Sagen und Gebräuche aus dem Paznaunthal
Sagen und Gebräuche aus dem Paznaunthal.
Auch noch so reizend gelegene Orte können dem „Sommerfrischler“ mitunter auf einen Augenblick langweilig werden. Das erfuhr auch ich im August 1885 in Kufstein. Nicht als ob das hübsch zwischen hohen Bergen am Inn hingelagerte Städtchen an Reiz verloren hätte; ich selbst war inzwischen, mitten in der großartigen Natur, vereinsamt. In dieser Lage fiel mir der Artikel der „Gartenlaube“ über das Hochthal Paznaun in Tirol (1885, Nr. 21 und 22) ein, und ich erinnerte mich der öfter wiederholten Aufforderung unseres liebenswürdigen Meisters Mathias Schmid, doch einmal sein Heimaththal aufzusuchen. Der Entschluß dazu war nun rasch gefaßt, und ich brauchte mein Vorhaben nicht zu bereuen, denn der Besuch des Paznaunthals gestaltete sich zu einer wahren Studienreise, die reich an Eindrücken und Ergebnissen war. Und von diesen möchte ich hier namentlich diejenigen hervorheben, welche sich auf Sagen und Gebräuche beziehen und welche die Meisterhand von Mathias Schmid den Lesern der „Gartenlaube“ in bildlicher Darstellung vorführt.
Man ist in Paznaun wie in eine Märchenwelt versetzt. In Berg und Thal, auf den Alpen und in den Häusern setzen die alten Götter und Geistergestalten unserer Väter nicht bloß ihr mythologisches, sondern, nach der Meinung der Leute, ein wirkliches Dasein fort.
Zunächst begegnen wir hier den sogenannten Pütz, unter welchem Namen in anderen Gegenden die verschiedenartigsten mythologischen Gestalten auftreten. Bei den heutigen Paznaunern gelten sie für Menschen, welche nach ihrem Tode wegen einer begangenen Missethat auf Erden herumwandeln müssen, bis sie, wenn es überhaupt möglich ist, erlöst werden. Da die Verbrechen aber nie ganz aufhören und manche überhaupt nie gesühnt werden können, so muß es natürlich solche Pütz auch immer noch geben. In der That sah im Jahre 1848 ein als sehr geübter Schütze und Gemsenjäger nah und fern bekannter Mann einen Pütz, als er von Chur nach Hause zurückkehrte und zugleich mit seinem Begleiter in einer Sennhütte übernachten mußte. Sie machten ein Feuer an, aßen und lagerten sich auf der Lagerpritsche, wo sie noch Lagerstroh angetroffen. Kaum hatten sie sich aber in dieses gebettet, da hörten sie ein furchtbares Grunzen, wie von einem Schweine, durch das Gußloch herein. Der Begleiter zitterte vor Angst, zog sein Wams über den Kopf und verhielt sich mäuschenstill. Aber da sprang die Hüttenthür mit schauerlichem Rasseln auf, ein großer Mann mit einem graulodenen Wettermantel und einem großkrämpigen, auf der rechten Seite mit einem halbgespaltenen Holze aufgestülpten Hute trat herein und ließ sich neben dem Feuerherde nieder. Der Jäger wurde aber nicht eingeschüchtert, stieg von der Pritsche zu dem Unbekannten ans Feuerloch herab, machte wieder Feuer an und nahm, da das Holz mangelte, auch Bretter vom Hüttendache. So oft er dies that, schaute ihn der Unbekannte mit drohender Miene an. Lange saßen sie so neben einander, ohne ein Wort zu sprechen; endlich fragte der Jäger doch: was er da mache und wer er sei?
Der Unbekannte antwortete, er habe vor gar langer Zeit auf dieser Alpe, die einer Wittwe gehört, gehütet; als diese die Alpe an einen Anderen verpachtet, sei er bei diesem ebenfalls Hirte gewesen. Nach einigen Jahren habe aber der Pächter die Alpe als Eigenthum angesprochen, und in dem darüber entstandenen Processe sei er, der Unbekannte, auch vernommen worden; allein er habe unter einem falschen Eide ausgesagt, er sei nie bei der Wittwe Hirte gewesen, sondern nur bei dem Pächter. Dieser habe darauf hin den Proceß gewonnen, er aber sei von der göttlichen Gerechtigkeit bis zum jüngsten Tage auf diese Alpe verbannt worden; ob er aber dann selig werden könne, das wisse er nicht. Doch dürfe er sich in dieser Alpenhütte nur von der Alpenabfahrt bis zur Zeit der Auffahrt aufhalten; die übrige Zeit müsse er im Alpenreviere zubringen. Der Junker, der ihn zum falschen Eide verführte, sei hingegen auf ewig verdammt, müsse sich auf einem Kopfe der Alpe aufhalten und könne bei schlimmem Wetter
[9]mit einem Helme und langem Rocke, vergoldete Knöpfe daran, mit Degen und Hirschfänger auf einem Rappen durch steile Felsen reitend gesehen werden. Unter diesem Gespräche war vier Uhr Morgens herangerückt. Sausend und brausend verließ dann der Unbekannte wieder die Hütte, brüllte aber nochmals grunzend durch das Gußloch herein. Bei Tagesanbruch ist großer Schnee mit Nebel gelegen. Der Putz, den der Jäger auf der Alpe sah und hörte, ist unschwer als Wuotan zu erkennen, wie sonst im Nebelmännlein.
Mathias Schmid, welcher bei seinem letzten Aufenthalte in Paznaun auch diesen Schatz zu heben und künstlerisch zu verwerthen begann, hat aus den verschiedenen Arten von Pütz eine besondere herausgegriffen und zur Darstellung gebracht. Es ist ein Weib, das von einem Raben umflattert, auf der Alpe Lorrin auf einem „Marterl“ kauern muß, bis es endlich erlöst wird; denn es ist schuld, daß ein Mädchen vom Berge abgestürzt ist. Man sieht es der Gestalt an, wie hart der Bann, welcher sie dort gefangen hält, auf ihr lastet. In schmerzlicher Sehnsucht harrt sie darauf, daß endlich die Zeit der Erlösung nahe. Noch ist es zu früh, und kummervoll harrt sie weiter. Dieser Putz unterscheidet sich aber von einer anderen Art, welche erlöst werden kann, wenn sich zu rechter Zeit der geeignete Erlöser naht. Doch gerade dieses Los ist um so peinvoller, weil möglicherweise der nahende Befreier die Bedingungen der Befreiungsthat nicht bis ans Ende zu erfüllen im Stande ist. Es ist nämlich schon gar oft vorgekommen, daß so ein armer Putz schrecklich enttäuscht wurde. Er beobachtete lange das Thun und Treiben eines Senners oder Hirten, kam ihm vielleicht auch mannigfach dienstfertig entgegen, bis er sich endlich für überzeugt hielt, derselbe müsse sich dazu eignen, den bösen Zauber von ihm zu nehmen. Er vertraut ihm seinen Jammer an, theilt ihm auch die zu erfüllenden Bedingungen mit und zeigt sich ihm etwa in der strahlenden Schönheit einer Jungfrau, wie er sie gewinnen und besitzen soll, wenn er treulich Alles erfüllt haben wird. Theils Mitleid, theils Sehnsucht läßt den Senner zu Allem bereit sein; nichts, gelobt er, soll ihn abwendig machen, kein Anerbieten ihm je höher stehen, als der Besitz der erlösten Jungfrau. Er hat auch bereits die meisten Bedingungen erfüllt und Alles zurückgewiesen, was ihn von seinem Ziele abbringen sollte. Da endlich steigt doch einmal der Gedanke in ihm auf, nach etwas Verbotenem zu greifen und Alles ist umsonst gewesen.
Einen mythologischen Ursprung haben natürlich auch die Salige Fräulein. Die Mythologen wissen noch nicht mit Sicherheit, auf welche Gestalt der alten Mythe sie dieselben zurückführen sollen; man darf es daher auch den Paznaunern nicht verübeln, wenn sie sich um diesen Zusammenhang nicht kümmerten und aus den Salige Fräulein sich eigenartige Gestalten schufen. Jetzt sind sie Töchter Adam’s, welche noch im Paradies vor der Sünde ihres Vaters geboren wurden. Die Erbsünde ging auch deßhalb nicht auf sie über, sondern sie blieben in paradiesischer [10] Unschuld. Das Paradies verloren jedoch auch sie; ja, wenn sie nicht selbst durch den Umgang mit den sündigen Menschen verdorben werden sollten, so mußten sie sich vor denselben zurückziehen, und je weiter die Menschen sich verbreiteten, je mehr sie alle Ebenen und Thäler besiedelten, desto weiter mußten die Salige Fräulein fliehen, bis sie endlich nur noch auf Höhlen und Wälder angewiesen waren. Ganz entsprechend stehen sie mit ihrer nächsten Umgebung, den menschenscheuen Gemsen, auf dem vertrautesten Fuße. Sie, die sich selbst leicht und sicher, wie die Gemsen, an den Felsen hinauf- und hinunterbewegen, sind auch die Beschützerinnen dieser Thiere und hassen Niemand mehr, als die Gemsenjäger. Doch jeden Verkehr mit den Menschen meiden sie keineswegs. Manchmal kommt es schon vor, daß eines derselben an einen Hirten, dessen braves Walten und fromme Art, auch gegen die Gemsen, es beobachtet, herantritt, ihm leise auf die Schulter klopft und ihn anspricht. Es lädt ihn dann ein, das verlorene Paradies zu sehen und dessen Freuden zu genießen; denn wenn auch das biblische Paradies für sie selbst aufgehört hat, einen Ersatz haben sie doch dafür. Nur liegt es nicht mehr auf der Erde, sondern hat sich, damit die Menschen ungeheißen nicht dahinkommen, in die Erde geflüchtet. Wer da hineingekommen ist, der kann gar nicht sagen, welche Wunder an Reichthum und Schönheit er gesehen hat. Alles übertreffen aber die Salige Fräulein selbst, mit solchem Liebreiz und so zauberischem Gesange sind sie begabt. Wie rauh und armselig kommt dem Menschen, der dieses Glück gesehen und genossen, seine Welt vor! Unwiderstehlich zieht es ihn zu den Salige Fräulein zurück. Sie verwehren es auch demjenigen, welchen sie einmal in ihr Paradies geleitet, nicht, wiederzukommen und sich zu freuen, so oft er immer will; nur darf er anderen Menschen nichts davon verrathen. Das ist nun aber eine harte Probe. Den Sommer über geht’s, da kann man Tag für Tag den Bergsteig hinaufklimmen; aber wenn der Schnee das Wiederkommen unmöglich macht, dann nagt die Sehnsucht so schmerzlich an dem Herzen des Bevorzugten, daß er sein Geheimniß wenigstens dem theilnehmenden Mutterherzen verräth. Damit ist auch das wiedergefundene Paradies verscherzt. Wenn er wieder an den Eingang kommt, ist er ihm versperrt, und keines der Salige Fräulein ist mehr zu sehen. Sein Schmerz steigert sich zur Verzweiflung. Er weiß jedoch, wie er sie dafür strafen kann, und wird Gemsenjäger. Da sieht er freilich nochmals eine der Adamstöchter, wie sie ihre Gemse vor seinem Schusse schützt und an ihn herantritt, zornig und doch schmerzerfüllt. Er kann ihren Anblick nicht mehr ertragen. Sein Fuß wankt; er stürzt, und zerschmettert liegt er unten im Thale.
Die künstlerische Phantasie Mathias Schmid’s hat die Salige Fräulein am Jamthaler Gletscher gesehen, und ich kann es nur als einen glücklichen Gedanken bezeichnen, daß er ihr Bild sofort mit dem Stifte festgehalten hat. (Vgl. S. 13.) Er hat damit nicht bloß gezeigt, welche reiche Motive der Kunst unsere germanische Mythologie und der Volksglaube bieten können, sondern seinem Heimaththale einen neuen Reiz verliehen. Gar Manchem, der es künftighin besuchen und den mühelosen Steig zum Jamthaler Gletscher gehen wird, werden nunmehr dort auch die Salige Fräulein erscheinen.
Scheinbar einen modernen Gegenstand, eine thalübliche Sitte stellt unsere Vignette, das Spalunkesgehen (S. 8), dar. Ein junger Bursche, welcher endlich den letzten Schritt zur Verlobung thun will, geht in der Abendstunde, begleitet von seinem besten Freunde, zum Hause seiner Auserkorenen, nachdem vorher ein Fäßchen an seiner Seite im Wirthshause mit Wein gefüllt worden. An dem Hause angekommen, legen die beiden eine Leiter an, der Bursche steigt auf derselben, die vom Freunde gehalten wird, an das Fenster des Mädchens, klopft und fordert ein entscheidendes Wort. Ist es zu gleichem Entschlusse bereit wie der Bursche, so geht Alles in die Wohnstube. Am Herde beginnt das Backen, und darauf folgt ein einfaches, aber, es läßt sich denken, fröhliches Mahl. „Ich siech (sehe) Di,“ sagt der Freier und stößt an. „Ich hör Di,“ antwortet ihm das Mädchen. „Ich han Di scho öfter g’sehn“, ergreift jener nochmals das Wort, worauf dieses versetzt: „Wenn’s mir’s bringst, lass’ ich’s g’schehn.“ Die Verlobung ist fertig. Das Paznauner Völkchen weiß nicht mehr, warum es gerade so seine Verlobung feiert. Es ist eben Sitte. Aber die Forscher vermuthen mit Recht, daß diese Sitte in alten Ueberlieferungen wurzelt. Die Ehen kamen in heidnischer Zeit durch Kauf zu Stande, der Kauf aber durch Vertrag, und der Vertrag wurde durch einen Weinkauf bestätigt, welcher jedoch öffentlich sein mußte, weßhalb an die Personen, welche Zeugen des Geschäftes sein sollten, Wein vertheilt wurde. Ein so ausgesprochenes Beispiel von wirklichem Weinkaufe bei der Ehe scheint sich außer in Paznaun nirgends erhalten zu haben, und wir müssen Mathias Schmid dafür dankbar sein, daß er uns auf diesen Zug aufmerksam gemacht hat.
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[31] Wenn man erwägt, daß man sich in einem Hochthale befindet, dessen Hauptorte Ischgl 1442 Meter und Galthür 1537 Meter hoch liegen, und daß rechts und links vom Thale, das manchmal nur die Breite des Trisannabettes hat, mächtige Berge sich himmelhoch emporthürmen, dann kann man sich auch alle Fährlichkeiten vergegenwärtigen, welche ein solches Thal heimzusuchen pflegen. Wer aber noch keine Vorstellung von den Mühseligkeiten des Lebens in den Bergen oder von der Vorsicht hat, welche man gebrauchen muß, der mag sich von dem rührigen Postmeister in Ischgl in den Abendstunden bei einem Glas trefflichen Tirolerweins davon erzählen lassen. Aber trotz aller Vorsicht können nicht alle Unglücksfälle verhütet werden. Im menschlichen Leben geht es indeß so: von dem Unglück der Einen leben die Andern. So hat auch im Paznaun das Unglück eine eigenartige Kunst, freilich in der primitivsten Form, hervorgerufen, deren Vertreter der Tuifele-Maler ist. Einen solchen Kollegen, eine Charakterfigur des Thales, hat Mathias Schmied gezeichnet, wie er gerade mit den Werken seiner Kunst hinauswandert, um sie abzuliefern (vergl. S. 33). Reich, das sieht man ihm an, macht seine Kunst nicht, und kostbare Leistungen sind seine Werke auch nicht; aber er ist mit seinem Erwerbe zufrieden, denn er hat Absatz. Es sind zum Theil „Marteln“, welche an ein Unglück erinnern oder sich mit dem Jenseits beschäftigen, indem der Tuifele-Maler in der bekannten drastischen Weise „die armen Seelen im Fegfeuer“ anschaulich macht, um die Vorübergehenden sowohl zum Gebete für dieselben zu veranlassen, wie an ihr eigenes Seelenheil zu erinnern. Es kommt mir vor, wie wenn dieses Bild von einem eigenartigen Humor durchhaucht wäre. Und es kann in der That nicht anders sein. Ist es doch schon in hohem Grade drollig, wenn eine Geisterhand einen Tuifele-Maler sich zum Gegenstande nimmt und so vollendete Kunst und die Leistung eines Dorfpfuschers zugleich zur Darstellung bringt. Der Kontrast springt in die Augen und muß nothwendig erheiternd wirken. Hoffentlich ist aber der Tuifele-Maler kein verkanntes Genie, der es Mathias Schmid verübelt, seine bescheidene Wirksamkeit der großen Welt enthüllt zu haben, sondern freut sich herzlich, daß ihm dieses Glück widerfahren ist. Für die Paznauner ist auch er ein Bedürfniß und füllt seine Stelle aus. Ihr Thal kann wohl grosse Künstler hervorbringen, aber nicht beschäftigen.
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Uebrigens brauchen nicht einmal außerordentliche Unglücksfälle einzutreten, der Tod bringt schon gar Manches mit sich, wovon wir in der Ebene keine Ahnung haben. Die Paznauner Chronik merkt es daher wie einen wohltätigen Fortschritt und eine ungemeine Erleichterung an, daß Galthür seit 1383 einen eigenen Geistlichen erhielt und man von dieser Zeit an nicht mehr die im Winter Verstorbenen im Hause behalten und gefrieren lassen mußte, um sie erst im Längetes (Lenz, Frühjahr) nach dem Pfarrorte Steinsberg im Unterengadin zu bringen. Man kann sich denken, welche herzzerreißende Scenen da vorkommen mußten; denn auch der Bergbewohner hat ein Gemüth, und es ist in der Regel sogar weniger abgestumpft als das unserige. Mathias Schmid hat uns eine solche Scene geschildert. Der Tod hat eine Braut in der Jugendblüthe hinweggerafft. Dem Bräutigam hätte schon darüber das Herz brechen mögen; aber ihm ist es nicht einmal, wie Anderen, gegönnt, daß die Zeit den Schmerz heilt. Jeder Tag wühlt ihn aufs Neue auf; denn diejenige, welche er heimführen wollte, ist zwar noch im Elternhause; aber entseelt und zu Eis gefroren liegt ihr Körper dort oben auf dem Boden, an dem er täglich, ja stündlich vorbeikommt, den er stets vor Augen haben muß; und in der Einsamkeit des Winters bohrt sich der Schmerz immer tiefer in sein wundes Herz. Doch endlich schmilzt der Schnee unter dem warmen Strahl der Frühlingssonne – auf ihn aber, auf sein Herz
[34] wirkt er nur eisig kalt. Es ist für denselben ja der Tag gekommen, an dem seine Liebe hinausgetragen werden soll, um endlich in die Erde gebettet zu werden. Nochmals blickt er ihr ins Gesicht, und dann bricht er vor Schmerz an ihrem Sarge zusammen. Ja, das arme Menschenherz muß viel ertragen!
Die Leser der „Gartenlaube“ wissen schon, daß in Paznaun kein Reichthum zu suchen ist. Allein das Zeugnis muß man den Bewohnern doch geben, daß sie sich anständig ernähren. Man sieht keine Ruinen als Häuser, sondern überall ist Alles gut gehalten, herrscht Reinlichkeit und Sauberkeit, und wenn das Völklein „gesund und freßmunter“ ist, so kann es auch heiter und witzig sein. Was aber am allermeisten überrascht, das ist der gänzliche Mangel an Bettlern, im Lande Tirol gewiß eine kaum glaubliche Erscheinung. Doch eine typische Figur in Tirol, die ich sonst nur noch in der katholischen Schweiz gesehen, findet sich gleichwohl in Paznaun – die Professionswallfahrerin um Geld (vergl. S. 32). Sie ist ein altes Weib, das gerade ein junges Mädchen zurückhält, um noch ein Herzensgeheimniß, das der Gnadenmutter zur Erhörung vorgetragen werden soll, zu übernehmen. Der heilige Gang geht entweder nach Maria-Einsiedeln in der Schweiz oder nach Absam bei Hall, und das Geschäft besteht darin, daß das Weib kirchliche Uebungen um Geld für Andere übernimmt und besorgt. Der Bauer oder vielleicht auch der Schwärzer, die Mutter mit einem Haufen Kinder, die Söhne und Töchter haben nicht immer Zeit, Wallfahrten zu machen, an den berühmten Wallfahrtsorten Ablässe zu gewinnen, den dortigen Gnadenbildern ihre Anliegen vorzutragen und etwa an ihrem Altare auch Messen lesen zu lassen. Sie thäten es gern und haben es vielleicht auch gelobt; allein es will sich durchaus nicht schicken. Da tritt nun die Professionswallfahrerin als Vermittlerin ein. Wie eine Botengeherin nimmt sie die Aufträge entgegen oder fragt solchen nach. Sie treibt das Geschäft, das ihr selbst einen gewissen Heiligenschein verleiht, schon lange, und man war mit ihr stets zufrieden. Es fehlt ihr darum auch nie an Aufträgen aller Art, und wo sie einkehrt, sieht man sie gern und gewährt ihr Mittagessen und Nachtquartier. Kommt sie dann von dem Gnadenorte zurück, so bringt sie auch die Neuigkeiten von dort mit, namentlich allerlei Wundergeschichten, welche an solchen Orten ja nie ausgehen. Das Geschäft ist übrigens einträglich für die Professionswallfahrerin, um so weniger Vortheil haben davon die Auftraggeber, wenn jene, woran jedoch manche zweifeln, ihre Aufträge auch wirklich besorgt. Es ist aber einmal eine Tiroler Specialität, welche so schnell nicht verschwinden, sondern für das Land typisch bleiben wird. – –
Nach einer Reihe genußreicher Tage, in welchen ich die oben mitgeteilten Studien gesammelt, nahm ich von Mathias Schmid wieder Abschied. Mit köstlichen Erinnerungen kam ich über Silz nach Kufstein zurück. Aber jetzt erst sollte ich innewerden, welch eine wunderbar kräftigende Luft man in Paznaun athmet. Kurz vorher höher als Brennerbad (1313 Meter) oder Schuls bei Tarasp (1215 Meter), war ich jetzt um beinahe 1000 Meter tiefer (Kufstein 487 Meter); ich glaubte es anfänglich hier nicht wieder aushalten zu können. Die Kufsteiner selbst aber, denen ich auf ihre neugierigen Fragen von der großartigen Schönheit ihres heimathlichen Thales Paznaun erzählte, wollten mir durchaus nicht glauben und werden es wohl nie glauben. Einen Abbruch thut das aber dem Paznaun nicht.