenschießen.[2]
Er gehört zu der sogenannten Grenzerbevölkerung in Amerika, d. h. zu denjenigen Leuten, die, auf den Grenzen der Wildniß und unter einem halb wilden Volk aufgewachsen, sich frühzeitig an die Gesetze und Spiele des Faustrechtes gewöhnt haben und mit Pistole und Bowiemesser (einem krummen Messer, das in den Sklavenstaaten allgemein als Waffe gebräuchlich und nach seinem Erfinder so benannt ist) ausgehen, wie unsere Herren mit Federmesser und Bleistift in der Tasche. Und in dem Sklavenstaat, welchen der wilde, in seinem Lauf trübe und gefährliche Missouri durchströmt, in diesem Staat, der westlich an das wilde Steppenland der Indianer-Stämme und örtlich an den Riesenfluß Missisippi grenzt, wo heidnisches Leben noch mit dem christlichen Gesetz um die Herrschaft kämpft, in dem noch jetzt nur halb civilisirten Missouri kann ein kaltblütiger Duellant, wie Oberst Benton als merkwürdiger Repräsentant aufgestellt werden, wenn er durch Festigkeit des Willens und Consequenz seines Benehmens als politische Persönlichkeit Achtung und Furcht einflößt. Aeußerlich ist er ein stark untersetzter Mann von breiten Schultern und hoher Brust. Die Stirne ist hoch, das bereits ergraute Haar erhebt sich dünn und leicht gelockt darüber. Darunter glänzen ein Paar lebhafte, aber kalte graue Augen, zwischen ihnen steht eine Habichtsnase hervor; der untere Theil des Gesichtes ist stark und deutet auf kräftigen Willen und starke animalische Leidenschaften. Gestalt und Ausdruck sind kräftig, bekommen aber leicht einen Anstrich von Derbheit, und es fehlt ihnen das Edle. Im Senat tritt er für die Freiheit Californiens auf, kämpft aber gegen Clays Omnibus-Bill.
In Gesellschaft habe ich ihn als einen offenen zuvorkommenden, sehr artigen und freundlichen Mann kennen gelernt, aber Etwas in mir bebt zurück vor dieser kalten blutigen Hand. Sonst könnte ich mich entschließen, den Mann öfter zu sehen. Sein offenes Bekenntniß im Senat, daß er, obschon Vertreter eines Sklavenstaates und in einem Sklavenstaat geboren, dennoch die Sklaverei als ein Uebel betrachte und es für ein Verbrechen ansehen würde, diesen Fluch auf bisher frei gewesene Territorien auszudehnen, dieses männlich offene Bekenntniß in seiner Stellung verdient alle Achtung, und seine Schilderungen von der Natur und den Verhältnissen in den westlichen Ländern sind lebendig, kräftig und zeugen von Kenntnissen und Talent.
Am kühnsten im Lager der Südländer ragt neben dem Senator von Missouri, der Senator von Louisiana Soulé hervor, bildet aber einen scharfen Contrast gegen die Erstgenannten. Der Habicht von Missouri ist ein tüchtiger Repräsentant des Staats mit dem wilden Fluß, mit dem an rohen Metallen reichen Bergen, des Nachbarstaats der Indianer. Das Land, wo die Orange blüht, wo der Zucker wächst und wo französische Civilisation und französische Sitten längst heimisch sind, da sie von Frankreich aus während der verfeinertsten Periode Frankreichs dahin gezogen, das blühende schöne Louisiana hatte keinen würdigeren Repräsentanten zum Congreß schicken können, als den französischen Creolen Soulé. Südländisch schön, mit den feinen Zügen, den dunkeln Haaren und Augen, die Spaniens und auch Frankreichs schönste Bevölkerung auszeichnen, besitzt Soulé die Grazie und Feinheit des Ausdrucks, die man bei den Männern dieser Völker findet und die man bei den Angelsachsen und Normannen nicht findet, so viel Gutes und Schönes man auch sonst bei ihnen finden mag. Soulé ist im Senat und in der Californienfrage für die „Rechte des Südens“ aufgestanden, hat sich aber zugleich als ein Mann von Genie und Tact gezeigt, und als es sich um einen Beschluss handelte, welcher dem Interesse Louisianas als Sklavenstaat widerstritt, hat er sich gleichwohl für das Verbleiben bei der Union ausgesprochen. Seine große Rede hat bedeutendes Aufsehen gemacht, und ich habe sie vielfach preisen gehört. Ich habe sie gelesen, finde aber darin Nichts von einer höheren Natur zu bewundern. Die Staatsrechte des Südens sind das höchste Ziel, wofür er kämpft, und seine höchste Appellation ist an das ritterliche Ehrgefühl für — eigene Ehre. „Der Süden darf nicht nachgeben, weil der Süden der schwächere Kämpfer ist. Wenn der Süden besiegt werden soll, so darf doch keine Röthe der Scham seine Wange beflecken.“ Soulé ist ein französischer Ritter, aber nicht vom höchsten Schlag; kein Bayard oder Turenne.
Der kaltblütige Senator von Alabama, ein Mann von scharfem und strengem Aussehen, hochgeachtet wegen der Rechtschaffenheit seines Charakters, sitzt im Lager der Südländer neben dem feurigen Missisippier, nämlich dem jüngeren der Senatoren dieses Staats; einem feurigen jungen Mann von schönem Gesicht, der heftig für die Rechte des Südens spricht. Der zweite und ältere Senator von Missisippi, Mr. Foote, ist ein kleiner, magerer, ebenfalls feuriger Mann, den ich für einen wahrhaft warmen Patrioten halte. Er ist für die Union, und seine glänzenden Augenblicke sind diejenigen, wo er sich auf polemische Dithyramben gegen Jeden wirft, der sie bedroht. Die Explosionen seiner Ausfälle reißen ihn beinahe vom Boden auf, während seine ganz elastische, aber doch sehnige Gestalt in heftigen Zuckungen aufwärts den Apostrophen des Geistes folgt. Diese sind zuweilen so scharf und strafend, das ich mich über die Geduld gewundert habe, womit der Senat und besonders gewisse Senatoren sie anhören. Aber es kommt mir vor, als hören sie dieselben mit einem gewissen Kennergefühl für die Arbeit eines talentvollen Künstlers. Mr. Foote ist übrigens beständig auf den Beinen, hat immer etwas zu bemerken, zurechtzuweisen, und er ruft durch seine quecksilberne Lebhaftigkeit zuweilen ein allgemeines Lachen hervor, aber von gutmütiger Art, wie Mr. Foote im Grunde selbst ist.
In der Nähe des „feueressenden Missisippi“ erblickte ich einen jungen Mann, gleichfalls von schönem Aussehen und mit Gesichtszügen, die denen eines Indianers merkwürdig gleichen. Es ist der Senator von Virginien (auf seinen Namen besinne ich mich nicht, und er soll ein Abkömmling der indianischen Heldin Viriginens Pocahuntas sein; für mich ist dieß seine vornehmste Merkwürdigkeit.
Und jetzt, mein liebes Agathchen, kannst Du wohl für heute genug an Politik und an politischen Herrn haben. Mehr werde ich Dir schreiben, wenn ich selbst mehr gesehen habe. Zwei Abgesandte der Mormonen zeigen sich auch im Senat (doch nicht im Senat selbst, sondern nur im Vorhof) und überbringen dem Congreß einen Antrag des sehr schnell auf 12000 Seelen angewachsenen Mormonenvolkes, das um Einverleibung in die Union und um militärischen Schutz gegen die Indianer bittet. Diese sonderbare Secte ist, nachdem sie von dem Volk in Illinois aus ihrer ersten Heimath am Missisippi vertrieben worden, weit nach Westen jenseits der indianischen Wildnis Nebraska gewandert und hat in einem fruchtbaren Thale rund um einen großen Binnensee, genannt der große Salzsee, im obern Californien einen blühenden Staat gegründet. Ueber die Regierung und über die Sitten des Völkchens habe ich bis jetzt noch nichts recht Klares und Bestimmtes gehört, aber ihre Bibel, die Mormonenbibel habe ich hier entlehnen können. Sie enthält erstlich die ganze christliche Bibel, sodann verschiedene Zusätze zu derselben von der Hand einiger späteren angeblichen Propheten, von welchen Meroni und Mormon die letzten sind. In ihren Weissagungen kommen nähere und bestimmtere Prophezeiungen von Christus vor, ja beinahe seine ganze Geschichte und viele von seinen Worten, aber, soweit ich entdecken kann, durchaus nichts Neues in der Religionslehre. Die Eigenthümlichkeit der Secte scheint sich darauf zu gründen, daß ihr Prophet Joe Smitt in gerader Linie von diesen letzteren christlichen Propheten abgestammt sein und durch wunderbare Mittheilung einen Theil ihrer Bücher, wie auch ihrer geistigen Gaben empfangen haben soll, nebst der Macht, diese Gaben Andern mitzutheilen, wodurch sie in einen näheren Verband mit Christus kommen, als alle andern Christen. Wie ein Mann, der offenbar in vielen Stücken ein Betrüger war, über Tausende von Menschen in einem gegenwärtigen christlichen Staat eine so große Macht erhalten und sie dazu bringen konnte, eine große und ordentliche, seinen Gesetzen gehorsame Gemeinde zu bilden, das scheint sich kaum anders erklären zu lassen, als dadurch, daß dieser Mann zugleich einige wirklich ungewöhnliche Gaben, theils von prophetischer Art (und wir hören ja noch täglich von vielen solcher Abarten des ältesten prophetischen Vermögens, wie z. B. von dem zweiten Gesicht der Schotten) theils Gaben weltlicher Klugheit besaß. Er wurde im Kampf mit der Bevölkerung von Illinois erschossen und er soll die Zeit und die Art seines Todes mit Bestimmtheit vorhergesagt haben. Aber das Mormonenvolk läßt sich fortwährend von Männern leiten, die seine Gesetze befolgen und angeblich von seinem Geiste geleitet werden.
Ich muß Dir jetzt ein wenig von meiner neuen Heimath erzählen. Es ist dieß das Haus eines Professors der Geologie Namens Johnson. Er selbst befindet sich gegenwärtig auf einer Geschäftsreise, wird aber bald zu Haus erwartet. Seine Frau, ihre Schwester und zwei Adoptivkinder, ein schönes Mädchen von fünfzehn und ein Junge von dreizehn Jahren, bilden die ganze Familie. Mrs. Johnson ist eine eifrige Predigerin gegen die Sklaverei und für die Wasserkur. In der ersteren Anstalt sieht sie die Wurzel alles Uebels, in der letzteren die Arznei für alles Uebel; sie ist ein grundguter, redlicher, offener, herzlicher, vortrefflicher Charakter mit vieler frischen Originalität. Die um mehrere Jahre jüngere Schwester ist Quäckerin und hat eines jener milden schönen Gesichter, welche bei den Weibern dieser Secte so gewöhnlich sind, wie auch ihre verständige stille Art zu sein. Sie trägt sich immer weiß und jeden Morgen ist der Frühstückstisch mit frischen Rosen geschmückt, die sie von ihrem Spaziergang vom Park am Capitol mitbringt; eine oder zwei Rosen liegen bei jedem Couvert, just wie wir es bei unserem Frühstückstisch zu Arsta zu haben pflegen. Miß Donaldson ist das Ideal der poetischen[WS 6] Quäckerin, und die eine und andere Zeile schöner Poesie wird von Zeit zu Zeit in ihr Gespräch eingeflochten, immer an ihrem Ort, immer voll Anmuth. Miß Donaldson erfrischt mich schon durch ihre bloße Gegenwart, die eine gewisse Ruhe um mich her ergießt. Mrs. Johnson erfrischt mich mit ihren kalten Bädern, mit ihrer muntern Natürlichkeit, sowie mit den Disputationen, die ich sie zuweilen zu meinem großen Vergnügen mit dem schwedischen Doctor Hebbe halten höre; ich bin ihr unendlich dankbar für den schönen Frieden und die Freiheit, die ich in ihrem guten Hause genieße.
Es ist Sonntag, und ich bin nicht in die Kirche gegangen, um bei Dir auszuruhen und mit Dir zu plaudern. Es ist sehr heiß, aber die Sykomore vor meinem Fenster spendet mir Schatten und so viel als möglich Kühlung durch die grünen Jalousien. Jetzt bist Du wohl mit Mama auf Arsta, mein liebes Agathchen, lebst wieder auf und schweifst in der Sommerluft und unter Blumen umher. Mögen alle andern Dinge zu Hause sich eben so sommerlich gut anstellen und Dir dein Landleben recht genußreich machen!
Hier ist Alles wieder in vollem Kampf. Präsident Taylor ruht in seinem stillen Grab, innig betrauert von seinen nächsten Angehörigen, sowie von seinen Kriegsgefährten. Seine Beerdigung fand neulich mit Pomp statt, war jedoch weniger prunkvoll als die Leichenfeier Calhouns in Charleston und zog weit weniger Zuschauer herbei. Ueber seinem Grab stürzten die politischen Parteien mit erneuter Bitterkeit auf einander los, und die Ermahnungen, die sein Tod im Congreß hervorgerufen, daß man auf höhere Dinge bedacht sein soll, als auf egoistische und irdische Interessen, scheinen mit ihm begraben zu sein. Der Senator von Alabama, Mr. King, ist jetzt Senatspräsident an Fillmores Statt und füllt diesen Platz mit etwas mehr Schärfe und bedeutend weniger Anmuth aus als dieser. Ueber Fillmore, der jetzt auf einmal die erste Person in den Vereinigten Staaten geworden, regnet es Zeitungsartikel, die seine Person, seine Lebensverhältnisse, sein Talent, seinen Charakter u. s. w. nach allen Seiten beleuchten. Ein Staatsmann hier zu Lande ist wie ein Steuermann auf seinem Schiff immer allen Wettern und Windstößen ausgesetzt, so daß er bald verwittert genug werden muß, um sich nur wenig darum zu bekümmern, wie der Wind bläst. Dieser Steuermanns-Charakter ist auch der einzige, der für jede öffentliche Person, für Staatsmänner, Beamte oder Schriftsteller taugt. Mag der Wind blasen wie er will, ein solcher Mann hat blos für Eines zu sorgen, blos nach Einem zu fragen, nämlich daß er dem Compaß angemessen steure, welcher hier das Gewissen oder die gewissenhafte Ueberzeugung ist. Aus Fillmores Biographie geht hervor, daß er auch einer der selbstgemachten Männer der neuen Welt ist, daß sein Vater ein geringer Farmer war, und daß der Junge blos die Erziehung einer allgemeinen Schule genoß, daß er als Jüngling das Schneiderhandwerk erlernte, später Schullehrer und sodann Schreiber bei einem Advokaten war, der auf seine glücklichen Anlagen aufmerksam wurde und sich seiner annahm. Man rechnet ihn nicht unter die Talente höchster Classe, aber man rühmt seinen Charakter und seinen gesunden Verstand (good sense). Man spricht viel davon, daß in dem Augenblick, wo er zum Präsidenten gewählt wurde, seine einzige Tochter Lehrerin in einer Mädchenschule war und noch ist. (Gleichwohl keine ordentliche Lehrerin, wie ich im Anfang meinte, sondern blos auf ein Jahr, indem sie das Lehramt in einer Schule besorgt, wo alle Zöglinge, um ihren Curs zu vollenden, ein Jahr lang dieser Beschäftigung obliegen müssen.)
Von mir habe ich Nichts als lauter gute Dinge zü sagen, meine liebe Agatha. Ich lebe in einer Welt voll von Interesse und erfreue mich jeden Tag neuer Bekanntschaften, sowie solcher Gespräche, die mehr Gedanken wecken, als ich in langer Zeit verarbeiten kann, was alles anstrengend ist, zumal während der starken Hitze. Aber ich mag jetzt so erschöpft und müde sein, als ich will, bei jedem Wort von wirklichem Interesse spannen sich die Nerven, das Herz schlägt gesund und ich fühle mich so stark und lebensfrisch wie nur je. Nirgends habe ich so vielseitig interessante Unterredungen gehabt wie hier. Aber hier im Congreß und um ihn her ist auch ein großer Theil der Weisheit der Vereinigten Staaten jetzt concentrirt, denn diejenigen, die allgemeine nützliche Reformen oder Pläne durchgesetzt zu sehen wünschen, kommen hieher, um beim Congreß Gesuche einzureichen, mit den Mitgliedern desselben zu sprechen oder den Gang der Dinge zu überwachen. Unter diesen Herren befindet sich ein Mr. T., der für die Reform des Postwesens arbeitet, Herabsetzung des Briefportos für die ganze Union, ähnlich der in England eingeführten Reform in dieser Sache verlangt, und man hat alle Ursache zu glauben, daß das Ding bald durchgehen werde.
Mr. T. hat mich überdieß durch seine rege Theilname für die höhere Entwicklung der Weiber und seinen klaren Einblick in deren Einwirkung auf das ganze Geschlecht sehr interessirt. „Wenn man mir,“ sagt er, „die Wahl ließe, den Männern oder den Weibern in einem Volk die Erziehung zu geben, so würde ich mit den Weibern beginnen.“ Aber diese Ansicht herrscht ziemlich allgemein unter den denkenden Männern der neuen Weit. T. ist gleich mir erstaunt über den bedeutenden Charakter der Quäckerweiber, und er findet den Grund davon in ihrer frühzeitigen Gewohnheit an Selbstregierung, eine Gewohnheit, die sie sich durch ihre baldige Theilname an dem bürgerlichen Leben aneignen.
Professor Henry ist einer der liebenswürdigsten Gelehrten, die ich je getroffen habe, und seine Unterredungen mit mir gewähren mir großes Vergnügen. Vor einigen Tagen sprachen wir von den letzten Gesetzen der Dinge. Henry bemerkte, daß diese um so einfacher erscheinen, je näher wir zu ihnen dringen, und fügte hinzu: „Um sie in ihrer höchsten Wahrheit aufzufassen, ist eines Engels Gemüth und eines Engels Blick erforderlich.“ Ach! Wie Oersted ist Henry übrigens ein Verehrer der Naturgesetze, ohne darein jedoch die Naturphänomene aufnehmen zu wollen, die auf eine geisitige Naturwelt deuten, welche weit reicher ist als derjenige Theil, den sie allein als reell gelten lassen wollen. Und in diesem Punkt lebe ich mit Henry, wie ich mit Oersted that, in Fehde. Aber immerhin! Was die Menschen sind, was sie geben, ist das Wichtige, nicht was sie nicht sind oder nicht geben können. Jeder hat sein Pfund zu verwalten bekommen. Das wissen wir Alle, aber wir vergessen es so oft, während wir tadeln und kritisiren.
Mr. Carey, der Nationalöconom, sprach gesterm in meiner Gegenwart gewiß länger als eine Stunde von der rechten Staatsbildung. „Das eigentliche dauernde Gebäude war nicht der Säule gleich, sondern der Pyramide. Die Säule entsprach dem europäischen monarchischen Staatsgebäude, sie kann kein großes Gebäude tragen, sondern stürzt darunter zusammen.“ Vor mehreren Jahren, als Carey Ludwig Philipp in Frankreich Macht und Reichthum bei sich und seiner Dynastie concentriren sah, hat er gesagt: „Das kann nicht lange gehen, das muß über den Haufen fallen,“ und so ging es auch bald darauf. „Die rechte Staatsformation, diejenige, welche der Zeit und den Stürmen trotzen kann, muß eine gewisse Basis haben und von dieser aufwärts bauen; diese Form ist die der Pyramide, und sie ist die Staatsbildung der Vereinigten Staaten, wo von der Basis allgemeiner Volkserziehung und bürgerlicher Gleichheit das Staatsgebäude fest und unerschütterlich gleich den Anden und Alpen auf seiner Grundlage emporsteigt.“ Diese Vergleichung scheint mir gut und die Sache wahr zu sein.
Weniger klar scheint mir seine nationalökonomische Theorie, welche die Production der Erde auf die gleiche Höhe mit der Bevölkerung setzen, und den Tod wenigstens in seinen großen Werkzeugen, dem Krieg und der Pestilenz unnöthig machen will, ja überhaupt unnöthig, um den Ueberlebenden Luft und Platz zum Athmen zu schaffen. Ich freue mich über alle Theorie und Arbeit in dieser Richtung, denn sie helfen immer zu etwas mehr Licht, zu freierem Athmen und zu Hoffnungen auf Erden. Aber klar will es mir gleichwohl scheinen, daß eine Insel, die gerade zehn Personen ernährt, niemals ebensogut zehnhundert ernähren wird. Ja, sagt man eine Insel, ein kleiner beschränkter Platz mit beschränkten Mitteln und Quellen, aber die ganze Erde!
Aber was ist denn die ganze Erde anderes, als eine kleine, sehr kleine Insel im Weltmeer? Hat sie etwas anderes als beschränkte Mittel? Kann sie, selbst wenn all ihr Boden angebaut ist, etwas anderes werden als eine Pflanzschule, wo die Bäume bald ins Gedränge kommen, wenn sie nicht versetzt werden, als eine Pilgerkolonie, die in neue Welten auswandern muß? Ach! Nächst dem Glück auf dieser unserer schönen guten Erde geboren zu sein, weiß ich kein schöneres fröhlicheres Privilegium, als die Hoffnung sie verlassen, von ihr auswandern zu dürfen in eine größere freiere bessere Welt. Aber könnten die Nationalökonomie und die andere Wissenschaft die Noth auf Erden zu nichte machen, und den Tod zu einem friedlichen Bürger im Staat, der blos zu den Alten kommt, und wie ihr bester Freund, der Schlaf, kommt — das wäre herrlich.
Horace Mann (der große Erzieher) ist ein Mann von starker, unermeßlicher Hoffnung. Ich war niedergeschlagen, als ich mit ihm sprach. Aber er flößte mir ein Gefühl neuen Muthes ein. An seiner Stirne (einer jener zweistöckigen[WS 7] Stirnen, die emporstrebende Ideen beherbergen) erkennt man den Mann, der lediglich durch den Einfluß seines Kopfes in allen nördlichen Staaten neue hohe luftige Lehrsäle errichtet und das Gesellschaftsgebäude allda eine Treppe höher hinaufgebracht hat. Sein Raisonnement ist in Kürze wie folgt:
„Wir erben Vermögen, gute und böse Eigenschaften von unsern Vätern. Die eine Generation beerbt die andere. Die Missethaten und Tugenden der Väter werden, das Menschengeschlecht im Ganzen genommen, fortgepflanzt. (Nach den Worten der Bibel werden sie in den Kindern und Kindeskindern bestraft und belohnt.) Dadurch daß man dem ganzen Volke eine große Erziehung angedeihen läßt, wird das ganze Volk höher steigen, und die nächste Generation wird bei gleicher Behandlung und mit einem höheren Erbe noch höher steigen, und so in Unendlichkeit.“ Horace Mann spricht davon mit dem Glauben, der Berge versetzen kann. Er ist wie Carey eine Kämpfernatur, nicht schonend gegen diejenigen, die ihm im Wege stehen auch nicht sehr geliebt von seinen Gegnern und von Leuten, die in der Gemächlichkeit des Geistes leben wollen. Ich, die ich diesen beiden Männern blos widerspreche, um mehr von ihnen zu hören, habe nun von ihnen erfahren, was ich zu wissen froh bin. Beide stehen in ihren besten Jahren, sind schlanke elastische Gestalten von jugendlich lebensvollem Wesen, und der Strahl des Genies, der ihr Gesicht beleuchtet, ist ihre vornehmste Schönheit. Ihre hellen blitzenden Augen sind das Klarste, an was ich mich erinnern kann.
Ich treffe hier mehrere Männer, deren eigentliche Talente oder gesunder Verstand von diesem Strahl von Oben beleuchtet werden, welcher überall, wo wir ihn erkennen, so belebend wirkt.
Und hier im Lande, wo jede Staatsfrage heimlich oder offenbar in nahem Verhältniß zum höchsten Wohl und Ziel des Menschen steht und danach behandelt werden kann, und hier in dieser Stadt, wo der gegenwärtige Gesellschaftskreis blos ein Vorsaal des Congresses ist, hier wird leicht jedes Gespräch zum Herzpunkt des Lebens gebracht und erhält dadurch Leben.
Aber wenn ein Fremder in dieser Zeit nach Washington käme und vom Capitol herab über das herrliche Land hinausschaute, wenn er seine Gedanken noch weiter über das Gebiet der Vereinigten Staaten vom atlantischen bis zum stillen Meer hinfliegen ließe, wenn er während der Sitzung des Congresses hier stände und das sternbesäete Banner der Vereinigten Staaten über dem Capitol flattern sähe und er dann dächte:
„Wie groß, wie herrlich muß es sich nicht für die Männer da innen empfinden, hinabzublicken mit dem Bewußtsein, daß sie über dieses große reiche Land, über diesen Welttheil das Leben der Freiheit ausbreiten!“
Gewiß würde er dann verwundert zurückstutzen, wenn er vom Capitol heraus antworten hörte: Nein, das Leben der Sklaverei!
Gewiß würde er zurückstutzen und falsch gehört zu haben glauben, würde alles Andere lieber glauben wollen, als eine solche Ungeheuerlichkeit, als eine solche entsetzliche Lüge in einem Land, dessen Grundgesetz sagt:
„Wir betrachten folgende Wahrheiten als selbstverständlich: daß alle Menschen gleichgeschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind, daß zu diesen das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück gehört u. s. w.“
Und gleichwohl wenn ein Fremder jetzt nach Washington käme und der Stimme im Capitol lauschte, so würde er da nichts Anderes hören, als die Verleugnung der Freiheit.
Ich gestehe, es hat mich tief verstimmt, Tag für Tag im Senat nichts als Prosklavereireden der Südländer zu hören, ohne ein einziges Wort der Erwiederung von Seiten der Antisklavereimänner zu vernehmen. Ich habe auch verwundert gefragt, woher dieß kommen möge, und man hat mir geantwortet, die Gegner der Sklaverei haben ihre Salven bereits abgefeuert und jetzt müsse die andere Partei Zeit haben, sich auszusprechen, worauf man zur Abstimmung schreiten werde, wobei die Protestation gegen die Sklaverei sich ohne Worte geltend mache. Aus einigen Reden, die ich am Anfang hörte, und aus den gedruckten Reden Sewards und mehrerer Congreßmitglieder habe ich auch gesehen, daß die Erklärung nahe ist, und ich kann blos beklagen, daß ich während dieser Periode, wo die Discussion sich schon zu Ende neigte, hieher gekommen bin.
Es ist jedoch ein bedeutender Schritt vorwärts im politischen Leben, daß die Discussion der Sklavenfrage vollkommen frei ist. Vor wenigen Jahren war sie bei Lebensstrafe im Congreß verboten. Tapfere Männer, Freunde der Menschheit und das allgemeine Gefühl haben diese Mauer niedergerissen. Und der Kampf um Freiheit oder Sklaverei hat sich in dieser Zeit immer stärker auf das innerste Gebiet der Frage in der Menschheit zusammengezogen, und es sind dabei große Gedanken zu Tage gekommen, die auf mich den Eindruck machen, wie in einer Landschaft Alpen, auf deren hohe Scheitel die aufgehende Sonne ihre ersten Strahlen wirft. Zu diesen Gedanken gehört derjenige, ob ein Gesetz Gottes höher sei, als die Gesetze des Staates, und in Kraft welcher Gesetze die Gesellschaft das Recht habe sich den letzteren zu widersetzen, wenn sie gegen die ersteren streiten.
Dieß ist im Grund blos eine Anwendung des ersten Grundsatzes in der Freiheitserklärung der amerikanischen Staaten auf die Streitfrage des Tags. Aber die Idealisten im Norden sprechen ihn in dieser Zeit mit Kraft und Schönheit aus, und es ist mir klar, daß er früher oder später das Freiheitsbanner im Kampfe sein wird! Die Gegenpartei hinwiederum sagt, sie verstehe nichts von diesem Gerede über ein Gesetz, das höher sein solle als die Constitution und die Treue gegen dieselbe. Und das sagt auch Daniel Webster, der Repräsentant des Pilgerstaates. Sein Feldgeschrei ist Verfassung und Union. Sie sind seine Götter und für ihn gibt es keinen Gott über ihnen.
Gestern hörte ich im Senat eine sehr bemerkenswerte Rede von Webster, die einen entscheidenden Eindruck zu seinen Gunsten auf mich machte. Ich bin bis jetzt viel mit Feinden und politischen Gegnern Websters umgegangen und habe ihn vielfach angreifen und herunterreißen gehört. Jetzt bin ich überzeugt, daß er in seiner Ueberzeugung vollkommen ehrlich sein kann, und ich will glauben, daß er es ist. Er sprach heute für Clays Compromißbill und hielt sie in allen Punkten fest, indem er erklärte, daß sie nach seinem Dafürhalten im gegenwärtigen Augenblick die nothwendigen Bedingungen eines Vergleichs zwischen den streitenden Staaten erfülle, und daß er diesen Vergleich als die Bedingung des Fortbestandes und zukünftigen Wohls der Union betrachte. Er sagte: „Ich glaube an eine Vis medicalis, an eine gesunde Lebenskraft bei den Nationen sowohl, als bei den einzelnen Menschen, und mit was für Fehlern und Gebrechen wir auch belastet sein mögen, so werden wir uns derselben weit leichter entledigen, wenn wir zusammenhalten und in großsinniger Verträglichkeit unsere Bande mit einander tragen, als wenn wir sie in blinder Uebereilung zerrissen.[3] Sodann rief er in kurzen kräftigen Sätzen, deren jeder ein lebhaftes Gemälde enthielt, die Erinnerung dessen hervor, was die verschiedenen Staaten, der Pilgerstaat wie der Palmettostaat während ihres Selbständigkeitskampfes für einander gewesen, wie sie mit einander für das gemeinsame Wohl gelitten und gestritten, und er schloß mit der Mahnung, sich von den vereinzelten Interessen dem allgemeinen Wohl zuzuwenden, die Constitution, so wie die Väter sie gegründet, aufrecht zu erhalten, „mehr als gewöhnliche Tugend zu üben!“ „Was mich betrifft, so werde ich bei der Union stehen und bei Allen, die zu ihr stehen. Ich mache den Vorschlag, bei der Constitution festzustehen, und ich bedarf keiner andern Plattform. Ich werde es dem ganzen Lande recht machen. Ich werde einzig und allein unser Land anerkennen. Mögen die Folgen für mich sein, welcher Art sie wollen, ich bekümmere mich nicht darum. Niemand kann zu viel leiden und Niemand kann zu früh fallen, wenn er in der Vertheidigung der Freiheit und Verfassung seines Landes leidet und fällt.“
Webster hatte seine Rede leise, bedrückt und in scheinbarer Leblosigkeit begonnen. Gegen Ende derselben hatten seine Wangen Jugendgluth bekommen, seine Gestalt richtete sich auf, zeigte sich schlank und lebensvoll, und bei den letzten Worten stand er in voller, beinahe apollischer Mannesschönheit inmitten der bezauberten, lauschenden Versammlung; er blieb ruhig, ohne sichtbaren Affekt, noch stehen, aber er schien sich glücklich und frei zu fühlen in der Erhabenheit des Gesanges, den er erhoben. Ach! hätte er einen noch schöneren, noch höheren Gesang erhoben, so wäre Alles vollkommen gewesen — der Sieg des Lichtes und der seinige. Aber indem er für Californiens Freiheit sprach, sprach er zugleich für die Einfangung geflüchteter Sklaven selbst in den bisher freien Ländern — und kein Fleck auf Amerikas Erde sollte hinfort mehr eine Heimath der Freiheit genannt werden können. Die unglückseligen Verhältnisse, die politische Nothwendigkeit trieb ihn dazu. Er konnte nicht anders handeln. Das glaube ich. Und ich stimme auch in sein Glaubensbekenntniß ein: „Ich glaube an eine gesunde Lebenskraft bei den Nationen u. s. w.“ Dieses Glaubensbekenntniß wird sich, glaube ich, als prophetisch wahr erweisen. Aber ich will jetzt von dem Eindruck seiner Rede sprechen. Nie habe ich einen Vortrag gehört, der ergreifender und elektrischer gewirkt hätte. Aus der tiefen Stille, worin die Versammlung, gleichsam mit zurückgehaltenem Athem, ihm lauschte, schaffte sich einmal ums andere das Beifallsgetöse wie ein hervorbrechender Donner Luft. Einmal ums andere mußte der präsidirende Senator (von Alabama), und zwar zuletzt recht scharf, die Zuhörer auf den Gallerieen erinnern, daß solche Beifallsbezeugungen verboten seien; bei jedem neuen Blitz in Websters Rede erhob sich der Beifallsdonner von Neuem und wurde erst durch das Bedürfniß, den Redner weiter zu hören, gewaltsam zum Schweigen gebracht. Von der entzückten Versammlung wandte ich meine Blicke auf ein Gesicht, das von einer so warmen und reinen Freude strahlte, daß ich nicht umhin konnte, aufs Innigste mit ihm zu sympathisiren, denn dieses Gesicht gehörte der Gattin Websters. Ich habe mir sagen lassen, sie sei das erste Mal, als sie ihren Mann öffentlich sprechen hörte, in Ohnmacht gefallen. Sie sieht indessen kräftig und keineswegs nervenschwach aus.
Man kann sich in der That von Websters Gewalt als Redner, von der klassischen Schönheit und Kraft seiner Sprache (selbst wenn es den Ideen, die er ausspricht, oft an Neuheit, zuweilen an Größe fehlt), sowie von der tiefen Eindringlichkeit seiner Stimme, wenn er auf Etwas Nachdruck legen will, seinen Begriff machen. Wenn dies nicht ein ungewöhnlich großes Naturtalent ist — er sieht nämlich ganz einfach und natürlich aus — so ist es eine sehr große Kunst. Im Allgemeinen schreien die Redner hier zu Lande zu viel, sie sind in ihrem Wesen zu heftig, sie brüllen und bellen die Worte heraus, wenn sie recht kräftig sein wollen. Henry Clay ist von diesem Fehler nicht frei, aber bei ihm ist es weit mehr der innere Drang, und er läßt sich mehr vom Gefühl hinreißen als Webster.
Ungeachtet die Compromißbill jetzt diese beiden Staatsmänner für sich hat, glaubt man doch allgemein, daß sie wenigstens in ihrem gegenwärtigen Omnibus-Charakter durchfallen werde, ja man behauptet sogar, sie sei bereits über den Haufen geworfen. Henry Clay, der jetzt schon sieben Monate für sie gekämpft hat, kämpft noch immer beinahe wie ein sterbender Gladiator für sie und es thut eigentlich weh, wenn man ihn leidenschaftlich und heftig, beinahe wie einen Jüngling mit zitternden und todesblassen Händen (die Finger sind so mager und bleich) seine weißen Locken aus der hohen Stirne zurückwerfen sieht, auf welche sie durch seine heftigen Kopfbewegungen, wenn er im Senat spricht oder auf Angriffe antwortet, beständig herabfallen. Webster ist in seinem ganzen Wesen schöner und ruhiger. Gleichwohl erblicke ich in Clay den patriotischen Helden, der sein Vaterland und sein Volk auf der Bahn der Freiheit vorwärts führen will, während Webster mit all seiner Schönheit und Redegewalt für mich blos eine große Staatsfeuerwache ist, die darüber wacht, daß die Constitution nicht an irgend einem ihrer alten Knoten Feuer fange. Webster ist ein Mann der Vermittlung, ein Mann der Union. Er ist ein Pacificator, aber kein Regenerator.
Ich komme nie dazu, Dir so zu schreiben, wie ich gern möchte. Meine Stunden sind so sehr in Anspruch genommen. Noch ist die große Frage im Congreß unentschieden,[WS 8] noch kämpfen die Staatsmänner auf Leben und Tod. Seit ich die persönlichen Kämpfe hier gesehen habe, finde ich Nichts natürlicher, als den Enthusiasmus der Amerikaner für ihre Staatsmänner, denn Heldentugenden und Heldenmuth sind in diesem Geisteskampfe erforderlich, und zwar von weit höherem Charakter als im blutigen Felde. Und blutlos ist dieser Kampf nicht, obschon man das Blut nicht fließen sieht; des Menschen bestes Herzblut wallt und erglüht hier unter den scharfen Streichen mit dem Schwerte des Worts. Gestern war ich Zeugin eines Einzelkampfes zwischen dem Löwen von Kentucky und dem Habicht von Missouri, und dieser Kampf machte mein Blut wallen vor — — Entrüstung.
Oberst Benton (der Habicht) hatte vorgestern Clays Compromißbill heftig angegriffen und dabei geäußert:
„Die Bill ist in flagranti delicto ergriffen, sie ist auf der That ertappt, ich habe sie im Nacken gepackt und zeige sie hier zu ihrer Schande und Schmach den Blicken des Publikums, (und Benton hielt dabei die Bill zusammengerollt hoch in die Luft) just wie sie im Begriff steht ihr Verbrechen zu verüben, im Begriff u. s. w.“ Gewiß drei Stunden lang arbeitete Benton mit wahrer Mordlust, um dieses Ungeheuer, wie er Clays Bill nannte, zu tödten und zu vernichten und mit allen Arten von Waffen Clay selbst anzugreifen, indem er auch ihn dem allgemeinen Tadel und Spott preiszugeben suchte, auf eine Art, die nach Haß und niedriger Bosheit schmeckte. Dieser Angriff füllte beinahe die ganze Sitzung aus. Gestern erhob sich Clay zu seiner Vertheidigung und verlangte von dem Senat, er solle seine Mißbilligung über Ausdrücke von der Art, wie Benton sie gebraucht hatte, aussprechen. Aber er reizte dadurch das Untier von Missouri nur zu noch feindseligeren Persönlichkeiten. Und ich faßte einen wahren Abscheu vor dem sichtlichen kaltblütigen Vergnügen, womit er, nachdem er eine schwache Stelle in Clays Position entdeckt hatte, ihn in seinen Klauen zu halten und sich recht eigentlich in sein Fleisch und Blut einzugraben schien. Verzeih, daß ich so rohe Ausdrücke gebrauche, aber ich male (und zwar nur in Wasserfarben) den Charakter der Handlung. Besonders deutlich erinnere ich mich an Folgendes:
Benton erwähnte einen Ausdruck in der Bill, dessen Berührung, wie er merke, Clay sehr angelegentlich auszuweichen suche. „Ich sehe,“ sagte er, „daß der Senator von Kentucky an dieser Stelle besonders empfindlich ist, ich will sie daher noch einmal sondiren, ich will noch einmal das Messer an den schmerzenden Nerv setzen!“ … Und er streifte dabei (vielleicht unbewußt) seine Rockärmel auf, gleich als bereite er sich zu einer Operation vor, an die er mit großem Vergnügen gehe. Ich sah den kaltblütigen Duellanten vor mir; vielleicht streifte er seine Aermel deswegen zurück, um die Handgelenke ganz frei zu haben, während er langsam auf seinen unglücklichen Gegner zielte und ihn zuletzt niederschoß. Wie verabscheute ich diesen Mann und seine unedle Kampfesart! Ein starker edler Zorn, das ist ein erfrischender Anblick. Aber diese raubthierartige Lust am Quälen, Pfui!
Der Löwe von Kentucky spürte des Habichts Klauen und Schnabel, das sah ich an der Gluth auf seinen Wangen, an seinen hastigen fieberischen Bewegungen, als er sich ein paarmal zu seiner Selbstvertheidigung erhob. Um so mehr bewunderte ich, daß er sich zu keiner Persönlichkeit hinreißen ließ, daß er während eines großen Theils der langsamen Operationen seines Gegners ganz still verblieb, daß er sich stets als Gentleman zeigte gegenüber einem Raubthier, das sich den Instinkten seiner rohen Natur hingab. Aber ich wunderte mich, daß während des langen Streites im Senat selbst sein hochsinniges Gefühl sich gegen diese Art zu kämpfen erhob. Ich sehnte mich darnach. Die scandinavischen Heiden schlugen sich auf ritterlichere Art und Weise. Auch wunderte es mich Abends in einer Gesellschaft, daß ich mit meinen Eindrücken vom Verfahren des Senators Benton durchaus kein Echo fand. „Ich müßte mich sehr täuschen, Miß,“ sagte Senator H. zu einer jungen Dame (einer literarischen Löwin, die gegenwärtig in Washington ist), wenn Sie nicht an der Art, wie Benton mit Clay umsprang, Ihre wahre Herzenslust gehabt hätten?“ „Ja,“ antwortete sie, „es war ein wahres Fest für mich!“ Welch ein Geschmack!
Clay hat übrigens bei seinen politischen Kämpfen im Senat nicht immer dieselbe Maßhaltung und Ueberlegenheit gezeigt, und erst vor Kurzem ließ er sich in einem Streit mit Benton zu einer ähnlichen Rohheit wie dieser selbst hinreißen. Aber nur für einen Augenblick. Die Heftigkeit, die bei Clay ein Paroxismus ist, ist bei Benton Natur. Der erstere wird dazu gereizt, der letztere greift ihn mit beinahe unglaublichem Uebermuth damit an. Clay wird davon überrascht, Benton hat sie stets bei der Hand.
Heute, als ich ungewöhnlich spät in den Senat kam, sprach Clay. Man hatte nicht erwartet, daß er sprechen würde. Aber ein Vorfall während der Discussion hatte ihn hingerissen, und ich sah ihn jetzt in einem der Augenblicke, wo sein leidenschaftlicher Ernst unwillkürlich die ihn umgebende Versammlung mit sich riß oder ihr imponirte. Er stand mit geschlossenen und emporgehobenen Händen, mit aufwärts gerichtetem Gesicht da, und mit einer Stimme, deren Pathos und Wohllaut ich erst recht schätzen lernte, betheuerte er die Reinheit seiner Absichten und versicherte, daß er nichts Anderes als das Wohl des Vaterlandes bezwecke. „Was sollte auch mich verlocken können?“ fügte er hinzu. „In meinem Alter steht man dem Himmel näher als der Erde; denn man ist zu nahe daran die letztere zu verlassen, als daß man auf ihr einen Lohn suchen möchte. Das Zeugnis meines Gewissens ist das einzige, was mich im Kampfe stärken kann.“[WS 9] Alle schwiegen. Ich empfand tiefes Mitgefühl mit dem verlassenen Kämpen, der so allein hier unter vielen Feinden, vielen schadenfrohen Zuhörern stand und nicht einen einzigen Freund um sich hatte. Aber diese Vereinsamung ist die höchste Größe auf Erden, wenn man den höchsten Richter zum Freund oder wenigstens zu seinem einzigen Vertrauten hat.
Am Montag soll Clay seine letzte große, vielleicht seine Sterberede in der Californischen Frage halten, worauf sie vermuthlich bald auf die eine oder andere Art zur Entscheidung kommen und Clay jedenfalls den Congreß verlassen wird, um sich in ein Seebad zu begeben. Blos dieser Rede zu lieb bleibe ich noch einige Tage hier.
Jetzt will ich dir auch noch ein wenig von andern Personen und Verhältnissen dahier erzählen, die mir interessant waren. Unter den ersteren befindet sich ein Gelehrter, Mr. Scoolcraft, der die Missisippiquellen weit oben in der nördlichen Provinz Minnesota entdeckt hat. Er hat sich lange Zeit unter den nördlichen Indianerstämmen aufgehalten, weiß vieles Interessante von ihnen zu erzählen und beschäftigt sich dermalen mit der Herausgabe eines Werkes über sie und das Land am obern Missisippi. Er geht, da er an den Beinen gelähmt ist, an Krücken, aber seine Seele bewegt sich frei. Er ist ein interessanter und sehr wohlwollender Mann, und durch ihn, wie auch durch noch einige andere Personen hier, habe ich die allergrößte Lust bekommen, den obern Missisippi zu sehen, dessen Charakter man als so großartig beschreibt, zu den Indianern zu gehen, ihr wildes Leben zu betrachten und das Missisippithal seiner ganzen Länge nach vom Norden bis nach Neu-Orleans im Süden zu durchreisen. Ich möchte diese große künftige Heimath einer Bevölkerung sehen, von der man sagt, daß sie größer sein könne, als die gegenwärtige ganze Bevölkerung von ganz Europa. Nachdem ich den Süden von Nordamerika gesehen habe und das Leben des Westens ahne, erkenne ich die Wahrheit von W. Emersons Aeußerung: „Amerikas Dichter ist noch nicht gekommen.“ Aber wenn ich auch den Poeten nicht sehen darf, so möchte ich doch gern seine Muse sehen, die ihm seinen Gesang eingeben wird; möchte gern wenigstens einen Blick in die Größe ihres Reiches und die Kräfte, über welche sie in der Natur gebietet, werfen, möchte mir eine Muthmaßung über das Leben und die Entwicklung künftiger Geschlechter in ihrem Schoos bilden können.
In Mr. Scoolcrafts Sammlung indianischer Curiosa befinden sich auch kleine Flöten, welche die Indianer gebrauchen, wenn sie verliebt sind und ihre Liebe dem Gegenstand ihrer Sehnsucht zu erkennen geben wollen. Sie malen und schmücken sich dann aufs Beste, gehen am stillen Abend oder in der Nacht hinaus und blasen oder pfeifen in der Nähe des Zeltes oder Wigwams der Geliebten auf der Flöte. Ist die Schöne dem Liebhaber hold, so läßt sie sich außerhalb des Zeltes sehen, mitunter kommt sie ihm auch entgegen und läßt sich von ihm entführen. Diese Flöte ist ein sehr unvollkommenes Instrument, und die Indianer, die nicht sehr musikalisch sind, bringen nur einige wenige beinahe ganz unmelodische Tone aus ihr hervor, welche dem Gepfeife oder Gezwitscher eines Vogels gleichen. Mr. S. hat die Güte gehabt mir einige Gemälde von dem Leben und den Sitten der Indianer zu schenken; eines von ihnen schildert eine solche nächtliche Freiwerbung. Es steht dem Thierleben sehr nahe; man meint einen hübschen Vogel seiner kleinen Donna vorflöten zu sehen.
Auf dem Observatorium dahier habe ich durch ein
sehr gutes Telescop zu dem Mond hinaufgeguckt und
sein träumerisches mare vaporum (Dunstmeer), seine
Höhen und Thäler, sowie die Spalte in einem seiner Berge
so deutlich gesehen wie noch nie. Schade, daß diese
schöne Sternwarte eine so ungesunde Lage (am Potomak) hat, daß die Jünger der Wissenschaft sie nicht
bewohnen können, ohne ihre Gesundheit einzubüßen.
Mit einem schönen, neuvermählten jungen Paar und Miß Dix fuhr ich eines Tags an den Potomakfall, einen kleinen Wasserfall in einer wilden pittoresken Gegend. Wie der Geist des Ortes wandelte hier in größter Einsamkeit eine Art wilder Mann mit sieben Fingern an jeder Hand und sieben Zehen an jedem Fuß. Er war ein Riese von Körpergröße und lebte hier von Fischen. Man sagte mir, er sei ganz harmlos, wenn man ihn im Frieden lasse, aber ein gefährlicher Raufer, wenn man ihn beunruhige. Ich will es gerne glauben. Er sah aus wie eine jener Starkotternaturen, halb Mensch, halb Kobold, welche die scandinavische Urzeit an Trollhättas wildem Fall hervorbrachte, und welche die amerikanischen Wildnisse noch neuerdings hervorzubringen scheinen.
Ein anderes Curiosum, aber von kleinerem Schlag, sah ich dieser Tage, aber nicht in der Wildniß, sondern auf dem Capitol. Ich war im Repräsentantenhaus. Auf der Gallerie befanden sich sehr wenig Zuhörer und ich ging bis an die Schranke hinab, um wo möglich etwas von dem zu vernehmen, was unten im Saale gesprochen wurde. Hier stand neben mir ein kleines Frauenzimmer, von mittlerem Alter und so klein, daß sie mir kaum bis an die Schulter reichte.
Einige Personen kamen auf die Gallerie, um mich zu begrüßen, wobei sie meinen Namen nannten. Als sie gegangen waren, wandte sich meine kleine Dame gegen mich und äußerte den Wunsch, mir ebenfalls die Hand zu drücken und mich willkommen zu heißen, was sie sehr freundlich that, dann aber in mißvergnügtem Ton hinzufügte: „Ich habe mich sehr in Ihnen getäuscht!“ (I am very much disappointed in you.) — „So,“ sagte ich, „und warum?“ — „Ei,“ erwiederte sie mit einem ernsten, unzufriedenen Blick auf mich, „ich erwartete Sie würden ein großes Frauenzimmer sein.“ — „O,“ sagte ich lächelnd, „wünschten Sie denn mich groß zu finden? — „Nein, nicht gerade, aber ich habe mich sehr getäuscht,“ und indem sie die Hand auf ihre Brust legte, machte sie volle Front gegen mich und fuhr mit großem Nachdruck fort: „In mir erblicken Sie eine Abkömmlingin der alten Pilger; eine direkte Abkömmlingin des großen berühmten Miles Standish.“ Die kleine Abkömmlingin erwartete offenbar, ich würde aus Bewunderung niederfallen, aber ich sagte blos: „Ah!“ Hätte ich irgend einen bösen Blutstropfen in mir gehabt, so würde ich hinzugefügt haben: „Ich finde mich in Ihnnen sehr getäuscht, denn eine Enkelin des großen Miles Standish sollte wenigstens drei Ellen lang sein.“ Aber als kleine Abkömmlingin der großen Vikinger glaubte ich, es stehe mir nicht zu, mit einer Enkelin der Pilger über unsre respektive Länge zu rechten, und darum machte ich blos ein heiteres Ausrufungszeichen mit Blick und Mund, das sie ganz nach Belieben erklären konnte. Sie legte es vermuthlich zu ihrem Vortheil aus, denn sie fuhr fort, ganz wichtig die Angelegenheiten mitzutheilen, wegen welcher sie jetzt dem Congreß anwohnte. Die kleine Dame war durchaus ernsthaft und that sehr wichtig. Aber ich glaube nicht, daß sie große Aehnlichkeit mit dem alten Puritaner, ihrem Stammvater, hatte.
Jetzt muß ich dir einige häusliche Neuigkeiten berichten. Professor Johnson ist heimgekommen. Als der Brief eintraf, der uns von seiner baldigen Ankunft benachrichtigte, sprang seine Frau hoch auf vor Freude und ich hüpfte mit ihr vor Sympathie und Freude darüber, daß ich wieder eines jener glücklichen Eheverhältnisse sehen sollte, deren Betrachtung meine größte Freude ist und deren ich in der neuen Welt schon viele zu Gesicht bekommen habe. Der erwartete Gatte kam am folgenden Tag; er ist eine feste wohlwollende gemüthliche und gutmüthige Natur, die durch ihre Anwesenheit bedeutend zum Reichthum und der Annehmlichkeit des häuslichen Lebens beiträgt, auch für mich, weil er mir Nachmittags oder Abends, wenn ich zuweilen freie Stunden habe oder wenn das Wetter, das jetzt einige Tage lang regnerisch war an Bewegungen im Freien hindert, vorliest. So hat er mir Gouverneur Sewards vortreffliche Biographie von dem früheren Präsidenten Adams vorgelesen. Und diese frappirte mich besonders wegen des Heldencharakters, den der edle Staatsmann in seinem Kampf gegen die Sklaverei entwickelt. Ein großer Staatsmann hier zu Lande muß zu gleicher Zeit ein Weiser und ein Held sein, um recht nützlich wirken zu können.
Ich bringe fast alle Vormittage auf dem Capitol und dann gewöhnlich im Senat zu. Nachmittags fahren dann gewöhnlich meine Freunde unter den Senatoren mit mir nach verschiedenen Plätzen in der Umgegend aus. Abends empfange ich Besuche zu Haus. Bei einer solchen Fahrt, die ich dieser Tage mit Gouverneur Seward machte, erzählte er mir das Ereigniß in seinem Leben, das seinen unauslöschlichen Abscheu vor der Sklaverei und seine unerschütterliche Opposition gegen dieselbe hervorrief. Gestern Nachmittag fuhr ich mit den Senatoren von Illinois und Miß Lynch auf ein altes Schlachtfeld, das jetzt in einen Kirchhof umgewandelt ist, am Ufer des Potomak. Als ich mit General Shield von da aus die weite Aussicht und die mit Dörfern und Kirchen, Villen und Landhäuschen nebst ihren Pärken übersäeten Gestade des Flusses betrachtete, rief er, indem er darauf deutete: „Sehen Sie! das ist Amerika!“ Und so ist es auch. Das wahre Leben der neuen Welt ist nicht in großen Städten mit großen Pallästen und schmutzigen Gassen zu sehen, sondern in dem Reichthum kleiner Gemeinden, schöner Privatwohnungen von Land und Hainen umgeben, im Schooß einer großen Natur mit frischen Strömen, mit Bergen und Wäldern und allen Mitteln zu einem frischen und vollen Leben. Zu dieser Fülle und Frische des Lebens gehören wesentlich die großen Flüsse, die vielen Wassergänge, an welchen Nordamerika so reich ist, welche den raschen Wechsel des geistigen und leiblichen Lebens fördern und die Annehmlichkeit verschaffen, daß jeder Punkt in der Union leicht mit allen Punkten in Berührung kommt. Die Circulation des Lebens und der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten ist bereits groß und steigt mit jedem Tag durch neue Dampfboote oder neue Eisenbahnen. Gleich den Weberschiffchen in einem Gewebe fährt der Norden zum Süden und der Süden zum Norden hin und her, theils der Geschäfte, theils des Klimas wegen. Die Nordländer lieben es, sich während der Wintermonate in den Sommerwinden zu wärmen, Blumen zu pflücken in Carolina und Florida (wie auch auf Cuba, das zwar noch außerhalb der politischen, aber nicht außer der natürlichen Union liegt), und die Südländer fliehen über die Monate Mai, Juni, Juli, August und September vor ihrem ewigen und ermüdenden Sommer und suchen Erfrischung an den kühlen Binnenseen in Massachusetts oder New-York, oder unter den Weißen Bergen des Granitstaates. Der Norden und der Süden der Union können einander nicht entbehren, können sich nicht von einander losreißen, ohne daß das Lebensblut des Staatskörpers ins Stocken geräth und das Leben in Gefahr bringt, und das fühlen die großen Staatsmänner und suchen deßhalb im gegenwärtigem Streit auf dem Weg des Compromisses die Circulation offen zu erhalten. Die Ultras der Antisklaverei behaupten, diese werde dennoch fortbestehen, sie haben schon seit zwanzig Jahren solches Geschrei von Gefahr für die Union gehört, und doch sei im Grund ganz und gar keine Gefahr vorhanden. Aber… Unter den Männern in Washington habe ich mehrere Bekannte von ungewöhnlichem Interesse, und von ihnen will ich Dir weiter erzählen, wenn wir wieder beisammen sind. Interessante Frauenzimmerbekanntschaften habe ich außer dem Hause hier nicht gemacht mit Ausnahme von Miß Dix. Eine wirklich begabte junge Dichterin Miß C. ist für meinen Geschmack zu sehr Amazone und als solche nicht edel genug. Sie besitzt Herz und Geist, aber sie hat einen verwilderten Geschmack. Würde ich sie mehr sehen, so könnten wir vielleicht uns einander nähern. Für jetzt gleicht unsere Annäherung so ziemlich dem Caramboliren von Billardbällen. Die Schilderungen, die sie während der Congreßsitzungen in einem der Journale der Stadt von den Mitgliedern des Congresses und von den Verhandlungen auf dem Capitol entwirft, sind glänzend, kühn, oft schlagend, aber ermangeln zuweilen der obengenannten Eigenschaft, die ich an ihr vermisse. Sie erregen hier ein wohlverdientes Aufsehen. Eine andere, ebenfalls wohlbegabte Schriftstellerin, die durch ihre Romane Aufmerksamkeit zu erregen begonnen hat, bleibt zu sehr in sich selbst eingehüllt. Mrs. P. und Mrs. W. gefallen mir wohl, aber ich habe so wenig Zeit, um selbst nur solche Personen zu sehen, welche mir gefallen. Ich erblicke täglich im Senat auf der Zuhörergallerie eine Menge eleganter Toiletten und mehrere schöne Gesichter, die blos da zu sein scheinen, um sich zu zeigen. Immer und immer mußte ich bei Betrachtung dieser schönen Gesichter über den Ausdruck derselben still vor mich hin sagen: „Wie unbedeutend!“ Und unwillkürlich, aber unabweislich drängt sich mir immer stärker die Ueberzeugung auf, daß die amerikanischen Frauen im Allgemeinen den guten Ruf nicht verdienen, den einige europäische reisende Herren ihnen verschafft haben. Ich wollte, es wäre anders. Aber die schönen Exemplare, die ich hier von weiblicher Würde und Anmuth gesehen habe, machen mich in dieser meiner Behauptung nicht irre. Inzwischen liegt der Fehler nicht an den Frauen. Er liegt an ihrer Erziehung, die ihnen im besten Fall Schulbildung, aber keine höhere Welt- und Gesellschaftsbildung gibt. Die Männer in Amerika scheinen mir im Allgemeinen die Weiber an wirklicher Bildung und seiner Lebensart zu übertreffen. Und dieß ist kein Wunder. Der Amerikaner tritt, wenn er sich auch nur geringe Schulkenntnisse erwirbt, frühzeitig in die Schule des großen bürgerlichen Lebens, die auf vielfache Art Alles hervorruft, was die Natur ihm an Verstand, Talent und Wirkungskraft verliehen hat. So wird er frühzeitig in verschiedenen Kreisen des Lebens heimisch, und wenn er sich auch in keinen von ihnen vertiefen kann, so bleiben ihm doch keine Hauptpunkte darin fremd, sofern sie das Wohl des Menschen und das Wohl des Gesellschaftslebens betreffen. Ueberdieß gewinnt er durch sein praktisches Leben Lokal- und Spezialkenntnisse, so daß man in einem Gespräch mit einem Manne hier zu Land immer etwas lernen kann. Und wenn er von der Mutter Natur einen Keim höherer Humanität empfangen hat, so erstehen gleichsam von selbst jene schönen Exemplare von Menschen und Männern, welche die Erde mit einer beinahe vollkommenen Humanität schmücken, und von denen ich einige unter der Rubrik[WS 10] „Selbstgemachte Männer“ kennen gelernt habe.
Heute bin ich in der Methodistenkirche für freie Neger gewesen. Der Prediger, ebenfalls ein Neger, den ich hier in der Stadt in einer Bude stehen sah, hatte ein auffallendes Affengesicht, besaß jedoch jenes Improvisirtalent und jene Kunst, theoretische Wahrheiten treffend auf die täglichen Vorkommnisse anzuwenden, die ich schon oft bei den Negern bewundert habe. Er verstand es auch, seine Zuhörerschaft in hohem Grad zu elektrisiren, und da in den Methodistenkirchen die Gemeinden immer ihren Gedanken ungezwungen Luft schaffen, so kam es hier durch die lauten Ausrufungen und Gefühlsäußerungen zu einem großen Spektakel. Der Prediger hatte das gewöhnliche Thema gewählt: „Bekehrung und Besserung oder Tod und Verdammniß.“ Aber da er von verschiedenen Fehlern und Sünden sprach, so waren seine Schilderungen ebenso ausdrucksvoll wie seine Geberden. Als er auf die Sünden der Zunge zu reden kam, streckte er die seinige heraus und schüttelte sie sehr nachdrücklich zwischen den Fingern. Bei der Aufforderung, dem Teufel Lebewohl zu sagen und sich von ihm abzuwenden (nachdem er vorher in starken Worten die Verdammniß dargestellt hatte, in welche der Böse die Menschen zieht) wurden seine Ausdrücke so ergreifend und kräftig, daß die ganze Versammlung gleich einem See in Aufruhr gerieth. Man hörte nur noch die Rufe: Ja, ja! Leb wohl für immer! Jesus! Amen! Hebe Dich weg! O Gott! Leb wohl! Amen, Amen! u. s. w. Und dazwischen convulsivische Seufzer, Ausrufungen, Geheule — die Versammlung wäre zu jeder extremen Handlung bereit gewesen, zu welcher der Prediger sie aufgefordert hätte. Der Schwall aufgeregter Gefühle legte sich inzwischen, so bald die Predigt aufhörte. Nach derselben kam eine Handlung edlen Gemeinsinns. Der Prediger verkündete, daß ein Sklave, der Mitglied der Versammlung sei, nach dem Süden verkauft und somit auf lange Zeit von Weib und Kind getrennt werden solle, sofern man nicht in Washington die nöthige Summe auftreibe, die sein Herr verlange. Und die Negerversammlung erbot sich zu einer freiwilligen Beisteuer, um den gebundenen Bruder frei zu kaufen. Eine zinnerne Schale wurde auf einem Stuhle in der Kirche ausgestellt, und bald hörte man lustig ein Silberstück um das andere darin erklingen.
Die ganze Versammlung zeichnete sich durch ihr ehrenwertes und auch wohlhabendes Aeußere aus. Alle waren wohl gekleidet und hatten den Ausdruck denkender ernster Menschen. Bei den Weibern vermißte ich die pittoresken Kopfbedeckungen des Südens, die hier durch die unkleidsamen gewöhnlichen Frauenhüte schlecht ersetzt waren. Aber diese schwarzen Augen und Gesichter, wie voll sind sie nicht von einem warmen Gefühlsleben, und Leben waltet in den Versammlungen dieses Volkes, und wenn auch die Aeußerungen desselben manchmal ans Komische streifen, so wird man doch nie schläfrig dabei, wie dieß in den ungemein gesetzten Versammlungen und Kirchen der Weißen sehr oft der Fall ist.
Von dieser Negerversammlung hinweg, welche ein ehrenvolles Zeugniß für das Verhältniß Amerikas zu Afrika gibt, muß ich Dich zu einer Wohnung führen, die ebenfalls zeugt, aber auf entgegengesetzte Weise. Ich ging eines Morgens mit Dr. Hebbe und meiner guten Wirthin dahin, bevor wir uns ins Capitol begaben, denn Washingtons Sklavenhaus liegt nahe bei Washingtons Capitol und kann von da aus gesehen werden, obschon das graue, trübe Gebäude, das Gefängniß unschuldiger Menschen, sich hinter dem Laube grüner Bäume verbirgt, als schämte es sich seines Daseins. Wir gingen nicht in die Umzäunung hinein, wo auf dem grünen Grasplatz Negerkinder saßen oder umhersprangen. Aber an dem kleinen Gatterthore begegnete uns der Sklavenwächter, ein heiterer, gefälliger, im Uebrigen offenbar roher Mann, den es zu freuen schien, uns seine Macht und Gewalt zeigen zu können. Mrs. J. wünschte einen Negerjungen als Bedienten zu haben und fragte, ob sie einen solchen hier bekommen könne. „Nein! Kinder werden hier nicht abgegeben. Sie werden hier kurze Zeit gehalten, um fett gemacht und dann nach den Sklavenmärkten im Süden zum Verkauf geschickt zu werden. Gegenwärtig werden keine Sklaven hier verkauft. Es sind jetzt einige ganz prächtige Verkaufsgegenstände da, die nach dem Süden geschickt werden sollen. Unter ihnen befindet sich ein junges Mädchen, das in allen Stücken wie eine Lady erzogen worden ist. Sie kann sticken und Clavier spielen, sich wie eine Lady kleiden, auch lesen, schreiben und tanzen; und dieß Alles hat sie in der Familie gelernt, der sie gehörte, und von der sie seit ihrer Kindheit wie das eigene Kind behandelt wurde. Aber jetzt ist ihr der Kamm zu sehr geschwollen, sie ist übermütig geworden, und um sie zu demüthigen, hat man sie hier eingesetzt, damit sie verkauft werden soll.“
Alles das erzählte der gesprächige Sklavenwächter. Ich fragte Einiges über die Gemüthsart und Stimmung der Gefangenen. „O,“ sagte der Mann lächelnd, „man könnte gar nicht mit ihnen fertig werden, wenn sie nicht die Streiche fürchteten.“
Meine edle offenherzige Wirthin vermochte ihre Entrüstung über diese Behandlung von Menschen, die nichts Böses gethan haben, nicht zurückzuhalten. Der Mann lächelte und blieb dabei, daß das Negervolk, sowohl Männer als Weiber, mit der Peitsche beherrscht werden müsse; sodann verabschiedete er sich von uns, ebensowohl zufrieden mit sich selbst und seiner Welt, als wir unzufrieden waren.
In Washington nahe beim Capitol der Vereinigten Staaten dieser Sklavenzwinger! Konnte man nicht in Versuchung gerathen hinaufzugehen und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung zu verlesen? Doch sie wird wohl einmal da oben verlesen werden.
Amerikas Freiheit und Ehre werden in den Händen der Amerikaner nicht erstarren oder sterben.
Habe ich Dir schon von einer Taufe durch
Eintauchung erzählt, wie ich hier in einer Kirche mit
angesehen habe? Ich glaube nicht. Im Süden an den
Ufern der rothen Flüsse in Macon und Savannah hatte
ich Processionen von Leuten gesehen, die von dem
Taufact im Fluß zurückkamen, aber die Handlung selbst
hatte ich nicht sehen können. Ich sah sie hier in einer
Baptistenkirche. Nach der Kirche wurde die Kanzel
weggeschafft, und nun bekam man in dem Chor, vor
welchem sie stand, sechs junge Mädchen in grauweißen
wollenen Kleidern mit Schärpen umgürtet zu sehen,
die neben einander im Chor standen. Ein schwarzgekleideter
junger Priester stieg in eine Vertiefung in der
Mitte des Chors hinab. Dort war ein Wasserbecken.
Von da aus sprach er zu der Versammlung und zu
den Mädchen, die getauft werden sollten, von der
Bedeutung der Taufe, sowie von seinen eigenen Gefühlen,
als er zum ersten Mal mit vollem Bewußtsein von dem
Sinn und der Kraft der Handlung in das reinigende
Element gesenkt worden. Er lud hierauf die jungen
Schwestern ein, zum Bade der Wiedergeburt zu kommen.
Sie traten eine um die andere an der Hand eines
älteren männlichen Verwandten bis zum Rande des
Beckens vor, wo der Priester die Herabsteigende bei
der Hand nahm und sie die Treppe hinabführte. Im
Becken blieb er einen Augenblick gerade vor ihr stehen
und hielt ihre Hände. Wahrscheinlich gab sie da ein
Versprechen ab. Aber ich konnte es nicht hören.
Hierauf wurde sie, ihren Nacken auf der Hand des
Priesters ruhend, rücklings schnell unter das Wasser getaucht.
Es war das Werk eines Augenblicks, und so bald sie
aufstand, erhob sich ein Lobgesang, dessen erste Worte
in meinen Ohren klangen, wie: „Frohlockt, frohlockt!“
Als die Getaufte die Treppe wieder hinangestiegen war,
wurde sie hier von Verwandten empfangen, die sie in ein großes Tuch oder einen Mantel hüllten und
sodann schnell aus dem Chor wegführten.
So hatten fünf junge Mädchen und ein junger Mann den Taufact durchgemacht, aber noch blieb eines der jungen Kinder übrig, die jüngste und schönste, die in der Ecke, wo sie während der ganzen langen Ceremonie mit der Taufe der Andern unbeweglich stand, einem Kirchenengel gleich, und die man für ein Bild hätte nehmen können, wenn nicht die zierlichen Rosen auf ihren Wangen bewiesen hätten, daß die Gestalt lebte. Aber ich wunderte mich über die Kraft des zarten Mädchens, so lange und so unbeweglich in der Erwartung dazustehen. Und jetzt stieg der junge Priester aus dem Wasserbecken herauf, und Alles schien zu Ende zu sein. Hatte man das schöne junge Mädchen vergessen, oder war sie doch kein lebendiges Wesen, ein Bild, ein Kirchenengel? Ein alter Mann trat vor und redete die Versammlung an. Es war der Vater des jungen Mädchens; er war ihr Lehrer gewesen, hatte sie in die Lehren und das Leben der Religion eingeweiht und sie zur Taufe vorbereitet. Er hatte sich die Erlaubniß erbeten und sie auch erhalten, das Sacrament der Taufe seinem geliebten Kinde mit eigenen Händen zu geben. Er stieg in das Becken hinab. Jetzt bewegte sich das Bild an der Kirchenwand. Allein schritt das junge Mädchen vor, so leicht, so vertrauensvoll, wie das Kind zu einem geliebten Vater, und überließ sich seinen Händen. Es war schön und wahrhaft rührend, den alten Mann und das junge Mädchen so vor den Augen des Himmels dastehen zu sehen — den Vater, der die Tochter einweihte, die Tochter, die sich der Leitung des Vaters und durch dieselbe einem heiligen Leben hingab — noch schöner wäre es gewesen, wenn sie statt der weißen Gewölbe und Kirchenwände mit dem blauen Himmel über sich und grünen Bäumen um sie her dagestanden hätten. „Frohlockt! Frohlockt!“ sang wieder der Chor in frohem Lobgesang über den letzten der jungen Täuflinge, und Vater und Tochter stiegen wieder aus dem Wasser auf.
Der größere Theil der Versammlung, in welcher sich sehr viele Kinder befanden, betrachtete die ganze Sache als einen Spectakel und erhob, so dringend auch die Priester zur Stille ermahnten, beim Hinausstürzen aus der Kirche ein schreckliches Geschrei. Auch an den Flüssen in der Stille der Wälder sollen die Taufacte von Neugierigen und ausgelassenen Zuschauern gestört werden.
Jetzt will ich hinausgehen und mich durch eine einsame Wanderung im Grünen, die ich mit meiner lieben Quäckerin, der anmuthreichen Miß Donaldson, außerhalb der Stadt vornehme, erfrischen. In der nächsten Woche reise ich nach Philadelphia zurück, um mit Professor Harts ins Bad am Cap May zu fahren. Nachdem ich mich ein paar Wochen im Meer eingesalzen und gestärkt haben werde, fahre ich nach New-York zurück, um mit meinen Freunden Springs über meine weitere Reise Berathung zu pflegen, ob ich mich zuerst dem Norden oder dem Westen zuwenden soll. Die jungen Powells wollen mit mir an den Niagara reisen, und könnte ich Springs dazu bewegen, mit zu kommen, so wäre mir das im höchsten Grade lieb. Es ist so angenehm mit ihnen zu sein, und sie genießen so schön alles Gute und Schöne. Vom Niagara aus fahre ich dann allein westlich nach dem Mississippi — wie weit weiß ich noch nicht. Die Riesen ziehen, aber Gott wird Rath schaffen.
Gestern Abend hatte ich hier eine große Versammlung von meinen Freunden und Bekannten und erhielt Blumen und theilte Blumen aus. Viel frische Herzlichkeit und Jugendwärme haben die Amerikaner, das kann man ihnen nicht abstreiten.
Eine erfreuliche und eine traurige Nachricht habe ich gestern gehört; nämlich daß Dänemark Frieden erhalten unter den Bedingungen, die es wünschte, und daß Sir Robert Peel durch einen Sturz vom Pferde den Hals gebrochen. Der Tod des großen Staatsmannes wird hier allgemein betrauert, aber nur so en passant; man hat in diesem Augenblick hier nicht Zeit sich mit den Unglücksfällen anderer Völker aufzuhalten. Die eigenen Angelegenheiten nehmen jede Stunde und alle Köpfe in Anspruch, und überdieß ist die Hitze überwältigend. Die Congreßmitglieder sind des Congresses müde, die Redner sind es müde einander reden zu hören. „Die Beredsamkeit eines Demosthenes, eines Cicero wäre nicht mehr im Stande, uns Freude zu machen,“ sagte dieser Tage ein congreßmüder Senator zu mir. Noch hört man jedoch gerne den Repräsentanten des Granitstaates Mr. Hale mit seinen lebhaften und geistreichen Ausfällen. Dieser Tage ließ er alle Staaten in den Charakteren ihrer Repräsentanten bei ihren vereinigten Angriffen auf die Compromißbill, auf eine Art, die allgemeine Heiterkeit erregte, figuriren und miteinander sprechen. Alles zusammen sehnt sich inzwischen nach dem Ende des Congresses, und der Eine wünscht nach Hause, der Andere in ein Bad zu fahren, Alles aber fort, fort, nur fort von Rede und Kampf und Kapitol und dem ganzen heißen „Hochdruckleben“ in Washington. Die letzte große Rede für diese Session wird morgen erwartet.
H. Clay hat seine große Rede gehalten, und die Frage steht wie sie vorher stand, und die Welt geht wie sie vorher ging; aber es verlautet, daß der Congreß bald zu Ende sein werde. Clay sprach drei bis vier Stunden; aber seine Rede, die eigentlich eine Summirung des Inhalts der Streitfrage, ihrer Stellung und Entwicklung im Congresse, sowie eine Darstellung von Clays eigener Behandlung derselben war, schien keinen guten Eindruck auf denselben zu machen. Ein sentimentaler Anruf an die Mitglieder des Congresses, wohl zu bedenken, was sie bei der Rückkehr in ihre Heimath ihren Gattinnen und Kindern über die Stellung des Landes sagen könnten, mißglückte gänzlich und rief ein Lachen hervor; ebenso mißglückte die Aufforderung, allen Kleinlichkeitssinn abzulegen, allen selbstsüchtigen Triebfedern zu entsagen und zum Wohl des ganzen Landes für die Compromißbill zu stimmen; und sie verdiente auch, daß sie mißglückte, weil sie voraussetzte, daß alle Opposition gegen sie nur von niedrigen Motiven herrühre, was nicht der Fall war. Aber ich mußte Clays athletische Seelen- und Rednerkräfte bewundern. Nachdem er über drei Stunden mit Feuer und Kraft, zuweilen mit Leidenschaft, in klarer logischer Entwicklung der Stellung der Fragen gesprochen, die sieben Monate hindurch den Congreß in Anspruch genommen, war er noch frisch und sogleich bereit zu einem leichten Gefecht — obschon mit sehr scharfen Waffen von Sarcasmen und Piken — mit dem Senator Hale von New-Hampshire, der wie gewöhnlich das ganze Haus zum Lachen brachte. Clay zeigte sich als Meister der Fechtkunst wie Hale, war aber bitterer. Einige seiner Bemerkungen wurden von den Gallerien so stürmisch applaudirt, daß der Vicepräsident nach wiederholten Ermahnungen zum Schweigen zornig erklärte, er werde sich genötigt sehen, die Gallerie räumen zu lassen, wenn die Zuhörer nicht gehorchen wollen.
Clay wird jetzt Washington verlassen und wahrscheinlich wird nach seinem Abgang die Compromißfrage bald entschieden werden. Die Opposition gegen seine Bill ist in diesem Augenblick stark, und er steht mit seiner Bill der Opposition eben so hartnäckig gegenüber.
Ich reise morgen mit Miß Dix nach Baltimore, wo ich auf meinem Weg nach Philadelphia ein paar Tage bleiben werde.
Ich verlasse Washington, und dieser Schauplatz des Lebens der neuen Welt schließt sich auf immer für mich. Was habe ich gesehen? Etwas Höheres, Schöneres als die Rathsversammlungen der alten Welt? Nein, etwas Neues? Nein. Wenigstens nicht bei den Rathsherren.
Das Neue hat der liebe Gott an die Hand gegeben durch die Welt, die er geschaffen und auf deren neuer Erde der Kampf ausgefochten wird, so wie durch die Aussichten, welche die Fragen über Freiheit und Sklaverei, über bis jetzt unbekannte und auch jetzt oft nur durch ungewisse Luftgebilde hindurch gesehene Gegenden und Naturscenen eröffnen. Das Erfrischende und Neue kommt von den verschiedenen Charakteren der repräsentirten Staaten, kommt besonders von dem großen halbunbekannten Land des Westens und der Aussicht auf seine Wildnisse und Paradiese, wo vielfältige Menschenmassen umherirren, eine Heimath zu suchen oder zu errichten; von dem Ueberblick über das ungeheure Texas, aus welchem noch fünf Staaten gebildet werden können, aus welchem der Rio Grande, der Rio Colorado und unzählige Ströme durch fruchtbare Markungen sich drängen; über Neu-Mexiko mit seinen steinigen Wüsten und dem Llano Estaccado, wo sich zwanzig, dreißig bis vierzig Meilen weit kein Wasser vorfindet, in dessen Valle de los Angelos aber tropische Wärme tropische Früchte reifen macht; über Californien endlich mit seinen goldführenden Strömen, seinen goldvollen Felsenbergen, seinen vielen merkwürdigen Naturerzeugnissen, seiner mit ewigem Schnee bedeckten Sierra Nevada, seinem großen Salzsee, an dessen Gestaden „die Heiligen des jüngsten Tags“ (die Mormonen) sich in einem Thal anbauen, das an Reichthum und climatischer Schönheit mit Kaukasien und Peru wetteifern soll, während diese Gegenden zugleich alle natürlichen Bedingungen für die Entwicklung einer vollkomenenen Menschlichkeit bieten; Californien, den umfangreichsten der Staaten der andern Welt, noch eine neue Welt für den Forscher, voll von schönen Erscheinungen und Schreckbildern, wo die Völker vom Osten und Westen herbeiströmen, das Gold Ophirs zu suchen; Californien, das zu seiner östlichen Grenze das wilde Steppenland Nebraska, das Jagdrevier der wilden Indianerstämme, und auf der andern Seite das stille Meer, das große stille Meer hat, dessen Wogen mit so gleichen stätigen Pulsschlägen an das Ufer schlagen sollen, aber so gewaltig, daß weit hinten im Land das Getöse hörbar ist und das Land der Bäume zittert. Siehst du, alles das und noch mehr solches, wie zum Beispiel die Aussichten von Panama und die Gegenden Zentralamerikas, wo das Volk der Vereinigten Staaten jetzt Kanäle gräbt und Eisenbahnen anlegt, um die Meere zu vereinigen — Alles das ist ein neues, erfrischendes Schauspiel und kommt im Congreß der Vereinigten Staaten zur Erörterung. In der Erörterung dagegen erblicke ich nichts Großes. Ich finde hier dieselbe Bitterkeit und Ungerechtigkeit zwischen den politischen Parteien, wie in den europäischen Staaten, dasselbe gegenseitige Mißtrauen in die redlichen Absichten von einander, bei den Staatsmännern dieselben großen und kleinen Leidenschaften und in der Debatte dieselbe rücksichtslose Rechthaberei um jeden Preis, dieselben Mißverständnisse, dieselben Persönlichkeiten und dieselben Abschweifungen von der Sache auf die Person, dieselbe Reizbarkeit und Empfindlichkeit ihres theuren Ich, wodurch beständige Interpellationen, Erhitzungen, Erklärungen und Abererklärungen, sowie endlose kleine Schlachten hervorgerufen werden, die den Ausgang der großen Schlacht unendlich verlängern und die Folge haben, daß die großen Männer, Repräsentanten großer Staaten, oft kleinen kindisch hadernden Kindern gleichen. Kommt jetzt noch dazu, daß der Repräsentant jedes Staates in Bezug auf die Ehre und Würde desselben äußerst empfindlich ist, so daß er bei der geringsten Anspielung, die ihm ehrenrührig scheint, aufbraust, und daß die Staaten in dieser Union nicht aufs Zärtlichste miteinander verbunden sind, so kann es, wie du siehst, an Gelegenheit zu kämpfen niemals fehlen.
So viel von der Schattenseite der Versammlung. An der Lichtseite fehlt es auch nicht. Und sie ist, glaube ich, eben so stark als diejenige, welche die alte Welt aufzuweisen vermag. Großsinnige Protestationen gegen die Finsterniß und Selbstsucht bleiben nicht aus; ebensowenig großsinnige Appellationen an das höchste Ziel der Union und das höchste Wohl der Menschheit. Der Adler sitzt auf der Meeresklippe, schlägt mit seinen Flügeln, blickt da und dort zur Sonne empor, hat aber seinen Flug nach ihr noch nicht genommen. Henry Clay gleicht diesem Adler. Daniel Webster ist der Adler, der auf seinen Schwingen ruhend in den Wolken kreist, aber bloß um eine imaginäre Sonne, die Constitution, fliegt. Keiner von Beiden soll ein großer moralischer Charakter sein, keiner von Beiden besitzt diejenige Art von Größe, die ich an dem größten Staatsmann der alten Welt, an Moses, bewundere. Der größte Staatsmann der neuen Welt ist noch nicht gekommen.
Aber was könnte diese Repräsentation nicht sein, wenn sie ihren Bedingungen und Zwecken entspräche, wenn der Repräsentant des einzelnen Staates, durchdrungen von der Eigenthümlichkeit seines Staates in Natur und Volksleben, sowie von seinem Verhältniß zum höchsten Zweck der Union, aufstände, um die Sprache desselben auf dem Congresse zu führen! Wahrlich, der Congreß der Vereinigten Staaten würde dann ein großartiges Drama, ein Schauspiel für Menschen und Götter werden.
(Auf dem Land bei Baltimore in Maryland.)
Einen herzlichen guten Morgen, mein Agathchen, aus einem unendlich schönen Landsitz mit der Aussicht auf die Mündung des Potascoflusses in die Chesapeakbucht bei Baltimore. Ich bin hier nebst Miß Dix auf meinem Weg nach Philadelphia als Gast in der Familie des Generals Stuart. Mein Wirth ist ein lebhafter, herzlicher, galanter und gesprächiger Militär; seine Frau ist ein schönes stilles Weib, die glückliche Mutter von zehn jungen Kindern. Augenscheinlich ein glückliches Ehepaar, ein gutes und glückliches Heimwesen. Ich erkenne ein solches gleich beim Eintritte in ein Haus.
Nach dem allerfreundlichsten Abschied von meinen seelenguten Wirthsleuten in Washington, von meiner liebenswürdigen Quäckerin, verließ ich diese Stadt nebst Miß Dix in Gesellschaft von Downings Freund, dem gefälligen Mr. William Russel. Aber es war ein beschwerlicher ermüdender Reisetag in der starken Hitze, mit den vielen Wechseln in der Art zu reisen, welche die Unterbrechung durch Flüsse veranlaßt. Ich bekam jedoch einige schöne Aussichten auf den Susquehannahfluß zu sehen. Spät Abends saß ich im allerschönsten Mondschein mit Miß Dix auf dem Balkon in General Stuarts Villa, auf den glänzenden Fluß, auf die Chesapeakbucht hinausschauend und der Erzählung ihrer einfachen und doch so merkwürdigen Lebensschicksale lauschend. Unter den wechselreichen Scenen meines Lebens hier zu Lande war diese nicht die wenigst interessante.
Ich hatte Miß Dix gebeten, mir zu sagen, was sie auf den Weg geführt habe, den sie jetzt als öffentliche Beschützerin und Fürsprecherin der Unglücklichen wandelt. Mündlich, will ich Dir mehr von ihren Erzählungen mitteilen, jetzt nur die Worte, womit sie meine Frage über die Veranlassung zu ihrem Entschluß beantwortete: „Es war kein merkwürdiges Ereigniß, keine Revolution in meinem innern oder äußern Leben, sondern eine Handlung einfachen Gehorsams gegen Gottes rufende Stimme (an act of simple obedience). Ich war von England, wohin ich meiner Gesundheit wegen gereist war, zurückgekehrt, nachdem ich ebenfalls aus tiefem Grund die Schule, die ich mehrere Jahre lang gehalten, hatte aufgeben müssen; und ich lebte jetzt in einer Pension ohne bestimmte Beschäftigung, widmete mich Naturstudien, die mir immer theuer waren, fühlte mich aber dennoch bedrückt von der Unthätigkeit und Nutzlosigkeit meines Lebens. Ich sehnte mich nach einem edeln Ziel, für das ich arbeiten könnte, nach einer Sache, welche die Leere ausfüllen sollte, die ich in meiner Seele fühlte. Eines Tags als ich in der Kirche gewesen, sah ich beim Heraustreten zwei Herrn beisammen stehen, die mit einander sprachen, und hörte einen von ihnen sagen: Ich wollte nur, es sehe Jemand das * * * Gefängniß an, denn der Zustand desselben ist schrecklich. Im Augenblick fiel es mir ein, das könnte etwas für mich sein, und ich gieng hin. Ich fand im Gefängniß eine Menge unglücklicher Wahnsinniger, die gleich Verbrechern eingesperrt und auf dieselbe Art behandelt waren. Ueberdieß entdeckte ich zahlreiche Mißbräuche und Fehler in der Anstalt, die ich jetzt nicht auseinandersetzen kann. Ich schrieb einen Bericht darüber, entwarf einen Plan zur Abstellung dieser Mißbräuche, und reichte ihn der Staatsregierung ein. Diese würdigte ihn ihrer Aufmerksamkeit und es wurde ein Staatsbeitrag zur Verbesserung des Gefängnisses, sowie zur Errichtung eines Asyls für die Wahnsinnigen, wo sie gebührlich behandelt werden konnten, bewilligt. Dieß war der Anfang. Später sah ich meine Bahn fest vorgezeichnet, und diese sowie Alles, was ich auf ihr ausgeführt habe, ist gleichsam von sich selbst gegangen.“
Washington lag hinter mir mit seinen politischen Schlachten, seinen bittern Streitigkeiten von Staaten gegen Staaten, von Männern gegen Männer, mit seinen verwirrten Verhältnissen und nicht befriedigenden Aussichten, mit seinem aufgeregten chaotischen Leben. Und hier war ein kleines Menschenleben, das durch einen Act einfachen Gehorsams aus seiner Abgeschiedenheit, aus seinem Dunkel hervorgetreten war, und sich zu einer großen segensreichen Wirksamkeit für verwahrloste Wesen in allen Staaten der Union, zu der großen neuen Welt ausbreitete, wie das aus unsichtbaren Quellen geborene Flüßchen vor uns sich zu der herrlichen Bucht erweitert hatte und durch diese sich mit dem Weltmeer vereinigte. Der Contrast war augenfällig; die Aehnlichkeit zwischen dem Menschenleben und der Naturscene vor mir war es auch, und der Friede und die Schönheit der Nacht, das reine Mondlicht war wie der Segen des Himmels über beiden.
Miß Dix hat während ihrer zwölfjährigen Wirksamkeit als guter Engel der Gefangenen und Wahnsinnigen die meisten Unionsstaaten durchreist, ist in Gegenden und an Orte gedrungen, die früher vor den Blicken des Lichtes verborgen waren, und hat denen, die im Dunkel saßen, die Botschaft des Lichtes und der Hoffnung überbracht; sie hat durch ihre trefflichen Denkschriften an die Regierungen der Staaten, sowie durch ihren Einfluß auf einzelne Personen die Errichtung von dreizehn Irrenanstalten, die verbesserte Behandlung der unglücklichen Wahnsinnigen und ebenso auch der Gefangenen, besonders in den Gefängnissen der südlichen Staaten veranlaßt. Sie ist einer der schönsten Belege dafür, was ein Weib ohne andere Stütze als ihren persönlichen Willen und Charakter, ohne andere Macht als ihre Sprache und ihr Recht, sowie das Talent sie geltend zu machen, in der Staatsgesellschaft auszurichten vermag. Ich bewundere sie, bewundere besonders ihren Muth und ihre Beharrlichkeit. In andern Beziehungen würden wir kaum sympathisiren. Und weniger merkwürdige Menschen könnte ich mehr lieben. Aber ich liebe ihr Amt in der Menschheit, liebe ihre Gestalt auf dem Forum der Vereinigten Staaten, in der Fensternische des Capitols, wo sie mitten unter brennenden Fehden still an dem Gewebe für das Asyl der Unglücklichen spinnt, ein stiller Mittelpunkt für die Fäden christlicher Liebe, welche sie durch die täglichen Kämpfe hindurch, ungestört von ihnen, leitet — eine göttliche Spinnerin für Gottes Haus. Sollte ich ihre Hand nicht küssen? — Ich that es und thue es auch jetzt in Gedanken mit innigem Dank für das, was sie ist und was sie thut.
Einige merkwürdige Anecdoten aus ihrem thatenreichen Leben, auf ihren einsamen Fahrten, während ihrer zwölfjährigen Wirksamkeit erspare ich, bis wir wieder zusammenkommen. Sie gehören zum Romantischsten in der Geschichte des wirklichen Lebens.
Ich will Dir jetzt ein wenig von Baltimore erzählen. Baltimore ist die Hauptstadt des Sklavenstaates Maryland. Maryland ist der älteste Wohnsitz des Katholicismus in den Vereinigten Staaten. Lord Calvert Baltimore, der in England von der protestantischen Lehre zur katholischen überging und deßhalb sein Amt in England niederlegte, war der erste Begründer der Colonisten Marylands, deren Hauptzweck darin bestand, verfolgten oder leidenden Katholiken, aber auch allen Völkern und Seelen, sofern sie sich nur als Christen bekannten, ein Asyl zu gewähren, und man nennt unter den ältesten Pflanzern hier auch Schweden und Finnen. Der edle großsinnige Lord Baltimore wollte in der neuen Welt die katholische Kirche auf einer breiteren Grundlage erbauen, als diejenige war, worauf sie in der alten Welt stand. Die Stadt Baltimore wurde der Sitz des erzbischöflichen Stuhls, und hier entstand das Kloster der Heimsuchung als „Mutterstiftung für diejenigen der gleichen Art, die sich auf der Erde der neuen Welt ausbreiten würden.“ Maryland hatte Tabakspflanzungen und Sklaven, es lebte, sagt man, patriarchalisch. Es lebt noch jetzt von Tabak und Sklaven, aber weniger patriarchalisch, wie verschiedene Ereignisse und Geschichten aus der Chronik des Sklavenstaates beweisen, und Baltimore ist noch immer die Heimath des Katholicismus, der Wohnsitz des katholischen Erzbischoffs, sowie des Ordens der Heimsuchung. Etwas von Lord Baltimores liberalem Geist scheint auch hier fortzuleben. Ich besuchte das Kloster während meines Aufenthalts in Baltimore, und Alles was ich da sah, gefiel mir sehr, besonders das ganze Wesen und auftreten der Aebtissin und der jungen Schwestern. Die Nonnen legen ihre Gelübde für ihre ganze Lebenszeit ab, haben aber viel von dem altkatholischen Ceremonienwesen abgethan und nehmen keine unvernünftigen Kasteiungen vor. Sie beschäftigen sich hautptsächlich mit der Erziehung, sowie mit der Pflege armer Waisenkinder. Viele der besten protestantischen Familien in den Vereinigten Staaten schicken ihre Kinder hieher zur Erziehung, weil sie da besser und wohlfeiler unterrichtet werden, als in den meisten Erziehungsanstalten des Landes. Der Katholicismus in den Vereinigten Staaten scheint Alles, was ihn gefürchtet und gehaßt macht, auf der andern Seite des Meeres gelassen und blos seine besten Eigenschaften mitgenommen zu haben, und zu diesen zählt man mit Recht seinen Eifer für gute Thaten. Auch sollen sich die katholischen Gemeinden hier durch ihre guten Anstalten für Kinder und für Kranke auszeichnen. Die große Mädchenpension ist die vornehmste Einkommensquelle des Klosters. Man sollte jetzt bald ein öffentliches Examen da halten, und in einem großen schönen Concertsaal hörte ich einige der Mädchen sowohl Harfe als Clavier spielen, wie auch sehr gut und musikalisch im Chor singen.
In Baltimore habe ich die Gefängnisse und das Irrenhaus eingesehen, fand aber da nichts zu bewundern. Maryland ist ein kleiner Staat und Maryland ist Sklavenstaat. Baltimore ist eine große Stadt, aber weniger schön und mit weniger Bäumen und Gärten geschmückt, als die meisten amerikanischen Städte, die ich bis jetzt gesehen habe. Baltimore ist durch sein heiteres Gesellschaftsleben und seine schönen Frauenzimmer berühmt, und the belle of Baltimore ist ein fröhliches Negerlied, das von Schwarzen und Weißen, von Dienern und Herren con amore gesungen wird. Aber für mich liegt Baltimores Merkwürdigkeit an einem andern Platze. Sie liegt in der Geschichte einer — Kneipscene und eines kleinen Mädchens.
Willst Du nicht die erstere um des letzteren willen hören? denn sie können nicht von einander getrennt werden.
Vor einigen Jahren wohnte in Baltimore eine Familie mit Namen Hawkins. Sie war in bessern Umständen gewesen, aber durch die Neigung des Familienvaters zu starken Getränken zurückgekommen. In einer Straße in Baltimore befand sich eine Kneipe, wo sich fünf oder sechs Zechbrüder zu versammeln und den Tag hindurch zu schnapsen pflegten. Mr. Hawkins gehörte dieser Gilde an, und obschon er sie verdammte und auch sich selbst wegen seiner Schwachheit dahin zu gehen verdammte, so war es doch eine wahre Verdammniß, daß er sich jeden Tag dahin gezogen fühlte, und dort angekommen, konnte er nicht mehr weiter gehen. Spät Abends oder in der Nacht taumelte er nach Hause, fiel oft auf der Treppe um, und würde da liegen geblieben und vor Kälte und Elend umgekommen sein, wenn seine Tochter, die kleine Hannah, nicht gewesen wäre. Sie wachte, bis sie ihn nach Hause kommen hörte, und dann gieng sie ihm entgegen und half ihm die Treppe hinauf, wenn er dann umfiel und sie ihn nicht mehr aufzurichten vermochte, so trug sie Kissen und Decken auf die Treppe heraus, bettete die ersteren unter seinen Kopf, breitete die letzteren so gut sie konnte über ihn, und legte sich dann an seiner Seite nieder. Die Frau war in der Verzweiflung seiner ganz überdrüssig geworden und suchte sich und die andern kleinen Kinder mit ihrer Arbeit zu erhalten. Die kleine Hannah (sie war blos zehn Jahre alt) wurde es nicht müde, ihren Vater zu pflegen, und ihm mit ihrer kindlichen Liebe zu folgen. Wenn er Morgens aus seinem Rausch erwachte, pflegte er sogleich das Mädchen fortzuschicken, um Branntwein herbeizuschaffen, und sie that wie er wünschte, da ihre Bitten ihn nicht davon abzubringen vermochten. Sie erweckten in ihm nur ein stärkeres Gefühl seines Elends und das Bedürfniß es zu vergessen; er verfluchte sich, daß er einem solchen Kind ein so unwürdiger Vater sei, und er zwang das Kind, ihm das verderbliche Getränke zu reichen. Und wenn er durch den neuen brennenden Labetrank wieder munter genug geworden war, um aufstehen und gehen zu können, so gieng er aus und in die Kneipe. So war sein Leben lange Zeit eine Reihenfolge von Elend und Selbstverfluchungen, die nur durch neue Räusche unterbrochen wurden.
Das Haus war in tiefe Armuth gerathen und sank mit jedem Tag tiefer. Eines Morgens als Hawkins krank an Seele und Leib nach dem gestrigen Rausch in seinem Bett erwachte, befahl er wie gewöhnlich Hannah fortzugehen und ihm Branntwein zu holen. Aber das Mädchen wollte nicht gehen. Sie bat innig: „Lieber Vater, heute nicht!“ und sie weinte. Der Vater befahl ihr zornig, das Haus zu verlassen. Er stand allein auf und gieng schwankenden Tritts nach dem gewöhnlichen Platze. Hier war inzwischen eine sonderbare Scene vorgegangen, die sich ohne eine geheime höhere Einwirkung schwer erklären läßt. Die Zechbrüder saßen bereits bei den gefüllten Flaschen beisammen, als einer von ihnen sagte : „Es ist doch sehr närrisch von uns, daß wir hier sitzen und uns ruiniren, blos um dieses Schwein da zu mästen.“ (Er meinte den Wirth.) Die Andern stimmten ein. Einer sagte: „Bedenkt einmal, wenn wir von heute an keinen Tropfen mehr tränken!“ Ein Wort gab das andere. Die Männer schlossen schnell einen Bund und setzten eine Schrift auf, worin sie sich eidlich verpflichteten, starken Getränken gänzlich zu entsagen. Und als Hawkins in die Kneipe herein kam, traten ihm die Zechbrüder mit dem Nüchternheitsplacat entgegen und riefen: „Unterschreib! Unterschreib!“ Ueberrrascht, überwältigt, beinahe außer sich, setzte er seinen Namen zu den andern. Ohne einen Tropfen Branntwein genommen zu haben, eilte er jetzt wie in einer neuen Art von Rausch nach Hause. Er fand seine Frau und seine Tochter beisammen. Er warf sich auf einen Stuhl und konnte blos rufen: „Es ist geschehen! es ist geschehen!“ Seine Blässe und seine verwirrte Miene erschreckte sie; sie fragten, was er gethan habe. „Ich habe das Nüchternheitsgelübde unterzeichnet,“ rief er endlich. Hannah und die Frau warfen sich an seinen Hals. Alle drei weinten Freudenthränen.
Von diesem Punkt, von dieser Kneipscene aus gieng die Bewegung, die sich sofort mit Blitzesschnelligkeit durch die Vereinigten Staaten verbreitete, hunderttaussende von Menschen mit sich zog, und zu einem gewaltigen Bollwerk gegen die Völlerei anwuchs, die gleich einem überschwellenden See seit einiger Zeit unter Personen aller Classen um sich zu greifen angefangen hatte. Die früheren Zechbrüder aus der Kneipe in Baltimore machten sich zu Predigern der Nüchternheit, und unter dem Namen Washingtonianer[WS 11] zogen sie und mehrere mit ihnen aus, um in den Städten und auf dem Land Reden in Volksversammlungen zu halten, wobei sie aus ihren eigenen Lebenserfahrungen die Farben nahmen, um den Fluch der Völlerei, sowie die Seligkeit des reinen Lebens zu malen. Sie kamen nach Boston. Hawkins war dabei. Man hatte ihn aufgefordert zu sprechen, aber er war von Natur kein Redner und konnte kaum vermocht werden, daß er auftrat. Gleichwohl that er es auf vielfaches Zureden. Markus Spring war bei dieser Gelegenheit zugegen und erzählte mir die Sache einmal. Hawkins begann, als er auftrat mit den Worten: „Ich bin ein Trunkenbold gewesen!“ dann verstummte er aber plötzlich wieder, als wäre er überwältigt von seiner Erinnerung und von der Feierlichkeit des Augenblicks. Die zahlreiche Versammlung rief ihm Worte der Aufmunterung und des Willkomms zu, so daß er wieder Muth bekam. Er ergriff von Neuem das Wort, aber blos um die Geschichte seines früheren Elends und das Benehmen der kleinen Hannah gegen ihn zu erzählen. Die Einfachheit der Erzählung, ihre innere Schönheit, die tiefe Bewegung, womit der Mann sie vorbrachte, Alles machte eine tief ergreifende Wirkung. Ein Redner um den andern erhob sich in der Versammlung und sprach Worte aus der innersten Wahrheit des Lebens oder Herzens. Eine Stimme unter der Menge rief: „Giebt es auch für mich Hoffnung?“ „Ja, ja,“ riefen Andere, „komm Bruder, komm und unterschreib! Wir wollen Dir beistehen!“
Wohl tausend Personen unterzeichneten an diesem Abend den Nüchternheitsvertrag, den Hawkins vorlegte. Der gute Markus sagte: er sei selbst von dieser Scene so ergriffen und angeregt worden, daß auch er aufgestanden sei, und in der Versammlung seine Freude darüber aussprechen; aber kaum habe er zwei Worte gesagt, so sei er gänzlich aus dem Concept gekommen, habe vergessen was er sagen wollte, und habe sich gesetzt, mit dem festen Vorsatz, nie wieder als Redner aufzutreten.
Diese Bekehrungsgeschichte ist im Grunde sehr eigenthümlich, denn die wirkende Ursache geht nicht von der kleinen Heldin darin aus. Aber ich glaube, daß sie in geheimem Bund mit einem guten Engel stand, und daß dieser an jenem Morgen seinen Weg in die Schenke gefunden, und den Männern ins Ohr geflüstert hat, dem Wirth nichts mehr zu verdienen zu geben. Ganz gewiß ein listiges kleines Mädchenengelein! …
Hawkins reist noch immer als Nüchternheitsapostel im Lande umher. Er hat sich als solcher Vermögen und Ansehen erworben, und die kleine Hannah soll gegenwärtig bei ihm im Westen sein, nicht mehr das kleine blasse Hannchen, sondern ein blühendes Mädchen von sechzehn Jahren. Hannah Hawkins ist meine Schöne von Baltimore.
Gestern Abend waren einige Gäste bei General Stuarts und unter ihnen eine Miß, deren Namen ich vergessen habe, ein angenehmes älteres Frauenzimmer, ein prächtiges Menschenkind von warmem Herzen und gesundem Gemüth. Sie war die Tochter einer vermöglichen Sklavenhalterfamilie, und als sie mündig wurde, hatte sie ihre Sklaven nicht nur emancipirt, sondern auch jedem von ihnen (es waren etliche zwanzig) eine Art von Aussteuer gegeben, womit sie eine selbstständige Bahn beginnen konnten. Sie erzählte mir, einer dieser Sklaven, ein Neger, der sich immer durch gute Aufführung ausgezeichnet, habe sich nach seiner Freilassung durch Handel ein ansehnliches Vermögen erworben, so daß er ganz behaglich leben konnte, aber sein Sohn habe das Vermögen des Vaters verschleudert und ihn so weit zurückgebracht, daß er sich in seinen alten Tagen durch harte Arbeit habe ernähren müssen; ich glaube, er war Karrenbauer, mußte also Schutt und Steine zu Straßen- und anderen Bauten führen. Endlich wurde der Alte krank und fühlte, daß sein Ende nahe war. Da schickte er seiner früheren Eigenthümerin Miß *** einen Boten und ließ sie bitten zu ihm zu kommen, er könne sonst nicht ruhig sterben. Sie begab sich in seine Wohnung und fand den Alten in einem dürftigen Stübchen bettlägerig und sehr schwach.
„Missis!“ sagte er, „Sie sind immer gut gegen mich gewesen, und ich habe gedacht, ich müsse Ihnen etwas sagen, was mir schwer auf der Seele liegt, und Sie bitten mir zu helfen, wenn Sie können!“
Miß *** forderte den Alten auf, offen zu reden.
Er fuhr fort: „Sie wissen, Missis, wie ich mein Vermögen verloren habe. Ich habe gleichwohl jetzt viele Jahre von meiner Arbeit gelebt und bin Niemand zur Last gelegen. Aber in der letzten Zeit habe ich nicht vermeiden können, eine Schuld zu machen, und ich fühle, daß ich nicht ruhig sterben kann, wenn ich nicht die Gewißheit habe, daß sie bezahlt wird. Missis, ich möchte Sie bitten, meine Schuld zu bezahlen.“
„Und wie groß ist Ihre Schuld?“ fragte die Miß.
„Fünfzehn Dollars.“
„Dann seien Sie ruhig, lieber Jakob, ich kann und will sie bezahlen.“
„Gott lohne es Ihnen, Missis!“
„Beantworten Sie mir jetzt eine Frage, die ich an Sie richten will, und sagen Sie mir auf Gewissen, ob Sie sich als freier Mann glücklicher gefühlt haben, als zur Zeit, wo Sie Sklave in meinem elterlichen Haus waren?“
„Missis,“ sagte der Alte feierlich, indem er sich in seinem Bett aufrichtete, „Ihre Eltern, meine Gebieter, waren immer gut gegen mich, und in Ihrem Haus wußte ich niemals, was Noth war. Als freier Mann und besonders in meinen alten Tagen habe ich viel Böses ausgestanden. Ich habe von Hunger und Kälte gelitten. Ich war in Regen, Sturm und Schnee draußen bei der Arbeit; aber dennoch, Missis, litt ich dieß muthig, weil ich frei war, und ich würde es gerne noch einmal leiden, blos um die Freiheit und mein Recht über mich selbst zu behalten. Denn dieß ist mein höchster Schatz gewesen.“
Im Kampf der Freiheit gegen die Sklaverei ist dieses Zeugniß von nicht geringer Bedeutung.
Aber man könnte leicht Gegenzeugnisse anführen von geflüchteten Sclaven, die in den nördlichen Staaten von alten Freunden aus dem Süden gefragt wurden, wie die Freiheit ihnen munde, und die dann antworteten: „Ich bin ihrer überdrüssig, ich wollte, Massa nähme mich wieder zurück.“
So habe ich sagen hören und ich bin überzeugt, daß auch dieß wahr ist. Daß faule, unselbstständige Naturen die Fleischtöpfe Aegypti und ägyptische Sklaverei der Freiheit mit harter Arbeit und schmaler Kost vorziehen, ist leicht erklärlich. Daß Diener von guten Herrn im Süden, wenn sie sich als Freie unter gleichgültigen und oft unfreundlichen Menschen in einen kalten Clima befinden, sich nach den warmen Wohnungen, den warmen Herzen und der warmen Sonne der ersteren zurücksehnen, ist eben so natürlich. Und es kommt mir merkwürdig vor, daß es so wenige Beispiele von geflüchteten Sklaven gibt, die in ihr früheres Verhältniß zurückkehren wollen und Massa oder Missis bitten, sie wieder zu nehmen. Jedenfalls taugt es nichts, in der Frage zwischen der Freiheit und Sklaverei nach vereinzelten Thatsachen und Anecdoten zu urtheilen. Sie muß auf der Grundlage des Princips, auf der Grundlage der Wahrheit beurteilt werden, die nicht wechselt oder schwankt.
Als Dänemarks großer Staatsmann Bernsdorff die leibeigenen Bauern auf seinem Gut freigab, versammelten sie sich, gingen zu ihm und baten ihn mit Thränen, er möchte sie nicht aufgeben, sondern fortfahren ihr väterlicher Herr und Gebieter zu sein; er möchte die Erklärung, welche sie zu Freien mache, zurücknehmen.
Bernsdorff antwortete: „Ihr versteht jetzt nicht, was ich für Euch thue, aber Ihr werdet es in Zukunft verstehen, und Eure Kinder werden es auch verstehen und mir danken.“
Und er blieb bei dem, was er gethan hatte. Und er that noch mehr, indem er Schulen und andere Bildungsanstalten für seine Untergebenen einrichtete und sie dadurch vorbereitete, die Freiheit recht zu gebrauchen.
Wieder in der Stadt der Freunde, meine Agatha, nach einer schönen Tagreise in der Chesapeakbucht und auf dem Delawarestrom, wo ich bloß durch einige unbekannte Frauenzimmer gestört wurde, die immer und immer wieder die gewöhnlichen und unerträglichen Fragen an mich richteten. Ach wenn sie wüßten, wie sehr sie mich quälen, wie groß mein Bedürfniß nach Schweigen und Ruhe ist, so würden sie mich mit Frieden lassen. Ich bin auch nach dem Leben und der Hitze in Washington geschwächt. Ich muß im Meer Kräfte suchen. Die Herren waren angenehmer; ich fand zuvorkommende gefällige Leute unter ihnen. Professor Hart kam, als ich in Philadelphia eintraf, an Bord und führte mich in seine Wohnung, wo ich jetzt wie ein Mitglied in der Familie bin.
Mit Lucretia Mott habe ich verschiedene Häuser von freien Negern in der Stadt besucht. Ebenso auch einen Negerpriester für die episcopale Gemeinde dahier, einen hochgewachsenen, gutmüthigen Ehrenmann, der sich nebenbei auch auf die Daguerreotypirkunst verstand, und gut französisch sprach. Aber die freien Neger frappiren mich auf dieselbe Weise, wie die Sklaven; sie sind gutmüthige gefühlvolle Naturen und besitzen ein schönes Nachahmungstalent, wie auch viel Originalität; aber ihre Vortrefflichkeit ist anderer Art als die der Weißen, und keine Schulen oder Lehranstalten können sie auf den Standpunkt der Letzteren führen. Ich weiß auch nicht, warum dieß ein großer Schaden sein soll. Die Verdienste der Weißen werden vollständig aufgewogen von ihren Fehlern. Von dem freien farbigen Volk (the colored people), wie sie sich zu nennen lieben, interessirte mich am meisten eine junge Mulattin Sarah Douglas, ein anmuthsvolles Mädchen mit außerordentlich intelligentem Gesicht. Sie ist Lehrerin an einer Schule von etlichen und sechzig Neger- und Mulattenkindern, und sie rühmte ihre Leichtigkeit im Lernen, sagte aber, daß sie leicht vergessen und schwer über einen gewissen Punct hinauszubringen seien. Sie selbst war eines der schönsten Exemplare wahrer Bildung unter den Farbigen.
Auch die kleine Marie Townsend, dieses schöne Kind des innern Lichtes mit den übernatürlich strahlenden Augen, habe ich noch einmal gesehen. Erst jetzt erfuhr ich, daß diese strahlenden Augen kaum das Licht des Tages ertragen können, daß sie sich nicht ohne unerträgliche Schmerzen auf ein Buch oder ein geschriebenes Blatt heften können, daß das Buch vom Leben der Insecten mit verbundenen Augen dictirt worden ist. So lag sie gebunden und blind, als sie das Leben der beschwingten Naturkinder an das Licht trug, „dankbar“ schreibt sie in der Vorrede, „wenn mein Büchlein dazu beitragen sollte, die Kinder von Grausamkeiten gegen Insecten abzuhalten, wozu sie so geneigt sind. Es hat mich, sagt sie weiter, manchmal vergessen lassen, daß ich innerhalb der vier Wände meines Zimmers eingeschlossen bin. Es hat mich auf die Felder und in die Wälder geführt, und meine Bewunderung für das wunderbare Werk des Schöpfers neu angefacht.“
So liegt sie gebunden und blind bis zu dem Tag, wo der Erlöser die Schwingen des Engels löst, gebunden und blind und gleichwohl wie sehend, wie beschwingt vor vielen. Das Werk des innern Lichtes!
Im Hause nennt man sie die Innerste und ich wollte Dir, meine Innerste, ihr Bild über das Meer zutragen.
Das innere Licht! das Leben des inneren Lichtes … Ich danke der Stadt der Freunde für eine neue Erweckung desselben.
Das Nächstemal schreibe ich Dir vom Meeresufer in New-Jersey. Am Dienstag fahren wir nach Cap May. Aber vorher mache ich wohl noch einen Ausflug aufs Land zu einer Freundin von Mr. Downing, der mir dieselbe als eine amerikanische Frau von Sevigné beschrieben hat.
- ↑ Seine Worte bei dieser Gelegenheit waren: „Und will Jemand wissen, ob ich die Ausdehnung der Sklaverei in unsrem Land zugeben werde, so ist das meine Antwort: Nein, meine Herrn, nein, nein, nein, nie!“
- ↑ Und diese Duelle oder vielmehr sein Benehmen bei denselben haben in den Augen Vieler einen Schatten auf seinen Charakter geworfen.
- ↑ Ueber Utah sagte Webster: „Lassen wir sie nöthigenfalls noch einige Jahre auf ihren salzigen Gefilden an(WS: Vorlage: an an) ihrem salzigen See sitzen,“ was allgemeine Heiterkeit erregte.
Anmerkungen (Wikisource)
← Achtzehnter Brief | Die Heimath in der neuen Welt. Zweiter Band von Fredrika Bremer |
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