Die Nachtigall als Künstlerin

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Autor: unbekannt
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Titel: Die Nachtigall als Künstlerin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 710-712
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Nachtigall als Künstlerin.

Der berühmte Pré aux Clers, heute Markt St. Germain, ist bekanntlich des Sonntags der Vogelmarkt von Paris. Es ist ein in vielfacher Beziehung merkwürdiger Ort, er ist eines Theils eine große, immer frisch erneuerte Menagerie, ein bewegliches, amüsantes Museum der französischen Ornithologie.

Andererseits erinnert eine solche Preisbietung lebender Wesen, Gefangener, von denen ein großer Theil seine Gefangenschaft lebhaft empfindet, Sklaven, die der Kaufmann zeigt, verkauft, mit mehr oder minder Geschicklichkeit geltend zu machen weiß, indirekt an die Sklavenmärkte des Orients, wo menschliche lebendige Wesen verhandelt werden. Obwohl die geflügelten Sklaven unsere Sprache nicht verstehen, so drücken sie das Bewußtsein ihrer Sklaverei doch nicht minder deutlich aus: manche, die schon so geboren sind, resignirt, andere düster und stumm, Alle aber, indem sie von der Freiheit träumen. Einige scheinen den Vorübergehenden anhalten, nichts als einen guten Herrn verlangen zu wollen. Wie oft sieht man einen klugen Hänfling, einen liebenswürdigen Rothbart uns traurig mit einem unzweideutigen Blicke ansehen, der uns sagt: „Kaufe mich!“

An einem Sonntage dieses Sommers machten wir diesem Markte einen Besuch, den ich nie vergessen werde; es war der Markt gerade nicht reich versehen und auch nicht sehr vollständig, denn die Zeit der Maußer und des Schweigens hatte begonnen. Nichtsdestoweniger hatten wir Gelegenheit, an der naiven Haltung einiger Individuen großes Interesse zu nehmen. Der Gesang, das volle Gefieder, diese beiden schönsten Attribute des Vogels, nehmen gewöhnlich überwiegend in Anspruch und verhindern uns, meist, ihre lebhafte, originelle Pantomimik zu beobachten. Ein einzelner Vogel, der Spottvogel Amerika’s, hat das Genie eines Schauspielers und begleitet alle seine Gesänge mit genau dem Charakter angemessenen, meist sehr ironischen Geberden. Unsere Vögel besitzen diese Kunst nicht, aber ohne Kunst und ohne es zu wissen, drücken sie durch bedeutsame Bewegungen, die häufig sehr pathetisch sind, aus, was ihr Gemüth bewegt.

An jenem Tage war die Königin des Marktes eine Grasmücke mit schwarzem Kopfe, ein Künstlervogel von großem Werthe; sie stand allein auf dem Ausstand über all’ den anderen Käfigen wie ein Kleinod ohne Gleichen. Sie flatterte leicht und elegant, Alles war Anmuth an ihr. In der Gefangenschaft hatte sie eine lange, sorgfältige Erziehung genossen, schien nichts zu vermissen und machte auf das Gemüth nur angenehme, glückliche Eindrücke. Es war sichtlich ein so liebliches Wesen, so harmonisch in Bewegung wie Gesang, daß, als ich sie sich bewegen sah, ich sie singen zu hören glaubte. –

Tiefer, viel tiefer befand sich in einem engen Käfig ein etwas größerer Vogel, der, unmenschlich eingezwängt, einen bizarren ganz entgegengesetzten Eindruck machte. Es war ein Buchfink und der erste, den ich blind gesehen; ein äußerst peinlicher Anblick. Man muß eine alles Gleichklanges baare Natur, eine Barbarenseele besitzen, um mit solchem Anblicke den Gesang dieses armen Opfers zu erkaufen. Seine unruhige gequälte Haltung machte mir seinen Gesang schmerzlich. Und das Schlimmste dabei war eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schulterzucken und der Haltung des Kopfes, welche häufig menschliche Kurzsichtige oder Blindgewordene annehmen. Der Blindgeborene hält sich niemals so. Mit gewaltsamem, aber unausgesetztem Streben, das eine Gewohnheit geworden, hielt er den Kopf nach rechts gewendet und suchte mit seinen leeren Augen das Licht. Der Hals verlor sich fast in den Schultern und blies sich auf, als wollte er dadurch mehr Kraft gewinnen; er war etwas gewunden und die Schultern wie buckelig. Der unglückliche Virtuose, der nichtsdestoweniger sang, wäre in seiner verwachsenen Mißgestalt ein niedriges Bild der Häßlichkeit eines Sklavenkünstlers gewesen, wenn ihn nicht das unaufhörliche Suchen nach Licht geadelt hätte; man ahnte, daß sein Gesang der unsichtbaren Sonne galt, die ihm noch im Gedächtniß war. –

Wenig empfänglich gegen Erziehung wiederholt dieser Vogel mit metallheller Stimme den Gesang seines Geburtswaldes und zwar mit dem eigenthümlichen Accent des Bezirks, wo er geboren ist; soviel verschiedene Gegenden, soviel Finkendialekte gibt es. Er bleibt sich immer ganz treu; er singt nur seine Wiege, und zwar aus derselben Tonart, aber mit einem glühenden Eifer, mit außerordentlicher Leidenschaft. Einem Nebenbuhler gegenübergestellt wird er achthundert Mal hintereinander dieselbe Weise singen; bisweilen stirbt er daran.

[711] Noch tiefer als der Fink und in einem elenden kleinen Käfig, den ein wildes Durcheinander von einem halben Dutzend großer und kleiner Vögel bevölkerte, zeigte man mir einen Gefangenen, den ich nicht heraus erkannt haben würde, eine junge, erst am Morgen gefangene Nachtigall. Der Vogelhändler hatte mit geschicktem Machiavellismus den traurigen Gefangenen mitten unter eine Welt von kleinen Sklaven gesetzt, die sehr lustig waren und sich schon in das Gefängnißleben gefunden hatten. Es waren junge Troglodyten, die vor nicht gar langer Zeit im Gefängniß geboren waren, und er hatte sehr wohl berechnet, daß der Anblick von unschuldigen Kinderspielen häufig über einen großen Schmerz hinwegtäuscht.

Groß allerdings, ungeheuer war hier der Schmerz ausgedrückt, stärker als wir es durch Thränen vermögen. Es war ein stummer Schmerz, in sich verschlossen, der nichts als Finsterniß wollte. Das Thier stand ganz hinten in dem Bauer im Dunkel halb hinter einem kleinen Freßnapf verborgen; es hatte sich aufgeblasen und stand mit etwas gesträubten Federn da, schloß die Augen und öffnete sie sogar nicht, wenn es von den jungen Tollköpfen bei ihren Spielen gestoßen wurde. Offenbar wollte es nichts sehen, nichts hören, weder fressen, noch sich trösten. Dieses freiwillige Dunkel war, das fühlte ich deutlich, in seinem herben Schmerze ein Bestreben, nicht zu sein, ein beabsichtigter Selbstmord. Mit dem Geiste umfing es schon den Tod und starb, so sehr es in seinen Kräften stand durch eine Aufhebung der Sinne und jeder äußeren Thätigkeit.

Zu bemerken ist, daß diese Haltung nichts von Haß, von Bitterkeit, von Zorn hatte, nichts, was an seinen Nachbar, den Finken, mit seinem unruhigen, gequälten Wesen hätte erinnern können. Selbst die Indiskretion der jungen Vögel, welche leichtsinnig und ohne Achtung vor seinem Schmerz mitunter ihn bedrängten, konnte ihm kein Zeichen von Verdruß entreißen. Ich fühlte aus ihm die Seele eines Künstlers heraus, die ganz Sanftmuth, ganz Licht war, ohne Galle, ohne Aerger über die Barbarei der Welt, und die Grausamkeit des Schicksals. Und nur deshalb lebte er, deshalb starb er nicht, weil er bei aller Trauer, allem Schmerze in sich die seiner Natur eigene allmächtige Herzstärkung fand, das innere Licht, den Gesang. Diese beiden Dinge sagen in der Sprache der Nachtigallen dasselbe.

Ich begriff, warum er nicht starb, es war, weil selbst die Sehnsucht nach dem Tode in ihm wieder zum Gesange wurde. Sein Herz sang stummer Weise, was ich vollkommen verstand:

     … Lascia ch’io pianga la Libertà!
     Laß mich um meine Freiheit weinen!

Ich fragte seinen Kerkermeister, ob er käuflich sei. Der schlaue Mann sagte, er sei noch zu jung, um verkauft zu werden, er fresse noch nicht allein; offenbar war dies unwahr, denn er war nicht von diesem Jahr, aber jener wollte ihn behalten, um ihn gegen Ende Winters zu verkaufen, wenn seine wiederkehrende Stimme ihm höheren Werth gab. Ein solcher freigeborener Nachtigallvogel ist viel werthvoller, als ein im Käfig zur Welt gekommener; er ist allein die wahre Nachtigall, singt ganz anders, da er Freiheit und die Natur gekannt hat und nach beiden sich zurücksehnt. Der bessere Theil des Künstlers ist der Schmerz …

Des Künstlers! Ich habe dies Wort gebraucht und nehme es auch nicht zurück. Die Nachtigall ist meiner Ansicht nach nicht der erste, sondern der einzige Vogel, dem man diesen Namen schuldig ist.

Weshalb? Weil er allein schöpferisch ist; er allein variirt, bereichert, erweitert seinen Gesang, fügt neue Melodien hinzu. Er allein ist fruchtbar und schöpferisch aus sich selbst heraus, die andern nur in Folge Unterrichts und Nachahmung. Er allein hat Alles, was jene vereinzelt bringen, jeder von den andern, selbst die glänzendsten, singen nur ein Stück Nachtigallmelodie.

Ein einziger Vogel erreicht mit ihm im Genre des Naiven und Einfachen erhabene Effekte: das ist die Lerche, die Tochter der Sonne. Auch die Nachtigall ist vom Lichte inspirirt und in dem Maße, daß, wenn sie in der Gefangenschaft allein, der Liebe beraubt ist, das Licht genügt, sie zum Singen zu bringen. Eine Zeit lang im Dunkeln gehalten, dann plötzlich wieder an das Tageslicht gelassen, delirirt sie vor Begeisterung, bricht in Lobgesänge aus. Der Unterschied ist jedoch, daß die Lerche keinen Nachtgesang hat, es fehlt ihr am Verständniß der großen Effekte des Abends, der hohen Poesie des Dunkels, der Feierlichkeit der Mitternacht, der Sehnsucht erweckenden Dämmerung, mit einem Worte, sie kennt nicht die so abwechselnde Dichtung, welche uns mit allen ihren Schattirungen ein großes Herz voll Zärtlichkeit zu vermitteln weiß. Die Lerche hat ein lyrisches Talent, der Nachtigall gehört das Gebiet des Epos, des Drama, der Seelenkämpfe an: daher empfindet sie ein ganz besonderes Licht. In voller Dunkelheit sieht sie mit der Seele, mit Liebesglut, auf Augenblicke sogar, wie mir scheint, über die individuelle Liebe hinaus mit einer Art Theilhaftigkeit der unendlichen Liebe.

Warum soll man sie also nicht Künstlerin nennen? Sie hat das Temperament dazu in einem Grade, wie es beim Menschen selbst selten vorkommt. Alles, was damit zusammenhängt, die Fehler sowohl wie die Tugenden, besitzt sie im Uebermaß. Sie ist scheu und furchtsam, mißtrauisch und nicht im Geringsten verschlagen. Sie sorgt nicht für ihre Sicherheit und reist allein; sie ist im höchsten Grade eifersüchtig und singt sich fast zu Tode, wie ein Schriftsteller sagt. Sie hört sich selbst gern, setzt sich gern an Stellen, wo ein Echo ist, um zu hören und zu antworten. Nervös zum Exceß, sieht man sie in Gefangenschaft bald den Tag über lange schlafen mit lebhaften Träumen, bald die höchste Unruhe bezeigen, wachen, hin- und herrasen; sie ist auch Nervenanfällen, der Epilepsie, unterworfen.

Sie ist gut und zugleich auch wild. Gegen die Kleinen und Schwachen ist sie zärtlich, sie wird Waisen annehmen, für sie sorgen; das Männchen, wenn es alt ist, ernährt sie sogar mit einer Aufmerksamkeit wie ein Weibchen. Andererseits ist sie sehr gierig nach Beute, gefräßig und eigennützig; die Flamme, welche in ihr glüht und sie fast stets hungrig erhält, läßt sie fortwährend das Bedürfniß nach Nahrung fühlen; und das ist auch ein Grund, warum man sie leicht fangen kann. Man braucht des Morgens nur die Falle aufzustellen, besonders im April und Mai, wo sie des Nachts durch Singen ganz erschöpft ist, dann wirft sie matt und begierig sich blindlings auf den Köder. Uebrigens ist sie auch sehr neugierig, und um neue Gegenstände zu sehen, läßt sie sich fangen.

Hat man sie und trägt nicht Sorge, ihr die Flügel zu binden, oder wenigstens das Innere des Käfigs zu wattiren, so tödtet sie sich leicht durch ihre wilden Bewegungen.

Ihre Heftigkeit ist nur äußerlich; im Grunde ist sie sanft und gelehrig; das eben stellt sie so hoch und macht sie zur Künstlerin, sie ist nicht blos der talentvollste, sondern auch der ziehbarste, bildungsfähigste, fleißigste Vogel.

Es macht Spaß, zu sehen, wie die Kleinen um den Vater herum aufmerksam zuhorchen, zulernen, ihre Stimmen bilden, nach und nach ihre Fehler und Ungefügigkeiten verbessern und dann ihre jungen Organe geschmeidig machen.

Aber wenn sie nun gar für sich allein ihre Uebungen beginnen, sich neue Themata einüben, es liegt dann in ihnen eine solche Ausdauer, eine solche Achtung vor ihrer Kunst, eine künstlerische Gewissenhaftigkeit, welche sie zu ganz besonderen Wesen und es unmöglich macht, sie mit den hohlen Improvisatoren zu verwechseln, deren unbesonnenes Geschwätz nur ein Echo der Natur ist.

So sind Liebe und Licht allerdings ihr Ausgangspunkt, aber die Kunst selbst, die Liebe zum Schönen unbestimmt begriffen, aber desto tiefer gefühlt, sind ein zweiter Nahrungsstoff, der sie erhält und ihr neuen Schwung gibt.

Die wahre Größe des Künstlers besteht darin, daß er über seinen Gegenstand hinausgeht, mehr thut, als er will, daß er durch das Mögliche hindurch noch jenseits desselben etwas ahnt und ahnen läßt, was nicht erreicht werden kann.

Daher die große Schwermuth, die unversiegbare Traurigkeit, daher die erhabene Thorheit, Unglück zu beweinen, das nie geschehen. Die andern Vogel wundern sich darüber und fragen die Nachtigall bisweilen, was sie hat, was ihr fehle. Glücklich und in Freiheit, antwortet sie dennoch, was jene Gefangene in ihrem Schweigen für mich sang:

     Lascia che io pianga! – Laß mich weinen!