Die Nervenschwäche (Neurasthenie)

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Autor: E. Heinrich Kisch
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Titel: Die Nervenschwäche (Neurasthenie)
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 10–12
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Nervenschwäche (Neurasthenie).

Von Prof. Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad.


Ein französischer Philosoph, Michelet, that den Ausspruch, gewisse Jahrhunderte seien durch bestimmte vorherrschende Krankheiten charakterisirt, so das 13. Jahrhundert durch das Herrschen des Aussatzes, das 14. Jahrhundert durch die Verheerungen der Pest, des „schwarzen Todes“. Wollte man dieser Behauptung eine Berechtigung zusprechen und demgemäß nach der Krankheit forschen, welche als unserem Jahrhunderte eigenthümlich zu bezeichnen sei, so würde ich das 19. Jahrhundert das der Neurasthenie nennen.

In der That, es hat manch Bestechendes für sich, unser Zeitalter als das nervenschwache Jahrhundert zu bezeichnen. Die Zeit, in welcher die Dampfkraft das All beherrscht und jegliche Arbeit sich mit überstürzender Hast vollzieht, stellt auch die höchsten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der menschlichen Maschine, besonders aber an den Motor der Letzteren, das Nervensystem. Der Kampf um das Dasein, den die Gegenwart mit vollkommneren Waffen als in früheren Jahrhunderten, aber auch hartnäckiger und eingreifender führt, veranlaßt in allen seinen Stadien ein stürmisches Aufgebot der Kräfte unseres Organismus, hält jedoch vor Allem das Denken und Fühlen, das Sinnen und Trachten, das Forschen und Erwägen, kurzum die Thätigkeit der Nerven in steter Spannung. Was Wunder, daß die Maschine frühzeitig abgenutzt, daß die Nervenkraft leicht erschöpft wird.

Das Nervensystem des Kindes wird schon durch die Schule mit ihren immer höher geschraubten Anforderungen in einer Weise in Anspruch genommen, welche in Bezug auf körperliche wie geistige Anstrengung nicht immer der zarten Organisation des kindlichen Alters Rechnung trägt. Mit den staunenswerthen Leistungen der Schule der Gegenwart geht als dunkler Schatten eine beklagenswerthe Nervenschwächung der Jugend einher. In der weiteren Entwickelung des Menschenlebens bringt die Periode der Berufsarbeit dem Manne im Wettbewerbe um den Preis der Existenz gar viele Momente der Ueberanstrengung der nervösen Apparate, während auf der anderen Seite das gesellschaftliche Leben mit seiner Jagd nach raffinirten Genüssen Ueberreizung und Uebermüdung des Nervensystems herbeiführt. Die moderne Erziehung unserer Mädchen mit der Ueberbürdung durch geistigen Ballast und mit Vernachlässigung der körperlichen Entwickelung führt zu Angriffen auf die Nervenkraft, welche nicht spurlos später an der Gattin und Mutter vorübergehen und als schlimmste Folge die erbliche Belastung der neuen Generation mit angeborener Nervenschwäche mit sich bringen.

Als Nervenschwäche, Neurasthenie, bezeichnet man jenen abnormen Zustand des Nervensystems, der sich im Wesentlichen und in erster Reihe durch erhöhte Reizbarkeit und herabgeminderte Leistungsfähigkeit der Nerven kennzeichnet. Es kann nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, die feine und vielgestaltige Organisation des Nervensystems näher zu schildern und das Detail anzugeben über die nervösen Apparate des Gehirnes, des Rückenmarkes und der Nerven, durch welche die Seelenthätigkeit, das Bewußtsein, die Empfindung, das Denken, Fühlen und Wollen, die der Willkür unterworfenen und unwillkürlichen Bewegungen, die ernährenden und absondernden Vorgänge im Organismus zu Stande gebracht werden. Nur so viel sei erwähnt, daß all dies vorerst auf der Fähigkeit der Nerven beruht, durch Reize in erregten Zustand versetzt zu werden, Reize, welche vom centralen Nervensystem ausgehen oder die Endausbreitungen der Sinnes- und Gefühlsnerven treffen und welche mannigfaltiger Natur, mechanischer, thermischer, chemischer Art sein können. Damit die Nerven durch solche Reize in eine normale, dem Zwecke der Nervenfunktion entsprechende Erregung versetzt werden, müssen in der Nervensubstanz reguläre Ernährungsvorgänge stattfinden. Sobald diese letzteren, aus welchem Anlasse immer, beeinträchtigt sind, leidet auch die Arbeitskraft der Nerven. Wenn die Ernährung der Nerven in unzureichendem Maße erfolgt, so ist Erhöhung ihrer normalen Erregbarkeit gewöhnlich die erste Folgeerscheinung. Bei länger dauernder wesentlicher Beeinträchtigung der Nervenernährung wird die Erregbarkeit der Nerven unter die Norm herabgesetzt, ja unter Umständen völlig aufgehoben und vernichtet.

Der Anlässe, durch welche die Ernährungsvorgänge in den Nerven leiden, giebt es gar viele. Sie können in schlechter Blutbeschaffenheit, in krankhaftem Stoffwechsel, in übermäßiger Anstrengung der Nerven, in gehäufter Erregung ohne Ruhepausen, überhaupt in jeder unzweckmäßigen Lebensweise gelegen sein. Darum tritt die Nervenschwäche so häufig als Begleiterin der mannigfachen fieberhaften wie fieberlosen (chronischen) Erkrankungen auf. Deßhalb ist dieser Zustand auch beiden Geschlechtern [11] gemeinsam, wenngleich naturgemäß bei dem „zarten Geschlechte“ häufiger auftretend, als bei dem männlichen. Daß die Neurasthenie in den sogenannten gebildeten Kreisen der Großstädter, unter den oberen Zehntausend, weit häufiger herrscht als auf dem Lande, unter Arbeitern und Oekonomen, findet in dem Umstande Erklärung, daß bei den Letzteren glücklicherweise den Nerven noch keine übernatürlich große Rolle eingeräumt zu werden pflegt.

Die Neurasthenie, nebenbei bemerkt ein Zustand, welcher schon vor Jahrtausenden, wenn auch nicht so oft wie in der Gegenwart, den Menschen heimsuchte, giebt sich durch die verschiedenartigsten Zeichen und Erscheinungen kund, welche, in so bunter Gestalt sie immer auftreten, doch nur darauf beruhen, daß das Nervensystem durch geringe Reize, also bei scheinbar unbedeutenden Anlässen rasch und hochgradig in Erregung versetzt wird, daß es seine Widerstandskraft mehr oder minder eingebüßt hat und daß es nach kurzer Zeit seiner Thätigkeit in Ermüdung verfällt, welche bis zur Erschöpfung herabsinken kann. Solch geschwächtes Nervensystem vermag sich gegen krankmachende Ursachen nicht energisch zu behaupten, und so bietet die Nervenschwäche häufig genug den Ausgangspunkt ernster Nervenleiden und Geisteskrankheiten. Nervenschwache Personen sind schon durch ihr Auftreten und Benehmen, durch ihr Wesen und Gebahren kenntlich. Ihre hohe Reizbarkeit und gesteigerte Empfindlichkeit, ihre körperliche und geistige Unruhe, ihr rascher Wechsel in Empfindung und Anschauung, ihre leichte Ermüdung giebt sich äußerlich genugsam kund. Sie vermögen nicht lange auf einem Platze ruhig zu bleiben, sie lieben in ihren Arbeiten und Erholungen die Abwechslung, sind durch Kleinigkeiten in Zorn und Erregung zu bringen und bereuen schnell wieder diese Aufwallung, zeigen große Launenhaftigkeit, in derselben Stunde oft ohne ernsten Anlaß himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt.

Die gesteigerte Empfindlichkeit tritt in den verschiedensten Nervenbahnen hervor. Die Nervenschwachen klagen über heftiges Kopfweh, Eingenommensein des Kopfes, Augenschmerzen, Flimmern vor den Augen, Schwindelgefühl, Ohrensausen, Empfinden eigenthümlicher Geräusche in den Ohren, sonderbare Geruchsempfindungen, Rückenschmerzen, Gliederreißen, schmerzhafte Gefühle in den Muskeln und Knochen, ohne daß sich selbst durch die genaueste ärztliche Untersuchung in diesen Organen Veränderungen nachweisen lassen, welche eine Erklärung für den Sturm von Schmerz und Qual zu bieten vermögen. Die Klagen solcher in ihrem Nervensysteme geschwächter Personen finden aus diesem Grunde bei der Umgebung und auch bei Aerzten oft genug nur taube Ohren. Anfangs bemitleidet man die ewig Klagenden; später findet man sie langweilig, und endlich werden sie zum Gegenstande des Spottes. Um so ungerechtfertigter ist das Letztere, als die Nervenschwachen sich ja all die unangenehmen und peinlichen Empfindungen nicht etwa „einbilden“, wie der Laie sich ausdrückt, sondern thatsächlich fühlen. Durch die erhöhte Reizbarkeit des Gehirnes und der gesammten Nerven, welche mit der Neurasthenie einhergeht, kommt es bei den nervenschwachen Personen häufig zu peinigenden Angstgefühlen und quälenden Zwangsvorstellungen, die bei den geringsten Anlässen auftreten und hoch anschwellend alles Denken und Trachten gefangen nehmen, so daß es zuweilen schwierig wird, die Entscheidung zu treffen, ob es nicht bereits zur wirklichen Umnachtung des Geistes gekommen ist.

Eine eigenthümliche Form solcher Angstgefühle ist, daß mancher Nervenschwache, der sich sonst beim Gehen selbst weiter Strecken und beim Steigen auch hoher Berge ganz wohl fühlt, außer Stande ist, allein über einen großen, freien Platz zu gehen. Sobald er nur den Platz erblickt, tritt bei dem Bedauernswerthen sogleich Herzklopfen und Schwindel ein; auf der Stirne perlen die Schweißtropfen, die Hände und Füße fangen zu zittern an, vor den Augen flimmert, vor den Ohren saust es, und während der Kranke sich wie an den Boden gefesselt fühlt, ist ihm ein Vorwärtsschreiten fast unmöglich. Der Arme ist nicht im Stande, über den Platz zu kommen, und schlägt lieber einen größeren Umweg ein, um an sein Ziel zu gelangen; hat er sich aber dennoch zu überwinden vermocht und den Versuch zum Ueberschreiten des Platzes gemacht, dann kehrt er sicherlich auf halbem Wege zurück, und nichts vermag ihn zu bewegen, wieder vorwärts zu gehen. Wenn der solchermaßen von „Platzangst“ Gequälte Jemand neben sich hat, und wenn es auch nur ein Kind wäre, an das er sich halten kann, so kann er seinen Weg über den Platz nehmen. Ebenso genügt zuweilen zur Bannung dieser Angst, wenn der Betreffende sich auf einen Stock oder Schirm stützen kann, oder wenn er langsam dicht hinter einem Wagen, welcher den Platz passirt, einherschreitet und sich des Fuhrwerkes gleichsam als Führers bedient. Ein ähnliches Angstgefühl befällt wiederum andere nervenschwache Personen, wenn sie in geschlossene Räume eintreten, welche von Menschen erfüllt sind. Es ist ihnen darum nicht möglich, das Theater, den Concertsaal, die Kirche zu besuchen, und machen sie den Versuch hierzu, so treten mit unwiderstehlicher Gewalt beängstigende Vorstellungen, Schwindelanfälle, ja selbst Ohnmacht ein. Solche mit zwingender Macht plötzlich auftauchende Angstgefühle machen sich zuweilen auch beim Alleinsein in einem Zimmer, bei geschlossenen Fenstern und Thüren, beim Ueberschreiten einer Brücke, beim Fahren auf der Eisenbahn, bei Benutzung eines Bootes bemerkbar.

Der eingreifende Einfluß, den die allgemeine Nervenschwäche auf die Verdauungsorgane, auf den Magen und Darm mit ihrem Drüsenapparate übt, giebt sich durch wesentliche Störungen in der Thätigkeit dieser für die Erhaltung des Körpers so wichtigen Werkzeuge kund. Das normale Hunger- und Sättigungsgefühl ist beeinträchtigt, die Verdauungsflüssigkeiten werden in abnorm veränderter Menge oder krankhafter Beschaffenheit abgesondert, die Bewegungen des Magens und Darmes sind gehemmt oder beschleunigt, und eine Menge von Beschwerden und Unbehaglichkeiten begleitet jenen Akt, der beim gesunden Menschen stets mit einem gewissen Wohligkeitsgefühle verbunden ist, das Verdauen einer Mahlzeit. Gerade die Störung und Beeinträchtigung, welche die Verdauungsorgane bei Neurasthenie erleiden, sind von einschneidender Bedeutung, indem hierdurch die Gesammternährung des Körpers leidet und so der geschwächte Organismus dem Weiterschreiten der Krankheit noch geringeren Widerstand zu leisten vermag.

Schon aus den wenigen Strichen, mit denen ich in voranstehenden Zeilen die Neurasthenie skizzirte, ist ersichtlich, daß diese Krankheit unter wechselreichen Erscheinungen auftritt. Da sie aber erfahrungsgemäß einen fruchtbaren Boden für das Emporwuchern ernster Nervenkrankheiten abgiebt, müssen schon die frühesten Zeichen einer erhöhten Reizbarkeit, leichten Hinfälligkeit und herabgesetzter Widerstandsfähigkeit der Nerven wohl beachtet und bekämpft werden.

Es geschieht dies Letztere sowohl durch angemessene Kräftigung des Gesammtorganismus und hierdurch verbesserte Ernährung des Nervensystems, als auch durch psychische Beeinflussung und Hebung der Willensenergie. Ein Haupterforderniß jeder Kur der Neurasthenie, das allerdings oft schwer zu erfüllen ist, geht dahin, die Ursachen, welche die Nervenschwäche hervorriefen oder förderten, zu heben. Darum ist es so wichtig, den Nervenschwachen, wenn irgend möglich, aus seinen gewohnten Verhältnissen herauszureißen und in eine angenehme ruhige Landgegend zu versetzen, wo der Stoffwechsel neu belebt und angeregt wird, dabei aber an die Nerventhätigkeit die geringsten Ansprüche gestellt werden. Jede Gelegenheit zur Anspannung, Aufregung und Ueberreizung der Nerven muß sorgfältig vermieden; jegliche Arbeit des Körpers und Geistes, jeder Genuß soll nur mit Maß gestattet werden, damit die Nervenkraft sich erhalten oder wiederherstellen kann.

Wo Nervenschwäche in einer Familie den Kindern als unwillkommene Erbschaft bereits in der Wiege zufällt, erfordert die Erziehung von frühester Jugend an ganz besondere Sorgfalt. Man muß vorzüglich bestrebt sein, die Widerstandsfähigkeit des Nervensystems zu heben. Die Kinder dürfen bei aller Sorgfalt für ihr körperliches Gedeihen nicht verweichlicht und verwöhnt werden; sie müssen angehalten werden, ihre Launen und Stimmungen zu beherrschen. Ihr Geist bedarf ebenso wie ihr Körper einer strengen, richtigen Schulung, ausreichender Kräftigung und Uebung ohne Ueberanstrengung. Zu Jünglingen herangereift, müssen solche angeboren Nervenschwache sich vor übermäßigem Genusse geistiger Getränke hüten, Ausschweifungen aller Art meiden, aber auch das Gehirn nicht durch allzu emsiges Studiren überbürden. Bei Tage ist der körperlichen Bewegung im Freien, zweckentsprechender Gymnastik, genügende Zeit zu widmen, die Nacht aber der vollen Ruhe, ausreichend langem Schlafe zu bestimmen. Manchem Studenten, der von Haus aus nervenschwach veranlagt ist, hat nicht so sehr die wissenschaftliche Tagesarbeit als das nächtliche Kneipen und Schwärmen das Nervensystem ruinirt. Wichtig ist es aber, wenn bei nervenschwachen Kindern [12] der Beruf mit Vorsicht gewählt wird. Wo die in der Familie herrschende Nervenschwäche hochgradig ist und sich in früher Jugend bereits bedenkliche Zeichen dieses Krankheitskeimes kundgeben, da soll der junge Mann einem solchen Berufe zugeführt werden, welcher dem Ehrgeize und den Leidenschaften geringen Antrieb gewährt und eine mehr beschauliche, ruhige Lebensweise gestattet, wie dies ja bei manchem bürgerlichen Gewerbe und in der Landwirthschaft der Fall sein kann. Die jungen zur Nervenschwäche erblich geneigten Mädchen müssen besonders vor dem Lesen schlechter Bücher und vor dem Umgange mit überspannten Genossinnen bewahrt werden, damit nicht die Phantasie ungezügelte Herrschaft gewinne und Ideen wecke, welche in einer vernünftigen Ehe ihre Erfüllung nicht finden können.

In der Behandlung der Nervenschwäche kommen vorzugsweise die den Organismus kräftigenden Methoden in Anbetracht, bei denen kühle und kalte Abreibungen, Seebäder, Stahlbäder, Eisenmoorbäder neben stärkenden inneren Mitteln, einer geeigneten Ernährungsweise und Aufenthalt in gesunder schöner Landschaft die Hauptrolle spielen und je nach der Konstitution des Kranken zur Anwendung gebracht werden. Bei hohen Graden von Neurasthenie ist die Unterbringung in einer Kuranstalt, welche den Kranken frei von äußeren Beeinflussungen und Eindrücken unter besondere Beobachtung und Pflege stellt, von großem Nutzen.

Auf die kräftige Ernährung ist bei Nervenschwachen ein Hauptgewicht zu legen und nach dieser Richtung sucht besonders eine Nährmethode zu wirken, welche zuerst von einem amerikanischen Arzte, Weir-Mitchel, gegen schwere Formen von Neurasthenie empfohlen und seither von hervorragenden Autoritäten erprobt wurde. Dieses Verfahren, die sogenannte Fütterungskur, zielt dahin, in einer kurzen Zeit, innerhalb weniger Wochen den allgemeinen Kräftezustand, die Ernährungsverhältnisse sämmtlicher Körpergewebe und besonders diejenigen des Nervengewebes in auffälliger Weise aufzubessern. Durch systematische Zufuhr einer allmählich sich steigernden, enormen Menge von Speisen innerhalb vierundzwanzig Stunden wird Blut und Fett in reichlichem Maße neu gebildet und das Gewicht des Kranken in kurzer Zeit um viele Pfunde vermehrt. Zu dieser Kur gehört jedoch, daß der Nervenschwache aus seiner gewohnten Umgebung entfernt (ja sogar unter Umständen in eine besondere Anstalt gebracht) werde und absolute geistige Ruhe bewahre, während die körperliche Bewegung fast nur auf Massage beschränkt wird. Es ist staunenswerth, welche Unzahl von Speisen die Kranken bei solcher Fütterungskur vertragen, und die günstigen Resultate bezüglich der Besserung des Nervenleidens sind zuweilen überraschend. Aber auch ohne derartige strenge Mastdiät vermag schon eine kräftig nährende, leicht verdauliche Kost zur Hebung der gesunkenen Nervenernährung ganz Bedeutendes zu leisten.

Wenn bei einer solchen Nährweise schwere Weine und starkes Bier oft eine wichtige Rolle zur Hebung der Kräfte spielen, so müssen doch andrerseits Nervenschwache vor dem unmäßigen Genusse geistiger Getränke gewarnt werden. Dazu sowie zu dem Mißbrauche der Opiummittel sind gerade Nervenschwache sehr geneigt, weil sie im Weine und Alkohol ein Reizmittel und im Opium ein angenehmes Beruhigungsmittel finden; doch Wein und Opium sollen hier nur als Arzneimittel zum sorgsamen und seltenen Gebrauche Anwendung finden. Nur zu leicht gewöhnen sich die in ihren Nerven geschwächten Personen daran, durch stärkere alkoholhaltige Getränke künstlich die Nerven aufzustacheln und anzuspornen, und sinken dadurch von Stufe zu Stufe in den Sumpf der Alkoholvergiftung. Oder sie lassen sich, um ihre Schmerzen zu stillen, zum Genusse von Opium verleiten, spritzen sich Morphium unter die Haut ein und verfallen in das Siechthum des Morphinismus. Auch mit anderen Reizmitteln, mit dem Trinken von starkem Kaffee und Thee sowie mit Tabakrauchen, welche ja für einige Zeit die ermüdeten und geschwächten Nerven flüchtig zu beleben vermögen, treiben die Nervösen leicht Mißbrauch, der sich dann durch dauernde Verschlimmerung des Nervenleidens rächt.

Von Wichtigkeit ist bei Behandlung der Nervenschwäche, daß der Arzt auch einen psychischen Einfluß auf den Kranken übe, daß er diesen lehre, die Willenskraft zu erhöhen, die Nerven zu stählen, daß er ihm Selbstvertrauen einflöße und daß er ihm eine geeignete Diätetik der Seele vorschreibe. Dazu aber, daß die Nervenschwäche keine noch größere Verbreitung nehme und nicht unsere ganze Generation erfasse, dazu sollte jeder Gebildete in seinem Kreise durch Beispiel und erzieherisches Wirken beitragen. Er sollte eintreten in den Kampf gegen jene Mächte, welche unser Geschlecht entkräften, gegen das wüste Jagen nach Reichthum, das ruhelose Streben nach „Immer mehr!“, das schrankenlose Genießen der Sinnenlüste, das ewige Hasten nach Geld, Auszeichnung und Macht. Er sollte dahin mit streben, daß sittliche Selbstzucht und geistige Beherrschung gepflegt werde, daß Jedermann in seiner Arbeit Befriedigung finde, daß edlere Genüsse als nur materielle anzustreben sind und daß das reine Glück still friedlichen Familienlebens zur höchsten Schätzung gelange.