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Herzenskrisen

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Textdaten
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Autor: W. Heimburg
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Titel: Herzenskrisen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–17, S. 2–7, 21–24, 37–42, 53–56, 69–74, 85–88, 101–106, 117–120, 133–140, 149–152, 165–170, 182–187, 197–204, 226–233, 248–253, 268–271, 283–287
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Herzenskrisen.
Roman von W. Heimburg.

Der Schnellzug hielt vor dem Perron in H.; „Eine Minute Aufenthalt!“ riefen die Schaffner, von Koupé zu Koupé eilend. Vor der Wagenreihe entwickelten sich die bekannten Abschieds- und Begrüßungsscenen; dazwischen verlangten halbverdurstete Reisende nach Bier, schrieen die Gepäckträger ihr „Vorsicht!“ in den sprechenden, hastenden Menschenknäuel, und die Glocke that ihre drei durchdringenden Schläge. Die Koupés hatten sich im Umsehen gefüllt, trotz des unverhohlenen Mißfallens der bereits darin Sitzenden, und wie mit einem Zauberschlage war Ruhe eingetreten. Eben setzte der Zugführer sein Pfeifchen an den Mund, da stürzte in athemloser Hast ein junges Mädchen aus dem Stationsgebäude.

„Wohin?“ rief ihr der Schaffner entgegen.

„Nach Hohenberg – zweite Klasse – Damen – –!“ stieß sie hervor.

„Schon besetzt!“ sagte der Mann lakonisch, riß die Thür zu einem Koupé erster Klasse auf, half der schlanken Gestalt hinein, warf Plaidbündel und Reisetasche hinterher und ging dann langsam auf dem Trittbrette des bereits fahrenden Zuges weiter, um mit dem Koupiren der Billette zu beginnen.

Indeß saß das Mädchen, noch immer athemlos, auf dem rothen Sammtpolster, betrachtete ihr Handgepäck, rückte sich das Strohhüten auf den blonden Haarflechten zurecht und tupfte mit dem Taschentuch das erhitzte Gesichtchen. Dann faßte sie die Dame ins Auge, die zum entgegengesetzten Fenster hinausschaute und nicht einmal den Kopf gewendet hatte, als sie so eilig hineinflog. Sie trug ein einfaches braunes Tuchkleid ohne irgend welchen Aufputz, aber es umschloß in tadellosem Sitz die zierlichen Formen einer jugendlichen Gestalt. Unter dem Faltenrocke schaute ein schmaler eleganter Lederstiefel hervor, vielknöpfige Marseiller Handschuhe bekleideten die schlanken Hände, und ein braunes schmuckloses Filzhütchen, welches graziös auf einer Fülle dunklen Haares saß, vervollständigte die ausgesuchte Toilette.

Auf dem Sitze der Dame gegenüber lag ein aufgeschlagenes Buch neben einer eleganten Juchtenmappe, auf deren Silberbeschlag ein H. L. unter siebenzackiger Krone gravirt war. Das Buch zeigte lateinische Lettern und schien in französischer Sprache verfaßt zu sein. Einige riesenhafte Zeitungsblätter waren zu Boden geglitten, und neben ihnen erblickten die braunen verwunderten Augen des Mädchens die Ueberreste von zwei Cigarretten. Sie wußte nun, woher der eigentümlich süßliche und doch scharfe Duft kam, der das Koupé erfüllte.

„Das Billet, ich bitte –” tönte die Stimme des Schaffners, der sich zum Fenster hinein bog. Hastig fuhr die kleine Mädchenhand in die Tasche des Kleides, um sie ebenso hastig wieder hervorzubringen. Ein eifriges Suchen begann in der Reisetasche, auf dem Sitz, an der Erde, und während dem jagten Röthe und Blässe in jähem Wechsel auf dem weichen Mädchengesicht, und die Augen hingen erschreckt an der verdrießlichen Miene des Schaffners.

„Ich muß mein Portemonnaie verloren haben, und mit ihm das Billet,“ stammelte sie endlich.

„Sehen Sie nur noch einmal nach,“ brummte der Mann, „ich komme wieder zurück.“ Damit war er verschwunden, und sie fing aufs Neue an, die Taschen ihres schwarzen Alpacakleides und die Gepäckstücke zu durchsuchen. Umsonst! Ein halblautes „Ach Gott!“ zitterte durch den Raum, und dann fragte eine eigenartig klingende Frauenstimme.

„Kann ich Dir irgendwie aushelfen, Lucie Walter?“

Die Angeredete sah erstaunt in das schöne regelmäßige Antlitz, das sich zu ihr gewendet, das ihr so bekannt erschien und dessen sie sich doch durchaus nicht zu erinnern vermochte.

„Du siehst noch eben so aus, Lucie, wie damals, als wir gemeinschaftlich durch den Gartenzaun Deines Vaters krochen, um Erdbeeren zu naschen.“

Ueber das Gesicht des Mädchens flog ein Lächeln. „Hortense von Löwen – ich hätte Dich – Sie“

„Dich! Bitte schön – wenn es Dir recht ist?“ sagte Hortense und faßte die dargebotene Hand, – „Dich nicht erkannt,“ vollendete sie dann.

„Das glaube ich wohl. Du aber gleichst noch ganz, Zug für Zug, dem blonden Kinde; als habe Dich Deine Mutter in einem Glaskästchen aufbewahrt, so unverändert und weich ist Dein Gesicht geblieben, während ich –.“ Sie stockte. „Wie alt war ich,“ sprach sie weiter. „als wir bei Euch zur Miethe wohnten – zwölf Jahre ungefähr. Jetzt bin ich fünfundzwanzig, also dreizehn Jahre sind vergangen! – Wie alt warst Du zu jener Zeit?“

„Zehn Jahre, Hortense.“

Sie saßen sich jetzt gegenüber: Hortense nachlässig zurückgelehnt, Lucie kerzengerade, wie man bei Anstandsbesuchen zu sitzen pflegt.

„Also dreiundzwanzig jetzt? Wie ist es Dir ergangen seit unserem Wegzug von D.? Ich habe nie wieder von Euch gehört. Wie geht es Deinen Eltern und Geschwistern?“

Das Lächeln wich plötzlich aus dem Mädchengesicht. Lucie sah auf ihre Hände herunter, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie mit unterdrücktem Schluchzen antwortete. „Sie sind Beide gestorben.“

Hortense von Löwen schwieg und schaute zum Fenster hinaus. „Und wo hast Du eine Heimath gefunden?“ fragte sie endlich.

„Bei meiner ältesten Schwester, die an den Oberförster Remmert verheirathet ist. Weißt Du nicht mehr, wie sie Hochzeit hatten?“

„Doch, doch, ich erinnere mich. Sie war ein hübsches Mädchen, hatte ein weißes Mullkleid an und weinte so schrecklich bei der Trauung.“

„Bei ihr bin ich gewesen bis jetzt.“

„Und nun?“ forschte Hortense.

Das klare Gesicht des Mädchens färbte sich wie Rosen. „Ich reise heute zu meiner Schwiegermutter, wo ich bis zu meiner Hochzeit bleiben werde.“

Hortense von Löwen sah lächelnd in die von inniger Seligkeit leuchtenden Augen. „Ich gratulire Dir herzlich! Und Deine Schwiegermutter lebt in Hohenberg?“

„Ja! Und er auch. Er ist praktischer Arzt dort, seit Kurzem; er war früher Assistent an der Klinik des Professor B. in H. Wie er sich dann mit mir verlobte, ließ er sich in Hohenberg nieder. Kennst Du Hohenberg?“

„Sehr gut. Ich lebe dort bei meinem Großvater.“

„Dann kennst Du auch Doktor Adler?“

Hortense schüttelte abweisend den Kopf. „Niemand!“ erwiderte sie„ „Wir leben sehr still, der alte Herr und ich; ich bin auch viel auf Reisen.“

„Und Dein Vater, Herr von Löwen – geht es ihm gut?“ fragte Lucie.

Hortense setzte sich mit einem Ruck etwas mehr in die Kissen zurück. „Hoffentlich!“ sagte sie kalt. „Da kommt übrigens der Schaffner, – darf ich Dir mein Portemonnaie anbieten? Die Dame wird nachzahlen auf der nächsten Station,“ wandte sie sich an den Beamten, „das Billet ist in der That verloren.“

Der Mann steckte ein Trinkgeld ein und empfahl sich ehrerbietig.

„Ach, ich danke tausendmal!“ stammelte Lucie.

„O, bitte sehr!“ gab Hortense zurück, griff zu ihrem Buche und begann zu lesen.

Der Zug raste weiter durch die sonnige Frühlingslandschaft. Im Koupé war es still geworden; Lucien’s Augen hingen an dem schönen Antlitz ihres Gegenüber, und vor ihrer Seele begann Scene auf Scene aus längst vergangenen Tagen aufzusteigen. Das blasse schmale Gesicht mit dem feinen Näschen, dessen Flügel beständig zu vibriren schienen, der schön geformte Mund, um den ein so hochmüthiger Zug liegen konnte, die stahlgrauen Augen, die in der Erregung grünlich zu schimmern vermochten, verschmolzen wunderbar mit dem Antlitz des kleinen Mädchens von damals, des wilden, schönen Kindes, das ihr ein lieber Spielgenosse gewesen und das jetzt wieder in ihrer Erinnerung lebendig wurde. Löwen’s waren eines Tages nach D. gekommen, hatten den ersten Stock ihres väterlichen Hauses gemiethet und dort gewohnt, Vater, Tochter und Erzieherin. Lucie erinnerte sich [3] genau des eleganten schönen Mannes mit den aristokratischen Zügen, und mit wie stürmischer Zärtlichkeit die Kleine an seinem Halse gehangen, wenn er nach wochenlanger Abwesenheit in sein Heim zurückkehrte. Damals trug Hortense noch Trauer um die Mutter; es hatte so seltsam ausgesehen, das wilde blasse Kind in der tiefschwarzen Kleidung. Auch die Erzieherin vergegenwärtigte sich ihr wieder, die beständig alterirte ältliche Person, die ewig auf der Suche nach ihrem Schützling war. „O, Mademoiselle Lucie, liebste Madame Walter, haben Sie Hortense nicht gesehen?“

Lucie war es streng verboten, sich durch den Wildfang zu Spazierfahrten mit dem Ziegenbock oder zu Ritten auf dem Pony verführen zu lassen. Mademoiselle Bertin aber hatte der Mutter förmlich gute Worte gegeben in ihrem gebrochenen Deutsch. „Lassen Sie, Frau Doktor, Mademoiselle Lucie öfter kommen! Hortense hat ein Faible für sie; sie ist sonst sehr exclusiv. – Mademoiselle Lucie ist so sanft, sie wird haben guten Einfluß auf Hortense.“

Sie erinnerte sich aller der Spiele, die Hortense angegeben, des Wettlaufens im Hofe, der heimlichen waghalsigen Klettereien auf dem Hausboden, und dann der Schelte, wenn sie mit bestäubten zerrissenen Kleidern vor der Mutter stand. Und sie meinte mit einem Male wieder die lockende unbezwingliche Sehnsucht zu fühlen, die sie damals empfanden, wenn sie an dem Tische der Kinderstube saß mit einer Schularbeit beschäftigt, und aus dem Gezweig des Birnbaumes vor den Fenstern das blasse Kindergesicht mit den winkenden grauen Augen auftauchte, von dunklem Haar umfluthet. „Kommst Du nicht? Mache rasch! Ich warte in der Scheuer.“

Hals über Kopf wurden die Exempel gerechnet: dann hockten sie in der dämmerigen Scheuer, wo es so merkwürdig dumpfig roch. Und Hortense erzählte. „Wenn ich erst groß bin, dann –.“ Sie hatten schon damals viel von einem Bräutigam gesprochen.

Sie lächelte. Es war doch wunderbar, daß sie sich hier wieder trafen nach so vielen Jahren! Wie mochte es ihr ergangen sein? Sie hätte es gern gehört, aber sie wußte nicht recht, wie sie sich erkundigen sollte. „Wie geht es Mademoiselle Bertin?“ fragte sie endlich.

„O, danke, gut! Ich habe sie noch bei mir; sie ist sehr stark und wunderlich geworden.“

Lucie schwieg wieder. Dann fiel ihr ein, wie Hortense einst eine wunderbar schöne Puppe von ihrem Onkel bekam, der sich besuchsweise bei ihrem Vater aufhielt, und wie sie diese Puppe sofort an Lucie verschenkt hatte, weil sie „solche Albernheiten, wie Puppen, nicht leiden könne“. „Wie geht es denn dem alten Onkel Ludolf? Ich erinnerte mich eben an die Puppe,“ setzte sie stotternd hinzu, als Hortense das Buch sinken ließ und sie groß anschaute.

„Alt? Ja, er war sieben Jahre älter als mein Papa,“ erwiderte sie. „Du kanntest ihn – richtig! Ich habe ihn später geheirathet, gleich als ich aus der Pension kam. Dann – vier Wochen nach unserer Hochzeit, stürzte er in Baden-Baden bei einem Rennen und starb am anderen Tage.“

Lucien’s Augen hatten sich vor Erstaunen vergrößert. „O, wie traurig,“ sagte sie herzlich, „das thut mir leid! Und nun bist Du so einsam geblieben?“

Die junge Frau antwortete nicht; sie zuckte nur die Schultern, als wollte sie sagen: „Es ist das Schlimmste noch lange nicht.“ Nach einer Pause setzte sie flüchtig hinzu, indem sie wieder ihr Buch aufnahm: „Ich habe mich wieder verlobt und verheirathe mich in vier Wochen.“

Lucie wagte nicht zu fragen, mit Wem? Aber Hortense gab sofort Auskunft darüber: „Mein Bräutigam heißt von Wilken und steht bei den X.-Dragonern.“ – Sie wandte wieder den Blick in ihr Buch und schien bald angelegentlich zu lesen. Endlich legte sie die Lektüre beiseite, lehnte den Kopf an die Polster und schloß die Augen. Auch Lucie setzte sich bequemer zurück; ihre Gedanken flatterten voran in die neue Heimath, und allmählich beschäftigte sie sich ganz mit ihrer nächsten Zukunft.

Als sie an ihre unbekannte Schwiegermutter dachte, überkam sie eine gewisse Angst; sie holte ein Taschenspiegelchen hervor und sah zu, ob die geschnitzte Elfenbeinrose gerade sitzen geblieben und die Stirnlöckchen nicht allzusehr zerzaust seien. Endlich nahm sie Nähnadel und Faden und vernähte einen winzigen Riß in den braunseidenen Handschuhen.

So fuhren die Beiden schweigend dahin. Die regelmäßige Erschütterung des Wagens wirkte allmählich einschläfernd auf das junge Mädchen. Sie erwachte erst, als Frau von Löwen ihre Schulter berührte und sagte. „Wir sind gleich in Hohenberg.“ – Lucie bekam auf einmal heftiges Herzklopfen; mit zitternden Händen rüstete sie sich zum Verlassen des Wagens, während Hortense sie halb belustigt, halb mitleidig betrachtete.

„Du scheinst sehr aufgeregt?“ sagte sie.

„Mir ist angst!“ gab die kleine Braut zurück.

„Warum? Er wird wohl mit einem Strauß auf dem Perron stehen? Nicht?“

Lucie ward dunkelroth. „Ach, ich glaube es nicht,“ stotterte sie, aber ihre glücklichen Augen widersprachen den Worten.

Nun hielt der Zug, und Hortense von Löwen sagte ihrer Reisegefährtin Adieu. „Ich werde mich freuen, Dich bei mir zu sehen, Lucie.“

„Ich komme!“ versicherte Lucie, halb erstickt vor Angst, „und vielen Dank nochmals, vorläufig –.“

Hortense stieg aus dem Wagen und schritt über den Perron, vor dessen Eingang ein eleganter Einspänner hielt. Sie trat zu dem schönen Thiere heran, klopfte ihm den glänzenden Bug und Hals, sprang auf den hohen Kutschersitz und nahm die Zügel. Sie wartete dort noch auf ihren kleinen Koffer, als zwei Damen an ihr vorüber schritten und ein paar braune enttäuschte Augen zu ihr aufschauten – die kleine Reisegefährtin mit der Schwiegermutter. Der Bräutigam war also wirklich ausgeblieben. Sie sah ihnen nach. Die alte hagere Dame mit den scharfen Gesichtszügen in dem spießigen unmodernen Kaschemirumhange hatte sie keines Blickes gewürdigt. Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, als hörte sie, was jetzt über sie gesprochen wurde.

„Kennst Du die Dame, mein Kind?“

„Ja, ich fuhr mit ihr – ja, von früher her; wir haben zusammen gespielt, und heute trafen wir uns zufällig wieder.“

„Das ist aber durchaus keine Bekanntschaft, die Du fortsetzen darfst! Diese Frau von Löwen ist eine ganz verdrehte exaltirte Person, sie reitet, fährt, raucht Cigarren –

In diesem Augenblick holte das rasche Fuhrwerk die Sprechenden ein; Hortense sah in eine verlegene erschreckte Miene, und das spöttische Lächeln verschärfte sich um ihren Mund.

„Sie sieht entsetzlich herausfordernd aus,“ seufzte die Frau Steuerräthin Adler. „Das sollte meine Tochter sein!“

Lucie wagte nicht zu widersprechen, obgleich eine Vertheidigung aus ihren Lippen schwebte. Und jene zwanzig Mark, die sie dem Portemonnaie der geschmähten Frau entnommen, die eben in einer Staubwolke auf der Chaussee ihren Blicken entschwand, brannten sie wie Feuer. – Sie war ein so liebes gutes Kind gewesen, und nun so?

Indessen flog der Wagen rasselnd über das schlechte Steinpflaster der Straßen, bog am Ende einer Gasse in ein Thor, das sich sofort hinter dem Gefährt schloß, und hielt nun vor einem von uralten hohen Rüstern umstandenen Hause. In der geöffneten Thür harrte ein alter Herr mit silberweißem Scheitel und in peinlich sauberem Anzuge der Kommenden. Er hatte sich auf einen Stock gestützt und streckte nun der jungen Dame die zitternde Hand entgegen. „Grüß’ Gott, Hortense! Es ist gut, daß Du wieder daheim bist!“

„Guten Tag, Großpapa!“ erwiderte sie, und seinen Arm nehmend, trat sie mit ihm in den großen kühlen Hausflur und leitete ihn in ein Zimmer zu ebener Erde, das elegante Gemach eines Kavaliers aus vergangener Zeit. Kostbar eingelegte Möbel mit Bronzeverzierungen; am Fenster, das nach dem Garten hinaufsah, der Sorgenstuhl mit verblichenem Brokat bezogen, davor auf dem Tischchen die Kreuzzeitung und die schwere goldene Dose neben dem Gothaischen Kalender. Dicke wollene Vorhänge vor Thür und Fenster, an den Wänden Bilder, Darstellungen aus den Befreiungskriegen, ein Portrait der Königin Luise, umgeben von ihren Kindern, Familienportraits in Unzahl, gepudert und bezopft und später mit zierlichem Titusgelock. Ein Pfeifenständer mit prächtigen Meerschaumköpfen; ein ausgestopfter Hühnerhund vor dem deckenhohen Spiegel; zwei Waffenschränke mit alten kostbaren Gewehren und eine Reiterstatue unseres Kaisers, halb verdeckt durch einen Lorbeerkranz mit breiter Schleife. Eine erstickende Wärme herrschte in dem Raume und eine tabaksdunstige Luft.

[6] „Nimmst Du eine Tasse Schokolade?“ fragte der alte Herr und ließ sich am Kamin nieder vor einem Tischchen, aus welchem eine wappengeschmückte zu Hälfte geleerte Mundtasse stand, neben einem Schachbrett, welches zum Spiel bereit gemacht war.

„Ich danke, Großpapa!“ Sie blieb ruhig vor ihm stehen.

„Wie ist’s geworden, Hortense?“

„O, nicht gar so schlimm, Großpapa; die Sache ist geordnet, aber es hat mich viel gekostet. Papa ist bereits unterwegs nach der Schweiz; er beabsichtigt in Genf zu leben.“

„Hortense, sage die Wahrheit, wie viel ist es? Konntest Du noch allen seinen Verpflichtungen nachkommen? War es noch nicht zu spät? Ist etwas bekannt geworden? – Es wäre furchtbar peinlich, Hortense! – Ließ sich Wirth beschwichtigen?“

„Mit Geld lässt sich Alles erreichen, Großpapa!“ sagte sie gleichgültig.

„Schenke mir klaren Wein ein! Wie groß ist das Opfer, das Du bringen mußtest?“

„So groß, daß ich Dillendorf zum Verkauf gestellt habe.“

Der alte Herr erblaßte und fuhr empor. „Das durftest Du nicht!“ rief er erschreckt.

„Was sollte ich machen, Großpapa? Es war nur eine Wahl – Schande oder Trennung von Dillendorf!“

„Der Ehrlose!“ murmelte der alte Mann und fuhr sich mit dem seidenen Taschentuch über die Stirn. Eine lange Pause entstand. Sie lehnte jetzt wie schwach am Kamin mit zusammengepreßten Lippen.

„Ist ein Brief hier von Wilken?“ fragte sie endlich zögernd.

„Jawohl! Jawohl! Oben in Deinem Zimmer,“ erwiderte Herr von Meerfeld.

Es war, als athme sie auf „Ich hatte seit acht Tagen keine Nachricht,“ sprach sie, „obgleich ich ihm meine Berliner Adresse geschrieben. Ich will hinauf und mich umziehen. Und, bitte, Großpapa, sprich nicht mehr von Dillendorf, es ist mir so schwer, daran zu denken.“

„Seit zweihundert Jahren gehört es den Löwens,“ jammerte der alte Herr. „Wie hat Dein verstorbener Mann daran gehangen! Und durch diesen ehrlosen Menschen muß es verloren gehen!“

Hortense wurde dunkelroth. Der Ehrlose war ihr Vater. „Ja,“ sagte sie, „es war mir auch, als wenn ein Stück von meinem Herzen losgerissen wurde, da ich dem Agenten Auftrag zum Verkaufe gab. Aber nun sei still davon – es ist nicht anders.“

„Du konntest Hypotheken aufnehmen!“

Sie schüttelte den Kopf. „Du weißt nicht, wie viel schon darauf lastet. Es ist doch nicht das erste Mal, daß ich in solcher Angelegenheit zu Papa reise.“

„Und Hortense, wenn nun Wilken mit seinem Vermögen eingesprungen wäre?“

„Ich hätte es niemals angenommen! Sollte ich zu ihm gehen und sagen: ,Mein Vater hat betrogen‘? – Ich will ihm nur schreiben, und zwar nachher gleich, daß ich große pekuniäre Verluste gehabt habe.“

„Wird ihn sehr erheitern,“ meinte der alte Herr ironisch.

„Er ist kein Mensch, der Ansprüche an das Leben macht.“

„Ja, so, ich weiß, er ißt Abends Butterbrot und Käse und hält Austern für ein ekelhaftes Futter. Aber dennoch! – Du hast zwar das Vermögen Deiner Mutter, aber was ist das gegen Dillendorf und die Summen, die auf so unerhörte Weise verlumpt sind!“

„Ich soll Dich von der Baronin Santen grüßen,“ unterbrach ihn die junge Frau rasch und nahm ihren Schirm vom nächsten Stuhl, um zu gehen.

„Hortense! Hortense!“ rief ihr der alte Mann nach, „erzähle doch, wo war sie? Wie sah sie aus?“

„Ich komme bald wieder; nur eine halbe Stunde der Ruhe!“

Sie schloß die Thür und ging durch den riesenhaften Flur die breite Holztreppe hinan zum obern Stock. Ein ältliches Stubenmädchen öffnete in dem langen Korridor eine Thür, und sie trat nun in ihr eigenes Wohnzimmer. Es war ein hohes weites Gemach mit mächtigem Balkenwerk unter der Decke, Wandtäfelungen und reich vergoldeter Ledertapete aus längst vergangener Zeit. Die vielen bequemen Polstermöbel modernen Ursprunges, der reiche Smyrnateppich, der den Boden deckte, nahmen sich fast fremdartig darin aus. Die Fenster waren geschlossen, und durch das Laub der Rüstern drang ein seltsam grünliches Licht in den Raum, das noch durch schwere türkische Vorhänge gedämpft wurde. Auf der Platte des großen Schreibtisches, der schräg gestellt die eine Ecke ausfüllte, lag ein Brief. Hortense kam hinüber und betrachtete das Schreiben, ohne es zu berühren, legte Hut und Schirm ab und stellte sich mit verschränkten Armen vor ein lebensgroßes Männerportrait, welches neben dem Schreibtisch an einer Staffelei seinen Platz gefunden hatte.

Es war ein grenzenlos trauriger Ausdruck in ihren Augen. „Ein Ehrloser!“ murmelte sie, „es thut so wehe, so furchtbar weh! Und ich weiß doch, wie kein Anderer, daß es wahr ist!“ Ihre Stimme war allmählich lauter geworden; sie hatte die Hände an die Schläfe gepreßt, die letzten Worte klangen wie ein Wimmern.

Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sah den Brief an. Einmal streckte sie die Hand danach aus, zog sie aber wieder zurück und saß eine lange Zeit, ohne sich zu rühren. Endlich nahm sie doch das Schreiben, erbrach es und las. Schon nach den ersten Zeilen richtete sie sich aus ihrer nachlässigen Stellung auf, und je weiter sie las, desto starrer wurde die Haltung ihres Kopfes, desto höher die Röthe ihrer Wangen. Sie las das Blatt noch einmal und lachte laut auf. „Natürlich!“ sagte sie, und ihre Augen funkelten, „es ist zu komisch, es ist zum Todlachen!“ Sie sprang empor und stürmte, den Brief in der Hand, durch den Korridor, die Treppe hinunter, in das Zimmer des alten Herrn.

„Noch eine Neuigkeit, Großpapa!“ rief sie mit gezwungener lauter Stimme. Der alte Herr fuhr aus leichtem Schlummer in seinem Lehnstuhl empor und sah die vor ihm Stehende blöde an.

„Eine Neuigkeit? Doch eine gute, Hortense?“

„In der That, Großpapa – meine Verlobung mit Wilken ist aufgehoben!“ Sie lachte wieder, und dabei bebten ihre Schultern wie im Fieber.

„Aber, Hortense, das ist vorschnell von Dir, das ist verkehrtes Anstandsgefühl! Was gehen ihn die Streiche Deines Vaters an? Ich bitte Dich, Hortense, schicke den Brief nicht ab, redressire die Sache!“

„Ich?“ rief sie laut. „Er sagt den Handel auf, hier hast Du es schwarz auf weiß – da! Papa hat irgend etwas mit ihm vorgehabt; er drückt sich so zart, so schonend aus! Ich denke mir, Papa hat, wie schon öfter, einmal sein Glück im Spiele zu bessern gesucht. Wahrscheinlich hat man ihn dabei ertappt, und – wie komisch – gerade Wilken’s Kameraden müssen ihn abfassen! Nicht wahr, es ist lächerlich, Großpapa? Ich begreife nicht, daß Du –”

Der alte Mann haschte nach ihrer heftig gestikulirenden Hand. „Hortense, mein armes liebes Kind,“ sagte er weich, „sei ruhig, um Gotteswillen! Gräme Dich nicht, Hortense, hörst Du? Weine nicht! Wer Dich so leicht aufgiebt, ist keiner Thräne werth.“

„Ich weine ja nicht!“

„Es ist wahr, Kind, es wäre am Ende besser, Du weintest! Deine selige Mutter, meine arme Agnes, die konnte sich alles Leid von der Seele weinen. Bitte, Hortense, lache nicht so! Ich kann es nicht hören; es ist unnatürlich,“ fuhr er angstvoll fort, als die junge Frau von Neuem lachte. „Du weißt, ich konnte Wilken nie leiden, und Du bist noch so jung und schön; der Rechte wird noch kommen.“

Sie hatte aufgehört zu lachen und wandte sich zum Gehen, die Ohren mit ihren Händen zuhaltend.

„Bleibe noch ein wenig bei mir!“ rief er ihr nach.

Sie schüttelte abweisend den Kopf und eilte in ihr Zimmer zurück, ohne auf die angstvollen Rufe des alten Herrn zu achten.

Er fuhr nervös mit seinem Taschentuch im Gesicht umher, stieß beim Aufstehen die Wappentasse um, aus der er vierzig Jahre getrunken, daß sie klirrend zerbrach, und riß so heftig an der Klingelschnur, daß er die Quaste in der Hand behielt.

„Die Bertin soll kommen!“ schrie er dem Diener zu. Und bald darauf erschien eine kleine starke Dame, die Blässe des Schreckens auf dem vollen Gesicht und so athemlos, daß sie nicht sprechen konnte. „Bertin“ jammerte er, sie mit zitternden Händen am Aermel fassend, „Bertin, eilen Sie! Schnell, schnell! Madame ist in Verzweiflung – sie hat schlechte Nachrichten – Sie wissen, mein Herr Schwiegersohn!“

[7] Die alte Französin warf einen Blick zur Decke und stieß einen Seufzer aus. „Ich konnte es mir denken, mein Herr,“ sagte sie und ging hinaus. – Ihre Zimmer lagen durch die Breite des Hausflurs getrennt von denen des alten Herrn. Sie konnte nur schlecht die Treppen ersteigen und kam selten oder garnicht in die Räume ihrer einstigen Schülerin. Sie führte in ihrem Wohngemach zwischen alten Erinnerungen ein still beschauliches Leben mit ihrer Angorakatze, murrte, wenn sie schlechter Laune war, über das langweilige Dasein, schrieb ihre Memoiren, wobei sie die früher gewissenhaft geführten Tagebücher benutzte, und spielte jeden Nachmittag ihre Schachpartie mit Monsieur le Baron, wobei es außerordentlich zierlich und complaisant zuging. Sie hatte nur einen Kummer, das war die Undankbarkeit von Hortense, mit der diese ihre zweite Mutter, wie sie sich selbst zu nennen pflegte, behandelte. Hortense war so über alle Begriffe „selbständig“; sie vertraute ihr keinen Kummer an, fragte nie um Rath, und daher kam es natürlich, daß sie Narrheiten beging. Wenn sie öfter den Weg in Mademoiselles Zimmer hätte finden können, so – dann! Aber auch heute war sie ohne „guten Tag!“ nach oben gegangen. Es ist hart, so als Null behandelt zu werden!

Mademoiselle Bertin war, sich am Geländer haltend, mühsam die Stufen hinauf geschritten; nun hallte ihr tiefes Athemholen förmlich im Korridor wider. Sie trat dann feierlich in das Zimmer der jungen Frau; da flog im nämlichen Moment krachend die gegenüberliegende Thür des Salons zu und sehr hörbar ward ein Schlüssel umgedreht. Am Boden aber lag die große Photographie von Hortensens Vater, der Rahmen zerbrochen, das Glas zertrümmert und auf dem Bilde ein Blutfleck.

Mon dieu! mon dieu!“ jammerte die entsetzte Dame, „was ist hier geschehen? Pauvre enfant! – Hortense!“ rief sie vor der Schlafstubenthür. „Ich bin’s! Oeffnen Sie, sagen Sie mir Ihren Kummer! Wir haben doch Alles gemeinschaftlich getragen!“ Aber es blieb todtenstill dort innen.




Unterdessen saß Lucie Walter am sauber gedeckten Tisch in der peinlich geordneten Wohnstube ihrer Schwiegermutter, der Frau Steuerräthin Adler, beim Abendessen. Sie saß mit dem vollen Gefühl des Fremdseins und wagte kaum aufzuschauen unter dem musternden Blick der zwei grauen Frauenaugen, die so unablässig jede ihrer Mienen beobachteten. Sie hätte weinen mögen: denn es war Alles so anders als sie gedacht! Sie hatte ein gutes behagliches Schwiegermütterchen erwartet, das sie, die Verwaiste, in die Arme nehmen würde, um sie herzlich abzuküssen. Und nun fühlte sie noch immer die kühle Berührung auf der Stirn, und von diesem Fleck strahlte eine förmliche Kälte durch ihren ganzen Körper und machte sie unfähig, liebenswürdig zu erscheinen.

Vor ihr auf dem Tische stand ein plumpes Bouquet aus Vergißmeinnicht und Goldlack, ein Willkommen des Bräutigams, der leider verhindert war sie zu empfangen, weil er plötzlich über Land geholt worden. Man sah es dem Strauße an, daß er von einer Gemüsefrau auf dem Wochenmarkt bezogen war. – Die Wurstschnittchen waren so unsagbar dünn, der Thee so merkwürdig hellblond, das Dienstmädchen so klein und halbgewachsen und die Mama so auserwählt fein und gemessen mit dem süßsäuerlichen Zug um den Mund! Tante Dettchen, die Schwester des verstorbenen Hausherrn, die auf der andern Seite des jungen Mädchens ihren Platz hatte, war das einzige freundliche Bild in ihrer rundlichen Fülle und mit ihrem gutmüthigen Gesicht. Nachdem Alfred ins Ungebührliche hinaus gelobt worden war und Lucie immer wieder gehört hatte, daß kein Mensch auf der Welt mehr eine gute folgsame, einfache Frau verdiene, als er, nahm Frau Steuerräthin eine frische Tasse Thee und sich in eine noch geradere Positur setzend, begann sie zu ihrer Schwägerin gewendet.

„Und, denke nur, wie unangenehm, liebes Dettchen, da ist Lucie aus Zufall mit der Löwen in einem Koupé gereist.“

Dettchen schien weiter nichts darin zu finden. Sie strich sich ein Butterbrot, das heißt, sie nahm ein unendlich winziges Theilchen Butter und kratzte mit dem Messer auf der ansehnlichen Schnitte energisch umher; Lucie konnte mit dem besten Willen nicht entdecken, auf welcher Stelle die Butter ihren Platz gefunden. „O! Ach!“ sagte sie kopfschüttelnd.

„Und sie haben mit einander gesprochen!“ fuhr die alte Dame fort.

„Warum auch nicht, beste Klara?“

„Na, ich dächte, man wüßte genug von der Gesellschaft! Dettchen, frage nicht so sonderbar!“

„Da kann doch die Tochter nichts dafür?“

„Die Kinder büßen für die Eltern,“ erklärte eifrig die alte Dame. „Ich weiß mit Bestimmtheit, daß es Alfred sehr unangenehm sein wird, wenn er dieses Zusammentreffen erfährt –. Der Vater ist ein Hans Liederlich, die Tochter eine gefallsüchtiges, unweibliches, hochnäsiges Geschöpf!“

Dettchen widersprach nicht mehr; sie aß ihr Butterbrot.

„Wie hat der Vater in Berlin gelebt!“ eiferte Frau Steuerräthin weiter, „wie ein Fürst! Es ist kein Jude in der ganzen Mark, dem er nicht schuldig wäre. Lucie erzählte mir da vorhin, die Gesellschaft hätte auch einmal bei ihnen gewohnt, sie zogen überall umher und blieben immer so lange, bis er sich vor Gläubigern nicht mehr retten konnte. Dann ging’s wieder in eine andere Stadt, das heißt, der ältere Bruder mußte ihn erst auslösen. Ein paarmal soll er die Geduld verloren haben und der Herr Baron mußte sitzen; aber das ist ja keine Schande. Schulden halber – das ist nobel! Schließlich hat der Bruder noch das junge Ding geheirathet, und den Herrn Vater wollten sie in Amerika kalt stellen; ja wohl! Das ging nicht – das hätte er nicht nöthig! – Der Bruder starb, die junge Frau erbte das Ganze, und nun schwindelt er ihr wer weiß wie große Summen ab. Am liebsten schlachtete er den alten Schwiegervater auch noch ein und das mütterliche Vermögen der Tochter – aber da ist ein Riegel vorgeschoben! Wenn ich nur wüßte, wozu der allmächtige Gott solche Drohnen, solch menschliches Ungeziefer, erschaffen hat!“

„Aber Klara!“ fiel Dettchen der Entrüsteten ins Wort.

„Schweig, Dettchen!“ rief die Schwägerin. „Hat der Unmensch nicht seine Frau todt geärgert? Das weiß jedes Kind hier! Ins Grab hat er sie gekränkt mit seinem Leichtsinn, seiner Treulosigkeit, seiner schlechten Behandlung; aber so etwas wird nicht wie ein Mord bestraft! Und was hat er aus der Tochter gemacht? Eine ganz unnütze Person, die vor Hochmuth toll ist. Wenn man sie auf der Straße grüßt, weiß sie nie, ob sie danken soll, hat eine Art und Weise gleichgültig an den Leuten herunter zu sehen, die – –“

„Aber Schwägerin, weßhalb grüßest Du sie denn?“

„Ich – sie grüßen? Das sollte mir fehlen! Die Räthin Wachsmann hat es mir erzählt, die war einmal bei ihr, um sie für den Frauenverein und die Kleinkinderbewahranstalt anzusprechen. Sie wollte ja recht gern Geld geben, hat sie erklärt, müsse aber bitten, von ihrer persönlichen Betheiligung abzusehen! – Es sind doch andere Leute in unseren Nähverein gekommen und haben die Kinder inspicirt, ob sie sauber gewaschen und gekämmt sind, als Frau von Löwen! Die Frau Landräthin z. B. Und was das Lächerlichste ist: ihre alte Erzieherin ist genau so hochmuthstoll wie sie.“

Die alte Dame schwieg ganz erschöpft, räusperte sich, nahm ein Stückchen Zucker in den Mund und trank ihren Thee. Auf diese Weise versüßte sie eine große Tasse mit einem winzigen Bruchtheilchen.

Tante Dettchen, die kein Wort der Verteidigung hatte, faltete bedächtig ihre Serviette zusammen und fragte, Lucie freundlich ansehend: „Soll ich Dir einmal den Garten zeigen, Kind, damit Dir das Warten auf den Schatz nicht so lang wird? Komm!“

Das junge Mädchen athmete sichtbar auf. Sie wünschte „gesegnete Mahlzeit!“ und schickte sich an, der Tante zu folgen. Da rief die schrille Stimme hinter ihr.

„Hat sie nicht gesagt, wann sie heirathet?“

Lucie wandte sich um. „In vier Wochen, wenn Du Frau von Löwen meinst, Mutter.“

„Na, ich gratulire ihm! Es giebt eben immer Gimpel, die sich einfangen lassen – es passirt den Besten.“

„Komm, Kind,“ mahnte Tante Dettchen, und Lucie folgte ihrer Führerin die steile finstere Holztreppe hinunter über einen winzigen Hof in den Garten.

[21] Es war ein wunderliches Ding von einem Garten, in welchem Lucie und Tante Dettchen hin und her wanderten. Ein einziger Birnbaum stand inmitten des kleinen Geviertes, längs der Mauer lief der einzige Weg hin und mündete in der Laube, auf deren niedrigem Holzgestell wilder Wein üppig rankte. Sonst war, abgerechnet zwei Centifolienstöckchen, Alles zu Gemüseanlagen benutzt; Erbsen, Möhren, Zwiebeln und Salat standen in tadelloser Ordnung auf den Beeten, es war die reine Ironie, hier von einem Garten zu reden.

Hinter der mäßig hohen Mauer aber flüsterte der Westwind in den grünen Baumkronen, und die Abendsonne lag auf den Gipfeln mächtiger alter Linden und Ulmen. „Es gehört zu der Meerfeldt’schen Besitzung – der Großvater von Hortense von Löwen – weißt Du,“ erklärte Tante Dettchen hinausweisend.

Lucie schwieg. Die Wiederbegegnung mit Hortense berührte sie jetzt unsagbar peinlich. Sie saß still in der Laube neben der Tante und ihr war grenzenlos bang in diesem fremden Hause, das ihr die traute Häuslichkeit der Schwester ersetzen sollte. Instinktiv empörte sich ihr argloses Herz gegen das Wesen der Frau, welche die Mutter ihres Bräutigams war. Wenn er doch wenigstens erst käme! – Er wußte, in welch sonnigem Hause sie groß geworden, er kannte die Schwester, die trotz ihrer Leiden so sanft war, er kannte das frische derbe Wesen des Schwagers, dem die Gutmüthigkeit aus jeder Linie des Gesichtes sprach, und die Kinder mit ihrem Jauchzen und Spiel; er kannte die Linde vor der Hausthür, in der die Forsteleven für sie einen luftigen Sitz gebaut, und den weiten, weiten Wald und die Berge.

„Weinst Du?“ fragte Tante Dettchen.

„Sei nicht böse, Tante, ich dachte an den Abschied.“

„Ja, es ist schwer, aus der Heimath zu gehen,“ nickte das kleine gute Gesicht. „Wo hast Du denn Alfred kennen gelernt?“ erkundigte sie sich dann, in der Absicht, das Mädchen auf lichtere Gedanken zu bringen, und sie erreichte ihren Zweck vollkommen.

„O, er kam ja sechs Wochen lang täglich in unser Haus,“ berichtete Lucie, und ihr trauriges Gesicht hellte sich strahlend auf. „Meine Schwester war sehr krank – hat er es Euch denn nicht erzählt? Und einmal, da kam er erst gegen Abend; ich stand eben am Fenster meiner Stube, ich ging aber nicht zu Emmi hinunter – sie war eigentlich schon ganz gesund – weil ich mich vor ihm fürchtete; er sah mich immer so seltsam an, daß ich Herzklopfen bekam.“

Sie schwieg und wand ihr Taschentuch zu einem Knoten in der Hand. „Da, wie ich immer noch so stand – es war ein so wunderschöner Abend; am Himmel, der rosig erglühte, zogen lauter duftige Wölkchen, ich werde es nie vergessen und ich fühlte, daß mir etwas bevorstand – da kamen auf einmal die Kinder und holten mich jubelnd hinunter in die Wohnstube, und da – –.“

Sie brach ab, das liebe kluge Gesicht wie von Blut übergossen.

„Du hattest ihn also schon längst lieb, Kind?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht; mir ist’s, als hätte ich ihn schon immer [22] gern gehabt, aber daran, daß er mich heirathen wollte, dachte ich nie. Es ist ein so großes Glück für mich, sagen sie Alle,“ schloß sie.

„Da haben sie Alle Recht. Er ist eine Seele von einem Menschen, ganz wie sein Vater, sein guter Vater –.“

In diesem Moment fuhr Lucie empor, sie hatte das Rollen eines Wagens gehört.

„Das ist er! Das ist er!“ rief die Tante. „Da will ich doch gleich hin, damit er nicht erst nach oben geht.“ Und sie lief, so rasch es ihre Fülle gestattete, den Weg entlang. Aber ehe sie noch die Thür in der Mauer erreichte, ward sie aufgethan, und ein mittelgroßer untersetzter Mann schritt mit einem ruhigen „Guten Abend! – ich dachte es mir wohl,“ an ihr vorüber und kam gemessenen Ganges durch die leichte Dämmerung zu der Laube herüber, an deren Pfosten ein vor innerer Erregung blasses Mädchen lehnte, scheue Erwartung in den großen Augen.

Er ergriff herzlich ihre beiden Hände und bog sich etwas onkelhaft ehrbar zum Kuß hernieder. „Willkommen, Lucie, in der neuen Heimath!“ sagte er mit verhaltener Bewegung in der Stimme. „Wie gern hätte ich Dich auf dem Bahnhofe begrüßt, aber ein unaufschiebbarer Krankenbesuch – – wir Aerzte sind keinen Moment Herr unsrer Zeit.“

Sie saßen neben einander auf der Bank und hielten sich bei den Händen. „Wie gut, daß Du da bist,“ flüsterte sie und sah ihm in das ernste Gesicht, das von einem röthlich blonden Barte umrahmt war und unverkennbar an die Mutter erinnerte mit der geraden Nase, der hohen Stirn und den hellen Augen, nur daß hier keine Spur jener Verbissenheit zu finden war, welche der Mutter Züge völlig beherrschte. Die Augen blickten treuherzig zu der jungen Braut hinunter.

„Der Abschied wurde Dir sehr schwer, nicht wahr?“ sprach er weich. „Aber es mußte sein, Lucie! Wir kennen uns noch so wenig, und ich will doch nicht, daß Du mit einem wildfremden Menschen vor den Altar treten sollst, nicht wahr, Kleine?“

„O – deßhalb – –.“ Sie schwieg.

„Ich habe es Deiner Schwester versprochen, und sie hat Recht.“

Sie saßen wieder still neben einander; Lucie hatte Thränen in den Augen. Es war wohl richtig; sie kannte ihn noch so wenig, immer nur flüchtige Minuten hatten sie sich gesehen am Krankenbette der Schwester; nachdem er an jenem Abend das Jawort erhalten, war er nicht einmal zu Tische geblieben, weil ein Schwerkranker auf ihn wartete. Und dieser Kranke hatte ihn in der nächsten Zeit ebenfalls von der Oberförsterei fern gehalten, und als er endlich eines Sonntags Mittags kam, da theilte er den Erstaunten mit, daß er sich in seiner Vaterstadt als Arzt niederzulassen gedenke, und zwar in allernächster Zeit, um, wie er sagte, seiner kleinen Frau ein behagliches Heim zu bereiten.

Es wäre eine gute Idee, hatte der Schwager gemeint, es sei da viel Landbevölkerung in der Umgegend, und die Bauern bezahlten gleich baar. Die Doktoren würden in der Gegend immer reiche Leute –. „Meine Mutter hat mich auf den Gedanken gebracht,“ hatte er erwidert, „sie ist eine praktische Frau.“ Dann waren sie Beide nach dem Essen in den Wald gegangen; der erste junge Frühlingsschimmer hatte über den Bäumen gehangen und Anemonen und Himmelsschlüsselchen am Boden erblüht. Sie waren Hand in Hand auf dem feuchten Waldpfad geschritten, und er hatte von seiner Mutter gesprochen und von seinem verstorbenen Vater, und wie er sich freue, in dem alten Städtchen zu wirken und zu schaffen, in dem er seine Kinderjahre verbrachte. Sein ganzes Leben lag vor ihren Augen, jedes Wort drang ihr ins Herz, und am Abend, als er längst Abschied genommen mit einem „Auf Wiedersehen in Hohenberg!“ da hielt sie noch beim Einschlafen den blühenden Haselnußzweig in der Hand, den er ihr gepflückt. Es that ihr weh, daß er jetzt von einem „Kennenlernen“ sprach, sie wußte nicht weßhalb.

„Und wenn wir uns nun kennen lernen, Alfred, und Du oder ich finden uns getäuscht in unseren Erwartungen – was dann? Sollen wir dann von einander gehen?“

„Das möge Gott verhüten,“ sagte er erschrocken und drückte ihre Hand. „Es wird nicht sein!“

Nun ging die Gartenthür, und mit langsamen bedächtigen Schritten kam die Mutter den Weg entlang, hinter ihr trippelte Tante Dettchen. Beide Damen waren mit Handarbeiten beschäftigt; Frau Räthin strickte sogar im Gehen; sie setzte sich dem jungen Paare gegenüber, ohne einen Augenblick die Arbeit zu unterbrechen. „Guten Abend, Alfred!“ sagte sie, seinen Gruß erwidernd.

„Hat Dir Deine Braut schon von ihrer Reisegesellschaft erzählt?“ fragte sie nach einer Pause.

„Ich fuhr mit Frau von Löwen,“ sagte das Mädchen ruhig; „sie war so liebenswürdig, mir aus einer großen Verlegenheit zu helfen; ich habe nämlich in H. mein Portemonnaie mit dem Billet verloren, und sie – –.“

„Verloren?“ rief die alte Dame empört. „Und das sagst Du erst jetzt? Du hättest sofort an die Direktion der Eisenbahn schreiben müssen! Nein, Alfred, wie ist’s möglich!“

„Und sie war Dir behilflich, ein anderes Billet zu lösen?“ erkundigte er sich, ohne auf die Mutter zu achten.

„Ja! – und ich möchte Dich fragen, auf welche Weise ich das Geliehene am besten zurückerstatte?“ fuhr Lucie fort. „Wir haben als Kinder mit einander gespielt,“ setzte sie noch hinzu.

„Du trägst es ihr selbst hinüber,“ sagte er ruhig.

„Ich danke Dir, Alfred.“

Die Frau Steuerräthin strickte noch eifriger als vorher.

„Du findest es doch auch so am schicklichsten, Mutter,“ wandte sich der Sohn zu ihr, „zumal ich im Meerfeldt’schen Hause Arzt bin? Kollege Mostner wird leider nicht im Stande sein, die Praxis wieder aufzunehmen.“

„Große Ehre!“ klang es durch die Dämmerung.

„Der Arzt muß gehen, wohin er gerufen wird, Mutter!“

„Meinetwegen,“ seufzte sie, „er bezahlt wenigstens, und auf solche Kundschaft mußt Du sehen, wenn Du heirathen willst. Von Haus aus hast Du kein Vermögen.“

Er überhörte diese Anspielung auf die arme Braut, die er sich erwählt, vollständig.

„Uebrigens,“ fuhr die Mutter fort, „mußt Du doch zugeben, daß die Erneuerung dieser Bekanntschaft nicht angemessen ist für Deine Braut, und wirst die Fortsetzung derselben nicht wünschen.“

„Allerdings nicht, weil für meine Lucie der Verkehr mit einer Dame der großen Welt nicht durchführbar und vielleicht sogar nachtheilig sein dürfte. Aber aus einer einfachen Gefälligkeit erfolgt doch noch kein unauflösliches Freundschaftsverhältniß, Mutter.“

„Du hättest nur Lucie sehen sollen, wie entzückt sie von dieser Begegnung sprach.“

„Ich ward so an mein Elternhaus und meine Kinderzeit erinnert,“ entschuldigte sich das junge Mädchen. Es klang, als spreche sie durch Thränen.

„Bist Du nicht müde?“ fragte der Bräutigam rasch. „Ich meine, die Fahrt bei dem warmen Wetter hätte Dich angegriffen? Gehen wir hinauf, ich werde Dir unser Gaststübchen zeigen. Versuche einmal, wie es sich in demselben schläft.“

„Ach ja!“ sagte sie aus vollstem Herzen. Als sie sich bald darauf in ihrem Stübchen allein befand, legte sie die Hände vor die Augen und weinte leise, vor Heimweh, wie sie meinte.




Am anderen Nachmittag gegen fünf Uhr kleidete sich Lucie für den Besuch an. Sie hatte den ganzen Morgen über beim großen Pfingstreinemachen helfen müssen, und dabei war unaufhörlich die Stimme der alten Dame erklungen wie Signale auf dem Manöverfelde. „Bei mir wird das so gemacht, liebes Kind! – Ich halte es für praktischer, wenn man diese Messinggriffe mit Kreide reinigt, wegen des weißen Lackes der Thüren. Aber, Kind, ich bitte, in welcher Wirthschaft hast Du gelernt, die Stühle so auf einander zu schachteln? Meine Möbel haben nicht eine Schramme und sind achtunddreißig Jahre im Gebrauch! Was soll das denn werden, wenn Du mit Deinen Sachen künftig so umgehst?“

Tante Dettchen hatte dazu gelächelt und Lucie zugeflüstert: „Sie meint’s nicht so böse.“ Und Lucie lächelte mit, sie war ja seine Mutter! Sollte es denn so schwer sein, ihr Herz zu gewinnen, wenn sie sah, wie Lucie Alles that, den Sohn glücklich zu machen?

So kam sie denn in ihrem besten Anzug aus grauer Beige, der so kleidsam die schlank aufgebaute Gestalt umschloß, in die Wohnstube, in der sich Scheuergeruch mit den Fliederdüften vermengte, die reichlich aus allen Porcellanvasen aufstiegen, und sagte Mutter und Tante, die strickend an den Fenstern sich gegenübersaßen, „adieu“.

[23] „Eine merkwürdige Visitenzeit!“ meinte die Mutter.

„Aber es ist vollständig guter Ton,“ wandte Lucie ein und knöpfte ihre Handschuhe.

„Auf dem Lande vielleicht oder unter sehr intimen Freunden – sonst geht man hier Punkt Schlag zwölf Uhr.“

Lucie zögerte noch ein Weilchen in der Hoffnung auf ein freundliches Wort, als aber nur Tante Dettchen verstohlen nickte und die Schwiegermama mit ihrem unbeweglichen Antlitz so emsig weiter strickte, als gelte es das tägliche Brot zu verdienen, sagte sie noch einmal „Adieu!“ und ging. Sie hatte keinen weiten Weg längs der hohen Mauer, welche an das Haus grenzte, das die Schwiegermutter miethweise bewohnte. An dem großen Thore, das in die Mitte dieser Mauer eingesägt war, zog sie die Klingel, auf deren Porcellangriff zu lesen stand: „Alexander von Meerfeldt.“ Ein alter Diener öffnete die kleine Thür in dem mächtigen Thorflügel und ließ sie eintreten. Kühler Schatten umfing sie und eine tiefe Stille, selbst die Schritte des alten Mannes verklangen auf dem Grase, das üppig zwischen den Pflastersteinen des Hofes wuchs. Vor ihr lag das zweistöckige Haus mit den unregelmäßigen Fensterreihen und dem Treppenthurm, dessen spitzes Ziegeldach eine reich verzierte Wetterfahne schmückte. Rechter Hand ein Gebäude, das Stallungen und Dienerwohnung zu enthalten schien, links, nur durch ein Staket abgegrenzt, befand sich die grüne Wildniß eines Gartens, dem anscheinend lange die Scheere des Gärtners ferngeblieben war. Lucie sah mit Entzücken die dämmerigen Laubgänge und üppigen Boskets, es erinnerte sie an den Wald daheim. Sie war dem Diener gefolgt, dem sie ihre Karte eingehändigt, und stand nun im weiten Hausflur, während er leise an eine Thür pochte und dann eintrat.

Nach einigen Minuten erschien eine kleine, unendlich korpulente Dame auf der Schwelle, in braunem Wollkleide, dessen Machart an eine Kapuzinerkutte erinnerte, sie trug eine schwarze Spitzenhaube mit mächtiger hochrother Schleife auf dem stark ergrauten Haar, das ihr nach neuester Mode in die Stirn hing, und streckte dem Mädchen beide Hände entgegen.

„Lucie, mon ange! Welche Ueberraschung!“ rief sie exaltirt. „Wie ist es möglich! Sie hier? – Entrez! Wie schön sind Sie geworden! – Und Sie erinnern sich unser noch? Wie kommen Sie hieher? Das müssen Sie mir erzählen!“

Und im nächsten Augenblick befand sich Lucie im Zimmer der Mademoiselle Bertin und in ihren Armen.

„Zu Hortense wollen Sie?“ schluchzte die lebhafte kleine Person. „O Lucie, vielleicht ist es ein Wink vom Himmel! – Sie will Niemand sehen, sie hat mich förmlich davon gejagt, sie – o, ich kann Ihnen nicht sagen – sie hat Kummer, großen Kummer, aber sie ist noch immer so unnahbar wie früher. Noch eben hat sie mir das Versprechen abgenommen, sie nicht zu stören in den nächsten drei Stunden, und ich vergehe hier unten vor Todesangst.“

Lucie hatte sich während dieses Jammerns auf einen Stuhl gesetzt, und Mademoiselle hatte ihr am Theetischchen ein Glas Orangewasser gemischt und ein Biscuit gebracht. „Kind, Sie sehen mich staunend an? Ich bin alt geworden, Lucie, o ja. Ach! ich weiß es, der viele Kummer! Solche Aufregungen, wie ich sie hier erlebe mit Hortense – –“ Sie drückte das Tuch vor die Augen, warf sich in einen der tiefen mit geblümtem Kattun bezogenen Lehnstühle und schluchzte zum Erbarmen.

„Was ist’s mit Frau von Löwen?“ fragte erschreckt das junge Mädchen.

O ciel! Wenn ich es sagen dürfte!“ klagte die alte Dame, „aber ich kann nicht; vielleicht erzählt sie es Ihnen. Thun Sie mir die Liebe, gehen Sie zu ihr, es wäre möglich, daß Sie, wie schon als Kind, einen guten Einfluß auf sie hätten. O, ich weiß noch, Mademoiselle Lucie, sie hatte Sie gern, sie hatte ein tendre für Sie und wird liebenswürdig sein, wenn Sie kommen. Gehen Sie hinauf, ich bitte Sie darum!“

„Aber wenn Frau von Löwen allein sein will?“ wandte Lucie peinlich berührt ein.

„O, sie hat entsetzliche Kapricen; sie ängstigt mich halb zu Tode zuweilen, sie will mich nicht sehen und den Baron nicht – aber Sie, wer weiß das? – Denken Sie,“ fuhr Mademoiselle Bertin fort, „seit gestern Abend hielt sie sich eingeschlossen. Heute Mittag, nachdem ich alle halbe Stunden oben war, treffe ich sie endlich im Wohnzimmer; sie sieht aus wie der Tod, hat Schatten unter den Augen so groß, und zerreißt da alte Briefe; sie war so eifrig, daß sie mich nicht gewahrte und auch nicht merkte, daß ich den Schlüssel abzog von ihrer Thür, – vous comprenez – es ist so gräßlich, wenn man nicht eingelassen wird. Ich versuchte mit ihr zu reden, da sagte sie aigrirt: ‚Lassen Sie mich allein, Mademoiselle, ich bitte, daß Sie nicht vor heute Abend mein Zimmer wieder betreten. Dieses ewige Nachfragen regt mich auf! Sagen Sie das auch dem Großpapa!‘ – Que faire? Ich mußte sie verlassen!“

Lucie versprach hinauf zu gehen. Vorher aber mußte sie noch erzählen, wie sie nach dem „ganz miserablen Ort“, dem Hohenberg, verschlagen sei, und die exaltirtesten Glückwünsche zu ihrer Verlobung über sich ergehen lassen, immer unterbrochen durch Klagen und Weinen. „O Mademoiselle, welches Leben führe ich, ich, die ich in Paris geboren bin! Sehen Sie diese Aussicht auf den stillen Hof, der Blick von meinem Schlafzimmer in den verwilderten todeseinsamen Garten hinein ist noch trister; hier geht doch wenigstens einmal der Stallknecht über die Bühne oder der Briefträger. Da wohne ich hinter diesen Mauern wie in einem Kloster; auf die Straße gehe ich nicht gern, sie ist so entsetzlich schmutzig, und von einem Verkehr ist keine Rede. Die Leute sind alle so plump, so wenig chic. Mein einziger Trost war noch immer Monsieur le docteur; nun ist er krank, hoffnungslos, wie es heißt, und zu dem jungen Mann, Ihrem Bräutigam, habe ich mich immer noch nicht entschließen können. Es ist sehr peinlich, wenn der Arzt so jung – es ist genant. Aber, mille pardon, der Baron wartet!“ Sie warf einen Blick auf die Uhr vor dem Spiegel und sprang auf. „Die Schachpartie, ma petite; ich muß Sie bitten, mich zu verlassen; er ist mauvaise humeur, wenn er warten muß.“

Sie hatte während dieses Sprechens eifrig die Nägel ihrer wirklich gut gepflegten Hände betrachtet. Nun reichte sie die Rechte dem jungen Mädchen: „Gehen Sie zu ihr, Lucie!“

„Und Sie meinen, ich soll gegen alle Erlaubniß bei Frau von Löwen eindringen?“ fragte Lucie noch einmal.

„Sie thun ein Werk der Barmherzigkeit, je vous en prie –. Bitte, diese Treppe hinauf,“ flüsterte sie im Hausflur, „dann links den Korridor entlang die vorletzte Thür. Treten Sie gleich ein, sie antwortet nicht auf ein Klopfen.“

Lucie stieg zögernd die breiten Stufen empor, während Mademoiselle durch den Flur in das Zimmer des alten Herrn eilte. Ihr war ganz und gar nicht behaglich zu Muthe, die Rolle eines Eindringlings hatte sie noch nicht gespielt; sie war ihrem schüchternen bescheidenen Wesen völlig fremd. Trotzdem trieb es sie vorwärts, sie wußte selbst nicht warum? War es das Verlangen, der Jugendgespielin zu danken? Oder die unbestimmte Besorgniß, welche die wunderliche Französin in ihr wachgerufen? Oder die Opposition gegen ihre Schwiegermutter und das doppelte Interesse, das sie für die so geschmähte Gefährtin einer glücklichen Spanne Zeit empfand? – Sie stand eben vor der bezeichneten Thür, drückte die Klinke und trat ein.

Ein brenzlicher Geruch wie von verbranntem Papier, verbunden mit einem leichten Rauch, füllte das weite behagliche Gemach. Hortense war nicht darin. Lucie sah zum ersten Male das Zimmer einer vornehmen Dame, und im ersten Augenblick fesselten sie die tausend eleganten Dinge, die es schmückten. Statuetten, Majoliken, wunderliche kleine Möbel, schwere Vorhänge, der weiche Smyrnateppich, der den ganzen Boden bedeckte, auf welchem Fauteuils von allen Formen umher standen; das kostbare persische Gewebe, das nachlässig über die Chaiselongue geworfen war, die getrockneten Palmenwedel in den Vasen, die zierlichen Nippes aus Terracotta und Vieux-Saxe, und über dem Schreibtische das lehensgroße Pastellbild einer blonden jungen Frau, an der Hauptwand, über dem behaglichen Arrangement von Sofa, Tischchen und Fauteuils, zwei große Oelbilder, Seestudien – einmal das empörte Meer in Gewittersturm, das andere Mal die stille See bei Sonnenuntergang.

Lucie stand während mehrerer Minuten regungslos und betrachtete dies Alles; dann wandte sie sich zum Gehen. – Ob sie wiederkommen durfte? dachte sie und nahm aus dem kleinen Notizbuch, das sie in der Hand trug, eine Visitenkarte, schrieb mit Bleistift: „Herzlichen Dank“ darauf, legte sie auf den Tisch und schob das Zwanzigmarkstück darunter. Nach einem Augenblick besann sie sich anders und trug es auf den Schreibtisch. Sie war jetzt nahe der Schlafzimmerthür, die nur angelehnt schien, [24] und nun hörte sie deutlich einen eigentümlich klagenden Laut, ängstlich und halb erstickt.

Sie lauschte mit verhaltenem Athem – wieder der Laut.

„Hortense!“ rief sie leise an der Thür.

Keine Antwort, aber das Stöhnen drang noch vernehmlicher an ihr Ohr.

Sie stieß die Thüre auf und trat in das verdunkelte Zimmer. Ein häßlicher starker Geruch quoll ihr entgegen, der sich betäubend auf ihre Sinne legte; sie kannte ihn wohl von der Krankheit ihrer Schwester her. „Chloroform!“ sagte sie halblaut und schlug die seidnen Vorhänge des Bettes zurück.

[37] Hortense lag bewußtlos in den Kissen. – Der betäubende Chloroformgeruch drang jetzt mit aller Macht auf Lucie ein; sie lief zum Fenster und öffnete hastig die Flügel, unbekümmert darum, daß die kostbare Spitzengardine zerriß. Dann eilte sie wieder zurück zum Bette und schleuderte mit zitternden Händen das weiße Tuch zu Boden, das auf dem Gesichte der jungen Frau lag. Ein furchtbarer Geruch! Selbst Kissen und Decke mußten mit dem unseligen Stoff getränkt worden sein. Ihr Herz klopfte heftig; nun hob sie die Bewußtlose halb in die Höhe; schwer fiel der schöne Kopf gegen ihre Schulter; aber sie stöhnte wieder; sie flüsterte auch unverständlich. Jetzt mußte Hilfe herbei! Und doch – es wäre schrecklich, wenn man erführe, was sie gethan – was denn? Sie hatte vielleicht [38] Zahnschmerzen – sie hatte aus Versehen – – nein! Nein! Sie wollte sterben! – Lucie ergriff das schreckliche Tuch und die geleerte Flasche und warf Beides aus dem Fenster; selbst halb betäubt nahm sie Kissen und Decken fort – da war ein Wandschrank, hinein damit! Und das andere Fenster noch auf – gottlob, Zugluft! Sie trug einen ganzen Strom von Fliederduft in das Zimmer und umspielte das blasse Gesicht, das unbeweglich auf dem Pfühl lag.

Und nun noch den Brief vom Nachttisch dort – „An meinen Großvater Herrn Alexander von Meerfeldt –“. Lucie steckte ihn in die Tasche ihres Kleides und riß am Glockenzug; wie Sturmläuten hallte der Ton in dem stillen Hause wieder. Sie rieb eben die Schläfen Hortense’s mit Kölnischem Wasser, als das Stubenmädchen hereinstürzte und hinter ihr die Stimmen von Mademoiselle und dem alten Herrn laut wurden.

„Lassen Sie den Arzt rufen,“ sagte Lucie ruhig, „sie ist ohnmächtig geworden.“

Die Klagen der beiden alten Leute verstummten; scheu traten sie an das Lager und sahen in das blasse stille Gesicht.

„En vérité nur eine Ohnmacht?“ fragte Mademoiselle.

„Hortense, mein Kind,“ flüsterte leise der alte Herr und hob ihre Hand, welche schwer wieder niederfiel.

„Mon dieu, sie stirbt!“ weinte die kleine Französin.

„Wenn Alfred doch käme!“ seufzte das Mädchen. „Barmherziger Gott, laß ihn zu Hause gewesen sein!“ betete sie leise. Jetzt glaubte sie seinen Schritt auf dem Korridor zu erkennen. Sie lief zur Thür hinüber, in welche der junge Arzt eben treten wollte. „Komm!“ rief sie, ihn zurückdrängend, „ich habe Dir etwas zu sagen.“

„Du zitterst, Lucie?“

„Ja!“ erwiederte sie mit versagender Stimme, „ich habe – ich fand Hortense von Löwen, wie sie – als sie – sie hatte Chloroform; Alfred, laß Dir nichts merken! Sie wollte, glaube ich – sie hatte einen großen Kummer erfahren gestern – und da –“

Er faßte ihre Hände. „Beruhige Dich, Lucie; was thatest Du zunächst?“

„Ich habe ihr das Tuch vom Gesicht genommen und die Fenster geöffnet, und –“

„Sie ist bewußtlos?“

„Ja! Ja! Ach, sage nicht, was sie gethan – sage, sie wäre ohnmächtig, Alfred!“

Er strich ihr liebkosend über das Haar und sah sie gerührt an. Sie merkte es nicht; sie bebte an allen Gliedern; jetzt, wo sie ihn an ihre Stelle treten sah, wollten die Kräfte weichen. „Setze Dich,“ bat er und drückte sie in einen Sessel, „werde ruhig; Du hast es brav gemacht, Lucie.“

Er nickte ihr zu und ging in das Schlafzimmer, dessen Thür offen blieb.

Es dauerte nicht lange, als Mademoiselle ebenfalls zurückkehrte. „Sie wird erwachen!“ rief sie. „Gott sei gelobt, es ist eine simple Ohnmacht. Himmel, wie oft fiel ich als junges Mädchen in Ohnmacht! Und deßhalb gleich solchen Lärm? Liebste, Sie klingelten ja, als ob es brenne oder ein Mord geschehen sei; den Schreck werde ich nie vergessen, jamais!“

„Ich möchte nicht, daß sie mich hier erblickt,“ hörte Lucie jetzt ihren Bräutigam sagen; „es wäre auch vielleicht besser, wenn Mademoiselle und der Herr Baron beim Erwachen nicht zugegen sind. Je weniger man aus solcher Geschichte macht, desto besser ist es für die Patienten.“

„Aber Jemand muß hier sein,“ sagte Mademoiselle auf den eintretenden Arzt zugehend, „und ich weiß, das Stubenmädchen darf sich nicht ungerufen in ihrer Nähe aufhalten.“

„Ich will hier bleiben, Alfred,“ rief die kleine Braut; „ich thue, als ob ich eben gekommen wäre, oder –“

„Es ist das Beste!“ stimmte er bei. „Sollte Frau von Löwen sehr unruhig werden, so laß mich rufen.“

Sie trat mit ihm in den Korridor hinaus.

„Welch furchtbare Kämpfe mögen vorangegangen sein, ehe sie soweit kam!“ flüsterte das Mädchen und schmiegte sich an ihn.

„Sie ist nervös und exaltirt, Kind,“ erwiederte er gelassen. „Derartiges kommt öfter vor als Du glaubst. Sorge nur, daß sie nicht allzusehr über ihren kopflosen Streich nachdenkt; sei unbefangen, erzähle ihr etwas! Du mußt mir schon einmal helfen, Lucie.“ Er küßte sie zärtlich auf die Stirn und drängte sie, hineinzugehen. „Mache, daß es bald ruhig wird,“ bat er.

Lucie saß schon über eine Viertelstunde in einem der tiefen Lehnsessel des Salons und schaute unverwandt durch die geöffnete Thüre des Schlafzimmers auf das Lager der jungen Frau. Sie waren Alle, dem Befehle des Arztes gemäß, hinausgegangen. Auf einem Tischchen stand Wein und ein Imbiß bereit. Man hatte eins der Fenster wieder geschlossen, und nun schien es, als schlummere dort süß und friedlich ein müdes Menschenkind, treu bewacht von einem anderen, und die Dämmerung des Frühlingsabends füllte die Räume, und im Garten schlugen die Nachtigallen.

Hortense rührte sich nicht; Lucie aber sah, daß sie mit großen offenen Augen dalag; noch mochte ihr das Geschehene nicht klar sein. Endlich setzte sie sich auf dem Lager auf und sah sich um, die Hände an den Schläfen; dann begann sie nach etwas zu suchen.

„Hortense,“ rief das junge Mädchen, „darf ich eintreten? Du schliefst so schön, ich wollte Dich nicht wecken; ich warte schon eine ganze Weile hier, um Dir nochmals zu danken für Deine gestrige Freundlichkeit.“

Sie war während dieser Worte zu dem Bette getreten und griff nach der Hand der Kranken.

Aus dem weißen Antlitz der jungen Frau starrten durch die Dämmerung zwei große erschrockene Augen zu dem schlanken Mädchen empor, als sei es ein Gespenst; aber Hortense antwortete nicht.

„Laß Dich nicht stören, Hortense, und nimm es mir nicht übel, wenn ich Dich so im Schlafe überfallen habe; ich wurde hierhergewiesen. Bist Du mir böse? Du kennst mich doch – Lucie Walter?“ Sie setzte sich auf den Bettrand und legte den Arm um die Schulter der Kranken. „Meine gute, liebe Hortense,“ sprach sie innig.

„Du!“ sagte die junge Frau und stieß den Arm zurück. „Wozu verstellst Du Dich denn und wozu lügst Du? Wozu kommst Du heute hierher?“

„Es war so gut, daß ich kam, Hortense!“

„Sehr gut – wie man es nimmt. Aber, ich bitte, bemühe Dich nicht weiter um mich; höchstens sage mir doch, wie spät war es, als man Dich herein wies?“

„Es war gegen halb sechs Uhr.“

„Und jetzt?“

„Ist es halb acht.“

„Wer hat Dich angemeldet? Wer war zuerst an meinem Bette?“

„Niemand! Ich fand Dich so,“ erwiderte das Mädchen, jedes Wort betonend.

„Du?“

„Ja, ich, Hortense.“

„Und die Andern?“

„Sie denken, wir plaudern zusammen.“

Hortense schwieg. „Geh,“ sagte sie dann, „vergiß das! Bedanken kann ich mich nicht; es ist zu bitter, was Du mir gethan.“

„Nein, ich gehe nicht,“ versetzte das junge Mädchen, obgleich Hortense sich herum warf, das Gesicht in die Kissen barg und die schmalen Hände in das Haar krallte. Sie blieb ruhig sitzen und begann leise zu sprechen: „Es ist doch merkwürdig, daß wir uns gestern trafen, nicht, Hortense? Mir ist dadurch die Kinderzeit wieder so lebendig geworden. Erinnerst Du Dich noch an Pet, an Papa’s kleinen Affenpinscher? Wie treu das kleine Thier war und wie drollig es aussah in der Ziegenbockequipage! Ich könnte das Fleckchen malen, wo wir ihn begraben haben unter vielen Thränen. Weißt Du noch, wie wir einmal umwarfen und Du Dir ein Loch in die Stirn fielst, das mein Vater nähen mußte? Du klammertest Dich so fest an meine Mutter, und ich weinte erbärmlich mit. Ach, meine liebe, unvergeßliche Mutter – gelt, sie war seelensgut, Hortense? Manchmal, wenn ich Abends im Bette liege, ist es mir vor dem Einschlafen, als streiche ihre Hand über mein Gesicht, und dann muß ich weinen. Geht es Dir nicht auch so?“

Hortense wandte sich um. „Nein!“ sagte sie, die Hand zur Faust geballt; „ich werde zornig, wenn ich an Mama denke, denn man hat sie zu Tode gequält, ins Grab gekränkt und mich um das einzige Wesen betrogen, das mich wirklich liebte!“

„Hortense, so spricht doch keine Braut!“ sagte das Mädchen vorwurfsvoll.

„Braut?“ lachte sie höhnisch. „Braut?“

Lucie schwieg erschreckt.

[39] „Gieb mir ein Glas Wein,“ bat die junge Frau. Lucie brachte es ihr; sie trank es mit einem Zuge leer. „Kennst Du noch die alte Baronin Luboska?“ fragte sie dann.

„Die schreckliche Person, der alle Kinder nachliefen, weil sie gewöhnlich betrunken war?“

„Ja! Sie hatte es sich angewöhnt, das Trinken, als ihr Mann sie verließ. Ist es nicht besser – todt, als so zu verkommen? Ich kann die Frau seit gestern nicht aus den Gedanken los werden. Gieb mir noch ein halbes Glas, Lucie.“

„Nein!“

„Wie Du besorgt bist! Aber einen andern Gefallen thue mir; hier lag ein Kouvert, lies mir den einen der beiden Briefe, die es enthält, noch einmal vor. Du wirst es an Dich genommen haben.“

„Ja, hier ist es,“ sagte Lucie und nahm es aus ihrer Wäsche. „Ich dachte, es wäre ein Abschied von Deinem Großvater.“

„Natürlich! Aber ein Schreiben an mich liegt noch darin, er sollte es aufbewahren – für meinen Vater, da lies, es ist das weiße starke Papier.“

„Morgen, Hortense, es erregt Dich vielleicht aufs Neue.“

„Lies!“ klang es bestimmt.

Und Lucie las:

 „Theuerste Hortense!

Wie namenlos schwer es mir wird, Dir diese Zeilen zu schreiben, vermag ich nicht auszudrücken. Du weißt, wie ich Dich liebe, und wirst daher den Schmerz begreifen, der mich erfaßt, und glauben, daß mich nur die eisernste Nothwendigkeit zwingt, Dir Dein Wort zurückzugeben. Wir müssen uns trennen, Hortense. Warum? – Dein Vater! Ich wage es nicht, der Tochter die bitteren Beschuldigungen zu schreiben, die ihn treffen; auch glaube ich fast – Du bist nicht unvorbereitet. Meine Stellung – Du wirst begreifen –“

„Hör’ auf!“ unterbrach Hortense die Lesende.

„Meine arme, liebe Hortense!“ schluchzte das Mädchen, am Bette niederkniend.

„Früher konnte ich auch weinen,“ murmelte die junge Frau. „Steh’ doch auf! – Ach, ich hatte das Ganze so satt – hättest Du mich doch schlafen lassen! Alle, die ich lieb gehabt, haben mich betrogen, mir mit Haß und Undank gelohnt; Mißtrauen und Verachtung haben sie mich gelehrt.“

Lucie schluchzte leise fort. Sie dachte an das wilde sonnige Kind, das so zärtlich am Halse des Vaters gehangen, das so schwärmerisch von ihrem wunderschönen Papa gesprochen. Und sie sah vor sich eine blasse, verzweifelnde Frau, die ans Sterben dachte – dieses Vaters wegen!

„Ich bin sehr müde,“ klagte Hortense.

„Schlafe, ruhe aus,“ bat das Mädchen und legte die Kissen zurecht.

„Gieb mir Deine Hand, Lucie, bleib’ bei mir, bis ich eingeschlafen bin. Komm wieder morgen; Deine Stimme beruhigt mich. Nein, nein, Du sollst nicht hier wachen; Minna kann dort drinnen auf dem Sofa sitzen.“ Sie hielt die kleine Mädchenhand fest in der ihrigen. „Weine doch nicht,“ sprach sie noch einmal. „Kannst Du mich jetzt verstehen?“ Und nach einer Pause, als Lucie glaubte, sie schlafe längst: „Es hat mir so wohlgethan, mit Dir zu sprechen, Lucie. Weißt Du noch, Lucie, in Eurem Garten sangen die Nachtigallen eben so schön.“

Sie sprach noch weiter, leise, unverständlich, und endlich schlief sie.

Auf den Zehen schlich das Mädchen hinaus, die Dienerin saß in einem Lehnstuhl vor der Salonthür. Lucie schickte sie hinein mit den nöthigen Anweisungen und ging.




Die Herrschaft sei im Garten, sagte das kleine magere Dienstmädchen der Frau Steuerräthin. Lucie tastete die finstere Treppe wieder hinunter und kam durch das Gärtchen in die Laube.

„Bist Du es?“ fragte der Bräutigam und trat ihr entgegen. „Hast Du Mutter und Tante nicht getroffen? Sie sind ausgegangen, um Besorgungen zu machen! Vor allen Dingen aber, wie geht es nebenan?“

Sie lehnte statt aller Antwort den Kopf an seine Schulter und weinte.

„Was ist’s denn? Hast Du mit ihr gesprochen?“

Sie nickte. „Ihr Bräutigam hat ihr abgeschrieben,“ flüsterte sie, „ihres Vaters wegen.“

„Armes Weib!“ sagte er mitleidig. „Hast Du ihr zugeredet, sie ausgescholten wegen des kopflosen Streiches, Du kleine praktische Samariterin?“

„Ja, Alfred; – nicht wahr, ich hatte Dir überhaupt Alles recht gemacht?“

„Und ob!“ gab er lächelnd zu, „ich wußte es ja gleich, als ich Dich zum ersten Male sah, daß Du eine prachtvolle Doktorfrau sein wirst.“

Sie schmiegte sich noch inniger an ihn. „Wo war das? Sprich!“ forschte sie. „War es nicht an Mathildens Krankenbette?“

„Nein, bewahre! Wie Du der Rike die schlimme Hand verbunden hast.“

„Ach ja,“ sagte sie, „und das hat Dir so imponirt?“

„Freilich! Und fast noch mehr der delikate Rehbraten, den Du in Stellvertretung der Patientin gemacht hattest.“

„Ach pfui, wie materiell, Alfred!“

„Aber erlaube gütigst,“ neckte er, „wenn eine gelungene wirthschaftliche Leistung dem Manne nicht imponiren soll – da möchte ich wissen, was sonst!“ Er klopfte ihr die Wange und küßte sie. „Was mir so imponirt, ist Dein goldenes Gemüth, Deine waldfrische Natürlichkeit“ – dachte er. Aber es kam nicht über seine Lippen: er gehörte zu Denen, die Alles, was sie für geliebte Menschen im Herzen tragen, in sich verschließen, es nicht auszusprechen vermögen und darum für kalt gehalten werden – für gefühllos. Nur durch ein langes, langes Beisammensein ein förmliches Studiren, lernt man sie verstehen und doppelt schätzen.

Stumm saß sie neben ihm. Sie dachte so hoch, so groß, so ideal von der Liebe; sie fand es so begreiflich, daß man sterben müsse, wenn man den Gegenstand seiner Liebe verlieren sollte. Ob er mich so liebte? fragte ihr junges Herz. Und sie sah träumerisch in den bläulichen Mondenglanz hinaus.

Nach ein paar Minuten kam die Schwiegermutter den Weg entlang. Sie erwiederte leichthin den Gruß des Mädchens und blieb am Eingang der Laube stehen.

„Findest Du es nicht auch praktischer, Alfred,“ fragte sie mit ihrer schrillen Stimme, „wenn der Sattler das Sofa in unserem Hause umpolstert? Er stiehlt sonst die schönen Roßhaare, wenn wir es ihm hingeben, es steckt ganz voll davon, es stammt aus der Zeit meiner seligen Mutter, wo man die Leute noch nicht betrog mit Lumpen oder Seegras.“

„Gewiß, Mutter, gewiss!“ bestätigte er freundlich.

„Gute Nacht, Alfred! Komm, Lucie,“ sagte sie kurz, „man wird wieder nicht schlafen können vor Nachtigallensingen und Froschgequak. Hätte ich ’s nur geahnt, die Wohnung an dem verwünschten Garten hätte ich nicht genommen.“

Lucie blickte förmlich entsetzt in das Gesicht des Bräutigams; er lächelte.

„Ob die Frau jemals jung gewesen?“ dachte das Mädchen. Und sie stand lange, lange am offenen Fenster ihres Stübchens und sah hinaus in den Silberflimmer dieser Frühlingsnacht. Der Mondesstrahl, der die kleine Photographie der Schwester auf der Kommode beleuchtet hatte, lag schon schmal an der niedrigen weißgetünchten Decke, als sie ihr Lager aufsuchte.

Sie schlief noch kaum, da schrillte eine Glocke durch das Haus. Mit klopfendem Herzen fuhr sie empor und horchte. Nach einem Weilchen hörte sie Alfred’s Schritte auf der Treppe und wie er die Hausthür aufschloß. Nun sprach eine fremde Stimme; sie hörte, wie er erwiederte.

„Ich komme sofort!“

Wohin mochte er geholt worden sein? Sie schloß die Augen und vergegenwärtigte sich, wie er so ruhig an das Krankenbett trat, und hörte seine freundliche Stimme, mit der er fragte, tröstete, beruhigte. „Er ist so gut,“ flüsterte sie und faltete die Hände über der Brust. Und sie blieb wach, bis er nach Stunden zurückkehrte.




Es wurde frühzeitig Tag im Hause der Frau Steuerräthin. Die Familie saß um halb sieben Uhr bereits am Kaffeetisch; Tante Dettchen in rothbarchentener Nachtjacke und Steppunterrock und die Nachthaube auf den dünnen Zöpfchen. Das vermochte sie sich nun einmal nicht abzugewöhnen trotz aller beißender [42] Bemerkungen der Schwägerin. Man konnte ihr aber nicht böse sein; denn dieses primitive Négligé war von so leuchtender Sauberkeit, daß es bedeutend appetitlicher aussah, als das zum Morgenrock degradirte braune Kaschmirkleid der Frau Steuerräthin, dessen zerdrückte Falbeln und abgeschabte Sammetbesätze den Eindruck machten, als sei es aus der Lumpentruhe wieder hervorgeholt. Lucie, in zierlicher Morgenhaube und weißem Schürzchen, goß den Damen eben Kaffee in die Tassen, als ihr Bräutigam eintrat.

„Guten Morgen!“ rief die Mutter ihm entgegen. „Wo warst Du in dieser Nacht?“

Er küßte erst bedächtig Luciens Stirn, klopfte Dettchen auf die Schulter und nahm dann seinen Platz vor der Tasse ein, auf welcher in großer blauer Schrift prangte: „Dem Hausherrn“, eine Aufmerksamkeit Dettchens für den heimkehrenden Neffen.

„Bei Frau von Löwen,“ sagte er ruhig und langte nach einer Semmel.

„Ist sie kränker?“ fragte Lucie erschreckt.

„Sie bedarf der äußersten Schonung und Aufmerksamkeit. Es wäre mir lieb, Lucie, wenn Du Nachmittag hingingest; sie hat dringend nach Dir verlangt.“

„Gern!“ versicherte das junge Mädchen.

„Das geht nicht!“ erklärte die Mutter; „wir sind zum Kaffee bei der Postmeisterin gebeten; sie hat Lucie extra mit eingeladen.“

„Dann laß sie entschuldigen; ich versprach Frau von Löwen Luciens Besuch und möchte der Kranken mein Wort halten.“

„Was fehlt ihr denn? Sie hat sich doch sonst um keinen Menschen bekümmert?“ bemerkte die alte Dame ärgerlich.

„Sie ist nervös –“

„Das heißt, sie hat den Spleen!“ platzte die Mutter heraus.

„Den hat sie nicht! Du vermagst die Sache wohl nicht ganz zu beurtheilen, Mutter, weil Du sie nicht bis in alle Einzelheiten kennst. Kurz und gut, ich wünsche, daß Lucie – in Frau von Löwen’s Interesse als Kranke und in meinem Interesse als Arzt – hinüber geht und sie ein wenig aufzuheitern sucht.“ Er hatte während dieser Debatte Kaffee getrunken und nahm nun aufstehend seinen Hut vom Stuhl. „In der Voraussetzung natürlich, daß Lucie es gern thut,“ fügte er hinzu.

Sie nickte und folgte ihm auf den Flur. „Was war es mit ihr?“ flüsterte sie.

„Sie hatte einen Anfall von Verzweiflung; sie ist eine sehr nervöse Natur. Ich fand sie mit Beängstigungen und Athemnoth in ihrem Zimmer umherlaufend; das ganze Haus war in Alarm. Sie wollte immer zu Dir.“

„Ist das sehr schlimm?“ fragte das Mädchen mit angstvollen Augen.

„Nein, mein Kindchen; sie wird heute schon viel ruhiger sein. Sie muß vor allen Dingen auf andere Gedanken gebracht werden.“

Als Lucie wieder in die Wohnstube kam, sagte Frau Steuerräthin just zur Schwägerin:

„Man muß sich ja geniren zu erzählen, daß sie bei der Löwen ist! Alfred mit seinem neumodischen Toleriren aller solcher Spektakelangelegenheiten hätte auch besser gethan, in dem großen H. zu bleiben, wo Sodom und Gomorrha zum guten Tone gehören.“

„Aber, Schwägerin!“ vertheidigte Dettchen. „Was thut er denn? Du kannst der jungen Frau nichts nachsagen.“

Frau Steuerräthin schien wirklich „nichts“ zu wissen; sie begnügte sich mit einem langgezogenen „Na! na!“ Und sich zu Lucie wendend, sagte sie:

„Gestern Morgen hast Du vergessen, die Glasglocke über dem Federbouquett abzustäuben. Als Nachmittags die Postmeisterin kam, ist sie mit dem Finger darüber gefahren und hat sie dann an das Licht gehalten. Ich habe gethan, als sähe ich es nicht, aber –“

„Ach verzeihe,“ bat das Mädchen und begann das Staubwischen sofort bei der fraglichen Glocke.

Gegen vier Uhr ging sie zu Hortense. Vor ihr wanderte in gemessenem Schritt die Schwiegermutter im braunseidenen Kleide, den Haubenkorb und Pompadour am Arm. Sie war absichtlich etwas früher fortgegangen als Lucie, obgleich sie eine kurze Strecke den Weg gemeinschaftlich hatten; sie wollte es nicht mit ansehen, daß die Braut ihres Sohnes in das Meerfeldt’sche Haus hineingehe. Nun war sie durch eine Bekannte aufgehalten und mußte es erleben, daß ein leichter Schritt sie einholte. Ohne den Kopf zu wenden, duldete sie des Mädchens Begleitung; nur die Augen gingen in den linken Winkel und streiften das blühende Gesicht.

„Sie werden es Euch schon danken,“ sagte die alte Dame, „daß Ihr ‚ihretwegen‘ anständige Menschen vor den Kopf stoßt. Alfred wird schon sehen, daß ich Recht hatte – aber dann ist’s gewöhnlich zu spät.“

Sie nickte Lucien noch einmal zu, als sie in der Nähe der Pforte waren, und schritt erhobenen Hauptes weiter.

[53] Lucie eilte die breite Treppe des Meerfeldt’schen Hauses hinan, ohne von Mademoiselle angehalten zu werden, und trat mit einem erlösenden Aufathmen in den Salon. Von der Chaiselongue, welche man mit dem Kopfende zu einem der Fenster geschoben hatte, streckten sich ihr zwei Hände entgegen.

„Wie liebenswürdig von Dir, daß Du kommst!“ sagte eine matte Stimme, „ich habe mich schon halb verdreht gelesen, um meine Gedanken los zu werden.“ Und als Lucie die Hände ergriffen hatte, fuhr Hortense fort: „Die Nacht, Lucie, die schreckliche Nacht! Es war so dunkel um mich und in mir; ich hatte eine so entsetzliche Angst vor dem Weiterleben; ich weiß nicht, was ich Alles gesagt und gethan. Dann haben sie Deinen Bräutigam geholt, und ich dachte an Dich und hatte Sehnsucht nach Dir. Hat man es Dir gesagt? Bleibst Du ein wenig hier? Gern?“ Sie sagte dies Alles mit unbeschreiblicher Anmuth. „Komm, setze Dich zu mir, Minna bringt Dir gleich eine Erfrischung. Magst Du Eis? Oder eine Tasse Chokolade? Erzähle mir etwas, Lucie!“

Das junge Mädchen hatte den Hut abgelegt und saß neben dem Lager der schönen Frau in einem niedrigen Fauteuil, so daß sie ihr in das Gesicht blicken konnte. Nun zog sie eine Handarbeit hervor.

„So, Hortense, was soll ich Dir erzählen?“

„Von Dir, von Dir, Lucie; es wird mir wie ein Märchen klingen, wenn etwas von Glück darin vorkommt. Aber bitte, thue die Häkelei weg, ich kann dieses Gehaste mit den Fingern nicht sehen. Man kann doch unmöglich ganz bei dem Gespräche bleiben, wenn man solche Basteleien in der Hand hält.“

Lucie machte ein etwas verwundertes Gesicht; sie kannte das so gar nicht anders, legte aber gehorsam die Arbeit in das Täschchen zurück und lehnte sich behaglich in den Fauteuil.

„Ich glaube, Du hast Recht,“ sagte sie, und ihre Augen flogen durch das Zimmer und blieben an Hortense hängen, an dem weißen Kaschmirnégligé mit türkischer Borte besetzt und an dem Palmenblattfächer, den sie in der Hand hielt. „Was soll ich Dir erzählen?“ fragte sie noch einmal.

„Von Dir und Deinem Bräutigam. Ich möchte wissen, ob es wirklich ein Glück giebt? Du liebst ihn natürlich sehr?“

Lucie sah sie überrascht an.

„Ja freilich!“ sagte sie komisch hastig. Es klang fast wie Entrüstung.

„Verzeihe, es war eine eigenthümliche Frage! Ich denke nämlich, man kann sich das einbilden. Mir ist es so ergangen, Lucie. Ich bin – und das ist vielleicht mein einziger Vorzug – eine rücksichtslos ehrliche Natur, und trotz alledem log ich mir und ihm und Anderen vor, ich liebte ihn, meinen verstorbenen Mann nämlich; und ward doch nachher eine Wittwe ohne innere Trauer. Da erst merkte ich, daß ich mich getäuscht hatte, daß es nur das Gefühl von Dankbarkeit war, an seiner Seite eine Heimath gefunden zu haben. – Ich sagte Dir schon, ich kam gerade aus der Pension, natürlich in mein Vaterhaus – wenn man die ewig wechselnden Orte und Wohnungen, in denen mein Vater lebte, so ehrenvoll bezeichnen darf. Die Bertin, die, so lange ich in Dresden weilte, ihre Heimath besucht hatte, war vor mir gekommen und hatte mir ein Zimmerchen eingerichtet. Ich freute [54] mich kindisch auf dieses ‚zu Hause‘. Mein Vater war auf dem Bahnhofe und holte mich ab. Er schien verlegen, die Bertin aber kam mir mit verweinten Augen entgegen und nannte mich in der Stille meines Zimmers ‚pauvre enfant, pauvre petite!‘ was ich anfänglich gar nicht begriff.

Als wir zu Mittag speisten, erzählte mein Vater, er habe Abends eine kleine Gesellschaft, ich solle aber ruhig schlafen gehen. Ich sah im Laufe des Nachmittags, wie eine Tafel gedeckt wurde; es kamen Körbe voll Wein und Champagner aus einem Hôtel, und Kerzen wurden in großer Zahl aufgesteckt. Warum durften Bertin und ich nicht mitspeisen? Ich hatte mich so namenlos auf den Eintritt in die Geselligkeit gefreut. Die Bertin aber, still gegen ihre Gewohnheit, setzte einen kleinen Imbiß für uns zurecht und bereitete den Thee. Zur Zeit, als die Gäste kommen sollten, hörte man auf dem Korridor Sporen klingen, dann das Rauschen seidener Frauenkleider. ‚Es ist ja keine Herrengesellschaft, Mademoiselle,‘ sagte ich, ‚hören Sie doch!‘ – ‚Sie irren sich,‘ erwiderte sie ernst. Aber da scholl ein silbernes Frauenlachen herein, und ein anderes antwortete.

Ich fühlte mich furchtbar beleidigt, zurückgesetzt. ‚Ich lasse mich nicht mehr als Kind behandeln!‘ rief ich außer mir. Drüben aber nahm das Mahl seinen Anfang und dauerte bis tief in die Nacht, die Lebhaftigkeit der Unterhaltung steigerte sich; zuletzt ward es ein wüster Lärm, aus dem sich die Frauenstimmen schrill abhoben. Die Bertin hatte mich zu Bette gebracht und saß mit blassem zornigen Gesicht neben mir. Sie hat mir schließlich Alles erklären müssen, da fing ich an, meinen Vater zu hassen. Am andern Tage verschloß ich mein Zimmer; die Bertin aber trug eine Depesche an Onkel Ludolf zur Post: ‚Komme sofort, ich kann bei Papa nicht bleiben!‘ – Am Abend stand der Bruder meines Vaters vor mir. ‚Warum kann sie nicht bleiben?‘ fragte er die Bertin. Sie verschmähte die deutsche Sprache und erklärte es ihm auf französisch. Er küßte mich auf die Stirn und ging hinüber zu meinem Vater. Im Anfang war Alles ruhig; dann erhob sich Ludolf’s Stimme im höchsten Zorn; als er wieder in mein Zimmer trat, bebte er förmlich. ‚Packen Sie Ihre und meiner Nichte Sachen,‘ sagte er kurz, ‚in zwei Stunden geht der Schnellzug.‘ – Wir reisten, ohne Papa Adieu zu sagen, auf das Gut meines Onkels. Acht Tage später fragte er mich, ob ich ihn heirathen wollte? Meine Dankbarkeit kannte keine Grenzen; Dillendorf war ein herrlicher Aufenthalt, den ich schon aus meiner Kinderzeit liebte, der Onkel Ludolf ein stattlicher Mann, nach drei Wochen wurden wir getraut. Ich versichere Dich, von Liebe war keine Rede, aber ich bildete es mir wirklich ein. Da habe ich Dir nun doch von mir erzählt,“ sagte sie, in das traurige Mädchenantlitz schauend, „verzeihe mir!“

„Arme Hortense!“

„Ach Kind, das war das Schlimmste noch nicht! Es ist kein Wunder, wenn ich denke, es giebt nicht einen einzigen guten Menschen mehr auf der Welt.“

„Arme Hortense!“ flüsterte das Mädchen noch einmal, „so schwere Schicksale und so verkannt!“

„Was die Menschen über mich sagen, ist mir allerdings furchtbar gleichgültig,“ fuhr sie fort, als habe sie Luciens Gedanken errathen. „Aber von den Wenigen falsch beurtheilt und zurückgesetzt zu werden, zu denen man noch Vertrauen hatte, das ist zum Sterben schwer. Sage,“ fragte sie nach einer Pause, „was hat man Dir von mir erzählt?“

Lucie ward roth.

„Natürlich!“ nickte die junge Frau. „Ich will es nicht wissen, aber ich danke Dir, daß Du dennoch zu mir gekommen bist.“ Sie nahm des Mädchens widerstrebende Hand und küßte sie. „Laß Dich nicht irre machen an mir, bitte!“

„Nein, Hortense,“ sagte Lucie, zu Thränen gerührt durch die Bitte der jungen Frau.

Sie plauderten noch eine ganze Weile, dann wollte Hortense in die frische Luft.

„Ich bin noch ein wenig schwindelig, aber wenn Du mich stützest – vielleicht liesest Du mir im Garten ein wenig vor? Wir nehmen die Hängematte mit.“

„Sehr gern!“

Sie kamen, Arm in Arm, hinunter auf den stillen Hof. Da klang ein helles Wiehern aus dem Stall.

„Das ist Hella!“ sagte die junge Frau. „sie kennt meinen Schritt. Komm, Du sollst sie sehen.“

Sie gingen vor den Fenstern des alten Herrn vorüber, er stand hinter den Scheiben, warf ihnen entzückte Kußhändchen zu und rief dann, einen Flügel öffnend:

„Ich gratulire, gratulire!“

„Warum gingst Du nicht zu Deinem Großpapa, als der Aufenthalt in Deines Vaters Hause unmöglich wurde?“ fragte Lucie.

„O, er war damals, glaube ich, in Afrika auf der Antilopenjagd mit dem Herzog von K., Du hast wohl nie gehört, daß er ein ganz berühmter Nimrod war? Sollte Dein Schwager ihn nicht kennen?“

„Ich weiß es nicht,“ meinte Lucie, „es ist sehr wohl möglich.“

„Wie schon gesagt, er war selten oder nie daheim, er hat in allen Welttheilen und alle Kreaturen gejagt. Sieh, da ist meine Hella!“ sagte sie, die Thür des Pferdestalles öffnend. „Ist sie nicht schön?“

Der prachtvolle Goldfuchs kam heran und begann die Hände und das Kleid der Herrin zu beschnuppern.

„Du vermissest Deinen Zucker, Hella?“ sagte sie und klopfte zärtlich den schlanken Hals, „ich gab ihn Dir gestern nicht – ach gestern! Aber für Dich hatte ich gesorgt, Du hättest nimmer das Schicksal Deiner Pferdebrüder getheilt als altes müdes Thier, Du hättest das Gnadenbrot bekommen. Eine Andere hätte sich nie auf Deinen Rücken gesetzt.“

Sie wandte sich um, und Lucie sah große Tropfen in ihren Augen.

„Es ist traurig, nicht wahr, wenn man nur noch Thränen für ein Thier hat? Ich versichere Dich, das Schicksal des Pferdes war gestern noch das Einzige, was mir den Gedanken an den Tod schwer machte. Holst Du mir ein wenig Zucker?“

Lucie ging bereitwilligst in das Haus und fand endlich bei Minna das Gewünschte. Die Köchin war in die Stadt gegangen, und Mademoiselle bedauerte unendlich, sie habe nie Zucker. Aber sie hielt das junge Mädchen mehrere Minuten zurück mit haarsträubenden Berichten über die letzte Nacht. „Sie war parfaitement wahnsinnig,“ betheuerte sie.

Als Lucie mit ihrem Tellerchen wieder über den Hof kam, scholl ihr die tiefe Stimme des Bräutigams aus dem Pferdestall entgegen. Unwillkürlich stockte ihr Fuß. Würde sie stören? Er kam ja als Arzt.

„Was soll Ihnen denn das Kind vorlesen, gnädige Frau?“ hörte sie ihn fragen. „‚Manfred‘? Ach, schenken Sie ihr die Bekanntschaft dieses düsteren Helden, auch für Sie ist es nichts. Lassen Sie sich etwas Heiteres von ihr lesen, z. B. Reuter; sie liest diese von urgesundem Hauch durchwehten Dichtungen allerliebst.“

„Heiteres?“ hörte sie Hortense antworten. „Das Leben ist so ernst.“

„Aber für die vorgeschlagene Lektüre dürfte ihr das Verständniß fehlen.“

„Das ist ja recht schmeichelhaft! Ich danke Ihnen im Namen Ihrer Braut. Aber, Ihr Wunsch in Ehren, wir brauchen überhaupt nicht zu lesen.“

Lucie trat ein während der letzten Worte; sie maß ihren Bräutigam mit unsicherem Blick und sah blaß aus. Er reichte ihr die Hand, bedauernd, daß er weiter müsse. „Begleite mich bis zur Pforte,“ bat er. Sie ging neben ihm über den Hof, während Hortense das Pferd fütterte.

„Arme Kleine,“ sagte er mitleidig, „Du fühlst Dich wohl nicht allzu behaglich hier?“

„Warum?“ fragte sie.

Er blieb stehen und sah sie an.

„Ich fühle mich sogar sehr wohl,“ erklärte sie. „Ich finde Hortense liebenswürdig und klug, ich freue mich über den Verkehr.“

Er schwieg wie betroffen, es lag etwas Widerspruchvolles in ihrer ganzen Haltung.

„Lebewohl!“ sagte er an der Pforte, „ich denke, Frau von Löwen wird bald ganz hergestellt sein.“

„Adieu!“ erwiderte sie, ernsthaft den Kopf neigend.

Hortense wartete ihrer. Sie gingen dann in den Garten; der Reitknecht mußte die Hängematte unter einer Kastaniengruppe [55] befestigen. Sie sprachen über alles Mögliche, auch über Litteratur. Lucie brachte die Rede darauf, sie hatte mancherlei gelesen, sie schwärmte besonders für Storm und ihre Augen leuchteten, als sie von seinen von feinsinniger Poesie durchwebten Novellen sprach. Hortense hörte schweigend zu und sah in das Gewirr der Blätter, durch welches die Strahlen der Abendsonne Goldfunken warfen.

Als es dämmerte, stiegen sie wieder hinauf in das Zimmer der jungen Frau; ein zierlicher Abendimbiß war zurecht gestellt. Sie saßen sich gegenüber und speisten, Hortense legte ihrer Freundin vor.

„Magst Du Champagner trinken?“ fragte sie, „mich erfrischt ein Glas davon immer sehr.“

Sie klingelte, und bald darauf lugte das Silberköpfchen einer halben Flasche aus zierlichem, mit Eis gefülltem Kübel.

„Schmeckt Dir die Sorte?“

„Ich kann keinen Vergleich machen, ich trinke ihn zum ersten Male heute.“

Die junge Frau fiel in ihren Stuhl zurück; sie vergaß in diesem Augenblick ihren Kummer und lachte, daß ihr die Thränen in die Augen traten, dann ward sie ernsthaft und staunte Lucie an wie ein Naturwunder.

„Nimm Dein Glas,“ sagte sie, „und laß uns anstoßen auf gute Freundschaft.“ Sie kam dabei herüber und legte den Arm um des Mädchens Hals. „Ich habe eine Bitte, eine große Bitte,“ flüsterte sie.

„Und?“ fragte Lucie mit heißen Wangen.

„Du hast mir das Leben erhalten; hilf mir, daß ich es weiter ertrage!“

„Ich, Hortense?“

„Laß uns mit einander verkehren – sei mir ein wenig gut. Ach, Du weißt nicht, wie herzenseinsam ich bin.“

„Aber ich bin so unbedeutend neben Dir,“ stotterte Lucie.

„Du hast gehorcht!“ drohte lächelnd die junge Frau „Liebes Kind, die Männer finden alle Frauen geistig tief unter sich stehend; das darf man sich indessen nicht gefallen lassen.“

Lucie sah dunkelroth in ihr Glas, in welchem feine Perlen aufstiegen und wieder verflogen.

„Er denkt nichts Böses dabei,“ fuhr Hortense fort, „er ist eben wie alle Andern. Du wirst es doch nicht tragisch nehmen? Ach Kind, wenn Du weiter keinen Kummer hast – nun, stoß an, wir wollen Freundinnen sein, gute ehrliche Freundinnen!“

Lucie küßte herzlich die dargebotenen Lippen. „Ja!“ erwiderte sie.

„Immer offen einander sagen, wenn uns etwas mißfällt, und in jeder Noth uns beistehen! Von Dir weiß ich es ja; Gott möge es verhüten, aber wenn Dich ein schweres Schicksal trifft und es steht in Menschenhänden, so will ich es tragen helfen.“




Des Mädchens Wangen schimmerten purpurroth, als sie endlich auf die Straße trat. Dort ging Alfred ihrer wartend auf und ab.

„Ich dachte, Du wolltest über Nacht dort bleiben,“ scherzte er.

Sie schüttelte stumm den Kopf. Oben im schwach erhellten Flur zog er sie an sich.

„Du glühst wie eine Rose,“ sagte er zärtlich. „Nicht wahr, da drüben ist schwüle Luft in dem alten Garten, Lucie? Und nun habe ich Dich selbst heute früh noch aufgemuntert! Gestehe es einmal, Kleine, sie hat es Dir angethan, sie gefällt Dir?“

„Ja! Sie ist bezaubernd!“

Es kam aus vollstem Herzen.

„Nun! nun!“ beschwichtigte er, ungemüthlich berührt, „nur keine verhimmelnden Freundschaftsschwärmereien, Lucie, es ist doch sonst Deine Art nicht!“

„Die Hauptsache ist, ich darf mit Hortense verkehren, und dafür danke ich Dir herzlich, Alfred,“ sagte sie laut.

Er zögerte mit der Antwort. „Ich gönne es Dir von ganzem Herzen, wenn es Dir Freude macht, Lucie. – Und wenn Du Dich eines Tages enttäuscht findest?“

Sie schüttelte den Kopf, als sei es unmöglich.

„So mache denn Deine Erfahrungen,“ sagte er weich; „ich darf Dir ja vertrauen, ich weiß, Du hast mich sehr lieb, Lucie.“

Sie legte beide Arme um seinen Hals.

„Du mich auch?“ fragte sie und sah ihm forschend in die Augen.

„Mein Herz, so sehr ein Mann diejenige lieben kann, die sein Weib werden soll!“

Sie schmiegte sich näher an ihn, wie ein seliger Schauer durchfuhr es sie.

„Wenn Du nicht willst, daß ich hingehe, so sage es, und nie soll mein Fuß die Schwelle wieder betreten!“ rief es in ihrem Herzen, aber über ihre Lippen kam es nicht, sie blieben stumm.

„Gute Nacht!“ sagte er herzlich, und sie erwiderte leise: „Gute Nacht!“

Dann trennten sie sich.




Es war ein gänzlich verregneter Sonntag. Die Kirchgänger wurden durch und durch naß, die offenen Straßengossen glichen geschwollenen Bächen, und die Zweige der Bäume und Sträucher hingen schwer hernieder von der Last der Tropfen. In den Kleiderschränken aber trauerte der duftige lustige Sonntagsstaat der Hohenberger jungen Mädchen, und diese sahen ganz so verdrießlich in das Wetter, wie die Wirthe der Kaffeegärten vor den Thoren und die Besitzer der Lohnfuhrwerke. Es gab nur einen Mann im ganzen Städtchen, der sich gelassen einen Wagen bestellte, und das war Doktor Adler, welcher einen Kranken über Land besuchen wollte, und es gab nur ein Paar Mädchenaugen, die in den fallenden Regen mit heimlicher Freude hineinlachten, das waren Luciens Augen. Die verhaßte Partie in den Stadtforst mit dreißig bis vierzig völlig gleichgültigen Leuten machte das Wetter unmöglich, sie konnte zu Hortense! – Hortense war seit jenem Tage das A und O ihres Denkens geworden; sie zählte die Stunden, bis sie in den Salon der jungen Frau treten durfte, sie rechnete den Tag für einen verlorenen, an dem sie Hortense nicht gesehen, und ihre Billets, in denen sie einen versprochenen Besuch abschrieb, weil es diesmal ganz, ganz unmöglich war, sich frei zu machen, klangen schier untröstlich.

Frau Steuerräthin nannte das einfach: „Verrückt!“ Sie konnte zwar der Schwiegertochter nicht befehlen „Du bleibst hier!“ Dafür hatte der Sohn gesorgt, der ihr ruhig mittheilte, er gestatte, daß Lucie Frau von Löwen so oft besuche, als sie Neigung dazu verspüre. Dafür aber war sie erfinderisch in tausenderlei Hindernissen, die sie nicht ungeschickt aufzubauen wußte. Bald kam ein Besuch ganz unerwartet, und Lucie mußte den Hut wieder absetzen, sie wußte genau, daß es verabredet war, aber es half nichts. Bald war eine unaufschiebbare Arbeit zu thun, bald mußte ein nothwendiger Brief geschrieben oder das Wirthschaftsbuch nachgerechnet werden.

Das Wesen des Mädchens empörte sich in dem Maße gegen die alte Dame, als sie sich dort drüben bei der schönen vornehmen Frau immer wohler und wohler zu fühlen begann, in deren Nähe Alles vergeistigt und verschönt wurde, was hier in nacktester Prosa sich darbot. Ach, und sie liebte das Schöne, das Edle bis zur Begeisterung. Hortense’s Musik – Lucie lernte Chopin und Wagner verstehen und Schumann und Schubert lieben, Hortense’s Büscherschrank – sie lauschte mit immer größer werdenden Augen dem Vorlesen der jungen Frau. Was hatte sie gewußt von Kunst und Kunstgeschichte, von alle dem Herrlichen, Erhabenen, das es in der Welt giebt? Sie war doch einhergegangen wie taub und blind!

Und dennoch kämpfte sie herzhaft gegen dieses Empfinden. Sie war fast demüthig gegen den Bräutigam, suchte durch tausend Aufmerksamkeiten gut zu machen, daß sie ihn stundenlang des Tages vergessen konnte. Sie war schon mit dem Morgengrauen in der Wirthschaft thätig, sie scheute sich vor keiner Arbeit, aber sie wußte zuweilen nicht, was sie gethan. Er blieb gleichmäßig freundlich, sprach Mittags heiter mit ihr, und Abends trommelte er zuweilen auf dem klimprigen tafelförmigen Klavier den Marsch aus „Boccaccio“ und das Soldatenlied aus der „Weißen Dame“. Er griff tausend falsche Noten, lachte selbst darüber und konnte dann wieder schier andächtig alte Studentenlieder spielen. Lucie aber meinte im Stillen, es sei nicht zum Anhören. Doch das war selten, gewöhnlich zog er sich schon um neun Uhr in sein Zimmer zurück, und dann schimmerte die Lampe aus jenem Fenster, an dem sein Arbeitstisch stand, bis tief in die Nacht in den stillen Garten hinein. Er schrieb wissenschaftliche Aufsätze für eine Fachzeitschrift, und sie saß dann bei der Mutter und empfand jedes ihrer Worte wie einen Nadelstich.

[56] Der Arzt hat keinen Sonntag. Lucie stand am Fenster und sah ihn in den Wagen steigen. Er grüßte noch einmal hinauf; dann holperte das Gefährt langsam die einsame Straße hinab, und sie wandte sich in das Zimmer zurück.

Von allen Gesichtern in der Stadt war sicherlich keines ganz so verdrießlich, wie das der Frau Steuerräthin an diesem Tage; es sah unter der festtäglichen Haube doppelt sauer aus. Sie hatte den Kaffee und dazugehörigen Sträußelkuchen auf der Fensterbank stehen und strickte mit nervöser Hast, während ihre Blicke immer mißvergnügter von der menschenleeren Straße zurückkehrten. Tante Dettchen saß auf dem gewöhnlichen Platz, hatte den Kopf an die Lehne des Sessels gelegt und schlummerte, das Strickzeug in der herabgesunkenen Hand. Tick-Tack! Tick-Tack! sagte die Uhr, sonst rührte sich nichts.

Lucie, die schon ein Weilchen an dem Glasschrank gestanden hatte, in welchem zierliche bemalte Tassen, Figürchen, Serviettenringe und Kuchenteller prangten, sowie der Silberkranz, den die Schwiegermama am fünfundzwanzigjährigen Hochzeitsjubiläum getragen, wandte sich jetzt und sagte: „Adieu, liebe Mama, ich gehe.“

Die alte Dame ward roth. „Wohin?“ fragte sie, obgleich sie es ganz genau wußte.

„Zu meiner Freundin.“

„Freundin! Rede doch nur nicht solchen Unsinn, liebes Kind! Ich begreife Alfred nicht,“ machte sie ihrem Aerger endlich Luft. „Täglich und täglich diese Lauferei!“

„Du weißt doch, Mama, sie ist leidend und hat Niemand, der sie besucht. Alfred hat es mir erlaubt und wünscht es sogar,“ betonte sie.

„Ich möchte Dich nur fragen, was aus dieser Freundschaft werden soll? Wozu brauchst Du überhaupt eine Freunndin? Ich meine, Du hättest mehr zu denken; es gilt tüchtig zu nähen für Deine Aussteuer; denn bei uns ist es noch nicht Mode, daß man die Sachen fertig aus dem Laden nimmt.“

Lucie schwieg.

„Als ich Braut war, hatte ich nur Gedanken für meinen Bräutigam; ich habe mir damals alle Freundinnen abgeschafft, und Du –“

Lucie blieb ein Weilchen an der Thür, aber die Nadeln klapperten stumm weiter, und sie ging. Als sie auf die Straße trat, öffnete sich ein Fenster über ihr und die schrille Stimme der alten Dame rief: „Sollte die Postmeisterin kommen mit ihren Töchtern, oder irgend ein anderer Besuch, so werde ich Dich rufen lassen.“

„Bitte,“ sagte das Mädchen freundlich; aber das Fenster klirrte bereits wieder zu. Sie ging so rasch, als ob sie Jemand verfolge, und trat in die wohlbekannte Pforte. Unter dem Thorwege hervor flog ihr Blick zu den oberen Fenstern, und wie Sonnenschein ging es über ihr Gesicht; da oben bog sich ein dunkler Frauenkopf heraus. Sie stürmte die Treppe empor, und auf dem dämmerigen Korridor fiel sie Hortense um den Hals: „Ach, Gott sei Dank, nun bin ich bei Dir!“

[69] Die schöne Frau wickelte Lucie aus dem nassen Regenmantel und zog sie in die Stube. Auf dem Sofatische brannte die Spiritusflamme unter dem silbernen Kesselchen; die Theekanne aus gleich edlem Metall, die großen Meißner Tassen standen auf buntdurchwirkter Decke; ein süßer Duft wogte in dem Raume und lautlos verklangen die Schritte über dem weichen Teppich.

„Ach, wie schön ist es bei Dir, wie traut!“ sagte Lucie, „jedesmal empfinde ich es aufs Neue.“

„Ja, es ist heimlich hier, wenn der Regen an die Scheiben klopft und der Wind rauscht in den Bäumen. Und dann die hohe Mauer und das feste Thor – gottlob, die häßliche öde Welt bleibt draußen. Aber es ist überall heimlich und traut neben einem Menschen, den man gern hat. Früher war mir zuweilen der Aufenthalt hier eine Hölle; Du weißt’s ja.“

„Ich weiß es. Sprechen wir heute nicht davon, Hortense!“

Die junge Frau nickte beistimmend. Sie hatte so nach und nach der Freundin von ihrem Leben erzählt. Sie war hart angefaßt worden. Zu einer Zeit, wo sonst die Jugend andere Mädchen davor schützt, in die Abgründe des Lebens zu blicken, da hatte sie schon am schwindelnden Rande gestanden[WS 1] und nicht gewußt, woran sie sich halten solle.

„Sprechen wir nicht davon,“ wiederholte sie, und goß siedendes Wasser auf den Thee. Sein würziges Aroma mischte sich mit dem Veilchenduft, der Hortense stets umgab und aus Schubkästen und Schränken, aus jeder Kleiderfalte quoll. Sie trug ein schwarzes, eng anschließendes Kleid und als Schmuck eine kostbare Kamee. „Ich habe Dir auch die Photographien hervorgesucht,“ fuhr sie fort. „Willst Du sie ansehen? Sie liegen dort auf dem Tische.“

Lucie holte eine elegante Mappe und nahm ein Blatt nach dem andern heraus.

„Ach, wie köstlich muß es dort sein!“ rief sie und zeigte auf ein Bild.

„Das ist Capri, es sieht hier matt aus; die Farbe, das Licht, die herrliche durchsichtige Luft fehlen. Ich wollte, ich könnte es Dir beschreiben oder noch lieber Dir zeigen; es ist wunderbar.“

„Ich werde es nie sehen,“ sagte Lucie traurig und legte die Mappe bei Seite.

„Warum kam Dein Bräutigam nicht mit?“ erkundigte sich Hortense.

„Er ist auf Praxis über Land; vielleicht holt er mich ab.“

„Es ist doch schrecklich, so angekettet zu sein,“ sprach Hortense und goß den Thee ein, „und für was? Das liebe Publikum dankt es ihm doch nicht.“

„Es ist sein Beruf, sein Geschäft,“ fiel Lucie stolz ein.

„Schade um ihn in dieser kleinen Stadt!“

„Ei, die Krankheiten sind dieselben wie in einer großen Stadt, Hortense.“

[70] „Aber die Menschen nicht! Ich bitte Dich, Lucie! Er ist ein gescheiter Mann, er würde zum Beispiel in Berlin sicher Praxis finden und Anerkennung; nun sitzt er hier in solch jammervollem Nest und opfert seine besten Kräfte für Nichts. Was hat er davon im besten Falle? Eine Praxis, ja; aber er bleibt ein Durchschnittsmensch; sein Name wird nie genannt werden. – Ihr versauert hier Beide.“

Das Mädchen schwieg.

„Du müßtest ihm das einmal vorstellen,“ fuhr Hortense fort, „es ist wirklich schade um ihn.“

„Das kann ich nicht, Hortense, Alfred spricht nie über solche Dinge. Und, weißt Du, ich glaube, er hat diese kleine Stadt mit der einträglichen Praxis nur gewählt, weil er mich heirathen will und weil wir doch Beide“ – sie stockte – „mittellos sind.“

„Du bist zu scheu gegen ihn, es wäre doch nur sein Bestes, Lucie.“

Sie schüttelte den Kopf. „Er muß es wissen.“

Hortense lächelte. „Kusch! Kusch!“ sagte sie. „Du bist einmal das Urbild der lieben deutschen Weiblichkeit. Was Jupiter sagt, geschieht.“

„Ich meine, es soll so sein,“ erwiderte das Mädchen unsicher.

„Die Männer sind alle Egoisten! Wehre Dich nicht, und Du bist ganz verloren!“

Lucie standen die Thränen in den Augen.

„Hortense, sprich nicht so,“ bat sie, „ich bitte Dich –.“

Und diese kam herüber zu ihr, nahm sie in den Arm und sagte, sie herzend und küssend:

„Verzeihe mir, ich weiß es ja nicht besser; vielleicht ist er eine Ausnahme.“

„Meine arme Hortense, Du denkst auch noch einmal anders!“

„Nie!“ sagte gelassen die schöne Frau. „Nie! Ich habe genug von diesem sogenannten Glück. Es gehören eben harmlosere, weniger getäuschte Naturen dazu, um das zu glauben, was sie uns vorschwatzen von Liebe und innigem Zusammensein und von der Stütze, die sie uns fürs Leben sein wollen. Liebe!“ sie zuckte die Schultern – „Dein Herr und Gebieter freut sich vermuthlich, daß er so eine gute Seele gefunden hat, die es als idealsten Lebenszweck erkannt, ihm täglich ein gutes Mittagsessen vorzusetzen, seine Socken zu stopfen und die Knöpfe pünktlich anzunähen, und –“ Ein Blick auf das blaßgewordene Mädchengesicht ließ sie einhalten. „Ich habe Dich wohl erschreckt, Lucie? Ja, es ist ein böser Tag heute, ich will es nicht leugnen – der Todestag meiner Mutter und mein Verlobungstag. Heute vor einem Jahre machte ich den dümmsten Streich meines Lebens – und ließ mir etwas vorschwatzen.“

„Arme Hortense! Da sind wir wieder bei dem alten Thema; laß uns von etwas Anderem sprechen,“ bat Lucie.

„Sprich,“ sagte die junge Frau und ließ sich in einen Sessel nieder, der abgewandt vom Fenster stand. Lucie nahm in der Verlegenheit ihre Zuflucht wieder zu den Photographien.

„Wie schön muß die Welt sein!“ sagte sie endlich.

„Ich möchte Dir das Alles zeigen können, Lucie,“ wiederholte Hortense. „Allein möchte ich es nicht noch einmal sehen, aber mit Dir –“

Lucie saß jetzt auf der Lehne des Fauteuils und hatte den Arm um sie geschlungen. „Erzähle mir davon,“ bat sie. Und Hortense sprach von den grünen Schweizerseen, von Bergen mit ewigem Schnee bedeckt, von dem sonnigen Italien, dem blauen Mittelmeer und von Mondscheinnächten in Venedig. Lucie hatte ihre Handflächen in einander gepreßt und athmete rasch, ihre Wangen waren purpurroth und der kleine volle Mund leicht geöffnet, wie ein Kind saß sie da, das auf Märchen lauscht. So horchte sie stundenlang.

Hortense war inzwischen einmal aufgestanden und hatte ein Kistchen aus rothem Juchten herbeigeholt, dem sie Allerlei entnahm. Den verdorrten Alpenrosenstrauß pflückte sie auf dem Rigi; jenes mattschimmernde Bouquettchen von Edelweiß stammte vom Berninapaß, ein Engländer hatte es ihr geschenkt; dort den feinen Dolch erstand sie in Florenz; die Maske trug sie beim Karneval in Rom; die kleinen golddurchwirkten Schuhe kaufte sie in Konstantinopel auf dem Bazar und jene Brosche aus Lava in Neapel.

„Willst Du sie haben, Liebling?“

Lucie hielt die zierlichen Pantoffeln in der Hand und athmete den leisen Moschusduft ein „es riecht wie die Specereien von denen die Bibel erzählt.“

„Nimm sie Dir,“ bat Hortense, „nimm Alles, wenn es Dir Spaß macht; für mich hat es keinen Werth mehr. Schüttle nicht den Kopf! Du mußt Alles nehmen! Ich schicke es Dir nach, Du kannst Dich noch freuen daran; mich stimmt es trübe. Die Reise machten wir, Papa und ich, als ich eben Wittwe geworden war; er hatte mir sein Ehrenwort gegeben, vernünftig zu werden, nicht mehr zu spielen und ich – hatte es geglaubt –“ Sie zuckte die Schultern.

„Du schenkst mir zu viel, Hortense,“ sagte Lucie abwehrend, „ich habe Nichts für Dich.“

„Doch, Du hast mich lieb!“

Sie saßen wieder stumm. „Möchtest Du mit mir reisen, Lucie?“ fragte sie nach einer Weile.

Das Mädchen sah wie in weite Fernen hinaus. „Ach, reisen, reisen!“ flüsterte sie.

„Wenn Du willst – was thun wir auch eigentlich hier?“ „Wir Beide?“ fragte Lucie athemlos, und die Lust leuchtete aus ihren Augen und zitterte um die feinen Nasenflügel.

„Bist Du überhaupt schon gereist?“ fragte die junge Frau.

„Niemals! Doch ja, das heißt, ich war mit meinen Geschwistern auf zwei Tage in Holstein bei dem Vater meines Schwagers, so um Ostern herum; aber nicht an der See. – Ach, und ich hätte sie so gern gesehen; es war von jeher ein großer Wunsch von mir –“

„Möchtest Du reisen, Lucie? Möchtest Du?“

„Hortense, ich kann doch nicht,“ bat das Mädchen angstvoll, „schweige! – Alfred –“

„Ob Du hier sitzest oder nicht, er ist doch nie zu Hause. Er könnte es Dir wohl gönnen, ehe er Dich für ewig anschmiedet.“

„Nein, nein, Hortense, ich frage ihn nicht; es würde ihn betrüben. Sprich nicht mehr davon.“

Ich werde ihn fragen. Wenn er Dich liebt, Kleine, wenn er Dich nicht egoistisch liebt, sagt er ‚ja!‘“

„Nein, bitte nicht – bitte – wenigstens heute nicht,“ wiederholte Lucie erblaßt; denn eben kam sein wohlbekannter fester Schritt den Gang herauf, und Alfred trat ein. Lucie ging ihm eiliger entgegen, als es sonst ihre Art war, und erfaßte seinen Arm, als habe sie ihm etwas abzubitten. Hortense reichte ihm ihre Rechte und bot ihm einen Platz an. Er setzte sich ihr gegenüber, ohne die Hand seiner Braut loszulassen; ein ungewohnter Schimmer von Glück lag auf seinem ernsten Gesichte.

„Weißt Du, wo ich war, Lucie?“ fragte er, „rathe einmal!“

„Beim Großpapa,“ sagte Hortense.

Ja gewiß, aber die alten Herrschaften waren so in ihre Schachpartie vertieft, daß sie mich kaum bemerkten. Nein, vorher, gnädige Frau; das kann auch nur Lucie rathen.“

Das Mädchen schüttelte den Kopf und sah ihn unsicher an.

„In unserer künftigen Wohnung,“ ergänzte er und drückte die kleine Hand, bevor er sie fallen ließ. „Es ist nun Alles so weit fertig; Du kannst kommen und Dir Dein Reich beschauen, Dir die Möbel nach dem Platz bestellen und –“

„Heute waren Sie da?“ fragte Hortense.

„Eben in diesem Moment. Ich habe auch schon eine Stelle für Deinen Nähtisch gefunden, Lucie,“ fügte er hinzu, „das Fenster des Eckzimmers, welches nach der Straße hinaus sieht; ich lasse Dir da ein Blumenbrettchen vom Zimmermann anbringen.“

„Von außen scheint das Haus so klein; ich hätte nie gedacht, daß –“ unterbrach ihn Hortense.

Er lachte. „Es war ursprünglich ein Gartenhaus; es ist auch jetzt nur für ganz bescheidene Leute, gnädige Frau; eine Villa hätte ich nicht kaufen können. Aber es liegt anmuthig, ist zweckmäßig ausgebaut und ist unser eigen. Nicht wahr, Lucie?“

„Ja!“ sagte sie und blickte an ihm vorüber durch das Fenster.

Hortense saß still in ihrem Sessel. „Wann,“ begann sie, „soll denn –?“

Lucie stand auf, trat zum Flügel und blätterte in den Notenheften.

„Wann wir dort einziehen, meinen Sie, gnädige Frau? Im Herbst, denke ich, wenn die Blätter fallen.“

„Werden Sie eine Reise machen?“ fragte sie weiter.

Er lachte laut und herzlich.

[71] „Dann müßte ich nicht ein Arzt sein, der sich gerade fest niedergelassen hat, Frau von Löwen.“

„Aber Sie sind früher viel gereist?“ forschte sie.

„Viel? Nein! Aber ich kam doch durch ein gutes Stück von unserem Vaterlande und darüber hinaus.“

„Waren Sie in der Schweiz?“

Er nickte. „Ja! Und sogar weiter, in Italien. Ich bin als Student dort umher gewandert von den Ersparnissen meiner Stipendien, die ganz ansehnlich waren. Ich habe in Paris die Tuilerien besucht und in London den Tower und bin sogar einmal unter der Mitternachtssonne gewandelt.“

„Nun, dann wissen Sie ja zur Genüge, wie schön die Welt da draußen ist.“

„O herrlich! herrlich!“

Hortense lächelte jetzt. „Glauben Sie, daß andere Leute auch gern einmal reisen?“

„Ein Narr, wer es nicht thäte!“

Die junge Frau war aufgestanden und faßte seine Schulter. „Gefangen!“ rief sie fröhlich wie ein Kind.

„Ich? – Wie? – Was?“

„Sie müssen jetzt!“

„Was denn?“

„Lucie mit mir auf acht Wochen verreisen lassen.“

Er hatte sich erhoben und sah erstaunt zu seiner Braut hinüber, die stumm am Flügel lehnte.

„Lucie – Du – jetzt?“ fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich will nicht,“ sagte sie.

„O, sie will! Sie hat die größte Lust, lieber Herr Doktor, denken Sie doch, daß sie kaum aus der Provinz gekommen ist.“

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, aber antwortete nicht.

„Wir sprechen zu Hause darüber, Lucie,“ sagte er endlich. Die Farbe war noch nicht wieder in sein Antlitz zurückgekehrt. Das Mädchen versuchte zu lächeln; doch es mißlang, stumm nahmen sie Platz. – Es war ein seltsames Stürmen in Beider Herzen.

Er kennt die Welt,“ dachte sie, „er hat alles Schöne genossen, Du wirst es nimmermehr sehen!“ – Und er sah starr auf den blinkenden Theekessel. „Sie will Dich verlassen in der seligsten Zeit des Lebens, im Brautstande!“

Eine lange Pause entstand. Hortense räumte die Bilder in die Mappe und die fremdländischen Sächelchen in ihren Behälter, und als sich noch immer kein Wort finden wollte, setzte sie sich an den Flügel und begann zu spielen, als wollte sie den beiden stillen Menschenkindern einen Grund für ihr Schweigen geben. – Hortense spielte sehr schön und hatte eine tiefe klare Altstimme. Aber wie in ihren Lebensanschauungen herrschte auch hier die düstere Richtung vor. Meisterhaft erklang der Chopin’sche Trauermarsch unter ihren Fingern.

Sie spielte öfter vor dem jungen Paare; Alfred hatte seine Braut zuweilen abgeholt und war ein so andächtiger Zuhörer gewesen, wie es das schöne Spiel verdiente. Heute wogte es unheimlich vor seinem Ohr und drang nicht ans Herz. Er erwachte erst aus seinen Träumereien, als Hortense’s Stimme durch das große Gemach schwebte. Sie sang ein Eichendorff’sches Lied: die Sehnsucht eines jungen Herzens, mit hinaus in die Welt ziehen zu können:

„ – – von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Landen verwildern,
Palästen im Mondenschein –
00000000
Ach, wer da mitreisen könnte,
In der schweigenden Sommernacht – “

Der Doktor hob den Kopf. Ach, Jugend und Sehnsucht! Und er erinnerte sich mit Entzücken, wie er zum ersten Male den Rhein bei Bingen erschaut. Hatte er ein Recht, das junge Herz seiner Braut um solch reine Freude zu betrügen? Nein! Sie sollte sehen und staunen. Aber mit ihm. Sie war noch so jung, sie konnte noch warten, und dann, wenn er hier festen Fuß gefaßt, dann – wie kam er dazu, jene reine Freude, die ein junges Menschenherz empfindet, schaut es Gottes schöne Welt, diese Hortense sehen zu lassen, er, dem dies Herz gehörte? Niemals! – Und wie er jetzt seine Blicke auf sie richtete und ihre zierliche Gestalt betrachtete, die großen Augen, die unter den langen Wimpern hervor wie träumend in das Leere schauten, und den schmerzhaft verzogenen kleinen Mund, da kam ein inniges Mitleid über ihn. „Versteht sie Dich wohl, kann sie Dich lieb haben?“ fragte er sich.

„Komm, Lucie,“ sagte er ruhig und erhob sich, „daheim warten sie auf uns.“

Sie stand wie ein folgsames Kind auf und holte ihren Regenmantel. Hortense machte keinerlei Einwendungen, sie reichte dem Doktor die Hand und drückte Lucie an sich.

„Auf Wiedersehen!“ rief sie ihnen noch nach und bog sich über das Geländer der Treppe, die das junge Paar stumm hinabschritt.

Zu Hause herrschte noch dieselbe trostlos öde Stimmung. Frau Steuerräthin saß auf dem nämlichen Platz, Tante Dettchen war vom Schlaf erwacht und las beim letzten Tagesschein in ihrem schmutzigen Leihbibliothekbuch. Das kleine erbärmliche Dienstmädchen sah in ihrem knappen schwarzen Konfirmationskleide, das sie zu Ehren des Sonntags trug, noch dürftiger und verhungerter aus als sonst und deckte den Tisch nebenan so geräuschlos, als wären die Teller von Filz. Sie saßen dann auch sehr bald in der Hinterstube beim Essen, aber es wollte kein Gespräch in Fluß kommen.

Endlich nahm die Mutter das Wort.

„Nun, Alfred, wie ich höre, warst Du in Deinem Hause? Pastor Rißmann hat Dich darin umhersteigen sehen; wie gefällt es Dir denn?“

„Ich bin recht zufrieden,“ erwiderte er.

„Weil wir heute Nachmittag gar nichts vorhatten, haben wir die Tapetenprobe besehen, die Kunze gestern schickte, das heißt Dettchen und ich – Lucie war ja nicht da,“ setzte sie mit einem Seitenblick auf das Mädchen hinzu.

„So, so! Sind sie hübsch?“

„Es sind sehr praktische Master darunter, bedeckter Grund und matte Farben. Der Tischler kam auch heute Nachmittag und meinte, er möchte nun bald seine Bestellung haben, weil er noch vor dem September Lieferungen für eine Fabrik übernommen hätte. Ich sagte ihm schon, Ihr reflektirtet nur auf sehr einfache und praktische Sachen. Er wollte durchaus ein Büffett anpreisen, das er im vorigen Jahre auf der Ausstellung gehabt hat. Unsinn! Ein Büffett! Es ist gräßlich unpraktisch, oben drauf verstaubt Alles, und beim Abwischen wird’s zerschlagen.“

„Aber heut zu Tage!“ fiel Tante Dettchen ein.

„Dettchen, ich bitte Dich!“ sagte die Schwägerin, und Dettchen verstummte. Sie hatte im Laufe des Nachmittags so unendlich viele Seufzer über die dreitausend Thaler gehört, die Lucie als einziges Heirathsgut einbrachte, und die nicht hin und nicht her langen wollten, daß sie aus Angst, der kleinen Braut möge weh geschehen, nichts mehr zu sagen wagte.

„Nun, darüber werden wir uns schon einigen,“ meinte er und nahm ein paar Radieschen, „nicht wahr, Lucie? Zuvörderst müssen wir das Haus ausmessen. Aber Ihr entschuldigt wohl, ich habe noch einige Atteste zu schreiben. Gesegnete Mahlzeit, meine Damen.“

Er stand auf, schob seinen Stuhl an den Tisch und verließ das Zimmer. In der Thür wandte er sich noch einmal um. „Ach, Lucie, auf ein Wort.“

Sie folgte ihm in seine Stube und lehnte sich dort an den alten birkenen Sekretär, der noch von seinem Vater stammte. Es war ein kahler, ungemütlicher Raum. Ein Bücherschrank rechts und ein Instrumentenschrank links vom Sofa, davor ein runder, vom Alter schief gewordener Tisch, bedeckt mit Büchern, zwischen den Fenstern ein Spiegel, dessen Konsole Wasserflasche und Gläser trug, ein gelblicher baufälliger Kachelofen, einf uralter Lehnstuhl, und über alledem ein eigenthümlich scharfer Duft wie von Karbol oder Aehnlichem. Ihr wurde auf einmal körperlich ganz elend.

„Lucie,“ begann er –

„Ich weiß,“ unterbrach sie ihn, „ich will ja gar nicht reisen.“

„Das ist gut! Ich hätte es auch nicht gestattet.“ Sie zuckte empor. „Ich will nicht!“ Sie betonte das „will“ hart.

„Das trifft sich gut,“ erwiderte er ruhig, aber ein flüchtiges Roth färbte ihm die Schläfen, „denn nach meiner Ansicht kannst Du eine solche Einladung nicht annehmen.“

[74] „Wie wir uns stehen, Hortense und ich?“

„Nein, es spricht gegen meine Ansichten; aber darüber brauchen wir nicht mehr zu streiten, wir sind so einig – nicht wahr?“

Er hatte ihre Hände ergriffen und suchte ängstlich nach ihren Augen, aber sie sah den ehrlichen treuen Blick nicht, denn sie wandte das Gesicht.

„Mir ist nicht wohl heute Abend,“ flüsterte sie, „ich habe Kopfschmerzen. Gute Nacht, Alfred!“

„Gute Nacht!“ sagte er – es klang wie enttäuscht.

Sie ging langsam über den dunklen Flur in ihr eigenes Kämmerchen und riegelte die Thür hinter sich zu. Dann warf sie sich auf das Bett und fing leidenschaftlich an zu weinen. Trostlos öde sah es in ihrem jungen Herzen aus! Er hatte ihr nicht einmal gedankt, daß sie bei ihm bleiben wollte; er hatte einfach gesagt, er würde seine Erlaubniß verweigert haben. – War sie denn schon „angeschmiedet“? „Ach, Hortense hat Recht, er ist ein Egoist, ein Egoist!“

Nach und nach ward sie ruhiger; es kamen bessere Gedanken. Das kleine Haus; das Plätzchen am Fenster; das Glück, das mit ihnen über die Schwelle ziehen würde – noch einmal leuchtete die zage mädchenhafte Zuneigung für ihn im alten goldenen Sonnenlichte auf. Sie saß hoch auf dem Bettrande und richtete im Geiste sein Zimmer ein; so kahl, so häßlich durfte es nicht bleiben – des Vaters Stube, wie freundlich hatte sie ausgesehen! Daneben mußte das ihrige liegen, und auf beiden Seiten der Hausthür sollten Kletterrosen gepflanzt werden. Sie sprang empor, sie hatte auf einmal eine heiße Sehnsucht, ihm freundlich „Gute Nacht!“ zu sagen.

Sie schlüpfte hinaus und drückte scheu auf die Klinke seiner Stubenthür. Lampenlicht floß ihr entgegen; er saß und schrieb und blickte nicht auf.

„Alfred!“

„Ja! Entschuldige mich, Kind – hat’s nicht Zeit bis morgen früh?“

Sie zog die Thür wieder ins Schloß und kehrte in ihr Zimmerchen zurück. Sie stellte sich an das offene Fenster und schaute hinaus in die schweigende Ruhe der Gärten. Der Westwind trug ihr als einzigen Laut das Pfeifen einer Lokomotive und das verhallende Rasseln und Rollen der Wagenreihe zu; der Schnellzug flog an dem kleinen Städtchen vorüber in die Welt, in die schöne Welt hinaus.

Ach, wer da mitreisen könnte! – Es war hier Alles so anders, wie sie gedacht, so – kahl, so öde, so nüchtern!

Wenn Hortense allein fortginge! Es fuhr ihr schreckhaft durchs Herz – sie liefe ihr nach, ja gewiß, sie liefe ihr nach! Ohne Hortense mochte sie nicht mehr leben.

Und jede einzelne Stunde, die sie da drüben zugebracht, zog an ihr vorüber, von dem grausen Anfang bis heute. Es ist doch sonderbar, daß man Jemand so lieb haben kann, den man vor Wochen kaum noch gekannt, der so das vollkommene Gegentheil von Einem selbst ist! Hortense hatte sie aus ihrem gedankenlosen Dahinleben aufgerüttelt, Hortense hatte ihre unbestimmte, schlummernde Sehnsucht nach dem Schönen des Lebens geweckt; sie hatte eine Ahnung bekommen, was das Leben sein kann.

Sie schloß die Vorhänge, zündete ein Licht an, holte ihre kleine Briefmappe aus der Kommode und schrieb an ihre Schwester:

 „Liebe Mathilde!

Verzeihe nur, wenn ich so lange nichts von mir hören ließ; ich hatte wenig Zeit; meine Schwiegermutter wirthschaftet tüchtig mit mir herum, und Nachmittags muß ich Besuche mit ihr machen; in meiner freien Zeit aber bin ich bei Hortense. Liebe Mathilde, wenn sie nicht wäre – ich würde vor Sehnsucht nach Dir und den Kindern sterben! Alfred ist –“

Hier brach sie jäh ab; sie erinnerte sich schreckhaft, daß sie ihrer Schwiegermutter nicht „gute Nacht“ gesagt. Eilig schloß sie die Mappe in den Schubkasten und ging, die alte Dame aufzusuchen. Aus Alfred’s Thür fiel ein schmaler Lichtstreif auf den dunklen Flur, und die scharfe Stimme der Mutter drang in ihr Ohr:

„Du bist zwar groß geworden, Alfred, aber nimm es mir nicht übel, doch noch derselbe –“ sie stockte.

„Dumme Junge!“ ergänzte er, „das wolltest Du doch sagen? Du kannst Recht haben.“

„Ich habe Dich genug gewarnt, aber wer nicht hören wollte, warst Du! Und daß Du nicht einmal das Herz hast, zu sagen: ‚Diese Lauferei zu der Löwen hat jetzt ein Ende, Punktum!‘ das – das – –“

„Ist eine Schwäche von mir? Da hast Du wieder Recht,“ scholl seine Stimme in dem Augenblick, als Lucie ihre Thür wieder zumachte.

Sie stand mit fest auf einander gepreßten Lippen in dem kleinen Raum, die Hände zur Faust geballt. Das sollten sie nur versuchen! Sollten nur wagen, ihr das einzige Licht zu nehmen in diesem dürftigen, kahlen, entsetzlichen Leben!

Sie warf sich auf ihr Bette und starrte in die Dunkelheit.

„Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen; ich wollte, ich wäre todt!“ sagte sie vor sich hin. Und so lag sie, ohne Thränen in stummem Zorn, bis zum Tagesgrauen.

[85] Am andern Morgen stand Lucie blaß und überwacht in der Küche und plättete die Hauben und Spitzen ihrer Schwiegermutter. Tante Dettchen saß am Küchentisch und pahlte Erbsen aus. Man hörte weiter nichts als das leise Klirren der Plätte, die hin und her geschoben wurde, und dann und wann einen unterdrückten Seufzer von Tante Dettchen. Das Fenster stand offen, eine blendende Helle strahlte herein und machte, verbunden mit dem sprühenden Kohlenfeuer, den Kopfschmerz des jungen Mädchens noch unerträglicher.

[86] Frau Steuerräthin befand sich in der Wohnstube und besserte Wäsche aus. Alfred war längst in seiner Praxis beschäftigt.

Tante Dettchen hatte etwas auf dem Herzen. Verschiedene Gespräche, die sie begonnen, waren wieder eingeschlafen ohne die richtige Wendung zu finden; nun fragte sie geradezu. „Hattest Du etwas mit Alfred, Kind?“

„Nein,“ sagte Lucie und schob einen frischen Stahl in die Plätte.

„Ihr seid ein recht sonderbares Brautpaar,“ fuhr das alte Fräulein klagend fort, „der Eine hier, der Andere dort – ich habe es mir so ganz anders vorgestellt. Deine Schwiegermutter ist ganz alterirt darüber; sie denkt, Du vernachlässigst ihn über der Löwen. Ich meine aber, es ist anders. ‚Paß auf,‘ sagte ich, ‚er ist nicht aufmerksam genug, er küßt sie so selten.‘ – Na ja, es ist wohl richtig, Alfred hat mehr zu thun, gerade im Anfang seiner Thätigkeit; aber ich bilde mir ein, das hast Du übelgenommen. Gelt, Kind?“

Lucie war dunkelroth geworden. „Aber, Tante, ich bitte Dich!“ sagte sie verletzt.

„Nun, das ist nicht bös gemeint,“ beschwichtigte die kleine dicke Dame und nahm ein paar Erbsen mit den Lippen von ihrer flachen Hand. „Er ist so ernst und so viel fort, und wenn man jung ist, da denkt man so anders vom Brautstand. Aber, Kind –“ und auf einmal funkelten Thränen in den gutmüthigen Augen, „er war von jeher so still, so eigenthümlich; Du mußt es ihm nicht übel deuten. Er ist eine Seele von einem Mann, das wirst Du erst einsehen, wenn Du lange neben ihm gelebt hast, ich habe ihn auf den Armen getragen – er ist eine Seele, glaube es mir.“

Lucie sah nicht auf von ihrer Wäsche. „Ich nehme es ihm ja nicht übel,“ erwiederte sie matt.

In diesem Augenblick klopfte es an die Thür, und auf Tante Dettchen’s „Herein!“ erschien der alte Diener des Herrn von Meerfeldt, in der Hand einen prachtvollen Rosenstrauß und ein Briefchen, unter dem Arm das Juchtenköfferchen mit Hortense’s Reiseandenken.

„Eine Empfehlung von der gnädigen Frau.“

Als flöge der Abglanz aller Rosen über das blasse Mädchengesicht, so glühte es auf. Hastig las sie das Billet und sagte jetzt lächelnd: „Viele Grüße, und ich würde kommen.“

Der alte Mann setzte das Köfferchen auf den Küchentisch und verschwand. Kopfschüttelnd sah Tante Dettchen, wie Lucie das Billet noch einmal las und es dann zusammengerollt wie eine Blume zwischen zwei Knöpfe ihrer Kleidertaille schob, das Gesicht in die Rosen preßte, sie sorglich in Wasser stellte und ansprengte und dann mit ihren Schätzen rasch aus der Küche verschwand. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück und plättete weiter.

Tante Dettchen war erstaunt. Nach einem Weilchen kam Alfred erhitzt und eilig.

„So fleißig?“ sagte er im Vorbeigehen an der Küchenthür, und. „Hast Du Lust, heute mit mir die Wohnung anzusehen, Lucie?“

„Wann?“ fragte sie.

„So gegen Abend; wir können uns dort vielleicht um sechs Uhr treffen.“

„Ich werde kommen, Alfred.“

„Adieu, Schatz, ich muß weiter.“

Er ging.

Lucie hatte die Arbeit beendet und saß nun in der Wohnstube; ihr Kopf schmerzte unerträglich. Die Schwiegermutter klapperte mit Scheidemünze an ihrem Schreibtisch und schalt auf das Dienstmädchen, das eben vom Markt heimgekehrt war; es fehlte ein Fünfzigpfenniger.

„Gleich gehst Du und fragst herum, wo Du zuwenig bekommen hast! Kannst Du, Gans, nicht besser aufpassen?“

Das Mädchen verschwand, und die alte Dame, froh, daß sie einen Ableiter ihres inneren Grimmes gefunden, schalt weiter: es sei kein Verlaß mehr auf die heutigen Menschen; alles Gute und Tüchtige verschwinde aus der Welt; Dummheiten im Kopfe und kein Ernst im Herzen! Und so sei es in allen Ständen. Wenn sie bedächte, wie es in ihrer Jugend gewesen, so schlicht und recht und einfach! Auf die Dienstboten habe man Häuser bauen können und die jungen Mädchen seien beglückte Bräute gewesen; dergleichen verrückte Allotria wie heute hätten noch nicht ihre gesunden Herzen und Sinne verdorben gehabt. Das Beste, Schönste sei aber gewesen, einen braven Mann zu bekommen und eine gute Hausfrau zu werden!

Lucie fühlte jedes Wort wie einen Stich. War sie denn wirklich so schlecht? Hatte sie allein Schuld? Ach, sie war so mit dem ganzen Herzen voll Liebe und seliger Hoffnungen hergekommen; sie wußte selbst nicht, wie Alles so rasch gewelkt. Sie legte die Arbeit hin und stand auf.

„Entschuldige mich,“ bat sie, „ich habe so arge Kopfschmerzen.“

„Nun, so lege Dich nieder!“ fuhr die alte Dame ärgerlich auf. Und als sie ihr blasses Gesicht erblickte, fragte sie: „Leidest Du oft daran?“

„Zuweilen.“

„Na ja, die heutigen Nerven!“ Damit war Lucie entlassen.

Sie aß nicht zu Mittag und kam erst gegen drei Uhr zum Vorschein, zum Ausgehen gerüstet. Die Frau Steuerräthin nahm eben ihr Schwarzseidenes aus dem Kleiderschrank auf dem Flur; sie war zu einem Kaffee ausgebeten.

„Nun?“ fragte sie, „geht es besser mit den Kopfschmerzen?“

„Noch nicht, aber ich denke, es wird mir gut thun, in die frische Luft zu kommen.“

„Die giebt’s freilich nur bei Löwen’s,“ war die schneidende Antwort.

Lucie wehrte sich nicht; sie zwang sich zu einem freundlichen „Adieu, Mutter“ und ging.

Sie fand Hortense im Pferdestalle und im Reitkleide; sie war eben von einem Spazierritt heimgekehrt. Die junge Frau hatte ein Körbchen voll Brotstücken und Mohrrüben am Arme und fütterte ihr Pferd, während der Reitknecht den Liebling sorglich mit einem wollenen Tuche abrieb. Sie war so in ihr Thun vertieft, daß sie die Eintretende erst gewahrte, als sie dicht neben ihr stand.

„Wie siehst Du aus?“ fragte Hortense und betrachtete erschreckt das blasse Gesicht der Freundin. Sie stellte den Korb auf den Futterkasten und zog das Mädchen aus dem Stalle, hinauf in ihr kühles Zimmer. „Jetzt legst Du Dich auf die Chaise-longue! Die Jungfer soll Dir starken Kaffee kochen.“

Sie gab die nöthigen Anweisungen, verdunkelte die Stube, kleidete sich um und nahm dann neben Lucie Platz.

„Nun sage mir, was hat es gegeben, Liebchen?“

„Nichts, Hortense, nichts,“ erwiederte Lucie müde.

„Das rede einem Andern vor; Du grämst Dich um irgend etwas. Höre, mein Schatz,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „Du kommst mir genau so vor wie die Palme, die der Großpapa aus dem feuchten warmen Gewächshause in sein tabaksdunstiges Zimmer genommen hat – sie kann die Luft nicht vertragen, sie ist krank geworden.“

„Ich weiß es nicht,“ erwiederte das Mädchen, dann brach sie in Thränen aus.

Hortense nahm ihre Hand. „Ich will Dir etwas erzählen,“ sagte sie langsam und laut, „Du liebst ihn nicht!“

Das Schluchzen verstummte.

„Hortense!“ stammelte Lucie und saß hoch im nämlichen Augenblick, während ihre kleinen Hände an die Schläfen fuhren, als vermöge sie nicht zu fassen, was sie eben gehört.

„Doch! Ich glaube bestimmt, Du liebst ihn nicht,“ wiederholte die junge Frau.

„Aber, Hortense,“ fragte das Mädchen athemlos, „wie kommst Du darauf? Wie willst Du wissen –“

„Liebe sieht anders aus,“ erwiederte die junge Frau kurz. „Ich war ja einmal so thöricht – ich weiß es. Ich will Dir sagen, wie es gekommen ist mit Euch,“ fuhr sie fort und blieb mit dem englischen Riechsalz in der Hand vor Lucie stehen, „man hat Dir von jeher eingebläut, daß eine Heirath das Einzige ist, wodurch ein Mädchen selig wird. Gestehe es nur – nicht wahr?“

„Ach Gott, Hortense, es ist wohl berechtigt gewesen; es ist unsere Bestimmung.“

„Na, siehst Du? Nun bist Du zwanzig Jahr alt geworden, hast da bei Deinem Schwager herumgesessen als Erzieherin und Stütze der Hausfrau, nicht gerade unnütz, aber auch nicht unentbehrlich, und hast die Geschichte endlich so ein klein wenig langweilig gefunden. Sprich ehrlich, Lucie!“

„Hortense! Ich? – Nein – Du verkennst die Lage.“

„Du hattest auch schon daran gedacht, es könne vielleicht sein, daß Du diese einzige richtige Bestimmung der Frau nicht erfüllen würdest, weil sich bis dahin Keiner gefunden, der – [87] selbstverständlich spreche ich Dir die Kourmacher nicht ab; Du bist eine zu süße kleine Person – aber Du hattest so ganz und gar keinen anderweitigen klingenden Vorzug, daß sie Alle nur Kourmacher blieben. Und da auf einmal stand Dein Doktor vor Dir mit einem wirklichen Heirathsantrag – Du hattest nie an ihn gedacht, Du kanntest ihn kaum! Und nun fielen sie Alle über Dich her: das große Glück! Ein armes Mädchen, so einen netten braven Mann zu bekommen! … bis Du selbst glaubtest, der Himmel habe das ganze Füllhorn seiner Gnade über Dich ausgeschüttet, und Dir einbildetest, Du liebtest ihn bis zum Sterben.“

Lucie saß starr dabei. Sie dachte an den Augenblick, da ihr ältester zehnjähriger Neffe wie toll die Treppe hinauf gesprungen und in ihr Stübchen gestürzt war: „Tante Lucie, Du hast einen Bräutigam gekriegt! Du sollst rasch hinunterkommen!“ – Und wie sie mit wankenden Schritten die Treppe hinabgegangen, an deren Fuß Mathilde sie erwartet, mit Thränen sie in die Arme genommen und ihr zugeflüstert hatte: „Ach Lucie, welch großes Glück!“ – Sie sah sich vor ihm stehen und hörte seine ruhigen, freundlichen Worte, und dann waren sie plötzlich Alle im Zimmer, und der Schwager hatte ihr die Schulter geklopft: „Du Wetterhexe, da hast Du einmal etwas Rechtes fertig gebracht. Habt Ihr Euch schon einen Kuß gegeben? Na, nur vorwärts, zur Zeit schmeckt’s gut und süß!“ Da hatten sie sich geküßt, und sie war roth geworden, und die Erwachsenen hatten gelacht und die Kinder gejubelt und die Dienstboten gratulirt.

Aber Keiner hatte sie gefragt: „Liebst Du ihn denn? Willst Du ihn?“

Sie hatte es auch nicht vermißt. Sie hatte ein ruhiges, stilles Gefühl der Sicherheit in seiner Nähe, ein schüchternes Bewußtsein von Wichtigkeit und Würde. War das Liebe gewesen? Sie wand die Hände in einander und wußte kein Wort zu sagen.

„Und nun,“ redete die junge Frau weiter, nachdem sie das Flakon an die feine Nase gebracht und den scharfen Duft eingezogen hatte, „nun bist Du hier, und nun fängt’s bereits in Deinem Kopfe an zu dämmern, daß denn doch vielleicht ein klein wenig mehr zu einem Bunde für das Leben gehört, als etwas Achtung, als – als –“

„Hör’ auf!“ bat das Mädchen.

„Nein!“ erklärte Hortense und begann in dem halbdunklen Raume hin und wieder zu schreiten. „Nein, ich höre nicht auf! Tausend Mädchen sind auf diese Weise verheirathet und tausend sind ganz zufrieden damit, die Meisten merken es auch erst lange nach der Hochzeit, wie schrecklich gleichgültig sie sich doch eigentlich von jeher gewesen sind, aber Du, Du bist eine viel zu ideale Natur, Lucie! Du wirst es schwerlich aushalten, in dem kleinen Hause zu sitzen, die Last der Wirthschaft zu tragen, ein halbes Dutzend Kinder zu haben und zu erziehen, alle Sorge, Krankheit und Noth, die das unbarmherzige Leben dem Weibe aufbürdet, für einen Mann zu ertragen, den Du nicht liebst!“

Lucie schwieg, sie hielt die Hand über die Augen, sie stöhnte wie Jemand, der arge körperliche Schmerzen leidet, und in ihrem Herzen schrie es auf, zustimmend und angstvoll. Sie konnte nicht leben neben ihm, so unbeachtet, so fremd, so kalt und baar jeder innerlichen Gemeinschaft.

Hortense schritt noch immer auf und ab. Nun kam sie herüber und kniete vor dem Mädchen nieder.

„Habe ich Dir wehgethan? Vergieb mir! Ach, ich kenne ja leider die Schwächen der Menschen zu gut!“

Ein paar große Tropfen rollten über des Mädchens Wangen.

„Lucie, weine nicht, ich habe Dich lieb. Du bist das Einzige, was ich auf der Welt lieb habe, wenn Du kommst, dann ist’s wie Sonnenschein in meinem Herzen. Und als ehrliches Menschenkind, das die Erfahrung voraus hat, mußte ich offen sprechen, nicht wahr? Sieh, Du kamst hier an, rosig wie eine Apfelblüthe, und Du solltest Dich jetzt sehen! Du hast einen Zug um den Mund, als wärst Du um Jahre gealtert.“

„Ich fühle mich grenzenlos unglücklich bei seiner Mutter,“ flüsterte das Mädchen endlich, „sie hat eine Abneigung gegen mich von der ersten Minute an gehabt, es wird aber anders werden, wenn ich –“

Hortense stand auf und blickte mitleidig zu ihr hinunter.

„Nein, Hortense, nein,“ schrie Lucie, „verlange das nicht! Ich darf nicht!“

„Aber, liebes Herz, ich will Dich doch nicht von ihm reißen!“ Sie hockte wieder neben ihr. „Nur das Eine laß Dir sagen in diesem Augenblick. Was Du auch beschließen magst, in jeder Lebenslage, in jeder Noth rechne auf mich, wo ich bin, hast Du auch Platz; vergiß das nicht!“

Sie erhob sich dann, zog von dem entferntesten Fenster den Vorhang zurück und setzte sich still mit einem Buche nieder, das Mädchen seinen Gedanken überlassend.

„Apropos,“ sagte sie nach einer Pause, „wie ist’s denn mit der Reise? Großpapa war ganz glücklich über diesen Gedanken.“

„Ich – es ist mir nicht möglich, Hortense.“

„Dann bleiben wir hier,“ tönte es freundlich gelassen zurück.

„Nein, nicht meinetwegen. Reise, reise, ich bitte Dich darum!“

„Ohne Dich ist es mir kein Genuß!“

Nun war es Lucie, die aufsprang und zu Hortense herüber kam. „Wenn ich Dich nicht hätte!“ schluchzte sie leidenschaftlich, „wenn Du nicht wärst – verlasse Du mich nicht!“

Den Rest des Nachmittags saß sie neben Hortense, diese las vor, aber wenn sie aufblickte, kehrten Luciens Augen aus irgend einem Winkel zurück, in den sie starr und abwesend hineingeblickt hatte.

„Aber, Luz!“

„Ich höre ja, Hortense,“ sagte sie. die junge Frau anlächelnd, und ergriff ihre Hand. „Lies weiter!“ – Mitten in einem Satze sprang sie auf: „Adieu, ich muß fort!“

„Wohin?“

„In das neue Haus – lebe wohl!“

Sie warf einen ängstlichen Blick auf die schwarze Marmoruhr und setzte mit zitternden Händen ihr Hütchen auf.

„Ach Gott, ich hatte es ganz vergessen, er wartet.“

Hortense sah ihr ruhig zu. „Ich bitte Dich, Kind, wenn er nun wirklich ein paar Minuten wartet?“

Aber Lucie eilte schon den Korridor hinab, und als Hortense ins Zimmer zurückkehrte, verschwand das lichte schlichte Sommerkleid des Mädchens eben in der dunklen Wölbung des Thorweges.




Doktor Adler war inzwischen zur verabredeten Zeit seinem neuen Eigenthum zugeschritten. Es lag im Mittelpunkt der Stadt hinter einer mäßig hohen Mauer, die, anstatt der Hauswand, die Straßenfront bildete, und umgeben von einem kleinen Garten, der hier wie eine Oase zwischen den Häusern und Straßen grünte. Irgend ein alter konservativer Bürger hatte sich, auch zur Zeit als die Eisenbahn eine kurze Bauepoche in das Städtchen brachte, trotz des annehmbaren Preises für Baustellen, nicht dazu entschließen können, seinen Garten zu verkaufen; nun war er kürzlich gestorben. Die Gründerzeit hatte hier eben so plötzlich ihr Ende erreicht, wie draußen in der großen Welt, und Doktor Adler war es nicht allzu schwer geworden, das Grundstückchen zu erstehen.

In der Mauer war die enge kleine Pforte verschwunden, und ein neues Flügelthor aus Eisenguß gewährte einen Blick auf Haus und Garten. Er stand einen Moment und sah durch das Gitter, als sei er ein Fremder. Noch lag Schutt und Gestein, Lehm und Kalk vom Bau umher, aber die Wände des Häuschens leuchteten schmuck und weiß aus grünem Laub hervor, und die Fenster blinkten ihm hell und traulich entgegen. Langsam öffnete er die Pforte und ging den Mittelweg hinauf, überall sich umschauend, als suche er etwas und freue sich auf etwas.

Die Hausthür, die von der Giebelseite ins Innere führte, war geschlossen. Er zog, immer sich umschauend, den Schlüssel aus der Tasche und trat ein, seine Schritte hallten in dem leeren Flur. Und wieder blieb er sinnend stehen und ein herzgewinnendes freundliches Lächeln flog über sein Gesicht; dort drüben, durch die offene Thür, blinkte ihm ein weißer Kachelherd entgegen, und darüber leuchtete in gothischer Schrift der alte traute Spruch: „Ein eig’ner Herd ist Goldes werth“. – Er kam näher, lehnte sich in den Rahmen der Küchenthür und blickte schier andächtig in dem kleinen Raume umher. Dann wandte er sich und ging in ein mittelgroßes Zimmer neben der Küche: das sollte das Eßzimmer werden. In der Mitte würde ein großer runder Tisch stehen. Zwei kleinere Räume, die hatte er für sich ausersehen, [88] Wartezimmer und Arbeitsstube. Wieder stand er und betrachtete vom Eckfenster aus die Sandsteinstufen die zur Hausthür emporführten. Es ist so ein eignes Haus wie ein lebendiges Wesen. „Wir gehören nun zusammen, wir erleben gemeinschaftlich, was da kommt,“ spricht es. Und des Mannes Gedanken flogen in die Zukunft; wird das Glück mit uns einziehen über diese Schwelle? Wird die Zufriedenheit hier bei uns wohnen? Die Zufriedenheit und der süße Gottesgast, der Friede?

Es war ihm wunderbar weich ums Herz in diesem Augenblick. Unter den Bäumen dort drüben sah er im Geiste ein liebliches blondes Weib, rosige gesunde Kinder, ein trautes stilles Glück. Er fuhr sich plötzlich über die Augen, da stand sie ja wirklich im lichten Sommerkleide, die Augen auf die Hausthür gerichtet, aber nicht wie er sie eben gesehen. Die weichen Züge hatten einen fast verstörten angstvollen Ausdruck.

Er bemerkte es nicht. Er ging hinaus ihr entgegen. „Willkommen!“ sagte er einfach, „das ist nun unser Heim!“

Sie gab ihm flüchtig die Hand. „Ist Tante mit hier?“ Und als er verneinte, blieb sie zögernd stehen.

„Ich meinte, wir Beide, die wir hier wohnen sollen, würden besser allein einig über die Bestimmung der Zimmer. Ich liebe das Dazwischenreden Anderer nicht.“ sagte er und trat zur Seite, um sie in die Thür gehen zu lassen. „Du sollst allein bestimmen.“

Sie traten Beide in das Haus.

„Sieh, die Pforte zu Deinem Reich steht offen,“ sprach er, auf die Küche deutend. „Willst Du nicht hineingehen?“

Sie war mitten im Flur stehen gehlieben; nun schüttelte sie leise den Kopf.

„So wollen wir mit den oberen Räumlichkeiten beginnen.“

Gehorsam schritt sie die mäßig breite Holztreppe hinan und trat in ein völlig leeres Zimmer. Die Fenster gingen nach der Hinterseite, hohe Bäume vor den Fenstern schufen ein fast spukhaftes Dämmerlicht in diesem Raume, und unter ihren Zweigen hinweg sah man über einen schmalen Grasplatz auf das stille, langsame Flüßchen, das, hier die Grenze des Gartens bildend, die Stadt durchzieht.

Es war ihr, als sollte sie ersticken in dem niedrigen kleinen Gemach. Sie fand keine Worte.

„Gefällt es Dir?“ fragte er.

„Ja,“ sagte sie tonlos.

Er war neben sie getreten, und wie er sie so stehen sah, den Kopf von ihm abgewandt, die kleine bebende Hand an den Fenstergriff gelegt, da war es, als ob den sonst so ruhigen Mann plötzlich die Leidenschaft packte in dieser heimlichen Stille und Einsamkeit, wo die selige Zukunft aus jedem Winkel des Hauses lugte, aus jedem Blatt des Gartens winkte. Er zog das Mädchen in seine Arme und küßte ihren Mund so heiß, wie nie bisher.

Empört stieß sie ihn zurück.

„Lucie!“ sagte er vorwurfsvoll, und sich herunterbeugend sah er in ihr Gesicht. Er erschrak, so grünlich bleich schaute es ihn an. „Was fehlt Dir? Bist Du krank?“

„Nein!“

„So bist Du psychisch leidend. Warum sprichst Du Dich nicht aus, Lucie? Was ist Dir? Sage es mir! Du bist furchtbar verändert seit ein paar Wochen.“ fuhr er fort, „ich habe Dich nie mehr lachen hören – fühlst Du Dich unglücklich?“

Sie sah an ihm vorüber und schüttelte den Kopf. Todeseinsam war es um sie herum.

„Ich denke, es ist das Beste,“ nahm er wieder das Wort, „wir beeilen uns mit dem Fertigstellen unseres Heims, und Du kommst dann zu mir; ich –“

Eine jähe Röthe färbte ihr Gesicht. „O nein, nein!“ stammelte sie.

Ueberrascht blickte er auf. „Was hat dieses ‚Nein!‘ für eine Bedeutung?“

Sie preßte die Lippen auf einander und athmete schwer, in ihren Augen lag es plötzlich wie stumme Entschlossenheit.

Warum dies ‚Nein‘?“ fragte er noch einmal. „Freust Du Dich nicht mehr auf Dein Heim?“

Selbst eine harmlosere Natur hätte diese heiße Röthe nicht für mädchenhafte Scham halten können.

„Antworte,“ rief er heftig, „was heißt dies ‚Nein‘? Reut Dich Dein Wort?“

Einen Augenblick flog es wie zuckender Schreck durch ihre Glieder, dann neigte sie stumm den Kopf, ein langes unheimliches Schweigen entstand. An den Fensterscheiben trieb ein Falter sein Spiel, der sich hier hereinverirrt; man hörte in dem schwülen Gemache nur das leise Schwirren der Flügel und das Stoßen des Thieres gegen die durchsichtigen Schranken.

„Du irrtest Dich also? Du möchtest Deine Freiheit wieder haben?“ kam es endlich klanglos von seinen Lippen. Mit der Rechten stützte er sich schwer auf das Fensterbrett.

„Ja, ich irrte mich!“ sagte sie leise.

Wieder eine lange Pause.

„Dann – ja, dann!“ sprach er mühsam. „Und was nun?“

„Ich weiß es nicht.“

„Warum? Warum?“ rief er auf einmal laut und schmerzlich. Und als sie nichts erwiederte, fragte er noch einmal: „Weil Du mich nicht liebst?“

„Ja! – Nicht so wie – wie – – und Du mich auch nicht!“

„Ich Dich nicht, Lucie? Ich Dich nicht?“

Sie nickte trotzig. Du wolltest ja, daß wir uns kennen lernen sollten. Es ist gut so gewesen –.“

„Gut so!“ wiederholte er mechanisch.

Sie hielt die Augen gesenkt, sie wollte ihn nicht ansehen; es mußte ein Ende werden um jeden Preis. Er rührte sich lange nicht; endlich wandte er sich, ging zu dem nächsten Fenster und befreite den Schmetterling. „Komm!“ sagte er dann fast rauh.

Sie schritten die Treppe hinunter und aus dem Hause. Mit fester Hand drehte er den Schlüssel um. „Und was nun?“ fragte er noch einmal.

„Ich gehe zu Hortense – und werde meiner Schwester schreiben.“

„Zu Frau von Löwen?“

Sie hatte während der letzten Minuten eifrig und hastig an ihrem Verlobungsring gedreht.

„Auch das noch!“ sagte er, „gieb her!“ – Die beiden Ringe tauschten sich in ihren zitternden Händen aus. Die letzte flüchtige Berührung.

„Vergieb mir!“ bat sie stockend, mit unbeweglichem blassem Gesichte.

Er antwortete nicht. So schritten sie mit einander dem Ausgange zu; hinter ihnen schloß sich die Pforte des Gartens, und just in diesem Augenblick zerrissen die Wolken vor der Abendsonne und tauchten Haus und Bäume in ein rosiges zauberhaftes Licht, daß es aussah wie ein Märchendaheim.

Sie sahen es Beide. Sie standen da, als habe der Engel sie aus dem Paradiese vertrieben. Vielleicht in diesem Augenblick – wenn sie noch einmal zu ihm aufgesehen –? Sie wandte sich rasch, und ohne ein Wort ging sie nach rechts, er nach links. Sie mit wankenden unsicheren Schritten, die erst allmählich erstarkten; er hoch aufgerichtet und gerade.

[101] Lucie athmete auf, als sie am Fuße der Treppe im Meerfeldt’schen Hause stand; „die gnädige Frau sei beim Herrn Großpapa und spiele Schach mit ihm, da Mademoiselle Kopfweh habe,“ berichtete der alte Diener.

Lucie sagte, man solle sie nicht stören, sie wolle oben warten. Und nun saß sie in der sinkenden Dämmerung allein in einem der Fauteuils, den schmerzenden Kopf an die Lehne gepreßt, und in wirrem Reigen kreuzten sich marternde Gedanken hinter ihrer Stirn.

Was hatte sie gethan? War sie wahnsinnig gewesen? Er und sie getrennt für immer? Sie griff zum Herzen; es war, als sollte es stocken.

„Recht habe ich gethan! Recht!“

Dann erfaßte sie eine unbezwingliche Sehnsucht nach Hortense, um ihr zu sagen: „Hilf mir! Ich bin schutzlos, haltlos!“ - Sie stand auf und setzte sich an den Schreibtisch. Das Blotting book lag aufgeschlagen, darauf ein leeres Briefblatt. Sie tauchte die Feder ein und schrieb:

 „Lieber Georg!

Nimm mich vorläufig wieder auf bei Dir, ich kann Adler nicht heirathen. Alles Nähere mündlich; verdamme mich nicht ungehört!

     Deine Schwägerin Lucie.“

Sie überlas die Zeilen wieder und wieder; dann saß sie und dachte, wie es sein würde, wenn der Brief in der Oberförsterei anlangte; welch einen Sturm würde er aufrühren! Sie sah den Schwager am Frühstückstisch, die Postsachen lagen vor ihm „Da ist auch wieder ein Wisch von Lucie!“ hörte sie ihn sagen, „was Teufel, der ist an mich?“

Sie sah die Zornader beim Lesen sich zwischen den buschigen Brauen ringeln und hörte den Schlag mit der Faust auf den Tisch, sah ihren Brief der blassen Schwester zufliegen. „Da haben wir’s! Ich werde der Gans heimleuchten, solch verd… Unsinn!“

Und Mathilde würde weinen während des Scheltens, ohne ein Wort zu sagen, Sie meinte die Tropfen zählen zu können, die auf den blassen Wangen herunter liefen. Sie kannte solche Scenen; sie hatte sie oft, hundertmal miterlebt – und dennoch, dennoch tausendmal lieber das, als jenes kalte malitiöse Lächeln seiner Mutter, als seine pedantische gelassene Art!

Nun war es fast dunkel und noch immer saß sie allein. Sie meinte, es nicht länger ertragen zu können; da endlich öffnete sich die Thür.

„Hortense!“ schrie das Mädchen auf und flüchtete zu der schlanken Gestalt hinüber.

Du?“ fragte die junge Frau verwundert; und als sie das Zittern des Körpers fühlte, „was ist Dir, Kind.“

„Laß mich bei Dir bleiben – heute – ich habe ihm gesagt, daß – ich ihn nicht liebe.“

Hortense’s Arme schlossen sich fester um die Freundin. „Du hast recht gethan! Bleibe bei mir!“

„Nur jetzt, nur vorläufig, Hortense.“

[102] „Nein, immer, immer!“

„Hier? Das ist ja unmöglich! Ach, Hortense, mir ist so wirr, so schwer im Kopf –.“

„Hier bleiben – jetzt? Nein, Lucie! Nun reisen wir. – Laß mich, ich will Licht anzünden. Die Dunkelheit taugt nicht.“

Als die Flamme aufsprühte, ward Hortense erst die verstörten Züge des Mädchens gewahr. „Arme Maus,“ sagte sie, „so schwer ist es Dir geworden?“

„Ich habe eine Angst, eine Angst!“ stammelte Lucie.

„Du hast einfach recht gethan,“ unterbrach Hortense sie und drückte sie sanft in einen Stuhl. „Trinke ein Glas Wein, Du bist schwach. Und nun laß uns gute Kameraden sein, ich stehe zu Dir, was auch kommen möge, und so Gott will, trennen wir uns nie mehr, wir haben Beide genug von dem sogenannten Glück – wie?“

Lucie schüttelte den Kopf; ihre Zähne schlugen wie im Frost auf einander.

„Aber, Kind, wie ist es denn gekommen? Ich bitte Dich, alterire Dich nicht so, Du kannst ihm nur den kleinen Finger hinstrecken, wenn’s Dich gereut – und Du hast ihn wieder.“

Das Mädchen machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, aber sie trank den Wein, den Hortense ihr an die Lippen hielt. Eine bleierne Müdigkeit legte sich über ihre Glieder. Wie im Traume hörte und sah sie, daß ein zweites Lager in Hortense’s Schlafzimmer hergerichtet wurde, und fühlte die seidene Decke über sich. Eine weiche leise Hand hüllte sie ein, und ein paar zarte Lippen preßten sich auf die ihren.

„Schlafe wohl, wir bleiben nun immer beisammen.“

„Immer,“ wiederholte das Mädchen, und dann schlief sie ein.




Doktor Adler hatte auch geschrieben, noch denselben Abend, und zwar an Lucie’s Schwester.

Er bat sie, dem Mädchen nicht zu zürnen, besonders den Schwager zur Milde zu stimmen. Er sei sich bewußt, sein Theil Schuld an der veränderten Sinnesart des Mädchens zu tragen, da er leider wenig das Zeug besitze, einen aufmerksamen Damenhelden vorzustellen, auch habe Lucie ihn noch zu wenig gekannt, als er ihr das Wort abverlangte, und das sei wiederum sein Fehler gewesen. Fürs Dritte und Letzte aber glaube er, daß seine Mutter dem Mädchen nicht mit der erforderlichen Wärme und Herzlichkeit entgegengetreten sei, da sie schon andere Pläne für ihn gehegt, und das habe eine so feinfühlige Natur nothwendig verletzen müssen. Er sei trotzdem der festen Zuversicht gewesen, daß mit der Heirath alle diese schroffen Kanten sich geglättet haben würden. Nun, da es anders gekommen, bitte er um das Eine, das Mädchen in dem alten Zufluchtsort wieder aufnehmen zu wollen.

Er sprach kein Wort in dem Schreiben von seinem gekränkten Herzen, er entschuldigte nur.

Nachdem er den Brief gesiegelt, trug er ihn selbst zur Post und trat dann so gelassen wie immer zu seiner Mutter in die Wohnstube.

„Lucie läßt sich entschuldigen,“ begann er ohne Umschweife, „sie ist bei Frau von Löwen.“

„Natürlich!“ unterbrach ihn die alte Dame, die noch in ihrem Kaffeestaat – sie war eben heimgekehrt – vor dem Spiegel stand und ihre Blondenhaube abnahm.

„Wo sie auch bleiben wird, bis sie zu ihren Verwandten zurückkehrt,“ setzte er hinzu. Und als ein paar staunende Gesichter ihn sprachlos ansthauten, vollendete er: „Rike mag nachher die nothwendigen Sachen hinüber tragen.“ Und als noch immer das nämliche fassungslose Schweigen herrschte, setzte er wie ungeduldig hinzu, indem er nach der Thür schritt: „Lucie hat mir ihr Wort zurückgegeben.“

„Sie – Dir?“ fuhr die Mutter auf „Umgekehrt – willst Du sagen!“

„Nein, bedaure, sie – mir. Ich hätte nie daran gedacht. Entschuldigt mich, ich habe zu arbeiten.“

Er überließ es den Damen, allein mit dieser Neuigkeit vertraut zu werden, verriegelte die Thür hinter sich und saß in der Sofa-Ecke im Dunklen lange Zeit. Auf einmal wischte er sich über die Augen, sprang hastig auf und zündete Licht an, und der Lampenschein spiegelte sich in einem großen Tropfen, der an seinen Wimpern hing. Unbehilflich trocknete er ihn ab, es war die erste Thräne, seitdem er aus den Kinderschuhen getreten.

Nun nahm er den winzigen Ring, den sie getragen, und verschloß ihn in einem Schubfach, in welchem er allerlei Andenken verwahrte: seines Vaters goldene Tabaksdose, Pfeifenköpfe aus der fröhlichen Studienzeit, sein Cerevis und Kommersbuch. Dann rückte er die Lampe näher zu einem aufgeschlagenen Hefte und versuchte zu lesen, er saß lange so und starrte hinein, ohne zu wissen, was er vor sich hatte.




Zwei Tage später standen in dem Schlafzimmer der Frau von Löwen ein paar große Reisekoffer, und das Stubenmädchen schleppte die einfach eleganten Kleider der Herrin aus der Garderobe herzu, auf jedem Stuhle lag etwas, was eingepackt werden sollte, Handschuhkästen, Bücher, Papier, Schreibmappe, Operngläser. Lucie knieete stumm vor ihrem Reisekorb, den gestern Abend Rike mit Hilfe der Waschfrau gebracht, und schaute auf die flüchtig hineingeworfenen Sachen, ohne sich zu rühren. Sie sah unheimlich blaß aus.

„Was soll ich nur mitnehmen?“ fragte sie dann müde die junge Frau.

„Nicht zu viel. Du mußt schon erlauben, daß wir in Berlin Dir zu Liebe die Bekanntschaft mit meinem Schneider erneuern. Es soll ja gar nichts Großartiges werden, aber ein Reisekleid und eins für die Table d’hôte muß man haben. Du kannst unmöglich in dem hellen Kattunkleidchen in den Koupés sitzen.“

„Ach, Hortense, laß mich hier – mich ängstigt das.“

„Jetzt hörst Du auf oder ich werde böse!“ schalt die junge Frau. „Kleinigkeitskrämerin Du! Um ein paar Groschen Reisegeld machst Du solch gewaltigen Lärm? Ich bin tausendmal tiefer in Deiner Schuld – muß denn Alles nur nach Geldeswerth berechnet werden? Geh’ von Deinem Koffer, Minna wird das besorgen.“

Lucie setzte sich still ans Fenster und sah hinaus auf den einsamen Hof. Mademoiselle ging eben langsam nach der Gartenpforte, sie hielt einen grellrothen Sonnenschirm aufgespannt und streifte verdrießlich die Fenster der jungen Frau.

„Bös Wetter!“ sagte diese lächelnd. „Sie ist außer sich, daß sie daheim bleiben muß. Ich mag sie aber nicht mithaben, sie hat in jedem Hôtel eine Scene mit dem Zimmerkellner und kommt regelmäßig erst zum Vorschein, wenn man kaum noch Zeit hat, in den Zug zu springen. Sie mag allein auf Urlaub gehen, wenn wir einmal zurückkehren, meinetwegen auch früher.“

Nun ward die Schelle gezogen. „Da kommt der Briefträger,“ meinte Minna.

Lucie erschrak. Sie konnte schon Antwort haben von der Schwester. Das Herz schlug ihr zum Zerspringen. Dann flog sie vom Sessel empor und stand zitternd mitten in der Stube. „Barmherziger Gott – mein Schwager!“ stammelte sie.

Hortense war ebenfalls unangenehm berührt, sie kannte aus des Mädchens Schilderung hinlänglich seine derbe Manier. Um Alles in der Welt, nur keine Scenen! Sie sandte die Dienerin mit der Weisung hinunter, die Damen seien noch bei der Toilette, ob der Herr Oberförster sich eine halbe Stunde gedulden möge? Sie ging dem Mädchen nach und bog sich über das Treppengeländer.

„Ich wünsche Fräulein Walter zu sprechen,“ scholl es herauf. Das Mädchen antwortete dem Befehle gemäß.

„Oho!“ hörte sie die nämliche kräftige Stimme, „bestellen Sie nur dem Fräulein Walter, sie möchte sich erinnern, daß sie mir fast jeden Morgen im Hauskleide den Kaffee eingeschenkt hat.“

In diesem Augenblicke tönte der Ruf des alten Herrn von Meerfeldt dazwischen:

„Daß der Blocksberg wackelt! Remmert, sind Sie es wirklich?“

Und von der andern Seite ein lautes: „Ja, Herr Baron, so kommen die Menschen zusammen; aber lieber wäre es mir gewesen, hätten wir uns bei einem fidelen Treiben gesehen. als hier. Ich will eben meiner Schwägerin einmal die Leviten lesen.“

[103] „Ei, das können Sie später noch thun, jetzt kommen Sie nur herein! Peter, ein kleines Frühstück in das Speisezimmer! – Trinken Sie immer noch so gern Rothspohn, Remmert?“ –

Hortense kam lächelnd zurück. „Der ist besorgt und aufgehoben,“ sagte sie. „Er frühstückt mit Großpapa, und zwei Jagdkumpane zusammen beim Glase Wein – da ängstige Dich nicht, er thut Dir nichts, Luz!“

Auch über Luciens Gesicht flog ein Lächeln. Sie kannte ihren Schwager, wenn er gut gespeist und noch besser getrunken hatte; es war früher eine Quelle großer Heiterkeit für sie gewesen. „Ach, wenn Mathilde das wüßte!“ sagte sie.

„Daß er frühstückt, Lucie?“

„Er redet dann so viel,“ erklärte das Mädchen.

„Also doch wenigstens eine hervorragende Tugend.“

„Er ist sonst so gut, Hortense.“

„Sonst?“ sprach diese spöttisch.

„Er wird mich holen wollen.“

„Wir schicken ihn schon allein heim, Kind.“

Stunde auf Stunde war vergangen, da kamen schwere Tritte den Korridor entlang und Hortense öffnete die Thür selbst auf ein mächtiges Klopfen. Oberförster Remmert trat über die Schwelle, kreuzvergnügt, am Arm den alten wackligen Großpapa, dessen Antlitz eitel Sonnenglanz war über die unverhoffte, angenehme Unterbrechung seines einsamen Lebens.

„Na, Du Krott,“ schrie der große stattliche Mann das blasse Mädchen an, nachdem er vor Hortense eine Verbeugung gemacht, „hast den Handel aufgekündigt? Dann nur marsch! Pack’ ein! In Deiner Stube zu Hause hat Mathilde schon wieder Vorhänge aufgesteckt.“

„Er macht nur Spaß, kleines Fräulein,“ rief der Baron und krähte wie ein alter Hahn vor Lachen. „Er weiß schon, Sie reisen mit meiner Enkelin. Remmert, verderben Sie doch dem Kinde die Freude nicht!“

„Georg,“ bat Lucie demüthig, die unter der Wucht seiner schweren Hand, mit der er ihre Schulter gepackt hatte, fast zusammenbrach. „Georg, verzeihe mir, ich konnte nicht anders.“

„So! Du konntest nicht anders? Schöner Grund das –! Deine Schwester heult wie ein Wolf,“ fuhr der Oberförster mit gleich lauter Stimme fort. „Wir hatten gedacht, Du bist versorgt, und nun fängst Du solche Thorheiten an! Na, nun mach’ ein anderes Gesicht, Du Krott, Mathilde wird sich ja wohl trösten. Sieh zu, daß Du einen Andern bekommst, der Dir besser gefällt! Daß Du eine Dummheit gemacht hast, darüber sind wir wohl einig, was? Aber die Weiber, Herr Baron, die Weiber!“ wandte er sich an diesen, „und die Walters insbesondere, die haben den Teufel in sich! Meine Frau, dem Krott seine Schwester, die wollte mir noch zuguterletzt –“

Hier brach er in ein so herzliches, gutmüthiges Gelächter aus, daß der alte Herr und Hortense mit einstimmten.

„Mir den Laufpaß geben,“ fuhr er fort, „weil ich mich auf unserem Polterabend etwas – Pardon, gnädige Frau – angekneipt hatte. Da fand ich sie in einer Fensternische, und sie weinte zum Gotterbarmen. – Sag’ mal, Lucie, hat der Adler etwa auch –?“

„Nein, o nein!“ wehrte das Mädchen nervös.

„O Ihr Weiber! Na, dann leb’ wohl, Du kleiner Satan; Du mußt nicht etwa denken, daß ich Dir zürnen will, dazu ist mir Deine Schwiegermutter zu scheußlich. Aber er dauert mich, wahrhaftig, Lucie, er dauert mich, der arme Kerl sieht ganz blaß aus.“

„Du warst bei Adlers?“ fragte das Mädchen, die vor ihm stand. Er hielt schon geraume Zeit ihre Hand in der seinen und schüttelte sie unaufhörlich.

„Das soll wohl sein! Na, ich danke, die Gnädige, sie fauchte wie eine angeschossene Wildkatze. Aber der arme Kerl!“ wiederholte er. „Na, ich gehe jetzt zu ihm, habe ihn zu Mittag geladen in die ‚Goldene Krone‘ – darum keine Feindschaft nicht, nein! Adieu, gnädige Frau! Also Mathilde werde ich grüßen. Leben Sie wohl, Herr Baron, wie schon gesagt vorhin, Majestät hat bei der letzten Jagd siebzehn kapitale Stück auf der Strecke gehabt, und der Herzog nicht viel weniger.“

Er kniff Lucie noch einmal in die Wangen und verließ mit dem alten Herrn das Zimmer, noch vom Hausflur herauf scholl sein lautes Sprechen und Lachen.

Als er den Hof verlassen, erfüllte eine befremdende Stille Haus und Gemach. Hortense und Lucie standen am Fenster. „Nun ist’s vorbei, nun sind die Brücken hinter mir abgebrochen,“ sagte das Mädchen, sich umwendend, und legte ihre Arme um den Hals der jungen Frau.

„Weine nicht,“ sagte diese etwas ungeduldig, „Du wirst bald auf andere Gedanken kommen, wenn Du hier heraus bist. Das ganze Leben ist doch eigentlich keine Thräne werth.“

„Ich weine nicht,“ erwiderte Lucie. Und in der That, ihre Augen waren trocken, aber sie hatten einen Ausdruck von Trostlosigkeit.




Fast ein Jahr war vergangen. In dem elegant ausgestatteten Zimmer eines großen Hotels in Dresden erwachte ein junges Mädchen an einem wonnigen Maimorgen, blinzelte schläfrig in die Goldfunken, die sich durch die nicht völlig geschlossenen Jalousien drängten, und legte sich dann mit einem Ausdruck von Müdigkeit wieder in die Kissen zurück. Dabei streifte ihre Hand die thaufrischen Blätter eines Maiglöckchenstraußes, und als sie erschreckt zugriff, hielt sie die duftige Gabe mit einem gerührten Lächeln in der Hand und sagte halblaut: „Gute Hortense!“ Sie wußte, was der Strauß bedeuten sollte, heute vor einem Jahre war es gewesen, als sie ahnungslos in das Koupé flog und in die Arme der jungen Frau die sie wie in einem unsichtbaren Netze gefangen hielt.

Lucie lag unbeweglich, die duftenden Blumen an der Wange, und ließ die Spanne Zeit von dort bis jetzt an sich vorübergehen. Sie hatte immer nur ungern ihren Gedanken eine Rückkehr in die Vergangenheit gestattet, und nahmen sie allzu gewaltsam ihren Flug dorthin, so kämpfte sie tapfer dagegen und zwang sich vorwärts zu blicken. Es war ihr anfänglich auch nicht schwer geworden – die schöne Welt da draußen, das Wunderland Italien, die tausend neuen fremdartigen Eindrücke – sie hatte wie in einem Rausche dahin gelebt und jeden Tag aufs Neue in inniger Dankbarkeit am Halse der jungen Frau gehangen. „Dir danke ich Alles, meine Freiheit, die herrliche wunderbare Gegenwart – kann ich es Dir je vergelten?“

Ach ja, es war wonnig so zu leben! Sie hatte Hortense so unendlich lieb, und doch – sie wußte nicht, was ihr das Herz so schwer machte, besonders seitdem sie wieder in Deutschland war.

„Es ist eigenartige Luft jenseit der Alpen,“ hatte ein alter liebenswürdiger Engländer zu ihr gesagt, mit dem sie eine kurze Strecke das Koupé theilten. „In meinem Salon daheim hängt neben einem farbensprühenden Bilde der Bucht von Neapel die Ansicht des Heidelberger Schlosses im Mondlicht, dämmernd und geheimnißvoll; so möchte ich die beiden Länder vergleichen, dort das lachende Leben, hier die ernste Schwärmerei.“

Ach, Lucie empfand es tief, daß eine „eigene Luft“ in Deutschland wehe, aber sie vermochte es nicht auszusprechen; sie schämte sich vor Hortense, denn die junge Frau redete mit unverhohlener Mißachtung von „sentimentalen Stimmungen“ und nannte sie eine Charakterschwäche der deutschen Frauen insbesondere. Ueber diesen Punkt würden sie sich nie einigen, das wußte das Mädchen nun, über diesen nicht und über andere nicht. Aber war denn das so schlimm? Gerade die Verschiedenartigkeit ihrer Charaktere hielt sie ja so fest, so innig zusammen. Und wenn Lucie sich auch willig dem geistreichen weltgewandten Wesen der jungen Frau anschmiegte, so hatte sie anderseits eine unbestrittene Macht über diesen leidenschaftlichen Charakter erlangt. Hortense hatte sich gewöhnt, bei Allem, was sie that, das junge Mädchen zu fragen: „Wie denkst Du darüber, Lucie? Was würdest Du an meiner Stelle thun?“

Nur ein einziges Mal hatte sich eine wirkliche Verstimmung zwischen ihnen geltend gemacht, und das war gestern Abend gewesen. Hortense hatte eine Reise nach Wien geplant.

„Wir sind so gemüthlich hier,“ hatte Lucie entgegnet, „laß uns noch ein paar Wochen still sitzen oder miethe eine kleine Sommerwohnung an der Elbe stromaufwärts!“

„Warum?“

Lucie wußte weiter nichts zu sagen, als daß sie sich nach Ruhe sehnte. Nach Ruhe – und nach einem Wiedersehen mit ihrer Schwester, und dabei hatte sie plötzlich geweint.

[106] Hortense war darüber erst traurig, dann böse geworden. Als ob es in zwei Monaten nicht noch früh genug sei, nach Bornrode zu kommen, das man auf der Rückreise auf einem kleinen Umweg bequem erreichen konnte!

„Wenn ich aber Sehnsucht habe?“ war des Mädchens Antwort gewesen.

„Sehnsucht?“ Hortense hatte die Achseln gezuckt und sich abgewendet. Und so hatten sie sich getrennt; zum ersten Male, so lange sie zusammen waren, ohne das alte herzliche „Gute Nacht!“

Nun wußte Lucie, Hortense war schon in aller Morgenfrühe an ihrem Lager gewesen und hatte den Strauß gebracht. Sie fühlte etwas wie Beschämung und nahm sich vor, gleich zu ihr zu gehen und zu danken. Als sie im Begriff war, aufzustehen, klinkte leise die Thür, und Hortense, in einem weißen Morgenkleide, trat ein, kam zu dem Bette herüber, kniete vor demselben nieder und küßte Lucie, wie eine Mutter ihr Kind küßt am Geburtstage.

„Ich danke Dir für Alles,“ sagte sie einfach.

„Und ich Dir, Hortense!“

„Sei ruhig! Was ist das gegen Deine Liebe und Güte! Wenn ich etwas Vertrauen zu den Menschen wiedergewann, wenn ich wieder am Leben Gefallen fand, dann danke ich es Dir, nur Dir allein.“

Lucie hielt ihr den Mund zu. „Sei still, Hortense!“ sagte sie gerührt.

„Und nun will ich auch eine Sommerwohnung miethen, wie Du es wünschest. Ich habe den Wagen schon bestellt, wir fahren nach Tische hinaus. Du sollst sie selbst aussuchen und wenn es Dir überhaupt gefällt in Dresden, so kehren wir auch zum Winter hierher zurück.“

„Das kommt auf Dich an, Hortense.“

„Es wird sehr gemüthlich werden in unserer Häuslichkeit, nicht wahr?“ plauderte die junge Frau und setzte sich auf den Bettrand.

Lucie nickte. „Wir packen dann alle Deine schönen Sachen aus, die Du in Italien gekauft hast, und schmücken die Zimmer damit.“

Hortense stand auf.

„Und damit sie noch schöner werden,“ sagte sie, „will ich den hellen Tag und die gute Beleuchtung heute früh benutzen und mein Bild weiter malen. Holst Du mich ab in der Galerie?“

„Ich bin wie immer um ein Uhr vor der Sixtinischen Madonna,“ rief das Mädchen der jungen Frau zu, die eben hinter der Thür verschwand.

Eilig kleidete sie sich an; sie hatte unverantwortlich lange geschlafen. Als sie in den Salon trat, fand sie vor ihrem Frühstückskouvert ein Etui aus schwarzem Leder, ihren Namenszug in Gold gepreßt darauf; und als sie es öffnete, blinkte ihr ein Ring entgegen, der einen wundervollen Sapphir in seiner Mitte trug. Und als sie überrascht näher hinschaute, fand sie innen das Datum des heutigen Tages eingravirt.

Sie legte den Ring in das Etui, nahm ihn wieder heraus und schob ihn endlich an den vierten Finger der linken Hand. Dann setzte sie sich still vor ihrer Theetasse nieder und betrachtete das funkelnde Kleinod. Es kam ihr in den Sinn, daß vor Jahresfrist noch ein einfacher goldener Reif da gesessen, und sie schüttelte auf einmal den Kopf, als wollte sie Jemand heftig widersprechen. „Nein,“ flüsterte sie, „er hatte mich nicht lieb – es war gut und recht so!“

Sie frühstückte langsam und setzte sich dann an den Schreibtisch. Sie wollte an Mathilde ein paar Worte senden; seit Wochen war jede Nachricht von ihr ausgeblieben. Als sie eine Seite geschrieben, schmerzte sie der breite Goldreif; sie wollte ihn abziehen, aber es war nicht möglich, und als es endlich gelang, da war ihr die Stimmung zum Schreiben vergangen. Sie setzte ihren Hut auf und ging auf einem Umwege nach dem Zwinger.

Ein Weilchen stand sie hinter Hortense’s Staffelei, die einen der kleinen Niederländer kopirte, und schaute ihr zu; und als gerade Niemand in dem Kabinett war, küßte sie die Wange der jungen Frau und dankte ihr für das kostbare Geschenk.

„Zeig’ her, mein Liebchen,“ sagte Hortense, „paßt er?“

„Ich konnte ihn nicht an der Hand behalten, er drückte,“ und sie hielt zum Beweise den stark gerötheten Finger hin.

„Ich werde ihn ändern lassen,“ nickte die junge Frau. Und da eben wieder eine Schar Engländerinnen eintrat, deren neumodige Reifröcke und riesenhafte Hüte mehr Platz in Anspruch nahmen, als für die Malerin angenehm sein konnte, verließ Lucie ihre Freundin und ging zur verabredeten Stelle.

In dem kleinen feierlichen Raume der Sixtinischen Madonna war es wunderbarer Weise kirchenstill und leer heute, nur ein einzelner Herr saß auf dem rothen Sammetpolster, in die Andacht des Schattens versunken. Lucie nahm, ohne nach ihm hinzusehen, ihren Platz ein und richtete die Blicke auf das Bild. Sie hatte sich sehr verändert! Das naive Mädchen aus dem einsamen Forsthause war eine vollendete Dame geworden neben Hortense; das Gesicht unter dem barettartigen Strohhütchen erschien schmäler; das frische Roth der Wangen war zu einem feinen Rosa gedämpft; die braunen Augen schienen größer geworden, aber sie sahen nicht mehr so fragend und staunend in die Welt; es lag ein Ausdruck von stiller Sehnsucht in ihnen. Sie trug ein dunkles, einfaches, aber vorzüglich sitzendes Kostüm; Handschuhe und Stiefel tadellos, und in der Hand hielt sie einen Sonnenschirm mit Elfenbeinstock, den ihr Hortense in den Basars zu Florenz gekauft hatte.

Der Herr neben ihr im grauen Touristenanzug, über welchem er den Feldstecher am Riemen trug, den Strohhut in der Hand, wandte ihr erst jetzt sein von einem blonden Backenbart umrahmtes Gesicht zu, und aufstehend rief er erfreut:

„Sie, mein Fräulein? Und da sitze ich schon eine ganze Weile neben Ihnen, ohne Ahnung davon? Rechnen Sie die Schuld der gebenedeiten Jungfrau zu und verzeihen Sie meine Nachlässigkeit!“

„Mein Gott, auch hier?“ dachte sie.

Er stand noch immer vor ihr. „Wann kamen die Damen nach München?“ fragte er.

„Wir besannen uns anders und gingen an die italienischen Seen. Seit vier Wochen sind wir hier.“

Er lachte belustigt und hob drohend den Finger. „Das heißt auf militärisch: den Feind düpiren!“ – Hinter aller Freundlichkeit dieser blitzenden blauen Augen sah aber doch etwas Ernstes hervor. ‚Was ich will, setze ich durch‘, meinte Lucie darin zu lesen. – „Wie lange will Frau von Löwen hier bleiben?“

„Es ist ganz unbestimmt,“ erwiderte sie aufstehend, und mit einer leichten Verbeugung wandte sie sich dem Ausgange zu. Im nächsten Saal kam ihr Hortense heiter entgegen; sie wickelte eben die Leinwandschürze zusammen.

„Komm,“ sagte sie, „ich freue mich auf die Spazierfahrt.“

Arm in Arm schritten sie die breite Treppe hinab; da fühlte Lucie, wie die Hand der jungen Frau zuckte, und als sie ihr in das Gesicht sah, war es fahl geworden. Ihnen entgegen kam ein hochgewachsener Herr; er trug einen bräunlichen eleganten Sommeranzug, hatte dunkle Augen und Haar und war trotz seines Civils unschwer als Militär zu erkennen. Auf dem breiten Absatz der Treppe trafen sie zusammen; Lucie sah, wie er mit tiefer Verbeugung zur Seite trat und wie die Röthe der Verlegenheit sein Gesicht färbte. Hortense schien den Gruß nicht zu bemerken; sie hatte den Kopf nach der andern Seite gewandt. Unten trat sie hastig zur Garderobe und nahm die leichte Jacke über den Arm. „Komm!“ sagte sie zu Lucie und versuchte während des Gehens vergeblich ihre Handschuhe über die zitternden Finger zu streifen.

„Was ist Dir, Hortense?“ fragte Lucie besorgt, „wer war der Herr?“

„Wilken,“ klang es tonlos.

Lucie faßte unwillkürlich unter den Arm der jungen Frau; so schritten sie über den Platz dem Hôtel zu.

„Der Wagen wartet, gnädige Frau,“ redete der Portier Hortense an.

„Ich fahre nicht,“ sagte sie, „bezahlen Sie den Kutscher und schicken Sie ihn fort, – oder – vielleicht willst Du fahren, Lucie?“

Das Mädchen sah sie vorwurfsvoll an. „Ich bleibe bei Dir.“

[117] Im Salon warf Hortense ihre Sachen auf den Tisch und setzte sich in eine Sofa-Ecke.

„Meine arme Hortense!“ sagte Lucie weich. Die junge Frau winkte hastig mit der Hand, zu schweigen.

Lucie brannte der Boden unter den Füßen; wenn sie die Macht hätte, so müßte Hortense jetzt gleich die Koffer packen und mit ihr reisen, sei es auch nach Wien – nur fort!

Jetzt klopfte es und gleich darauf trat der Kellner ein; er brachte eine Visitenkarte. „Der Herr wünscht den Damen seine Aufwartung zu machen.“ – Lucie sah unsicher zu Hortense hinüber. „Nimmst Du Besuch an?“ fragte sie.

Die junge Frau erblaßte. „Wer?“ stieß sie hervor.

„Waldemar Weber, unsere Reisebekanntschaft aus Venedig.“

Sie sank zurück. „Ich bedaure sehr,“ sagte sie. Der Kellner verschwand.

„Ich wollte es Dir vorhin schon erzählen, Hortense,“ begann Lucie; „er ist wirklich wieder da, ich traf ihn vor der Sixtina; er schien ärgerlich, daß wir ihn auf falsche Fährte gebracht hatten; Gott weiß, wie er unsere Spur nun doch entdeckt hat!“

Hortense antwortete nicht. Da kam Lucie herüber zu ihr, kniete vor ihr nieder und sah ihr ins Gesicht. „Nun will ich Dich bitten, Hortense, laß uns doch nach Wien reisen, aber bald – ja?“

„Warum?“

„Weil Dir Dresden verleidet sein muß, armes Herz.“

„Daß ich nicht wüßte,“ sprach die junge Frau mühsam und stand auf. „Ich – ich bleibe hier.“ Sie ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, sie suchte mit aller Gewalt Herr über sich zu werden. Dann nahm sie die Karte von Weber empor. „Narr!“ sagte sie und warf sie wieder hin.

„Dort steht auch der Name seines Gutes, den wir immer nicht verstehen konnten,“ bemerkte Lucie, „Schloß Woltersdorf, Thüringen.“

Hortense horchte flüchtig auf. „Woltersdorf? Ach ja, es muß in der Gothaer Gegend sein. Vor einigen Jahren war es zu verkaufen; ich glaube, die Grafen P., die es seit zwei Jahrhunderten besaßen, wurden bankerott. Papa wollte mich bereden, es zu kaufen; ich war damals auch sehr entzückt von der Besitzung: die reinste Rokokoträumerei, die Du Dir denken kannst. Dann vergaß ich die Sache, und später hörte ich, daß ein Frankfurter Großkaufmann es an sich gebracht hat. Der wird der bewußte Waldemar Weber wohl sein.“

Lucie, die glücklich war, daß die junge Frau überhaupt wieder sprach, umarmte sie herzlich. „Hortense,“ sagte sie neckend, „dieser Waldemar Weber ängstigt mich. Weißt Du, er ist bodenlos verliebt in die Idee, Dich zu seiner Schloßherrin zu machen.“

Hortense lachte wirklich ein wenig. „Mich? Wenn er Dich nur nicht meint! Gleichviel, dann müßte er uns Beide nehmen, und da das nicht geht, lassen wir ihn allein ziehen.“ Sie fuhr sich schon wieder mit der einen Hand an die Schläfe und drängte mit der andern das Mädchen zurück. „Laß mich! Laß mich, ich habe Kopfschmerzen!“

[118] „Lege Dich nieder, Hortense,“ bat Lucie. Sie schüttelte den Kopf und nahm dem eben wieder eintretenden Kellner zwei Theaterbilletts ab. „Wir wollen heute hier oben speisen,“ sagte sie zu dem hellblonden, tadellos frisirten jungen Menschen.

„Sehr wohl!“ Er verschwand, um nach wenigen Minuten zurückzukehren, mit einem riesigen Präsentirbrett voll Porcellan, das er mit wahrhaft nachlässiger Grazie auf der Hand balancirte.

Hortense stand während des Tischdeckens still am Fenster; plötzlich wandte sie sich um. „Wohnt ein Herr Rittmeister von Wilken hier im Hôtel?“ fragte sie.

Die Nase des Hellblonden fuhr in die Luft, und seine Augen schlossen sich halb. „Wilken? Wilken?“ sagte er, als müsse er sich besinnen, „Rittmeister von Wilken – ganz recht, gnädige Frau; er logirt hier, eine Treppe höher Nummer 29.“ – Er ging nochmal um den Tisch, rückte die Stühle, zupfte am Tischtuch und verschwand mit der Versicherung, daß er sofort die Suppe auftragen werde.

Hortense stand regungslos; sie kam auch nicht früher an den Tisch, bis der Kellner die Suppe servirt hatte und verschwunden war. Sie saß bleich und still vor ihrem Teller und rührte die Speisen nicht an.

„Iß doch, Hortense,“ bat Lucie.

Sie schüttelte den Kopf und betrachtete die beiden Theaterbilletts, die neben ihrem Teller lagen.

„Wollen wir nicht lieber daheim bleiben heute?“ fragte das junge Mädchen.

„Nein!“ war die kurze Antwort. Das Essen verlief schweigend. Das Dessert blieb gänzlich unberührt. Hortense schlug jetzt die am Morgen versäumte Spazierfahrt vor, und bald saßen sie stumm neben einander im Wagen, der sie durch die Alleen des „Großen Gartens“ führte. Es fiel Lucie auf, daß Hortense ein eleganteres Kostüm angelegt hatte, als sonst, und bei der Hinfahrt vor einem Magazin in der Prager Straße halten ließ, ausstieg und mit einem dunkelrothen Sonnenschirm wieder zurückkam. „Das Neuste,“ sagte sie lächelnd zu dem jungen Mädchen, ihre Errungenschaft sofort gegen die leuchtende Frühjahrssonne benutzend. „Gefällt er Dir?“

„Nein!“ erklärte Lucie, „ich liebe nicht die grellen Farben.“

„Ich auch nicht,“ erwiederte die junge Frau, deren blasses Gesicht, im Widerschein des Schirmes von rosigem Schimmer überflogen, völlig verändert aussah. „Ich auch nicht, aber –“ und sie hielt den Schirm über Lucie, „er erfüllt seinen Zweck, wie ich sehe.“

Als sie in das Hôtel zurückgekehrt waren, beeilten sie sich, Toilette für das Theater zu machen. Lucie war sehr bald fertig, sie kam herüber in das Schlafzimmer der Freundin, um ihr, wie sie es so gern that, behilflich zu sein. Hortense stand in einem schwarzen Spitzenkleide vor dem großen Spiegel; auf einem Tischchen neben ihr lagen mehrere Kartons mit Blumen und Federn; sie hatte eben einen Schmetterling aus Goldfiligran mit bunten Steinchen besetzt ins Haar gesteckt; nun nestelte sie ihn ärgerlich ab und warf ihn heftig auf den Tisch. „Es ist heute so ein Tag, wo nichts gerathen will,“ murmelte sie.

„Warum nimmst Du nicht die frischen gelben Rosen?“ fragte Lucie, „sie kleiden Dich so gut.“

„Weil ich nicht will! – Ich bitte Dich, sieh mir nicht so zu; es macht mich nervös!“

Lucie ging schweigend hinaus und wartete im Salon. Sie hörte, wie Kästen zur Erde fielen und Hortense’s Fuß heftig den Boden trat. Endlich kam die junge Frau; sie trug einen Touffe von blaßblauen Straußfedern im Haar und einen Schmuck von Türkisen und Perlen. Schweigend verließen sie das Zimmer und stiegen die Treppe hinab. Durch das erleuchtete Vestibül ging eben ein Kellner mit einem prachtvollen Tafelaufsatz aus frischen Blumen und verschwand hinter der Thür des kleinen Speisesaales. Hortense hatte wie zerstreut danach hingesehen. „Hier wird ein Fest gefeiert,“ sagte sie, als sei sie froh, einen harmlosen Anknüpfungspunkt zu finden.

„Herr Rittmeister von Wilken giebt nach dem Theater seinen Schwiegereltern, dem Fräulein Braut und einigen Verwandten ein kleines Souper,“ erklärte dienstbeflissen der Oberkellner, der jetzt vorüberschritt.

Hortense neigte dankend den Kopf und trat in die leichte Dämmerung des Frühlingsabends hinaus. „Wir werden zu spät kommen, Lucie,“ sagte sie völlig ruhig, „eilen wir ein wenig!“ Sie kamen in der That kurz vor Beginn der Ouverture; das Haus war voll besetzt, eine fremde Sängerin gab die Susanna im „Figaro“.

Sie traten in eine Loge des ersten Ranges; an der Thür stand, sich verbeugend, ein Herr, als hätte er ihrer gewartet – Waldemar Weber.

Frau von Löwen schritt an ihm vorüber, sie schien ihn nicht bemerkt zu haben; nachdem aber Lucie neben ihr Platz genommen, ließ er sich in den nächsten Fauteuil nieder mit einem so unbefangenen Ausdruck in den energischen Zügen, als komme ihm dieser Platz von Gottes- und Rechtswegen zu, als sei er der einzige richtige für ihn in dem großen Raum. Lucie achtete kaum auf ihn; sie musterte mit heißer Angst die Logen des ersten Ranges, dann fuhr es ihr schreckhaft durch die Glieder: dort drüben, dicht neben der königlichen Loge, saß Wilken in Uniform zwischen einer stattlichen alten Dame und einem jungen Mädchen in Rosakleide, das noch den blonden Zopf lang über den Rücken herunter hängen ließ und mit lächelndem Antlitz ihm zuhörte. Hinter ihm ein alter Herr in Civil und zwei junge Officiere.

Bang wandte sich Lucie zu Hortense, und just in diesem Moment kehrten die Blicke der jungen Frau von dem nämlichen Bilde zurück; die großen grauen Augen hatten einen todestraurigen Ausdruck in diesem unbewachten Augenblick. Unwillkürlich faßte Lucie nach der schmalen Hand, die ihr unwillig entzogen wurde. Hortense saß ruhig in ihrem Fauteuil und sah scheinbar mit größtem Interesse auf die Bühne, wo eben Susanna den Hut vor dem Spiegel aufprobirte und Figaro das Zimmer ausmaß.

Lucie sah und hörte Alles wie im Traume; sie wußte, neben ihr litt Hortense tausend Qualen; erleichtert athmete sie auf, als der Akt vorüber war. Die Logen wurden leer. Alles drängte in die Foyers. Auch Hortense erhob sich. Sie gingen langsam zwischen den plaudernden, lachenden Menschen dahin, dann strebte die junge Frau zu dem Büffett. „Mich dürstet,“ sagte sie.

In dem prächtigen säulengetragenen Raum befanden sich wenige Menschen; nur einzelne Gruppen standen vor dem zierlichen Kredenztisch oder saßen auf den Sofas an der Marmorbalustrade. Auch Hortense setzte sich wie ermüdet. Als Lucie ein Glas Selters verlangte, sagte eine Stimme neben ihr: „Bemühen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein, ich halte das Verlangte bereits in der Hand.“ Waldemar Weber bot ihr ein Glas des perlenden Wassers und wandte sich dann zu Frau von Löwen.

Lucie sah sich um und vergaß zu trinken; sie war überzeugt, Hortense würde unartig werden in ihrer heutigen Stimmung. Aber sie traute ihren Augen nicht – die junge Frau nahm lächelnd das Glas und wies neben sich auf das Sofa, und er nahm Platz neben ihr. Und nun wußte Lucie auch, warum? Gegenüber auf dem niedrigen Divan saß Wilken mit seiner Braut, die mit kindlichem Appetit eine Schale Eis verzehrte und nicht bemerkte, wie die Blicke ihres Bräutigams auf der schönen Frau in dem duftigen schwarzen Kleide ruhten.

Hortense sah in diesem Momente wirklich reizend aus. Das Lächeln und Plaudern stand ihr gut, und wie sie den feinen Kopf etwas nach der Seite hielt und mit dem Fächer aus blauen und schwarzen Straußfedern spielte, blieb mehr als ein Blick an ihr hängen.

Aber der Kavalier paßte nicht zu der stolzen Erscheinung, meinte Lucie; er hatte Etwas – ja, sie konnte es nicht definiren: am Anzug lag es nicht, auch nicht an der Figur, er war ein großer stattlicher Mann – an der etwas spießbürgerlichen Art, wie er mit Frau von Löwen verkehrte, dachte Lucie endlich. Sie setzte das unberührte Glas auf das Tischchen und blickte in die zurückfluthende Menge; es hatte bereits zum Beginne des zweiten Aktes geläutet.

Auch Hortense erhob sich und schritt, die Fingerspitzen auf den Arm des Herrn Weber gelegt, dicht hinter dem Brautpaare einher. Sie hatte Lucie, zu sich gewinkt und hielt deren Hand in der ihren. Lucie sah, wie ihre Augen bei dem lebhaften Sprechen unablässig auf dem schlanken Officier vor ihr ruhten. „Hortense,“ fragte das Mädchen, während sie ihre Plätze wieder einnahmen, „was soll das bedeuten?“

„Nichts,“ war die Antwort; „nach dem nächsten Akte gehen wir; ich bin todmüde.“

Sie kam wirklich wie eine völlig Erschöpfte in das Hôtel und in den Salon zurück. Der Theetisch stand gedeckt, und die Kerzen brannten vor dem Spiegel.

[119] Lucie half ihr die leichte Umhüllung abzulegen.

„Meine liebe Hortense,“ sagte sie herzlich und strich ihr die blasse Wange und beugte sich zu ihr nieder. „Komm, laß uns abreisen, Du wirst krank hier –.“

Da fuhr die junge Frau empor wie außer sich. „Warum?“ rief sie, „habe ich ein Verbrechen begangen? Muß ich mich verstecken? Wie kommst Du zu solchen Vorschlägen – was glaubst Du eigentlich von mir? Hast Du vielleicht Angst, daß ich – ich – noch einmal –?“ Sie stockte.

„Nein, Hortense, ich habe keine Angst,“ sagte Lucie ruhig; „ich meinte es nur gut, denn ich sehe, wie Du leidest.“

„Dann siehst Du Hirngespinste, mein Kind,“ fuhr Hortense noch heftiger fort. „Zur Verzweiflung hast Du mich im Theater gebracht mit Deinen mitleidig-ängstlichen Blicken! Als ob ich eine Irrsinnige, so hast Du mich behandelt, Du kompromittirst mich ja völlig! Ich muß Dich bitten, derartige unerwünschte Theilnahme künftig zu unterlassen.“

Lucie stand wie ein Wachsbild vor der jungen Frau; es waren die ersten unfreundlichen Worte, die sie aus ihrem Munde hörte. Unfähig ruhig zu bleiben, ging sie in ihr Zimmer und setzte sich an das offene Fenster. Es lag nach der Elbe zu. Aus dem schmalen Garten unter ihr stieg der Duft von Flieder und blühenden Sträuchern empor; drüben ragten schwarz die Thürme und Dächer der Neustadt in den sternenbesäeten Nachthimmel, und in dem schwärzlichen breiten Strom spiegelten sich tausend Lichter. Ueber die große Brücke fluthete das Leben der Residenz, Menschen in dunklem Gewimmel, erleuchtete Pferdebahnwagen und Droschken mit blitzenden Laternen; aus einem Vergnügungslokale schallten heitere Musik und Menschenstimmen.

Sie hörte und sah es nicht. Sie starrte auf das Treiben wie im Traume, das Herz klopfte ihr vor bitterem Weh, vor maßloser Sehnsucht nach dem Frieden, den sie früher besessen. Sie sehnte sich nach den sanften Worten der Schwester, die ihr eine zweite Mutter gewesen, nach ihrem Stübchen, vor dessen Fenstern die Linde rauschte, nach dem Daguerreotyp der verstorbenen Mutter über der birkenen Kommode. „Ach, nur noch ein einziges Mal dort, nur einmal!“ flüsterte sie. Und dann wischte sie sich hastig über die Augen – unabweisbar wie jeden Tag drängte sich wieder ein kleines trautes Haus in ihre Erinnerung, von hohen Bäumen umstanden, von der Abendsonne vergoldet.

Aber sie wollte nicht daran denken, sie wollte nicht; etwas Anderes – rasch! – Dieser Herr Weber, was beabsichtigt er? Sie zwang ihre Gedanken zurück nach Venedig, da war er ihnen im Hôtel auf der Riva dei Schiavoni zum ersten Male entgegen getreten und von da ab ihnen unablässig gefolgt, nach Padua, nach Bologna. In Florenz, in der Galerie Pitti, hatte er bei Gelegenheit eines von Hortense verlorenen Fächers sie angesprochen und war mit höflichem, aber sehr kurzem Danke abgefunden worden. In Rom aber war er plötzlich neben ihnen vor der Fontana Trevi wie ein Schatten aufgetaucht, um sie während der ganzen Woche nicht wieder aus den Augen zu lassen. Er hatte sie auch einmal aus unangenehmer Lage befreit: als sie in ihrem Wagen beim Karneval in ein gar zu arges Getümmel geriethen, saß plötzlich eine breitschulterige Gestalt, das Gesicht hinter einer Drahtmaske verborgen, auf dem Rücksitz des Wagens und empfahl sich ehrerbietigst, als sie im Hôtel anlangten. Und so war er ihnen auch fernerhin gefolgt auf der ganzen Reise, bis man ihn durch eine Kriegslist auf andere Spur geführt. Und jetzt hatte er sie doch gefunden, und Hortense zeigte sich liebenswürdig gegen ihn –. Lucie war in diesem Augenblick brennend eifersüchtig auf den großen Thüringer.

Dann mußte sie lächeln. Hortense hatte ihn heute Abend offenbar als Maske benutzt, hinter der sie ihr Leid verbarg.

„Arme Hortense!“ Sie erhob sich und ging zur Thür hinüber. „Sie ist unglücklich,“ dachte sie, „und Du bist von ihr gegangen wegen eines unfreundlichen Wortes, das ihr der Schmerz erpreßte.“

Hortense stand jetzt am Fenster und sah auf den Platz hinab, sie wandte sich auch nicht, als Lucie eintrat. Auf dem Tische brannte die Lampe, und daneben lag ein Brief. Lucie erkannte die grauen billigen Kouverts, die man im Hause der Schwester zu benutzen pflegte.

„Briefe?“ fragte sie, „heute Abend noch? Ich habe ihn vorhin wohl übersehen,“ fügte sie hinzu, als keine Antwort kam. Sie ergriff das Schreiben, es war die Hand ihres Schwagers. Ein rasches ängstliches Herzklopfen stellte sich ein – was mochte geschehen sein, daß er schrieb? Sie riß den Umschlag auf – gottlob, es waren der Schwester Schriftzüge, aber mit Bleistift geschrieben, und nicht halb so zierlich wie sonst. Lucie setzte sich auf den nächsten Stuhl, zog die Lampe näher und las:

 „Meine kleine gute Lucie!

Nun wirst Du wohl schon eine ganze Weile in Dresden sein und hast meinen versprochenen Brief, der Dich dort erwarten sollte, vielleicht nicht einmal vermißt. Oder doch? – Von Dir hatte ich recht lange keine Nachricht, Du hältst ordentlich Kerbholz, Lucie. Wenn Du gewußt, wie ich mich nach ein paar Worten von Dir gesehnt habe auf meinem Krankenlager, Du hättest sicher geschrieben, das weiß ich. Georg wollte Dir, als es am schlimmsten war, telegraphiren, aber ich habe es nicht erlaubt, Du solltest Dich nicht ängstigen, und die weite, weite Reise allein und in so großer Herzensangst wollte ich Dich nicht machen lassen.

Nun geht es mir ja wieder besser, der Husten ist nicht mehr so quälend und meine Brust ist freier, ich habe wieder Vertrauen in die Zukunft. Der Sommer ist vor der Thür und ich sehe meinen Mann und die Kinder wieder an, ohne daß mir Thränen die Augen trüben. Mein armer Mann, Lucie, er war ganz verzweifelt! Du kennst ihn ja, er ist nicht von langer Geduld. Und als unser guter Doktor Feldner nach seiner Meinung nicht rasch genug Besserung schaffte, reiste er eines Tages nach Hohenberg und brachte mir Doktor Adler ans Bette. Mich regte dies Wiedersehen furchtbar auf, Lucie, ich mußte bitterlich weinen, ich meinte, ich solle ihm abbitten in Deinem Namen. Aber er war so ruhig und theilnehmend und rührte nicht an die Vergangenheit.

Nun ist er schon öfter gekommen, ich habe ja auch das meiste Vertrauen zu ihm. Das letzte Mal, als er mich besuchte, lag gerade Dein Brief aus Pallanza auf meinem Bette. Er war da mit einem Male ganz blaß. Ach, Lucie, warum mußte es so kommen? Die Sorge um Dich hat mir schwere Stunden gebracht! Wenn ich so still in meiner Stube lag, die Kinder draußen umhersprangen und Georg im Dienste war, dann hatte ich so recht Zeit, mich zu grämen. Ich denke immer, es wäre Deine Pflicht gewesen, Dich mit ihm einzuleben, Dich in ihn zu finden, Du gabst ihm doch Dein Wort. Ich gönne Dir von ganzem Herzen all das Schöne, von dem Du so begeistert schreibst, aber ich meine, Du hast Deinen Freudenthron auf den Trümmern Deines wahren Glückes erbaut! Du schreibst mir, die Freundschaft habe ihre großen unbestrittenen Rechte, sei so heilig und unantastbar wie das Band, das Eltern und Geschwister und Ehegatten verknüpft. Es mag sein, ich kann mich da nicht hinein denken. Der liebe Gott erhalte Dir diese Freundschaft und bewahre Dich vor Enttäuschungen!

Werde ich Dich bald einmal sehen? Könntest Du Deine Hortense nicht auf ein paar Tage verlassen, um einmal wieder an meinem Bette zu sitzen? Die Kinder sprechen so viel von Dir, und wie schön könntest Du erzählen! Komm doch, Lucie!

Ich will nun schließen, ich bin recht matt. Einen treuen

Gruß von Deiner
Schwester Mathilde.“     

Das Mädchen saß ganz still, als sie geendet, dann heftete sie ihre großen trostlosen Augen auf Hortense. „Ich muß fort!“ sagte sie halblaut.

Die junge Frau kam vom Fenster zurück und trat an den Tisch. „Wie?“ fragte sie.

„Ich muß fort, Mathilde ist krank. Morgen, am liebsten heute noch!“

Sie stand auf und preßte den Brief in der Hand zusammen; dann ging sie mit langsamem Schritt in ihr Schlafzimmer und setzte sich auf den Bettrand.

„Schlecht bin ich gewesen, schlecht und pflichtvergessen!“ sagte sie laut, und das weiße schmale Gesicht der Kranken und ihr einsames Zimmer tauchten vor ihr auf. Wer würde bei ihr sein? Ab und zu der Schwager, der nach kurzer Zeit wieder geht, „weil er ja doch nicht helfen kann“ – die alte Dienstmagd, wenn sie gerade Zeit hat, die kleinen Mädchen schleppen wohl auch einmal ein Sträußchen Waldblumen herein und geben der fiebernden Mutter zu trinken, aber sonst – – sie schlug die [120] Hände vor das Gesicht – sonst lag sie geduldig, wie es ihre Art war, und allein, und Niemand hörte ihr Husten und ihr banges Athmen.

Es schüttelte sie wie im Fieber; sie kannte den Husten und die Rosen auf den Wangen der schlanken Frau, schon lange hatte man gefürchtet für sie. Wäre es denn möglich? Und so rasch, so rasch? Nein, es konnte, es durfte nicht sein! – Sie sprang empor, zündete Licht an und holte den kleinen Reisekoffer aus einem Winkel hervor. Sie hatte keinen anderen Gedanken als den:

Fort! Zu ihr, die sie gehegt und gepflegt wie ihr eigenes Kind!

Da ging die Thür auf und Hortense kam herein. „Was willst Du thun?“ fragte sie unsicher.

„Zu Mathilde! Ich sagte Dir ja, Mathilde ist krank.“

„Ist es denn so schlimm?“

„Ich fürchte es.“

„Du willst mich allein lassen – hier – jetzt?“

„Geh zu Deinem Großvater so lange, Hortense, was thust Du hier? Es ist –“

„Nein! Und tausendmal nein!“ rief die junge Frau außer sich, „ich gehe nicht!“

Lucie packte eben ein Morgenkleid in die Tasche. Sie hielt inne und sah erschreckt in das blasse Gesicht der Freundin. Hortense wich dem Blick aus und wandte ihr langsam den Rücken, als wollte sie gehen.

„Sei nicht so furchtbar hart!“ rief Lucie ihr nach.

Hortense kam zurück. „Lucie,“ sagte sie und kniete vor ihr nieder, „in einigen Tagen heirathet Wilken, hier in Dresden, in diesem Hôtel feiert er seine Hochzeit – Du kannst mich nicht allein lassen, Du kannst nicht!“ Sie hatte das Gesicht in den Schoß des Mädchens geborgen, ihr ganzer Körper bebte. „Du weißt ja nicht,“ murmelte sie, „Du weißt ja nicht, wie es aussieht in mir.“

„Komm mit, Hortense,“ sagte Lucie ergriffen, beugte sich zu ihr hernieder und streichelte ihr Haar, „wir haben ein hübsches Logirstübchen in der Oberförsterei, es ist so still und heimlich dort – das wird Dir gut thun. Du kannst, Du darfst nicht hier bleiben!“

Hortense sprang empor. „Ich gehe nicht! Willst Du mich denn gar nicht verstehen?“ rief sie außer sich. „So geh’ Du und laß mich allein an diesen schwersten Tagen meines Lebens; mag werden was da will.“

„Halt ein, Hortense!“ schrie das Mädchen angstvoll, „ich bleibe bei Dir.“

Ihr war so bange. Sie kannte dieses Zucken der Lippen, diese großen verstörten Augen, sie meinte auch den süßen schrecklichen Geruch von Chloroform zu spüren. Und wieder kam Hortense zu ihr zurück und hing an ihrem Halse. „Du konntest auch nicht fort, Lucie, Du konntest nicht!“ rief sie. Und als das Mädchen schwieg, sprach sie hastig weiter, sie auf ihren Schoß ziehend. „Wie, wenn Du nun verheirathet wärst? Du hättest vielleicht ein krankes Kind – dann könntest Du doch auch nicht zu Deiner Schwester, und wäre die Gefahr noch viel tausendmal größer. Denke, ich wäre Dein Kind, Lucie! Sieh doch nicht so an mir vorüber, wir stehen uns doch am nächsten in der Welt, Du weißt es ja. Und ist nicht ein seelisches Leiden genau so traurig, so schwer wie die Krankheit des Körpers? Und in der Krise wolltest Du mich verlassen?“

Es klang so ergreifend.

Lucie schmiegte ihren Kopf an die Schulter der jungen Frau. „Vergieb mir,“ weinte sie, „und versprich mir –“

„In acht Tagen reisen wir, Liebling, ich verspreche es Dir! Ich selbst bringe Dich zu Deiner Schwester.“ Sie küßte das Mädchen auf die Stirn. „Mein guter Engel!“ sagte sie dabei.

Sie schliefen Beide nicht in dieser Nacht, blaß und verwacht fanden sie sich am andern Morgen beim Frühstück. Lucie schrieb dann an ihre Schwester, aber es wurde nicht so, wie sie wollte, denn wenn sie ihrer Angst Ausdruck gab, so fragte sie sich: „Und Du sitzest noch hier?“ Sie zwang sich, ruhiger zu scheinen, aber in Wirklichkeit preßte die Sorge ihr fast das Herz ab. Als der Brief fertig, da war er ein sonderbares Schriftstück geworden, es klang wie lauter Phrase.

Nur am Schluß stand: „So Gott will, bin ich in acht Tagen bei Dir.“

[133] Hortense begann ein wunderliches Treiben, sie schien von einem wahren Vergnügungstaumel erfaßt zu sein. Spazierfahrten, Theater, Besuche folgten sich ohne Unterbrechung. Es war eine Pensionsfreundin in Dresden verheirathet an einen Officier, eine andere an einen Rittergutsbesitzer der Umgegend, und – was sie früher weit von sich gewiesen, ja ängstlich vermieden hätte – jetzt suchte Hortense die Damen auf. Sie fuhr bei ihnen vor, unter Scherz und Lachen wurde ein Diner auf der Terrasse verabredet, eine Wasserfahrt nach Pillnitz. Und Abends nach dem Theater saßen sie mit der heiteren Gesellschaft im Saale des Hôtels; Hortense hatte sie eingeladen. Sie lachte und plauderte und schien die Heiterste von Allen.

Waldemar Weber war auch mit in das lustige Treiben hinein gerathen. Lucie wußte nicht, hatte ihn Hortense ermuthigt, oder hatte er sich selbständig dazu gefunden; genug, er war mit dabei und saß so ruhig auf seinem Stuhl und sprach mit seiner tiefen Stimme, die sich schon beim ersten Klange Geltung zu verschaffen wußte, mit den Herren von Jagd und Pferdezucht, mit den Damen von zierlichen Nippsachen, die in einer Thüringer Porcellanfabrik angefertigt würden, und von denen er ihnen Proben versprach für ihre Nipptische.

Lucie saß still dabei. Sie fragte sich, was Hortense wolle. Und sie fand keine Antwort.

An Wilken’s Polterabend blieb Hortense zu Hause, sie hatte eine Partie nach der Bastei abgelehnt unter dem Vorwand, daß sie Kopfweh habe. Sie lag in der That mit geschlossenen Augen und blassem Gesicht auf dem Sofa des verdunkelten Zimmers.

„Hortense,“ sagte Lucie mitleidig und streichelte ihre bleichen Wangen, „wenn ich nur wüßte, warum Du Dich so wissentlich krank machst?“

Hortense faßte die weiche Mädchenhand, aber sie antwortete nicht.

Lucie war heute von einer eigenthümlichen Angst erfüllt, sie ging im Laufe des Tages wohl drei- bis viermal hinunter und fragte den Portier nach Briefen. Er hatte nie etwas. Ob dies Schweigen ein gutes oder böses Zeichen sei, überlegte sie, als sie zum fünften Male vergeblich nachgeforscht hatte. Sie stand mit besorgter Miene im Vestibül, an ihr vorüber schleppten Gärtnerburschen riesige Lorbeer- und Myrthenbäume in den Saal, dessen Thüren weit offen standen. Im Hintergrunde schimmerte ein purpurrother Vorhang, an dem der Tapezierer noch beschäftigt war, und auf der improvisirten Bühne stand ein Herr mit weißem Schnurrbart und verhandelte mit dem Wirth.

Die Treppe herunter kam Wilken am Arm einer [134] alten schönen Dame in Straßentoilette, deren Züge den seinen glichen. Im Vorbeigehen hörte Lucie, wie er „Mutter“ zu ihr sagte. Ein unendliches Mitleid ergriff sie, sie flog die Treppe hinan und zu Hortense, welcher sie weinend um den Hals fiel.

Der Tag verging. Gegen Abend erhob sich die junge Frau, es war doch noch ein Brief gekommen, aber von Mademoiselle. Ein kleiner Brief mit Wappensiegel und ausländischer Marke war eingelegt. „Von meinem Vater!“ sagte Hortense und schob ihn zurück. Sie überflog das französische Gekritzel Mademoiselles. „Es ist Alles beim Alten, sie spielen Schach und die Pferde sind gesund,“ sprach sie und begann den andern Brief ungelesen mit einer Schere in tausend kleine Stücke zu zerschneiden.

Lucie blickte sinnend hinaus auf den schönen Platz. der im Duft der Abendsonne vor ihr lag. Die zahlreichen Statuen der Hofkirche waren wie in rothes Gold getaucht. Ueber den durchbrochenen Thürmen der evangelischen Kirche, die sich wie Spitzengrund von dem stahlblauen Himmel abhob, stand scharf die Mondsichel. Im Theater brannten die Lampen und die letzten Besucher schritten eilig den Portalen zu. Die Luft war erfüllt von dem Duft, den der Westwind aus Gärten und Anlagen herübertrug.

Nun rasselte eine elegante Equipage über das Pflaster, Lucie sah hinunter, als der Wagen vor dem Portal hielt. Wilken in Uniform half seiner Braut beim Aussteigen, die Eltern folgten. Das junge Mädchen im rosa Seidenkleide trug ihre blonden Zöpfe heute aufgesteckt und hielt ein Rosenbouquett in der Hand. Lucie schreckte empor, Hortense hatte plötzlich neben ihr gestanden.

„Soll ich Dir vorlesen?“ fragte sie; „ich sehe eben die Tauben über der Hofkirche in den Abendhimmel flattern, ich mußte an Venedig denken. Weißt Du noch, wie wir dort ‚Childe Harold‘ lasen und den ‚Kaufmann von Venedig‘?“

In diesem Moment klopfte es, der Kellner meldete Herrn Weber. Hortense nickte bejahend.

„Ich hatte gar nicht erwartet, daß ich Gnade finden würde vor Ihren Augen,“ sagte er scherzend zu Hortense, „ich hörte mit Bedauern, Sie seien krank, gnädige Frau, und wollte mich bei Fräulein Walter nach Ihrem Befinden erkundigen. Ich danke herzlich,“ sagte er, den Sessel ablehnend, den die junge Frau ihm bot, „ich will durchaus nicht stören, ich sehe, daß Sie noch leiden, Sie sind blaß. Ich beklage nur lebhaft, daß dieses Zauberfest da unten Ihnen die Nachtruhe stören wird. Es ist unglaublich, daß Leute, die eine so schöne Wohnung besitzen wie der alte Herr von Norbert, im Hôtel Familienfeste feiern.“

Hortense, die sich wieder in den Fanteuil gesetzt hatte, fragte: „Kennen Sie die Herrschaften?“

„Flüchtig, sie haben ein Gut in der Nähe meiner Besitzung. Ich bin im Klub mit ihm zusammengetroffen und auch einmal im landwirthschaftlichen Verein. Er ist ein wunderlicher Heiliger, aber ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, alle Achtung vor seinen Lebensanschauungen. Die Damen kenne ich freilich gar nicht,“ fügte er noch hinzu. „ich weiß nur, daß Marie von Norbert als ein wohlerzogenes gutes Kind gerühmt wird. Aber verzeihen Sie, gnädige Frau, Sie sehen wirklich krank aus, wollen Sie nicht den Arzt –“

Hortense schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie mich heute Abend –“

Er empfahl sich mit besorgter Miene.

„Es ist eine schwüle Luft,“ sagte er leise zu dem jungen Mädchen, „ich meine, wir werden über Nacht ein Gewitter haben.“

Hortense saß, den Kopf an das Polster gelegt, ohne ein Wort zu sprechen. Es war still in dem Zimmer und so schwül. Dann schreckte sie empor, die ersten Laute des Hochzeitsmarsches aus „Lohengrin“ drangen jubelnd herauf.

„Ich glaube, in meiner Stube wird es ruhiger sein,“ sprach Lucie.

„Laß mich!“

Das Mädchen setzte sich stumm ihr gegenüber. Die wundervollen Klänge wogten durch das Gemach, dann ward es still, und nun hob die Musik wieder an. Ein Walzer! Jetzt hat er seine Braut im Arm und fliegt mit ihr durch den Saal, und diese Braut hat einen Vater, der ist ein Ehrenmann, dachte Lucie. Arme, arme Hortense!

„Eine Depesche für Fräulein Walter!“ rief der Kellner, dessen Klopfen überhört worden war, reichte Lucie das kleine gefaltete Papier, zündete eilig eine Kerze an und verschwand.

„An mich?“ sagte das Mädchen tonlos. Sie wußte, was es war, ohne daß sie gelesen. Die Hände, welche die Oblate öffneten, zitterten, und als sie hineingeschaut, stand sie still, das Haupt tief gesenkt, als habe sie einen Schlag empfangen.

„Was denn?“ fragte Hortense und kam herüber. Sie nahm das Papier aus der schlaff herabhängenden Hand. „Mathilde heute Mittag sanft entschlafen. Georg“, las sie.

Sie wagte nicht. Lucie anzusehen, still legte sie das Blatt auf den Tisch. Die Musik unten war verstummt, man hörte nur das bange thränenlose Schluchzen des Mädchens. Dann raffte Lucie sich empor, eilte in ihr Zimmer und kam mit Hut und Mantel zurück.

Hortettse faßte sie am Arm. „Was willst Du thun?“

„Fort will ich!“ war die Antwort.

„In dieser Nacht noch? Ich beschwöre Dich. Lucie. Du kannst nicht reisen, Du bist furchtbar erregt. Geh’ erst morgen!“

Lucie band, ohne zu antworten, die Schleife des Regenmantels um die Taille.

„Sei doch vernünftig, Lucie; Du kannst ja nicht mehr helfen, Du kommst morgen noch früh genug, Du –“ Aber sie schwieg betroffen, so zornig trat das Mädchen auf sie zu.

„Du!“ kam es von den bebenden Lippen, „versuche es nicht noch einmal, mich von meiner Pflicht abzuhalten! Um ihr letztes Wort hast Du mich betrogen, Du –!“ Sie stockte, nach Athem ringend, und wandte sich um. Auf dem Tische lagen Handschuhe und Schleier, sie riß sie an sich und ging zur Thür hinüber.

Hortense stand unbeweglich auf der nämlichen Stelle. „Lucie!“ rief sie. Das Mädchen hielt ein und schaute zurück.

„Ich habe Angst um Dich, so allein.“ sprach Hortense.

Lucie sah sie an mit verstörten Augen. „Angst? Warum kommst Du nicht mit?“

„Weil – weil wir unser Ziel diese Nacht doch nicht erreichen würden; ich weiß es genau, der Zug hat keinen Anschluß. Morgen, Lucie – bleibe hier!“

Das Mädchen stand zögernd. Aber dann trat ein stilles blasses Antlitz vor ihre Seele, das lag, als ob es schliefe. „Ich muß fort!“ sagte sie. „halte mich nicht, ich kann nicht bleiben!“ Und im nächsten Augenblick schlug die Thür hinter ihr zu.




Lucie wußte selbst kaum, wie sie auf den Bahnhof und in das Koupé kam, und wie die Nacht verging und die drei Stunden des Wartens auf der kleinen Station, wo sich die Bahnstrecke ihrer Heimath von der großen Linie trennt. Sie hatte nur einen Gedanken, den einer bittern Reue, sie sah nur ein Bild vor sich: das waren die Augen Mathildens, wie sie in Thränen schwammen vor Sehnsucht nach der jungen Schwester, die da draußen in dem schönen glänzenden Leben ihrer vergessen hatte.

Als der Zug endlich vor dem Perron stand, dämmerte eben der Morgen herauf. Fröstelnd stieg sie in das leere Koupé und starrte in den Dunst des trüben Junimorgens, der erst nach und nach einen lichteren Schein annahm. Sie kannte die Gegend, die sie durchfuhr, die umnebelten Berge dort hinten, die Ausläufer des Harzes, und die Dörfer, die noch im Morgenschlummer ruhten. Die Wolken im Osten wurden allmählich durchsichtiger, aber die Sonne vermochte sie nicht zu zerstreuen, und endlich begann es zu regnen, ein leiser feiner Regen, der die ganze Gegend in graue dichte Schleier hüllte. Auf den kleinen Haltestellen, die der Zug gewissenhaft einhielt, stiegen Bauerweiber ein mit Marktkörben, hier und da ein paar Herren, die ebenfalls nach der Kreisstadt wollten, einige Augenblicke drängten sich Regenschirme und Kiepen durch einander; dann ward es wieder still, und der Zug ging weiter. Auf dem Bahnhofe der Stadt war schon mehr Gedränge, auch gab es längeren Aufenthalt. Wie im Traum hörte sie das Getriebe der Menschen und den Regen, der einförmig auf die Dächer der Wagenreihe schlug.

Dann sprang sie empor und ließ das Fenster herunter. Durch die Menge schob sich ein Kind, ein ohngefähr zwölfjähriger Knabe, das schmale Gesicht unter der weißblauen Gymnasiastenmütze hatte einen eigenartigen Ausdruck von Wichtigkeit und Trauer.

„Konrad!“ rief das Mädchen; „Konrad!“ Der Kleine stutzte und kam herüber. „Steig’ ein!“ sagte Lucie. „willst Du nach Hause?“

Er hatte die Mütze abgenommen und nickte. Aber er wies auch zugleich sein Billett. „Ich muß ja die Dritte,“ sagte er.

[135] „Warte!“ rief sie und kam heraus, und im nächsten Augenblick saßen sie sich gegenüber in einem leeren Koupé dritter Klasse, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

Ein Weilchen fuhren sie still dahin, Keines sprach ein Wort. Der kleine Bursche mit dem blassen Gesicht und den Augen, aus denen eine bange Frage an ein unverstandenes, bitteres Schicksal sprach, blickte unverwandt zum Fenster hinaus. Lucie konnte vor Thränen nicht reden, als sie das Kind vor sich sah, dem die Mutter so früh genommen war.

„Gestern hat’s der Vater schon geschrieben,“ begann er endlich; „aber Frau Müller hat es mir erst heute gesagt, und daß ich kommen soll. Er hat es Dir wohl auch geschrieben, Tante?“

Der kleine Kerl biß nach diesen Worten die Zähne auf einander, damit ihn die Thränen nicht übermannten.

Lucie nickte, und dann saß sie neben ihm und legte die Arme um das Kind und begann leidenschaftlich zu weinen.

„Wie ich das letzte Mal draußen war,“ sagte der Kleine, der diese Liebkosung, ohne sich zu rühren, hinnahm, „– am Sonntag – da hat Mutter gedacht, Du kämst, sie hatte auch Kuchen backen lassen. Sie meinte, sie wüßte es ganz genau, weil sie Dir geschrieben, daß sie krank ist. Warum bist Du denn nicht gekommen, Tante?“

Sie weinte noch heftiger, die Vorwürfe des Kindes trafen sie wie Dolchstöße.

„Sie war ja gar nicht böse,“ tröstete der Junge gutmüthig, „bloß traurig war sie.“

Lucie ließ ihr Tuch sinken und starrte auf das hell lackirte Holzwerk des Wagens und von da auf den Regen draußen.

„Morgen wird sie begraben,“ meinte der Kleine. „Herr Müller hat mir Ferien gegeben; ich darf acht Tage beim Vater bleiben; weil ich doch der Aelteste bin,“ setzte er stolz hinzu. „Da ist schon Schulzenskamp, nun werden wir gleich da sein,“ fuhr er fort. Und mit dem nämlichen traurigen Ausdruck der klaren Kinderaugen fragte er. „Bleibst Du nun bei uns, Tante?“

Sie nickte hastig und strich sich die Haare aus dem verweinten Gesicht.

„Ist’s wahr?“

„Ja, mein Junge.“

Auf der winzigen Haltestelle am Waldesrand war keine Menschenseele. Sie standen im Regen auf dem Kies vor dem Wärterhäuschen und sahen in das Wetter.

„Wir wollen nur gehen,“ meinte der Kleine; „der Vater weiß nicht, daß Du kommst, und ich – laufe ja immer.“

Sie gingen auf dem Waldweg dahin, den alten wohlbekannten Pfad. Der Nebel hing in dem jungen Laub der Buchen und das Wasser stand in den Gleisen des Weges.

„Gieb mir Deine Hand, Konrad,“ bat Lucie, als könne der Knabe ihr eine Stütze sein. In ihrem unsagbaren Schuldbewußtsein meinte sie, der Schwager müsse sie von dem Todtenbette der Schwester weisen.

„Die Hunde, Tante, hörst Du sie?“ fragte der Junge.

Sie nickte; dort unten tauchte das Haus auf. „Geh lieber voraus,“ stammelte sie, „und sag’s dem Vater, daß ich komme.“

Der Kleine lief voran, aber als er dem Hause näher kam, verlangsamte sich sein Schritt. Lucie sah, wie er zögernd die Stufen der Hausthür emporstieg. Ebenso langsam kam sie nach.

In dem großen mit Hirschgeweihen geschmückten Hausflur, der im Sommer zugleich als Speisezimmer diente, war es mäuschenstill; nur die Schwarzwälder Uhr tickte an der Wand. Die Thür zu des Schwagers Stube war angelehnt, und daraus hervor drang jetzt eine Frauenstimme, die Lucie nicht kannte, tröstend und mahnend. „Um der Kinder willen, Vetter – die armen Würmer! Wer wird denn solche Gedanken haben! – Ja, das wäre wohl bequem, wenn Eines dem Andern gleich nachsterben könnte? – Versündigen Sie sich nicht, kommen Sie und essen etwas!“

Lucie ging hinüber und öffnete die Thür. Sie that ein paar Schritte in die Stube hinein, dem Manne entgegen, der da wie gebrochen in der Ecke des Ledersofas saß, den Kopf in die Hand gestützt.

„Georg!“ sagte sie und hielt sich am Tisch. Sie sah zum Erbarmen aus, die blassen Lippen konnten nicht weiter sprechen.

Er blickte auf und erhob sich. „Du kommst zu spät, Lucie.“

Sie stand ganz still, mit gefalteten Händen. Ein kleine dicke Frau in den fünfziger Jahren, mit schlichtem Scheitel, einer Stumpfnase und hellen harten Augen, die über ihrem lila Kattunkleide eine schwarze Schärpe, schwarze Bänder an der Haube und ein schwarzes Halstuch trug, trat zu ihr.

„Ach, Sie sind wohl die Schwester, auf welche die selige Frau so gewartet hat? Lieber Gott, ja, es ist freilich sehr schwer, wenn man kommt, und es ist Alles vorüber. Aber Sie sind ja naß wie eine Made! Haben Sie denn trockenes Zeug bei sich? Na, warten Sie nur, ich hole heißen Kaffee; der Mensch soll essen und trinken auch an solchen Tagen.“

Sie nahm dem Mädchen Hut und Mantel ab und ging dann hinaus. Der Oberförster ging im Zimmer umher; er trat schwer und müde auf und hielt sich gebeugt. Lucie meinte, er sei um Jahre gealtert. Sie stellte sich ihm mit den noch immer gefalteten Händen in den Weg.

„Bringe mich zu ihr,“ bat sie.

Er wies mit der Hand nach der Thür. „Drüben liegt, was noch übrig ist – sie kann Dir nichts mehr sagen.“

Lucie ging hinaus und über den Flur durch das Wohnzimmer. Die drei ältesten Kinder saßen da um den großen mit Wachstuch bezogenen Tisch; die Mädchen von neun und acht Jahren, mit verweintem Gesicht, hantirten geschäftig in grünen Blättern herum; der Junge, von der schrecklichen Gewißheit überwältigt, hatte die Arme auf den Tisch gelegt, den Kopf darein verborgen und schluchzte jämmerlich. Das jüngste Dreijährige aber stand an der Thür, die in das Schlafzimmer der Verstorbenen führte, und über die runden Kinderwangen liefen helle Thränen; die ganze kleine Gestalt bebte im Weinen. „Mach’ auf!“ rief es, „mach’ doch auf!“

Lueie nahm das Kind auf den Arm. „Komm,“ sagte sie und trat in das Sterbezimmer. Sie schritt mit der still gewordenen Kleinen zu dem Lager; ein weißes blumenbestreutes Laken war darüber gebreitet. Sie wagte nicht, das Tuch zurückzuschlagen, um das stille Gesicht zu sehen.

„Mama!“ sagte die Kleine. Da nahm sie das Linnen zurück und hockte mit dem Kinde vor dem Bette nieder und faltete die Hände über demselben. Und ihr thränenüberströmtes Gesicht schmiegte sich an die kalte Wange der Todten.

„Vergieb mir!“ schluchzte sie, „vergieb mir!“

Aber diese müden Augenlider hoben sich nicht mehr, und der Mund blieb stumm.

Als die alte Frau einige Minuten später in das Zimmer trat, da lag eine Bewußtlose vor der Todten, und die Kleine saß neben ihr und spielte mit den Blumen, die sie von dem Lager genommen –

Der Begräbnißtag nahte sich seinem Ende, der Wagen der letzten Leidtragenden rollte eben den Waldweg entlang; im Hause war es still geworden. Die Kinder saßen im Hofe und kamen sich wichtig vor, weil ein Jeder sich heute mitleidsvoll mit ihnen beschäftigt hatte. Die kleinen Mädchen sahen komisch aus in den schwarzwollenen Kleidchen, die ihnen fast zu lang waren. Sie hatten das Schwesterchen in die Mitte genommen und thaten mütterlich mit ihr; der Junge aß ein Stück Kuchen mit verweinten Augen. Der Oberförster kam an ihnen vorüber; er sah nach der andern Seite, als könne er den Anblick nicht ertragen. Er hatte das Gewehr übergehängt und schritt, von seinem Hunde gefolgt, über den Hof zum Thore hinaus. Im Wohnzimmer, wo sonst die Verstorbene gesessen, saß nun die kleine ältliche Frau und ruhte sich aus von den Strapazen der letzten Wochen und des heutigen Tages. Lucie, die am andern Fenster stand und ihrem Schwager nachschaute, wußte nun, daß diese Frau ein Recht hatte, hier zu sitzen; sie war eine Verwandte und sollte, wie sie dem jungen Mädchen mitgetheilt hatte, im Hause bleiben der Wirthschaft und der Kinder wegen; und so genau Lucie das wußte, so wußte sie auch, daß sie hier überflüssig war. Sie hatte den Kopf an das Fensterkreuz gelegt und sah, wie der große Mann eben zwischen den Stämmen der Buchen verschwand. Er lief dahin in seiner Verzweiflung; ihm war das Haus öde, das Leben einsam jetzt. Sie hatte versucht, mit ihm zu sprechen, als sie heute früh vor dem Sarge zusammengetroffen waren; sie hatte nach seiner Hand gegriffen – er sah weder ihre Thränen, noch schien er ihre Hand zu fühlen. „Laß nur gut sein!“ hatte er gemurmelt.

Ihr Versuch, bei dem Herrichten des Frühstücks zu helfen, das für die Leidtragenden in der guten Stube aufgesetzt wurde, war fehlgeschlagen. Die Kousine hantirte in Speisekammer und [138] Wäschspind so wichtig und hastig, so laut und lärmend, daß Lucie meinte, das Läuten des Schlüsselbundes müsse die Hausfrau in ihrem Todtenschlummer noch stören.

„Ich brauche keine Hilfe, Fräulein,“ war die Antwort gewesen, als sie sich fast demüthig zum Helfen anbot. Selbst die alte Rike wehrte ihr unter Schluchzen als sie sich erbot, in der Küche zu helfen.

„Lassen Sie doch, Fräulein Lucie, das ist nichts für Ihre Hände. Ach Gott, Sie hätten ja gar nichts zu thun brauchen im Hause, wären Sie nur hier gewesen bloß zum Trost für die Frau, sie konnte gar nicht zum Sterben kommen, Fräulein, von Allen hatte sie Abschied genommen und sprechen konnte sie schon nicht mehr, aber die Augen gingen immer noch nach der Thür. Sie hat gewartet, so lange, Fräulein, aber Sie kamen nicht.“

Das Mädchen stand mit gefalteten Händen am Herd, an dem sie einst so fröhlich geschafft. Weinen konnte sie nicht mehr. Stumm saß sie auch inmitten der Trauergesellschaft. Die Freundinnen der Verstorbenen, die Frau Pastorin aus dem nahen Dorfe und die Frau des Direktors der Zuckerfabrik, sprachen theilnehmend mit ihr, als der Leichenzug im Waldwege verschwand, sie hörte nicht und antwortete nicht. Und so starr und stumm war sie auch jetzt noch. Endlich schlich sie hinauf in ihre kleine Stube und legte sich aufs Bett, in welchem sie glückliche Jugendträume geträumt, und horchte in die Stille hinaus. – Ein seltsamer Zustand war es. Sie versuchte sich zurückzuversetzen in die Zeit, da noch hier ihre Heimath war, und wunderbar – es gelang ihr. Halb wachend, halb träumend hörte sie die Uhr schlagen und sah den Mond durch die Bäume lugen, er malte zitternde Flecke auf den weißgescheuerten Fußboden. Der kleine eiserne Ofen in der Ecke sah in dem ungewissen Lichte aus wie eine Frau mit langer Taille und spitzer Haube. Sie hatte ihn einst in einer fieberhaften Krankheit als solch Wesen angesehen, und die Erinnerung war ihr geblieben – sobald die Dämmerung kam, stand die Frau in der Ecke. Auch heute wieder. Auf der Birkenkommode die kleine Porcellanvase – warum war sie leer? Hatte sie heute keine Blumen gepflückt, als sie im Walde gewesen mit den Kindern? – Horch, war das nicht Mathildens Stimme? Nein, Mathilde war krank, wie immer, aber da sprach Jemand.

Das ist er ja, ihr Bräutigam! „Alfred!“ sagte sie und richtete sich empor mit jähem Erschrecken. Nein, sie mußte sich getäuscht haben! Wo war sie denn eigentlich?

Sie richtete sich vollends auf und hielt sich wie im Schwindel an der Bettpfoste. Nun scholl das hohe kreischende Frauenorgan herauf. „Das Begräbniß? Grundgütiger, das ist vorüber! Sie wollten ihr die letzte Ehre geben? Morgen? Lieber Himmel! Nun, ein Bett haben wir schon für Sie, Herr Doktor, treten Sie ein. Mein Vetter wird bald wiederkommen, er ist grad ins Holz gegangen.“

Das Mädchen setzte sich nieder, die schreckliche Gegenwart stürmte mit aller Macht auf sie ein, und nun er noch, er! Wie lange sie so verharrte, wußte sie nicht, im Hause war es wieder still.

„Geht einmal gleich zu Bette, allez marsch!“ scholl es plötzlich wie Trompetenton, dann ein bitterliches Kinderweinen. „Gott erbarme, vor was fürchtet Ihr Euch denn? So ein Unsinn!“ klang es wieder. Und nun trappelten kleine Füße die Treppe empor.

Des Mädchens Herz krampfte sich zusammen. Sie dachte, wie Mathilde jeden Abend an dem Bette der Lieblinge gesessen, bis sie eingeschlafen waren. Und sie stand plötzlich auf den Füßen und lief in das Kinderzimmer, welches dem ihren gegenüber lag. „Soll ich Euch zu Bette bringen?“ fragte sie. Da hingen die Kinder an ihr wie die Kletten, schluchzend und kosend.

„Seid still,“ flüsterte sie, „damit das Schwesterchen nicht aufwacht.“

„Wir gehen sonst immer allein zu Bette, aber wir fürchten uns heute so,“ weinte die kleine Christine. „Der Dammköhler hat gesagt, acht Nächte lang käme die Mutter und sähe zu, ob wir auch gut versorgt würden,“ flüsterte die Aelteste, und in dem mondhellen Gemach sah Lucie deutlich die von unsagbarem Grauen erfüllten Kinderaugen. Sie zog die Kleinen an sich. „Eure Mama ist beim lieben Gott im Himmel,“ sagte sie, „und bittet ihn, daß es ihren Kindern wohlergehe. Wiederkommen, Ihr armen Würmer, wird sie nicht.“

Die Kleinen begannen abermals bitterlich zu weinen. Lucie küßte und beruhigte sie und half ihnen die Nachtröckchen anziehen. Sie saß dann, wie früher Mathilde, zwischen den Bettchen nieder.

„Soll ich Euch etwas erzählen?“

„Ja!“ rief der Junge, der hinter einem Vorhange seine Schlafstelle hatte. „von Rom, Tante! Die Mutter sagte, Du hättest das Kapitol gesehen und wenn Du kämest, dann könntest Du es uns beschreiben.“

Sie faßte an die Stirn. „Rom! – Ja –“ murmelte sie.

„Onkel Alfred hat mir ein Buch von Rom geschenkt, Tante, ich möchte einmal hin, gelt – es ist schön?“

„Onkel Alfred hat uns heute eine Tüte mitgebracht, aber die Kousine hat sie eingeschlossen.“ flüsterte eins der kleinen Mädchen. „Morgen muß sie uns aber etwas davon geben, sonst sagen wir es dem Onkel, ehe er fortfährt.“

Er blieb also die Nacht hier! – Das Mädchen stand in furchtbarer Unruhe auf. Nur ihn nicht sehen müssen, nur das nicht! – Sie setzte sich wieder, weil die Kinder aufs Neue klagten, daß sie Furcht hätten. „Schlaft, schlaft.“ sagte sie gepreßt, „morgen will ich Euch viel erzählen.“

Gehorsam schwiegen sie; sie lagen mit großen offenen Augen und starrten in den weißen Mondenschein, der durch die unverhüllten Fenster drang. Nichts war zu hören, als ihr Athemholen. Da klangen Schritte auf dem Gange draußen, die das Mädchen emporfliegen ließen. Hastig sah sie sich um – wohin konnte sie entweichen? Vergebens, nur die eine Thür führte hinaus. Aber dort, hinter dem großen Kachelofen –. Sie flüchtete hinüber in den schwarzen Schatten und setzte sich auf die alte Truhe, in der die Wäsche der Kinder aufbewahrt wurde. Und nun öffnete sich die Thür, und er trat über die Schwelle. In dem hellen Mondlichte sah sie jeden Zug seines Gesichtes. Sie preßte die Hände auf das Herz, so ungestüm begann es zu klopfen. Nahe an ihr schritt er vorüber, durch die offene Röhre des Ofens gewahrte sie, wie sich seine große Gestalt über eines der Bettchen beugte. „Schläfst Du schon, mein Mäuschen?“ hörte sie ihn sagen. Unendlich weich klang seine Stimme.

„Nein, Onkel,“ kam es schlaftrunken zurück.

„Fürchtet Ihr Euch noch?“

„Nein!“ flüsterte die Kleine, und ein weißes Aermchen schlang sich um seinen Hals. „Tante Lucie hat uns zu Bette gebracht.“

Er fuhr empor. „Tante Lucie?“ fragte er.

„Eben war sie noch hier,“ wisperte Anne Marie, „da hat sie gesessen. und dann ist sie fortgelaufen, ich hab’s wohl gesehen.“

„Thut Dir Dein Hälschen noch weh? Hast Du gestern einen nassen Umschlag bekommen? Nicht? Aber heute mußt Du ihn haben – sage Tante Lucie, daß sie ihn Dir umlegt, Mäuschen, Tante bleibt nun bei Euch, nicht wahr?“

„Onkel!“ schrie der Junge, „die Kousine will sie gar nicht, sie sagte vorhin, solche Prinzessin könnte ihr nichts nützen.“

„Tante ist so fein, so fein,“ versicherte das kleine Mädchen, „und sie hat so geweint.“

„Möchtet Ihr gern, daß sie hier bleibt?“

„Famos wär’s!“ rief der Junge, „sie ist in Rom gewesen und kann etwas erzählen.“

„Bittet sie nur, sie bleibt gern.“

„Sag Du’s ihr doch, Onkel,“ rieth der Junge.

Er stand jetzt aufrecht. „Mein alter Schelm,“ sagte er bitter, „das würde wenig helfen! Schlaft wohl, Ihr Kinder.“

„Onkel, soll ich Tante Lucie von Dir grüßen?“ fragte Anne Marie. Er antwortete nicht, er stand mitten im Zimmer, mitten in dem bläulichen Glanz, ohne zu ahnen, daß nicht weit von ihm heiße stille Thränen über ein blasses Mädchengesicht herabflossen, daß sich Lucie krampfhaft an die Truhe klammerte, als müßte sie sich festhalten, um nicht hinüber zu kommen und mit gesenktem Kopf vor ihn zu treten und zu sagen: „Vergieb mir, was ich Dir gethan!“

„Was denn?“ fragte sie sich, aber sie fand keine Antwort. Und sie sah ihn an durch diese Thränen und fühlte sich so klein und so schlecht und so elend!

Langsam wandte er sich und schritt zur Stubenthür hinüber. „Gute Nacht!“ sagte er noch einmal, dann war er gegangen. Und Lucie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte.

[139] In der Stube aber blieb Alles still, und als sie endlich an die Betten trat, da schliefen die Kinder süß und friedlich. Vorsichtig hob sie die kleine Marie im Bettchen hoch und wand ihr den Umschlag um den Hals und knieete nieder und küßte das Kind heiß und innig. Dann ging sie in ihr Stübchen hinüber und saß da am Fenster lange Zeit.

„Zu Tische!“ schrillte draußen die Stimme der Kousine, und ein harter Finger klopfte an die Thür.

Sie antwortete nicht und rührte sich nicht. Die Pantoffeln klapperten wieder die Stiege hinunter, vom Flur scholl das Klirren von Tellern und Gläsern herauf und die Stimmen der Männer. Georg mochte zurückgekehrt sein aus dem Walde.

Sie lauschte dem spärlichen Hin- und Herreden. Dann fuhr ein Wagen vom Hofe und hielt mit Peitschenknallen vor der Hausthür; dort unten rückten Stühle und wurden Abschiedsworte gesprochen. Lucie verstand sie nicht. Sie hatte die Hände in einander gepreßt und den Kopf gesenkt. Er ging noch heute Abend!

Nun fiel die Hausthür zu, der Wagen rasselte über das Pflaster, dann verklang das Rollen auf dem weichen Waldwege; still ward es draußen und drinnen. Nur die alte Uhr schwang ihren Pendel weiter, es war, als klinge ihre Stimme höher, froh, daß sie nun allein das Wort führe; und die Glockenschläge, die sie nachhallen ließ, unbekümmert, ob sie gute oder böse Stunden verkünden, die zählte ein schlafloses langes Geschöpf, und erst der Morgen brachte einen kurzen Schlummer den müden Augen.

Als Lucie am andern Tage in das Wohnzimmer trat, kam sie mit einem Entschluß, den sie in der bangen Nacht sich abgerungen. Sie wollte ihren Schwager bitten. „Laß mich bei Dir bleiben, ich will Deine Kinder pflegen und erziehen.“ Sie war ruhiger geworden und trat an den Frühstückstisch, vor dem er saß, mit jener Sicherheit, die ein ehrlicher fester Wille auch in schweren Augenblicken verleiht. Die Hausthür war weit geöffnet, draußen spielte der Sommerwind in den hohen Bäumen, und die Sonnenstrahlen huschten neckend über die Blondköpfe der Kinder, die auf der Bank unter der Linde hockten.

Lucie bot ihrem Schwager die Hand, dann deutete sie hinaus und fragte. „Georg, kann ich Dir nützlich sein für diese? Sag’s, und ich will mir alle Mühe geben, Deine Wünsche zu erfüllen.“ Sie sprach es hastig, denn eben trat ihr das Bild wieder vor die Seele, das sich die ganze Nacht hindurch in ihre Träume gedrängt: Hortense, mit der verzweiflungsvollen Miene der letzten Tage in Dresden. Dort stand ja auch eine geöffnete Schachtel auf der Ecke des Tisches; ein wundervoller Kranz weißer Rosen lag darin und auf ihm eine zierliche Visitenkarte, unter siebenzackiger Krone den Namen „Hortense von Löwen, geborene von Löwen“.

Der große Mann mit dem bekümmerten Gesicht schüttelte den Kopf und goß sich ein Gläschen Nordhäuser voll. „Mathilde hat noch selbst, ein paar Tage vor ihrem Tode, eine Erzieherin engagirt; sie kommt zu Johanni.“

Lucie wurde um einen Schein bleicher. Sie setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und sah auf die kleinen Mädchen, die den gelben Teckel vor ein umgekehrtes Fußbänkchen gespannt hatten, in dem sie ihre Puppen spazieren fuhren.

„Für die Wirthschaft sorgt meine Kousine,“ fuhr er fort. „Aber mach’ Dir deßhalb keine Sorgen. Es ist in den schweren Tagen der Krankheit ohne Dich gegangen, es wird auch jetzt gehen, muß gehen,“ schloß er, aber er wich dem jammervollen Blick der beiden Augen aus.

„Mariechen ist kränklich?“ stotterte sie.

„Eine Kleinigkeit!“ wehrte er ab.

„Laß mich hier bleiben,“ flüsterte sie, „ich will das Kind pflegen, wie es nur seine Mutter gekonnt – um Mathildens willen laß mich hier!“

„Es ist ein trübseliger Aufenthalt in meinem Hause, ich danke Dir. Und warum solltest Du eine Stellung aufgeben in der Du Dich wohl befindest?“ Er erhob sich, trat zu dem Bord, an dem Hut und Gewehr hingen, und nahm das letztere über die Schulter. „Aber ich danke Dir vielmal,“ wiederholte er und pfiff seinem Hunde.

„Ich gebe doch keine Stellung auf!“ widersprach sie.

Er blieb stehen und sah sie an. „Die Frau von Löwen sollte mit ihrer Gesellschafterin kein Abkommen getroffen haben? Das wäre schlimm für Dich und nicht nobel von der Gnädigen. Zudem, es war die einzige Entschuldigung in meinen Augen für Dein Fernbleiben. Als Besuch, wie ich anfänglich wähnte, dünkt mich die Zeit etwas unbescheiden lang.“

Lucie stand auf. „Du verkennst die ganze Sachlage, Georg,“ sagte sie ruhig. „Hortense ist mir eine Freundin, und, und –“

„Meinetwegen nenne sie so,“ unterbrach er. „So lange sie Dich braucht, wirst Du wohl auch bleiben; aber eines schönen Tages wird sie heirathen und Du bist kaltgestellt. Ich habe übrigens Deiner Schwester versprochen, daß Du jeder Zeit eine Zuflucht hier findest. Guten Morgen!“ Er rückte den Hut und ging hinaus. Ueber Luciens blasses Gesicht flog ein trauriges Lächeln. Sie stieg die Treppe hinauf, holte sich den Hut, dann nahm sie den Kranz aus der Schachtel und verließ ebenfalls das Haus. Sie wollte nach dem Kirchhof gehen.

Die kleinen Mädchen kamen ihr nachgesprungen, sie wehrte ihnen das Mitgehen, sprechen konnte sie nicht, so weh war ihr zu Muthe. Sie fühlte jetzt eine brennend heiße Sehnsucht nach Hortense, nach dem Augenblick, wo sie ihren Kopf an die Schulter der jungen Frau legen konnte und sagen: „Nun habe ich weiter Niemand mehr in der Welt, als Dich! Meine einzige Zuflucht bist Du!“ Nie meinte sie Hortense so lieb gehabt zu haben, wie in diesem Moment, wo man so plump an ihrer Freundschaft zu zweifeln wagte.

Sie ging mit heißen Wangen und erhobenem Kopf durch den Wald. Sie mußte an der kleinen Haltestelle vorüber.

„Geht der Zug noch wie früher um fünf Uhr Nachmittags hier ab?“ fragte sie den Beamten in dem winzigen Stationsgebäude.

„Ja, Fräulein.“

„Ich danke!“ Und sie schritt weiter die Chaussee nach dem Dorfe entlang. Die Ebereschen zur Seite des Weges standen in Blüthe, in vollster Frühlingspracht rauschte der Wald, und aus dem jungen Korn stiegen jubilirend die Lerchen in den blauen Himmel empor. Die Pforte des Gottesackers stand weit geöffnet; die Fliederbüsche hingen ihre duftenden Zweige über die Gräber und eine Schar Kinder tummelte sich zwischen ihnen umher. Der Todtengräber, den Spaten in der Hand, kam ihr entgegen. „Dort hinten, Fräulein“ sagte er, „in dem neuen Theil.“

Es sah noch so wüst aus, das Grab, Erdschollen lagen um den frisch aufgeworfenen Hügel und die Kränze waren schon verwelkt – dicht daneben hatte man bereits ein frisches Grab geschaufelt. Es stand hier noch kein Baum, der kühlen Schatten spendete, die Sonne brannte erbarmungslos herunter. Das Mädchen legte Hortense’s Kranz zu Füßen des Grabes und verharrte regungslos daneben, den öden Hügel anschauend; sie meinte zu sterben vor Weh, und doch kam keine Thräne aus ihren Augen. War es denn so furchtbar, was sie gethan? Sie hatte versöhnen, wieder gut machen wollen, ihre ganze Kraft, ihr ganzes junges Leben hatte sie einsetzen wollen für Mathildens Kinder, und – sie ward zurückgewiesen.

Sie schritt wieder durch den Haupteingang des Kirchhofes, in der Hand ein paar halbverwelkte Cypressenzweiglein, die sie sich aus einem der Kränze genommen. Als sie aus dem Thore des Gottesackers hinaus war, begann sie schneller zu gehen. In der Dorfstraße begegnete ihr der alte Briefträger, sie kannte ihn noch gut, er hatte ihr einst schmunzelnd den ersten Brief von dem Bräutigam gebracht.

„Hier habe ich etwas für Sie,“ sagte er, „und dies für den Herrn Oberförster. Nehmen Sie es gleich mit? Danke auch schön.“

Lucie hielt die Schreiben in der Hand, das für sie bestimmte war von Hortense. „Gott sei Dank – von ihr!“ sagte sie. Als ob eine warme treue Hand die ihre ergriffen, so tröstlich ward ihr auf einmal zu Muthe. Ob sie ihr wohl zürnte?

Als sie in den Waldweg einbog, wollte sie den Brief öffnen; sie besann sich aber und schritt nur eiliger vorwärts dem Hause zu.

Die Kousine füllte eben, auf Mathildens Platz am oberen Ende der Tafel sitzend, die Suppe auf. Noch fehlte der Hausherr, aber die jungen Forsteleven standen bereits hinter ihren Stühlen, eben so waren die Kinder zur Stelle. Lucie legte die Briefe auf Georg’s Platz und flog die Treppe hinan. In ihrem Stübchen legte sie den Hut ab und wusch das erhitzte Gesicht und die Hände, dann zog sie das Schreiben hervor. Nur einen Blick, ehe sie hinunter ging. Hastig rissen ihre Finger das Kouvert auf und entfalteten den kleinen starken Bogen.

[140] Dann sank sie wie betäubt auf den Stuhl am Fenster. War es denn möglich? Sie wandte die Augen wieder auf das weiße Blatt – es ward nicht anders, da stand es, klar und deutlich:

 „Mein Liebchen!

Gestern Abend habe ich mich mit Weber verlobt! Frage nicht, staune nicht, ich kann Dir schriftlich nicht Auskunft geben, wie es geschah. Da ich annehme, daß man Dich vor der Hand nicht entbehren kann, so komme ich morgen früh zu Dir; ein paar Stunden wirst Du doch haben für mich.
Deine Hortense.“ 

Sie legte den Kopf auf die Fensterbank und faßte mit den Händen in ihr Haar. Sie hatte keine klare Vorstellung mehr von dem Geschehenen, oder was jetzt geschehen sollte. Sie wußte nur Eins: sie hatte nun Alles verloren!

[149] Am andern Morgen saß Hortense dem Mädchen gegenüber in ihrem kleinen Stübchen. Lucie hatte Kaffee und Buttersemmel herzugebracht, aber die junge Frau genoß nur wenig; sie zog fröstelnd das Tuch um ihre Schultern und sagte. „Wie hältst Du es aus hier, Lucie?“

Das Mädchen sah sie still an.

„Und – wirklich, Du willst hier bleiben?“

Noch war kein Wort über das jüngst Geschehene zwischen ihnen gefallen. Als Hortense aus dem Koupé stieg, hatte sie gleich gesagt. „Fang’ jetzt nicht davon an; in Deinem Zimmer werde ich Dir Alles erzählen.“ Und Lucie schwieg demgemäß völlig. Jetzt antwortete sie nur:

„Nein, ich bleibe nicht hier!“

„Nicht hier?“ fragte Hortense. „Ja, wie soll ich das verstehen? Was willst Du thun?“

„Das weiß ich noch nicht, aber hier bleibe ich nicht.“

„Dann bleibst Du bei mir. Entweder – oder! Etwas Anderes als dieses Beides giebt es doch nicht?“

„Bei Dir – –?“

„Ja, Lucie!“ Hortense war aufgestanden und umarmte sie. „Ich glaubte es nicht, daß Du wieder zu mir kommen würdest, ich dachte, Du würdest Dich jetzt fanatisch auf den Haushalt und die Kinder stürzen – um Dein Gewissen zu beruhigen. Desto besser! Ich kann Dich weniger als je entbehren.“

Du? Ich meine, Du wirst bald heirathen?“

„Eines schönen Tages einmal, ja!“

„Nun also!“

„Also? – Was geht das Dich an, uns an?“ Herr Weber wird den ganzen Tag auf dem Felde sein, oder im ‚Deutschen Hause‘ in A. oder auf der Jagd oder sonst irgendwo; Du siehst, ich habe mich genau orientirt. Es ist auch gut so, und Du ziehst mit in das Rokokoschloß, Lucie.“ Es klang sehr leichthin, und die junge Frau betrachtete dabei angelegentlich die kleine Silhouette von Luciens verstorbener Mutter, die sie von der Wand genommen.

„Mein Gott, Hortense,“ kam es leise über des Mädchens Lippen, „wie bist Du nur darauf gekommen, Dich mit ihm zu verloben?“

„Du fragst mich zuviel, Kind, ich weiß es nicht; den Hergang kann ich Dir ja erzählen, nur nicht, was ich dabei dachte.“ Sie hing das Bildchen wieder an den Nagel, lehnte sich gegen die Kommode und schlug die Arme über einander. „Als Du mich allein gelassen hattest,“ begann sie, „verlor ich den Kopf, das heißt – ich gerieth in einen unsagbaren Zustand von Angst und Aufregung; es war beinahe so wie vor einem Jahre. Ich hatte die größte Lust, hinüber zu laufen an die Elbe und hinein [150] zu springen; Dich betrachtete ich als verloren. – Unten feierte man ein Hochzeitsfest. Du weißt ja. Das Stubenmädchen mag mich in dieser Aufregung erblickt haben – ich lag auf dem Teppich und hatte mir ein wenig die Haare zerrauft. Plötzlich klopfte es und Herr Weber kam herein. Er richtete mich auf und brachte mich dazu, Platz zu nehmen nach vernünftiger Menschen Weise. Und dann saßen wir uns stumm gegenüber. Ich hatte ihn verschiedentlich aufgefordert, sich zu entfernen, aber er ging nicht, es sei nicht möglich, mich allein zu lassen! Um mich nicht allzu lächerlich zu machen, nahm ich mich zusammen; da erklärte er gradezu, daß er mich liebe, und bat um meine Hand.

Ich glaube, ich habe hell aufgelacht. „Kennen Sie mich denn, und kennen Sie meine Familie?“ – Er blieb ernst und sagte noch einmal: „Ich liebe Sie, Hortense, und nichts in der Welt wird mich von meinem Vorhaben abbringen.“ Wie er da so ruhig vor mir stand und mich so fest ansah mit seinen blauen Augen, da war es mir, als ob Jemand flüsterte: ‚bei ihm bist Du geborgen, Hortense!‘ – Ich kannte ihn nicht, ich wußte nichts von seiner Familie, und dennoch schien es, als zwinge mich eine übermächtige Gewalt zu ihm. Noch einmal wiederholte er seine Frage – – von unten schallte gerade ein brausendes Hoch! herauf und plötzlich lag meine Hand in der seinen. Dann wollte ich mich losreißen ‚ich liebe Sie nicht!‘ rief ich, ‚ich habe mich übereilt!‘ Er hielt mich nur fester. ‚Aber ich Sie, Hortense, ich kann warten.‘ – Ich wollte ihm von Papa sprechen – es war, als sei meine Zunge gelähmt. Feige wandte ich mich ab.

Er saß dann mir gegenüber, stundenlang, und sprach von seinen Brüdern, seiner Mutter, ich habe es nicht behalten was? Er hatte die Thür nach dem kleinen Vorzimmer geöffnet, wo das Stubenmädchen wie gewöhnlich saß und strickte; es sei sehr heiß hier, meinte er. Als der letzte Ton des Festes verklungen war, empfahl er sich und schickte das Mädchen herein. Wie betäubt sank ich auf mein Bette und schlief. Ich wachte erst am andern Mittag auf, als drunten der Wagen rasselte, der Wilken als Ehemann neben seiner jungen Frau aus der Kirche brachte.

Auf meinen Bräutigam besann ich mich mit Mühe, als mir das Stubenmädchen ein Billett und ein Bouquett von ihm überreichte. Ich ließ mich entschuldigen und blieb den ganzen Tag im Bette, ich war zum Sterben unglücklich. Am Abend wollte ich ihn mit der Erklärung empfangen, ich hätte mich einer Uebereilung schuldig gemacht, um nachher mit dem Nachtzuge abzureisen. Aber siehe da! Er kam nicht, er war bereits seit Mittag unterwegs nach Hohenberg zu Großpapa. Gestern früh empfing ich ein Telegramm des alten Herrn, das seine Einwilligung brachte. Er erwartet mich heute.“

Sie hatte mit zuckender Lippe gesprochen; nun schwieg sie und preßte die Hände an die Schläfen. „Voilà tout!“ sagte sie nach einer Pause mit völlig verändertem Tone; „nun packe Deine Sachen und komm!“

„Aber wie willst Du das Verhältniß ertragen? Mich hast Du gewarnt, Hortense, gewarnt vor einer Ehe ohne Liebe, und Du stürzest Dich kopfüber hinein?“

„Ich bin auch nicht eine so sentimentale Natur wie Du.“

Lucie ergriff den Arm der jungen Frau. „Erst recht bist Du es!“

„Und dann, weißt Du, er ist sehr reich,“ fuhr Hortense unbeirrt fort, „die kleinen Sorgen des Lebens werden uns nicht zusammenführen, sein Haus ist so groß; wir können uns aus dem Wege gehen. Mit Dir war das etwas Anderes.“

„Aber man heirathet doch nicht, um sich aus dem Wege zu gehen? Du mußt ihm schreiben, Du mußt ihm sein Wort zurückgeben!“ rief das Mädchen außer sich.

„Ich denke nicht daran!“ sagte Hortense ruhig.

„Und mir willst Du die Schuld beimessen? Das ist unbarmherzig, das ertrage ich nicht!“

„Wenn Du bei mir geblieben, wäre es sicher nicht passirt, mein Kind, daran kann ich nichts ändern – Wann geht denn der nächste Zug aus diesen Wäldern? Ich meine, um zwölf Uhr – nicht? Mache Dich bereit und nimm Abschied; mit mußt Du, das bist Du mir schuldig!“

„Nach Hohenberg?“

„Bis zur Hochzeit nur, dann gehst Du mit nach Woltersdorf.“

„Er wird sich bedanken!“

„Das dürfte sich finden, Lucie. Nun bitte, mache endlich Anstalt zur Reise.“

Das Mädchen rührte sich nicht; ihre Gedanken drehten sich wie im Wirbel. Sie konnte nicht hier bleiben, und die Idee, nach Hohenberg zu gehen, war ihr peinvoll. Aber Hortense sprach die Wahrheit; sie hatte den tollen Streich gemacht, weil die Verzweifelnde allein gelassen worden war – am schwersten Tage ihres Lebens.

„Ich will ehrlich sein,“ sagte sie endlich, „mein Wille war es, hier zu bleiben aber –.“

„Dein Wunsch auch?“ unterbrach sie Hortense.

„Auch mein Wunsch, aber – ich habe mir bei Georg einen Korb geholt. Er will mich nicht.“

„Sehr angenehm für mich! Aber warum?“ „Weil ich nicht kam, als Mathilde mir schrieb, sie sei krank, weil ich sie vergaß um Deinetwegen!“

Sie hatte Thränen in den Augen, als sie sich still nach ihrer Reisetasche bückte, die in einem Winkel des Stübchens lag. Hortense antwortete nicht, sie ging indessen im Zimmer umher und betrachtete mit Interesse jedes Stück des einfachen Hausraths. Sie sah bleich aus, das dunkelblaue Reisekleid ließ ihren Teint fast gelblich erscheinen und unter den großen Augen lagen dunkle Ringe. Lucie wußte so genau, was sie gelitten hatte.

Vor der Thür erhob sich eine schreiende Kinderstimme. Lucie sprang hinaus, das jüngste Mädelchen war hingefallen und weinte. Sie hob es auf und kam in die Stube zurück, setzte sich, und, das Kind auf dem Schoße haltend, versuchte sie, es zu beruhigen.

Hortense hatte sich umgewandt und sah starr zu ihr hinunter. Irgend etwas ging in ihr vor.

Die Kleine hörte endlich auf zu schreien. Lucie ließ sie zur Erde und gab ihr ein Wollenknäuel in die Hand.

„Bleibt sie hier?“ fragte Hortense.

„Laß sie doch, bitte! Sie wissen ja garnicht, wohin sie gehören, die armen kleinen Würmer!“

„Lucie,“ stieß die junge Frau hervor, „bringe das Kind hinaus, es beängstigt mich! Ich kann ein Kind nicht ansehen, ohne zu denken welche Schicksale ihm bevorstehen! Was wird es zu tragen haben, was werden die Menschen an ihm sündigen!“

„Aber ich bitte Dich, Hortense,“ sagte das Mädchen erschüttert, „nicht jedes hat’s so schwer wie Du!“ Sie führte die Kleine hinaus und brachte sie zu Rike in die Küche. Als sie wieder kam, fand sie die junge Frau auf dem Stuhle sitzend, die Hände vor das Gesicht geschlagen.

„Das wird Gott doch nicht wollen,“ sprach sie tonlos. „Es macht mich so elend zu denken, ich könnte einst solch ein Kind auf den Armen halten, und das würde so herumgestoßen im Leben wie ich, würde so schlecht wie ich!“

Das Mädchen stand hoch aufgerichtet vor ihr. „Hortense,“ sagte sie streng, „schreibe ihm, daß Du ihn nicht liebst, daß Du auf keinen Fall ihn unglücklich machen willst –.“

„Er will es ja nicht anders!“ murmelte die junge Frau.

„Aber auch Du wirst unglücklich. Wie kann man mit so schrecklichen Ansichten heirathen wollen! Noch einmal, schreib’ ihm ab!“

Sie schüttelte den Kopf: „Nein! Ich will mein Wort halten, und überdies – heute früh wird Wilken meine Verlobungsanzeige gelesen haben.“

Lucie sagte nichts weiter. Mit dem Mittagszuge reisten sie ab. In dem Augenblick, als er in Hohenberg einfuhr, fragte Hortense: „Es wird Dich doch nicht alteriren, daß Dein ci-devant Bräutigam hier haust?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie hinzu: „Doch wohl nicht? Du liebtest ihn ja nicht.“

Lucie sah an ihr vorüber. „Ich wäre nicht hergekommen,“ sagte sie mit bebender Stimme, „wenn ich nicht wüßte, daß Du mich wirklich nöthig hast.“

„Sehr nöthig sogar!“ Und Hortense winkte lächelnd und herablassend mit der Hand dem großen Manne zu, der, den Hut über dem blonden Scheitel haltend, vor dem Koupé stand, das man eben öffnete. „Mein Bräutigam erwartet mich,“ bemerkte sie sich zurückwendend, im Begriff auszusteigen. Sie betonte jede Silbe des „Bräutigam“.

[151] Lucie erhielt einen verwunderten Blick von ihm, Hortense aber sagte, indem sie seinen Arm verschmähte und Luciens Hand ergriff: „Ich habe mir den Flüchtling wieder eingefangen. Wie geht es Großpapa?“

Am Fenster ihrer Wohnstube saß Frau Steuerräthin Adler und strickte. Es hatte sich nichts verändert in ihrer Umgebung, und sie selbst auch nicht; nur zufriedener sah sie aus, besonders wenn ihr Blick von einem jungen Mädchen zurückkehrte, das neben ihr emsig häkelnd Platz genommen. Es war eine volle robuste Gestalt, hatte flachsblonde schwere Zöpfe und einen Teint wie Centifolien, welche Farbe sich auch auf die großen runden Hände erstreckte, die verschiedene Ringe schmückten, breite silberne Reifen umspannten die keinesweges zarten Handgelenke, dazu trug das Mädchen eine Korallenbrosche und an ihr befestigt eine Uhrkette, annähernd so stark wie die Wagenketten ihres Vaters, des Herrn Gutsbesitzers Mähnert. Diese junge Dame, die übrigens ein paar blaue unendlich gute Augen besaß, weilte seit längerer Zeit zum Besuch bei der Frau Steuerräthin, „damit sie nicht so gar allein sei,“ denn Tante Dettchen war mit ihrem Neffen in sein Häuschen gezogen und führte ihm dort die Wirthschaft, so behaglich und bequem, wie nur sie es verstand.

Fräulein Selma Mähnert aber war schon lange von der Frau Steuerräthin geliebt worden, Frau Adler hatte schon, als der stattliche Backfisch eben aus der Pension zurückgekehrt war, zu der Mutter bei Gelegenheit eines Besuches auf dem eine Stunde von Hohenberg entfernten Gute mit der ihr eigenen Unverfrorenheit geäußert: „Das wäre eine Frau für Alfred!“ Und in Folge dieser Ansicht hatte sie Alles gethan, um sehr zart – denn zart muß man so etwas anfassen, war ihre Meinung – das Kind für Alfred und Alfred für das Kind zu interessiren, und hatte bei Letzterem auch die rührendste Bereitwilligkeit gefunden, während der Sohn ihr den „Affront“ anthat, nicht nur diese zarte Andeutung nicht zu verstehen, sondern sogar sich mit dieser Lucie Walter zu verloben, ohne daß die Mutter vorher im Stande gewesen war, ein Urtheil über die Wahl abzugeben oder eine Warnung zu erlassen.

Ja so etwas rächt sich immer!

Fräulein Selma, die übrigens bei der Verlobungsnachricht nicht in Ohnmacht gefallen war, aber sich doch etwas fern von der Tante Adler gehalten und verschiedentlich bei ihren Besorgungen in der Stadt das Haus der Frau Steuerräthin gemieden hatte, was gleichbedeutend war mit dem Verluste von einigen fetten Gänsen oder Puten, kehrte auf die Alarmnachricht wieder zurück in die mütterlich geöffneten Arme und hörte die Beschreibung dieser ganz pflichtvergessenen schrecklichen Person, die Lucie Walter hieß, mit Kopfschütteln und vielen: „Nein aber!“ und „Wie ist es möglich!“ an. Es war noch heute das Thema, welches mit immer gleichem Interesse behandelt wurde.

Wenn nur Alfred endlich einmal begreifen wollte, welch ein Kleinod ihm für dieses davongelaufene Hochmuthsnärrchen geboten wurde! Aber es war, als sei das große rosige Mädchen Luft für ihn – nicht gerade Luft, aber er hatte doch kaum einen Blick für sie und glaubte Alles gethan zu haben, wenn er höflich „Guten Tag!“ sagte. Er bemerkte absolut nicht, oder wollte nicht bemerken, daß ihre Hände ihm allerlei Lieblingsgerichte zubereiteten, die nach Aussage der Mutter tausendmal wohlschmeckender ausfielen, als sie selbst es verstand; daß sie ihm Morgenschuhe stickte und Strümpfe mit doppelten Hacken strickte.

„Er ist wie ein Blödsinniger in dieser Hinsicht,“ sagte ärgerlich die Mutter zu sich selbst. Auch das half nicht, daß sie, wenn er wirklich einmal Hut und Stock ablegte, um Kaffee mit ihnen zu trinken, sich von dem kleinen Dienstmädchen unter irgend einem Vorwande abrufen ließ, das dumme Geschöpf konnte dabei immer das alberne Lachen nicht lassen, während sie würdevoll fragte:

„Na, was giebt’s denn?“

Kam die Mutter nach einer halben Stunde wieder herein, so erblickten ihre Augen das Mädchen über der Häkelarbeit und ihn über einem Buche, oder gar einmal, wie er mit unbegreiflicher Beharrlichkeit aus dem Fenster sah, obgleich da wirklich nichts auf der Straße umherlief, was mit Selma hätte einen Vergleich aushalten können, besonders wenn man die fünfzigtausend Thaler in Betracht zog, die sie einstens erben würde.

Er mußte wirklich endlich einmal einen energischen Rippenpuff bekommen, das war beschlossene Sache, denn abgesehen von allem Anderen, ein Arzt ohne Frau – es ging ja gar nicht länger!

So saßen sie auch heute, tranken ihren Kaffee und erwogen die Frage, ob der Herr Doktor nicht kommen würde? Seit mehreren Tagen hatte er sich gar nicht sehen lassen; das kleine Dienstmädchen war schon in aller Morgenfrühe nach der Wasserstraße geschickt worden, um den Sohn zu bitten, heute mit vorzukommen, da die Frau Mutter „es im Halse habe“. Diese Kriegslist wurde öfter gebraucht und von seiner Seite mit unerschütterlichem Ernst aufgenommen. Er verschrieb jedesmal eine neue Auflösung zum Einpinseln oder ein flüchtiges Liniment für das Reißen, und wenn das Recept fertig dalag, hatte er selten noch Zeit länger zu bleiben.

Die Damen sprachen wieder über Lucie, und Fräulein Selma meinte eben: „Ja, sie muß schrecklich verzogen sein!“ Da kamen Schritte die Treppe hinauf und der peinlich Erwartete trat ein.

„Nun, mal wieder im Halse?“ sagte er freundlich, „Du mußt Dich mehr in Acht nehmen, Mutter, die Spaziergänge Abends solltest Du unterlassen, es ist hier zu feucht in unserer Gegend.“

„Ach, das ist’s wohl nicht, Alfred, Selma klagt auch. Selma, hole einen silbernen Löffel und laß Dir in den Hals sehen, mir kommt’s vor, als wäre dort ein wenig Belag.“

Das Mädchen ward noch rosiger, als sie für gewöhnlich schon aussah, brachte das Gewünschte und öffnete auf sein Verlangen den nicht gerade kleinen, aber mit einer prachtvollen Garnitur Zähne versehenen Mund.

„Alles in Ordnung!“ sagte er und legte den Löffel weg. „Gurgeln Sie ein wenig, weiter ist nichts nöthig.“

„Hast Du viel Kranke, Alfred?“ fragte die Mutter.

„Wenig.“

„Warum kommst Du denn so selten?“

„Ich bin seit ein paar Tagen nicht bei Dir gewesen? Richtig! Ich war verreist, zum Begräbniß der Frau Oberförster Remmert.“

„Na, das muß ich sagen!“ Die Mutter blickte erstaunt ihren Sohn an. „Es waren wohl viel Leute da?“

„Ich kam zu spät,“ erwiederte er, „außer dem Oberförster und seiner Kousine habe ich Niemand gesehen.“

„Was? Die Schwester von ihr war nicht einmal da?“ rief die Mutter. „Na, da siehst Du’s, Selma, so ist sie!“

„Wenn Du Fräulein Walter meinst, so war sie allerdings da, aber ich sah sie nicht, sie mochte wohl in der Kinderstube sein.“

„Alles Mögliche! Nun bleibt sie wohl und erzieht die Gören? Es ist wenigstens etwas Nützliches.“

Er stand lange am Fenster, das Gespräch war ihm peinlich. „Vermuthlich wohl, ich weiß es nicht,“ erwiederte er. Dann blieb er stumm; die Straße herunter rasselte ein Wagen, es war der Landauer des alten Herrn von Meerfeldt.

Er stützte sich plötzlich schwer auf das Fensterbrett. Dort im Fond, neben Frau von Löwen saß, ängstlich in die Ecke gepreßt, in tiefer Trauer – Lucie Walter; ihr Kreppschleier flog im Winde wie ein schwarzer Schatten über dem blassen Gesicht. Es war, als wollte sie ihre Augen zu den wohlbekannten Fenstern erheben, aber sie blieben gesenkt. Im nächsten Augenblick war das Gefährt vorüber gerollt.

„Nein, das ist ja schamlos!“ rief die Frau Steuerräthin empört. „Die Schwarze – Selma! Hast Du sie gesehen? Das war sie! Hierher zu kommen – nein, das ist mehr als erlaubt, das ist zu arg!“

„O Gott!“ flüsterte das Mädchen beistimmend.

In diesem Augenblick wandte sich ihnen ein tief erblaßtes Männergesicht zu.

„Ich muß Dich dringend bitten, Mutter,“ sagte er, „in meiner Gegenwart diese Kritiken zu unterlassen. Dir so wenig wie mir sind die Gründe bekannt, welche Fräulein Walter hierher führen.“

„Die Gründe? Na, ich will sie Dir aufzählen, wenn Du es wünschest. Nein, so gleich kann ich mich nicht fassen, nicht so stillschweigend das – das –“

„Ich bitte Dich, fasse Dich in meiner Abwesenheit, Mutter,“ unterbrach er sie und nahm seinen Hut. „Wenn ich wiederkomme, hat sich dieser Sturm hoffentlich gelegt.“

Er grüßte leicht und verließ das Zimmer.

[152] „O Du lieber Gott!“ sprach die von dem raschen Abgange sichtlich betroffene Frau vor sich hin und nahm ihr Strickzeug wieder auf. Sie war freilich eben sehr unvorsichtig gewesen; das sah sie ein, denn er hatte nie geduldet, daß in seiner Gegenwart von der ehemaligen Braut gesprochen wurde. Aber sie hatte zugleich eingesehen, daß er noch immer nicht gleichgültig über sie dachte, und darum seine abweisende Art gegen die Wünsche, die sie in aller mütterlichen Liebe und Güte für ihn hegte, darum! Sie bebte innerlich vor Zorn.

„Hole den Kaffee, Kind,“ sagte sie, sich mühsam zur Ruhe zwingend. „Nein, diese Männer!“ murmelte sie vor sich hin, „Dickköpfe! Stierköpfe! Durch die Wände wollen sie, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben! Nein verrückt – und so war sein Vater auch! Was habe ich mit dem Seligen für Tänze gehabt, ehe ich meinen Willen kriegte! Aber sie haben eben alle einen Brand im Kopf, und wenn’s nicht brennt, so glimmt es.“

Mit sauersüßer Miene trank sie Kaffee mit ihrem Schützling und sprach dabei von einem Häkelmuster, das sie verloren und das nirgend wieder aufzufinden sei, und zum Schluß sagte sie mit einer kühnen Wendung:

„Heute wird Dettchen einen schlimmen Tag haben, mein Kind. Nichts verbittert die Männer mehr, als wenn sie unversehens an eine Dummheit erinnert werden. Wir wollen nie wieder von ‚ihr‘ – sie machte eine Bewegung nach dem Meerfeldt’schen Grundstück hinüber – „in seiner Gegenwart reden, und wenn sie meinetwegen vor unseren Fenstern auf dem Seile tanzt.“

Dettchen hatte keinen schlimmen Tag, aber einen traurigen. Der Herr Doktor kam eilig nach Hause und ging sofort in seine Stube, ohne erst Kaffee bei ihr zu trinken; und der duftende Trank stand doch so sorglich warm auf dem blankgeputzten kupfernen Kohlenbecken, zum Ueberfluß noch mit einer pompösen gestickten Kaffeemütze bedeckt. Sie goß seine Tasse voll, kam damit die Treppe hinunter und klopfte schüchtern an die Thür. Auf seine Antwort trat sie ein und fand ihn mit finsterer Miene vor dem Schreibtisch.

„Es sind Bestellungen für Dich da,“ sprach sie freundlich, „Du sollst zu Brauer Günther’s kommen und zu Banquier Josephsohn’s. Und dann läßt Dir Mademoiselle Bertin sagen, Du möchtest im Laufe des morgenden Vormittags doch einmal wieder nach dem alten Baron sehen, er hat sich über irgend etwas heftig alterirt. Sie war selbst hier und furchtbar erregt. Denke Dir, die Hortense von Löwen hat sich verlobt.“

„So?“ sprach er gleichgültig.

„Und mit einem Herrn Weber. Die Bertin sagte: „wenn er wenigstens von Weber hieße!“

Er mußte lächeln über die letzte Bemerkung.

„Sie kommt heute, Alfred.“

„Das Brautpaar ist schon hier,“ sagte er, „und Lucie mit ihnen.“

„Lucie?“ Tante Dettchen erblaßte und sah ihren Neffen an. „Ich glaubte, sie würde bei ihrem Schwager bleiben, Alfred?“

„Ja, wahrhaftig!“ stieß er bitter hervor, „ich glaubte es auch!“

„Rege Dich nicht auf, mein alter Junge,“ bat die kleine Dame und trippelte zu ihm heran mit bekümmerter Miene. Und sein dichtes Haar streichelnd sagte sie: „Kannst Du es immer noch nicht überwinden?“

Er wehrte ihr hastig. „Laß nur, laß! Es war nur ein Moment, und – es ist schwer zu begreifen, daß so viel Herzlosigkeit, so viel –“ Er brach ab und sprang empor. „Zu Günther’s soll ich kommen und zu Josephsohn? Danke! Ich werde gleich gehen.“

Im nächsten Augenblick schon trat er aus der Gitterpforte und schritt rasch durch die Straßen.

[165] Im Speisezimmer des Meerfeldt’schen Hauses, dessen braun tapezierte Wände überreich mit Rehkronen und Hirschgeweihen geschmückt waren, saß man beim Diner; der alte Herr oben vor der kleinen Tafel, rechts von ihm Hortense, links der Bräutigam, und neben diesem Mademoiselle, dem Tage zu Ehren in rothseidenem Gewande, einen schwarzen Spitzenshawl um die Schultern. Zur Seite Hortense’s hatte Lucie ihren Platz gefunden.

Es war seltsam steif und feierlich, dieses Mahl; schon das düstere Zimmer, vor dessen Fenstern dichtes Gebüsch dem Tageslicht den Eingang verwehrte, die kellerartige Atmosphäre, welche unwillkürlich die Blicke nach dem großen Kamin lenkte, mit dem Wunsche, dort eine Flamme aufsprühen zu sehen, schufen eine gewisse ungemüthliche Stimmung, obgleich Champagner in den Gläsern perlte und auf dem riesigen Büffett im Hintergrunde der ganze Silberreichthum des alten Herrn zur Schau gestellt war.

Hortense hatte heimlich Luciens Hand erfaßt, sie rührte das Essen kaum an, sie trank nur von Zeit zu Zeit einmal. Der alte Herr machte den Wirth in der ceremoniellen Weise einer früheren Zeit; er war liebenswürdig gegen die Damen und unendlich höflich gegen den Bräutigam. Ob er mit Hortense’s Wahl einverstanden – das hätte auch der schärfste Beobachter nicht zu ergründen vermocht; jedenfalls hätte er den willkommensten Freier nicht anders behandeln können, als diesen großen, ruhigen blonden Mann an seiner Seite.

Man sprach von der Besitzung Weber’s, welche Herr von Meerfeldt noch von früher her kannte. Hortense saß mit unendlich gleichgültiger Miene dabei; sie schien die lebhafte Unterhaltung der Herren kaum zu beachten. Erst als man auf Pferde zu sprechen kam, ward sie aufmerksamer. Mademoiselle, die sehr viel Champagner trank – sie behauptete, es in Deutschland vor langer Weile gelernt zu haben - sagte jetzt zu Lucie über die Tafel, indem sie den silbernen Fruchtkorb etwas zur Seite schob:

„Wissen Sie, Lucie, daß ich einen Umgang gefunden habe in diesem Krähwinkel? Die Tante unseres Arztes. O, sie ist charmant, ganz charmant, so bescheiden und einfach! Ich ging einmal zu ihm, um ihn zu konsultiren, und traf nur diese Dame; ich kam ganz enchantirt von ihr nach Hause.“

„Ja, sie ist herzensgut,“ gab Lucie zu. Sie [166] wußte, daß die gepriesene Liebenswürdigkeit Dettchen’s darin bestand, mit der Geduld eines Lammes den Redestrom der lebhaften Französin über sich ergehen zu lassen.

„Und so besorgt um den Neffen,“ fuhr diese fort, „es ist so gemüthlich in dem winzigen Hause, so cosy; er kann es unmöglich trauter haben, wenn er –. Sie wissen doch, daß er sich verheirathet? Sie wissen nicht? – Aber was ist Ihnen denn, ma petite, sind Sie krank?“ erkundigte sich Mademoiselle, der nicht die leiseste Idee kam, daß sie unsanft ein wundes Herz berühre. Sie dachte in solchen Dingen nicht sentimental, nach ihrer Meinung war Adler so gut wie fremd für Lucie, sie wollte ihn eben nicht, eh bien – so mußte er ihr auch gleichgültig sein. „Sind Sie krank?“ fragte sie noch einmal, „Sie sehen so bleich aus!“

„Nein!“ flüsterte das Mädchen, dessen Antlitz in der That farblos geworden war wie das Leinen auf der Tafel.

„Trinken Sie herzhaft ein Glas, ma mignonne – so – das wird Ihnen gut thun. Also, Sie wußten’s nicht? Freilich, er ist verlobt, sie ist eine große blonde Dame; entre nous –“ sie hielt die Hand an den Mund – „sehr mauvais genre, nach meiner Ansicht, sie erinnert an den Kuhstall. Seit sechs Wochen bereits lebt sie bei seiner Mutter. Nun, es ist ja nöthig, daß er heirathet, ein Arzt ohne Frau –“

„Lucie,“ flüsterte Hortense, „jetzt werden sie warm!“ Sie warf einen Blick zu den Herren hinüber. „Nun wird es nicht lange dauern und er fängt an, Großpapa zu bestürmen wegen des Hochzeitstages; ich kenne das.“

Aber Hortense hatte sich geirrt. Zu ihrem Befremden fiel weder während des Nachtisches, noch während des Kaffees, der in dem Zimmer des alten Herrn getrunken wurde, ein Wort über diesen Punkt. Der Bräutigam nahm nur mit stummer Verbeugung die Einladung des Barons an, noch einige Tage hier zu verweilen, aber er näherte sich weder Hortense besonders, noch äußerte er irgendwie Sehnsucht, sie möglichst bald in sein Rokokoschloß zu entführen. Die junge Frau war entschieden dadurch befremdet. „Was soll das?“ fragte sie Lucie, als man gegen Abend im Garten promenirte.

„Ich weiß es nicht,“ erwiederte das Mädchen, aus schweren Gedanken aufwachend.

„Ich bin’s ja nur zufrieden!“ sagte Hortense. Mademoiselle aber erklärte: „Dieses Mal ist Madame an den Rechten gekommen. Ich bitte, sehen Sie nur, wie er dahin geht, so fest und sicher, und wie er aus den Augen sieht – mon dieu, der versteht keinen Spaß, Hortense!“ flüsterte sie, als die junge Frau sie einholte, sie hatte sich ein paar frühe Rosen gepflückt, „ich fürchte, er hat den richtigen deutschen Eisenkopf!“

Hortense lächelte und machte eine Handbewegung nach dem Boden zu, als habe sie dort Jemand auf die Kniee genöthigt. „Keine Sorge, meine Liebe,“ sagte sie im Vorübergehen und schob ihren Arm in den des Großvaters, um an dem Gespräch der Herren Theil zu nehmen.

Als es Abend geworden, saßen Hortense und Lucie in dem Zimmer der jungen Frau, auf dem Tische summte die Theemaschine. Herr von Meerfeldt hatte sich seiner Gewohnheit gemäß früh zur Ruhe begeben, auch Mademoiselle ging heute wie stets mit den Hühnern schlafen. Herr Weber hatte sich mit einer Verbeugung ebenfalls empfehlen wollen, da rief ihm Hortense zu: „Wollen Sie nicht bei mir eine Tasse Thee nehmen?“ Es klang so, als ob eine Weigerung sie durchaus nicht verletzen würde.

„Mit großem Vergnügen!“ hatte er erwiedert, und nun saßen sie da und warteten auf ihn.

Hortense hatte noch kein Licht angezündet; das bläuliche zuckende Flämmchen unter dem silbernen Kessel erhellte nur schwach den traulichen Raum. Lucie kam nicht über den Gedanken fort, daß sie so oft hier gesessen und neben ihr Jemand, der dann und wann verstohlen ihre Hand gedrückt, und daß dies nun niemals wieder sein würde.

Waldemar Weber trat nach einigen Minuten ein, die Jungfer brachte die roth verschleierte Lampe und stellte sie auf einen Nebentisch, Hortense goß den Thee in die Gläser.

„Ihr Herr Großpapa sieht angegriffen aus,“ begann er nach einer Weile.

„Ich kenne ihn nicht anders,“ erwiederte Hortense.

„Was sagt der Arzt zu seinem Zustand?“

„Ich weiß es nicht. Lucie, hast Du nie etwas darüber gehört von Doktor Adler?“

„Nein!“ sagte das Mädchen.

Adler?“ fragte er.

„Ja, Doktor Adler,“ bestätigte Hortense.

Alfred Adler?“

„So heißt er, glaube ich; nicht, Lucie?“

„Ja!“ klang es leise.

„Also der alte Bursche ist hier? Das interessirt mich wahrhaftig, nein – das freut mich!“ ries er.

„Kennen Sie ihn?“ fragte Hortense erstaunt.

„Und ob ich ihn kenne! Wir haben in Heidelberg manch schöne Stunde mit einander verlebt. Morgen will ich ihn aufsuchen, ist er verheirathet?“

„Nein!“ erwiederte Hortense kurz.

„Schade! Es würde mich interessirt haben, die Frau kennen zu lernen, die er gewählt. Er hatte so ganz besonders ideale Ansichten in diesem Punkte. Wenn er das Alles in Einer vereinigt fände, was er wünschte von seiner Zukünftigen, so müßte sie ein überirdisches Wesen, eine Fee, ein Engel sein.“

Hortense sah zu Lucie hinüber, und als sie ihr trauriges Gesicht erblickte, sagte sie, der Sache eine scherzhafte Wendung gebend: „Was wohl die Männer unter solchen Engeln verstehen? Vor allen Dingen müssen sie wohl gut kochen können – wie?“

Er lachte. „Nein, das hat er wohl nicht gemeint, obgleich es mit dazu gehört. Er schwärmte von einem sanften, liebenswürdigen Wesen, das in seiner Liebe alles Glück der Erde finden, das nach des Tages Last und Hitze ihn mit einem freundlichen Gesicht empfangen würde und dem er ganz und voll vertrauen könne, mit einem Worte, das außer ihm und seinem Hause nichts weiter in der Welt begehrt. Hundertmal hat er mir das aus einander gesetzt. Er konnte ordentlich zornig werden, wenn er junge Frauen im Ballsaal erblickte, die sich nach Herzenslust den Hof machen ließen. ‚Ich bitte Dich,‘ sagte er dann, ‚soll Einem nicht die Lust vergehen zu heirathen? Ist das einer Frau würdig? Wenn ich mit ansehen müßte, wie meine sich da herumschwenken ließe von einem xbeliebigen Fant, ich weiß nicht, was ich thäte! Häuslich soll sie sein, häuslich!‘ – Und dann malte er mir aus, wie es sein würde bei ihnen, wenn er Notabene dieses Weltwunder gefunden. Ich sah ordentlich die Lampe brennen auf dem Tische und ein blondes Frauenhaupt über die Arbeit gebeugt, daneben ihn mit einem Buche, aus dem er vorlas. Und ich hörte draußen die Bäume im Herbststurm rauschen – er hatte immer eine Vorliebe für den Herbst – und ich hörte den Regen an die Fensterscheiben schlagen – –“

„Nehmen Sie Arrak?“ fragte Hortense laut.

„Danke sehr! Ist es nicht ein reizendes Bild?“ setzte er hinzu, ohne sich beirren zu lassen.

„Sie stimmen natürlich völlig mit ihm überein?“

„Ich kann’s nicht leugnen, Hortense. Jeder Mann sehnt sich nach einer glücklichen friedvollen Häuslichkeit.“

Lucie erhob sich und verließ das Zimmer, sie suchte ihre Schlafstube auf. Was sie dort wollte, war ihr nicht klar. Sie stand da im Dunklen. „Vorbei!“ flüsterte sie, „zu spät!“ – Wie in greifbarer Deutlichkeit sah sie ein trautes Zimmer im Lampenschein, aber nicht sie saß da, eine Fremde, eine Andere war es, die das Kleinod aufgehoben, welches sie thöricht von sich geworfen, weil sie seinen Werth nicht zu schätzen vermochte. Sie nahm ein frisches Taschentuch, goß etwas Kölnisches Wasser darauf und schickte sich an, wieder hinüber zu gehen.

Als sie die Hand auf den Drücker der Saalthür legte, hörte sie Weber’s tiefe Stimme.

„Einen Mann wie Adler zurückzuweisen, das grenzt an – thörichtes Mädchen! Uebrigens,“ fuhr er fort, „ist es selbstverständlich Ritterpflicht, ihr mein Haus zu öffnen, wenn Sie ihr eine Zuflucht versprochen haben, Hortense.“

„Nicht nur Das,“ unterbrach ihn die junge Frau, „ich habe sie lieb und möchte mich nicht von ihr trennen. Ich danke Ihnen, Waldemar.“

Lucie kehrte zurück in ihre Stube. Und sie saß dort und wiederholte leise die Worte, die sie eben gehört: „thörichtes Mädchen!“

Nach einer halben Stunde kam Hortense. „Schläfst Du schon?“ fragte sie, „wo bleibst Du denn? Du vergißt ganz [167] Deine Pflicht als Ehrendame. – Nun, Luz,“ fuhr sie fort und setzte sich auf die breite Fensterbank, „nun ist die Sache abgemacht, in vier Wochen heirathen wir!“ Sie seufzte dabei komisch, und dann begann sie leise zu singen. Lucie kannte das, wenn sie sang, sah es böse in ihrem Herzen aus, dann war es nahe vor einem Sturme.

„In vier Wochen schon? Und Du bist damit einverstanden?“

„Ja, mein Schatz. Wir werden uns seiner Mutter vorstellen, und dann wird unser idyllisches Leben auf Woltersdorf beginnen. Ich schlage vor, Du und ich – wir schaffen uns Lämmchen an mit rosenrothen Bändern und Hirtenstäbe, und er bläst die Flöte dazu – es kann ganz nett werden. Nun, der Kopf steckt einmal in der Schlinge!“

„Ich wiederhole Dir,“ sagte Lucie angstvoll, „zieh den Kopf heraus und erkläre ihm ehrlich: ‚ich liebe Sie nicht! Ich will Sie nicht unglücklich machen!‘“

„Lieber eine Hölle mit ihm, als noch einmal entlobt vor der Welt dazustehen!“ sprach Hortense. Es klang, als hätte sie die Zähne zusammengebissen. „Ich brauche nur an Wilken zu denken, wenn er die Nachricht bekommt, daß die Verlobung des Herrn Weber und der Frau von Löwen gelöst sei, und ich sehe deutlich, wie er mit ernster Miene den Schnurrbart streicht und murmelt: ‚Sie ist eben unmöglich, ich habe ganz korrekt gehandelt.‘ – Lieber morgen schon in das Elend!“

Die schmale Hand, die in Luciens Rechten lag, ballte sich zur Faust.

„Ich habe ja noch keine Garantie, daß es nicht doch so kommt,“ fuhr sie fort. „Großpapa versicherte mir zwar, er habe Waldemar Andeutungen gemacht, daß Papa ein leichtsinniger Mensch sei; aber daß er – daß er mehr als das, fand er nicht nöthig zu verrathen, und ich, ich bin so feige, ich kann es nicht. Nun, es finden sich vielleicht gute Freunde, die ihm den Morast zeigen, auf dem die Blume gewachsen, die er sich pflücken will. Und dann – dann, Luz, ich weiß nicht, was dann wird.“

„Soll ich mit ihm sprechen?“ fragte das Mädchen. „Ich bin überzeugt: er ist unterrichtet und Du ängstigst Dich ganz grundlos. Und wenn er es auch jetzt erst erführe, er hat Dich lieb, Hortense, und Deines Vaters Ruf wird Dir in seinen Augen nicht schaden.“

„O – Du kennst die Männer nicht! Eitelkeit und Egoismus, das sind ihre Haupttugenden. Nein, sprich nicht mit ihm, ich will es nicht, laß das Schicksal seinen Gang gehen. Verlasse Du mich nur nicht, Luz.“

„Oder sagen wir, verlasse Du mich nicht, Hortense,“ gab das Mädchen zurück, „Du bist meine einzige Zuflucht in der Welt.“

„Meine gute kleine Maus,“ flüsterte die junge Frau weich, „nein, wahrhaftig nicht, ich kann mir kein Leben denken ohne Dich.“

„Ich will mich auch nützlich machen bei Dir,“ versprach Lucie. „Du bist doch nicht zur Arbeit geschaffen, ich will Dir alle Lasten abnehmen, die kleinen Sorgen und Mühen des Haushaltes, die man den Dienstboten nicht überlassen darf, Du sollst gar keine Dornen spüren, nur die Rosen sollen Dir blühen.“

Hortense lachte. „Was willst Du denn thun? Thee aufgießen und nach Tische eine Tasse Mokka machen? Weiter wüßte ich nichts außer der Riesenaufgabe, mir das Leben ein wenig ertragen zu helfen, und das verstehst Du so gut, mein Liebling. Morgen reist er übrigens ab, um sein Haus vorzubereiten für meinen Einzug, wie er sagt, vermuthlich läßt er die Putten am Plafond des Saales, die ihre runden Beinchen so vergnüglich in die Luft strecken, frisch vergolden und die verschnörkelten Möbel mit geblümter Seide neu beziehen. Auch wird er noch allerlei alte Andenken und zärtliche Briefchen verbrennen wollen –.“

„Aber, Hortense!“ sagte Lucie halb lachend, halb entrüstet, „Du hast wirklich eine recht schmeichelhafte Meinung von ihm.“

„O Kind,“ sprach die junge Frau gähnend, „das verstehst Du nicht! Ich besitze einen Vetter bei irgend einem Garderegiment, der hatte drei Tage lang vor der Hochzeit zu thun, um alle diese Andenken an eine vergnügte Junggesellenzeit zu vernichten. Schließlich vergaß er eine kleine Photographie, und dieses Bildchens wegen wäre es in der Folge zwischen dem jungen Ehepaar beinah zur Scheidung gekommen. Damit ist nicht zu spaßen.“ Und sie glitt von der Fensterbank herunter und gähnte abermals. „Ich bin schrecklich müde, Luz, schlaf wohl!“

„Und morgen reist Herr Weber schon?“

„Schon? Gott sei Dank! Ein Bräutigam ist doch entsetzlich langweilig. Gute Nacht, Luz!“

Sie küßte das Mädchen auf die Stirn und verließ das Zimmer. „Wie traurig!“ dachte die zurückbleibende, „so arm an Liebe, an Idealen; so unfähig, an Reines, Edles zu glauben. Arme Hortense!“

Am andern Nachmittag reiste Herr Weber ab, nachdem er am Morgen Doktor Adler aufgesucht hatte. Er sah ganz glücklich aus, als er von dort zurückkehrte. „Er ist noch immer der alte anständige gute Kerl,“ sagte er bei Tische, verstummte aber rasch, als sein Blick auf Lucie fiel, die mit gesenkten Augen neben Hortense saß.

Hortense ließ sich zum Abschied von ihm auf die Stirn küssen und nannte ihn: „lieber Waldemar.“ Aus seinen Augen sprach ein aufrichtiger Trennungsschmerz. „Auf Wiedersehen, auf frohes glückliches Wiedersehen!“ sagte er bewegt, und Hortense rief ihm nach: „Vergessen Sie nicht, den Stall für den Goldfuchs herrichten zu lassen, er ist gewöhnt in der Box zu gehen!“ Sie stand in der geöffneten Hausthür und sah bei diesen Worten nach dem Pferdestall hinüber, über dessen Thür sich der schöne Kopf ihres Lieblings bog, und dieser Anblick beschäftigte sie so sehr, daß sie das Fortrollen des Wagens überhörte, aus dem ein paar sehnsüchtige Männeraugen vergeblich nach einem letzten Blick von ihr zurückschauten.

Mademoiselle, die in ihrem Zimmer am Fenster saß, schüttelte den Kopf. Sie hatte erst heute früh erfahren, daß in vier Wochen die Hochzeit stattfinde und daß Lucie dazu auserwählt sei, der jungen Frau in ihre neue Heimath zu folgen. Sie würde hier bleiben, allein und vergessen, lediglich auf die Schachpartie mit dem Baron angewiesen, und mußte noch obendrein dankbar sein, daß Hortense ihr das Gnadenbrot gab. Erbärmliches Leben – das war der Lohn für ihre Treue! Und selbst, wenn Madame verheirathet ist, wenn sie Kinder bekommt, so würde sie mit ihrer unvergleichlich ruhigen Malice sagen: „Liebste Bertin, alle Hochachtung vor Ihnen, aber meine Töchter sollen besser erzogen werden als ich; ich kann Sie nicht gebrauchen.“

In der That, so etwas Aehnliches hatte Madame schon einmal zu ihr gesprochen, als sie eine derartige zarte Andeutung gewagt. „O, das Alter!“ – Und sie ging zu ihrer Kommode und nahm aus dem untersten Fach ein Paar Rückenkissen hervor; sie zeigten eine petit point-Stickerei, zwei Wappen auf weißem Atlas. Die waren für Hortense’s Vermählung mit Wilken beslimmt gewesen. Das mit des Letzteren Wappen geschmückte war nun überflüssig geworden und einen Ersatz bot Herr Weber in dieser Beziehung nicht. Ein langer Seufzer entfuhr der kleinen dicken Dame. „O, es ist grenzenlos ärgerlich! Nun que faire – Hortense muß sich mit einem Kissen begnügen.“




Und die Wochen flogen dahin. Der Vorbereitungen waren es wenige; die Ausstattung an Leinenzeug brauchte nur in Kisten gepackt und auf den Bahnhof gesendet zu werden; es war ja Alles schon fix und fertig gewesen. Der köstliche Spitzenschleier, den Hortense’s Mutter schon getragen, lag bereit, die junge Frau zum zweiten Male zu schmücken Von Gerson war ein weißes Seidenkleid gekommen, ein schöner weicher Stoff, der schwere Falten warf, und für das Standesamt eine schwarze Spitzenrobe, ebensolches Mantelet und Hütchen, Alles mit Jetperlen übersäet.

Der Baron hatte seine sämmtlichen Orden auf den Frack heften lassen, Mademoiselle ihrem bordeauxfarbenen Gewand mit vergilbten echten Spitzen den möglichsten Glanz zu geben versucht, und Lucie nahm ein weißes Kaschmirkleid aus der Garderobe, um an diesem Tage nicht in dem düstern Schwarz erscheinen zu müssen.

Nur wenig Gäste würden erwartet. Von den Verwandten des Bräutigams sollte nur der jüngste Bruder kommen, der in Hamburg als Procurist einer großen Firma lebte. Die Mutter hatte abgelehnt, weil die Reise zu weit für eine alte müde Frau sei, sie hoffte die Schwiegertochter bald in ihren eignen vier Pfählen begrüßen zu dürfen. Die andern Geschwister waren nicht geladen, da Hortense entschieden gegen eine große Feierlichkeit Einsprache that. So kamen denn nur noch der Busenfreund des [168] alten Barons, ein Major von Schenk, der in der Nähe Hohenbergs auf einem einsamen Landsitze hauste, und der Geistliche, der das Amen über das junge Paar sprechen sollte.

Erst am Tage der Hochzeit konnte der Bräutigam zurückkehren; Hortense schien damit einverstanden. Sie war von einer merkwürdigen Ruhe und Schweigsamkeit in dieser Zeit, so meinte der Großvater und so meinte Mademoiselle. Nur Lucie wußte es besser, sie allein sah das hastige Umherwandern bis tief in die Nacht, das Erbleichen, wenn der Briefbote keines der gelblichen quadratförmigen Kouverts abgab, die Waldemar Weber führte.

Und doch war es keine Sehnsucht nach ihm, die seine Briefe schmerzlich vermissen ließ, es war Angst und Unruhe, und unzählige Male täglich mußte Lucie hören, wie sie sprach: „Ob nicht etwas dazwischen tritt, Luz, etwas Schreckliches? Du weißt – Papa –.“

Erhielt sie ein Schreiben, so antwortete sie umgehend, aber es waren immer nur kurze Billetts und drei Zeilen ihrer großen energischen Handschrift füllten das kleine Stückchen Papier völlig aus. „Wenn er weiß, daß wir noch leben und unser Haus noch steht, was soll’s mehr?“ sagte sie, drückte den zierlichen mit der siebenzackigen Krone geschmückten Namenszug auf das purpurrothe Siegellack, und dann seufzte sie, als hätte sie eine schwere Arbeit hinter sich.




Ein paar Tage vor der Hochzeit fuhren Hortense und Lucie spazieren; Erstere klagte über Kopfweh. Im Hause ward gehämmert und gepocht; das Zimmer, in dem die Trauung stattfinden sollte, das sogenannte „Gewölbe“, im ältesten Theile des alten Hauses, wurde mit Teppichen belegt, der Lärm ängstigte die junge Frau so sehr, daß sie flüchtete. Sie fuhren durch die engen heißen Gassen und plötzlich bog der Kutscher in die Wasserstraße ein, Lucie erschrak, es war die Straße, in der sein Haus lag. Sie wandte den Kopf zur andern Seite, aber – siehe da! – auf dem schmalen Bürgersteig ging die Frau Steuerräthin in langsamem, würdevollem Schritt, und vor ihr eine riesengroße Gestalt im Rembrandthute, welchen wallende Federn schmückten, und im bunten Cretonne-Kleid. Jetzt war der Wagen neben ihnen, Lucie bückte sich nach dem Taschentuche, das ihr entglitten, sie entging dadurch dem Blick der alten Dame, aber den zwei blauen neugierigen Mädchenaugen entging sie nicht: sie sahen sich einen kurzen Moment an, die Beiden, und Luciens Herz pochte laut und weh. Wie kraftlos sank sie in die Polster zurück.

„Wer war denn das?“ fragte Hortense, ohne des Mädchens Erregung zu bemerken. Lucie wußte es wohl, aber sie brachte es nicht über die Lippen.

„Nun, wenn man diese Dame statt der Germania auf das Postament im Niederwald gestellt hätte, so könnten sich die Reisenden der Dampfschiffe nicht mehr beklagen, daß sie allzu winzig erscheine. Ich vermuthe, Schatz, hier ist Jahrmarkt und das Riesenweib ist ausgebrochen. Hast Du sie gesehen, Luz?“ Und Hortense hielt sich das Tuch an die schmerzende Schläfe und bemerkte nicht, daß sie keine Antwort bekam.

Ein Klingeln scholl hinter ihnen; Lucie kannte den durchdringenden lauten Ton der Glocke, und hatte ihn doch nur einmal gehört; es war die Glocke an dem kleinen Hause Doktor Adler’s. Jetzt tritt sie dort ein, und er steht auf der Schwelle, sie zu erwarten. Der Gedanke überkam sie mit erstickender Gewalt, am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen.

Als sie gegen Abend zurückkehrten, lag ein Brief des Doktor Adler auf dem Tische der jungen Frau. Er bedauerte darin, daß er die Einladung zum Hochzeitsdiner nicht annehmen könne, da er Schwerkranke auswärts besuchen müsse.

„Nun,“ sagte Hortense, „er hat Takt,“ und warf den Brief in den Papierkorb. „Daß Weber ihn einladen mußte, wirst Du begreifen; aber wir erwarteten es nicht anders, als daß er ablehnt.“ Lucie nickte stumm. Abends bei Tische fragte Hortense: „Wissen Sie nicht, Mademoiselle, wer die riesengroße junge Dame ist, die sich in hiesiger Stadt aufhält?“

„Riesengroß, mit einem Rembrandthute?“ erkundigte sich Mademoiselle.

„Jawohl, und strohblond und rosenroth –“

O mon dieu! Das ist doch die Verlobte, das heißt die zukünftige Verlobte des Herrn Doktor Adler –“

Hortense legte Gabel und Messer hin und lachte, daß ihr die Thränen ins Auge traten, die sie mit der Serviette abtrocknete.

Mais, c’est vrai!“ murmelte Mademoiselle mit einem scheuen Blick auf Lucie. „Was ist da zu lachen?“

„Kinder, wie ist es möglich!“ rief Hortense, als sie wieder zu sich kam, ohne Lucie anzusehen. Dann ward sie ernst und drückte dem Mädchen die Hand. „Mein guter Liebling!“ Und als sie das blasse Gesichtchen erblickte, flüsterte sie: „Kind, habe ich Dir weh gethan? Es ist so komisch! – Lache doch mit, lache, es ist das Beste, was man thun kann; man lacht über die Komödie, die Leben heißt.“

Aber Lucie konnte nicht lachen.

Und nun war Alles bereit zur Hochzeit. Der schöne, gewölbte Raum, in dem die Trauung stattfinden sollte, sah vornehm und feierlich aus, durch die alten Glasmalereien fiel buntes Licht über den weißen Altar, der mit Orangerie umstellt war. Von der Schlußrosette des Gewölbes hing ein alter Messingkronleuchter, mit vielen Wachskerzen besteckt, herab; einige teppichbelegte Stufen führten zum Speisesaal empor. Dort stand die kleine Tafel im reichen Schmuck von Silber, Krystall und Meißner Porcellan. Die Dienstleute waren bemüht gewesen, nach ihrer Weise das Haus festlich zu schmücken mit Guirlanden und Kränzen.

Hortense fand es entsetzlich. „Sie haben womöglich noch bunte Schleifen an die Pferdeköpfe oder an die Peitsche gebunden,“ sagte sie zu Lucie. Sie stand am Fenster und wartete auf den Wagen, der den Bräutigam vom Bahnhofe bringen sollte.

Es war um die Mittagsstunde am Tage vor der Hochzeit. Die junge Frau hatte ein weißes gesticktes Battistkleid angezogen und ein paar gelbliche Rosen statt einer Brosche vorgesteckt. Rosen dufteten in allen Vasen und Schalen ihres Zimmers. Auf einem kleinen Tische ordnete Lucie verschiedene Hochzeitsgeschenke, die angelangt waren; es befanden sich prachtvolle Schmucksachen darunter von der Mutter des Bräutigams und dessen Geschwistern. Doktor Adler hatte eine Majolikavase geschickt, mit Rosen gefüllt, Mademoiselle’s Wappenkissen lag daneben.

Hortense hatte schon verschiedentlich den Kopf gewandt und die Uhr auf dem Schreibtische mit den Blicken gestreift. „Wo nur der Wagen bleibt?“ fragte sie endlich.

„Der Zug wird Verspätung haben,“ antwortete Lucie.

„Nein – ich hörte deutlich das Pfeifen.“

„Dann wartet Herr Weber vermuthlich auf den Zug von Hamburg – er kommt eine Viertelstunde später – um den Bruder gleich mitzubringen.“

Hortense zuckte ungeduldig die Schultern. „Es wäre nicht gerade galant.“

Nun rasselte es vor dem Thorweg, und gleich darauf fuhr der Wagen in den Hof ohne einen Insassen, leichenblaß wandte sich die junge Frau um. „Er ist nicht mitgekommen,“ sagte sie scheinbar ruhig.

„In zwei Stunden kommt wieder ein Zug, Hortense.“

„Herr Gott, Luz, Deinetwegen könnte die Welt untergehen und Du hättest auch dafür eine Erklärung!“ rief die junge Frau und ihr zierlicher Fuß trat den Teppich.

Lucie blickte verwundert auf. „Aber ich weiß nicht –“

„Nein Du weißt nicht – aber ich! Er kommt nicht, er kommt überhaupt nicht! Er hat seit vorgestern nicht geschrieben, er hat vermuthlich –“ Sie brach ab. „Ich weiß nicht, wie es werden soll, wenn – wenn –“ murmelte sie.

„Aber, liebes Herz, wie kannst Du Dich nur in solche Aufregung hineinreden?“ begütigte Lucie und kam zu ihr herüber.

„Das begreifst Du natürlich nicht,“ rief Hortense, „weil das Schicksal Dir noch nie einen hämischen Streich gespielt hat; wen es aber so gemartert wie mich, der – o, ich bin auf Alles gefaßt.“

„Du bildest Dir ein, er könnte von Deinem Vater gehört haben?“

„Und wäre Das so unmöglich? Der ist wahrhaftig bekannt genug! Es wäre viel eher ein Wunder, wenn er –“

„Nun, und gesetzt den Fall, er träfe irgend Jemand im Koupé, der ihm gesprächsweise erzählte: ‚dieser Herr von Löwen ist ein ehrvergessener Mensch‘ – glaubst Du, daß Weber auf der folgenden Station umsteigen und den nächsten Zug zur Heimkehr benutzen würde? Schäme Dich, Hortense, daß Du dem [170] Manne so schlechtes Vertrauen entgegen bringst, dem Du morgen angehören wirst.“

„Denke an Wilken, Luz!“

„Wenn Einer sich unrichtig benimmt, ist darum der Andere auch gleich pflichtvergessen? Vorhin, als ich Dich wartend am Fenster stehen sah, da glaubte ich, Du wärst ungeduldig. Du freutest Dich auf sein Kommen, Du hättest ihn ein ganz klein wenig gern; aber ich sehe wohl, es ist nicht an Dem. Du thust mir leid!“

„Hör’ auf, mich zu quälen! Du weißt, daß ich ihn nicht liebe. Sage lieber, was ich beginnen soll, wenn –“

„Nimm Dich zusammen, Hortense,“ flüsterte Lucie, „Mademoiselle kommt.“

Die alte Dame trat, merklich aufgeregt und erhitzt, ein. „Wie, Hortense, Monsieur ist nicht eingetroffen? Was hat das zu bedeuten? Ein Bräutigam – saumselig an solchem Tage! Das ist unerhört, Kind, das ist nicht schmeichelhaft, das ist eine Beleidigung!“

Die junge Frau lachte kurz auf. „Sie scheinen gewaltig besorgt, liebste Bertin; es wäre ja möglich, daß der Zug entgleist ist!“

„Und das sagen Sie mit solcher Ruhe, Hortense? Sie sind –“

„Eine entsetzlich frivole Person, nicht wahr? Aber es thut nichts; ich bleibe dabei; es wäre vielleicht das Schlimmste noch nicht. Echauffiren Sie sich nicht, Mademoiselle, schlafen Sie lieber! Hören Sie, schlafen Sie ein wenig, jetzt gleich; es ist am gesundesten vor Tische. Au revoir, liebe Bertin!“

Die alte Dame zog sich zurück; sie war es gewohnt, auf solche Weise entlassen zu werden. Hortense begann im Zimmer auf und ab zu gehen, und das that sie unausgesetzt zwei Stunden lang. Der Wagen fuhr wieder zum Bahnhofe und brachte diesmal den jungen Schwager. Der Baron mußte ihn allein empfangen, Hortense ließ sich entschuldigen. Sie ging mit der Uhr in der Hand umher und lauschte am Fenster, ob der Westwind ihr das Pfeifen des Zuges herübertrage.

„Jetzt,“ sagte sie zu Lucie, „hörst Du? Wenn er jetzt nicht kommt, dann – dann –“

Sie verharrte regungslos am Fenster. Als das Rollen der Räder auf dem Straßenpflaster erklang, ward sie blaß wie ihr Kleid, und als der aufgeschlagene Landauer in den Thorweg einbog und der große Mann, der im Fond saß, mit erwartungsvollen Augen zu dem Fenster aufblickte, an dem sie stand, überfiel sie ein Zittern und sie lehnte sich wie ohnmächtig an Lucie’s Schulter.

Die Blässe lag noch auf ihrem Gesicht, als er mit raschen Schritten in das Zimmer trat und, ihr beide Hände entgegenstreckend, auf sie zueilte.

„Wie soll ich mich entschuldigen. Hortense! Ich versäumte den Zug, aber ohne meine Schuld; auf dem Wege zur Station brach mir ein Rad; ich war, um den allerfrühesten Zug zu benutzen, durch den Wald gefahren und – kennen Sie Holzwege? Nein? Nun, Sie sollen sie auch nicht kennen lernen. Das Resultat war, daß ich auch den zweiten Zug nicht erreichte und mit dem Bummelzug hier ankam.“ Er hatte während des Sprechens ihre schönen Hände geküßt. „Verzeihen Sie!“ sagte er noch einmal.

Allmählich kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück; aber sie machte keine einzige Phrase; Lüge war ihr fremd. Sie sagte nicht: „ich habe mich geängstigt um Sie,“ sie sagte nur: „Es hätte Schlimmeres passiren können, als ein zerbrochenes Rad, Waldemar. Wir wollen zum Großpapa gehen.“

Lucie, die sich in ihre Stube zurückgezogen hatte, traf mit dem Brautpaar erst bei Tische zusammen. Hortense war still; der Bräutigam strahlte vor Glückseligkeit. Er sprach mit dem Baron von Ernteaussichten. Der junge Hamburger unterhielt sich ausschließlich mit Mademoiselle, die auf Hamburg nicht gut zu sprechen war; sie hatte freilich nur vierundzwanzig Stunden dort zugebracht, und außer einem Teller Schildkrötensuppe, die ihr sehr gut geschmeckt, wußte sie sich an nichts Bemerkenswerthes zu erinnern; Marseille war aber doch etwas Anderes!

Ein Gespräch mit Lucie anzuknüpfen, gelang ihm nicht. Das blasse Mädchen im schwarzen Trauerkleid, mit den großen braunen Augen, die so trostlos in irgend einen Winkel blicken konnten, kam ihm anziehend und unheimlich zugleich vor.

„So etwas kann auch nur in kleinen Städten gedeihen,“ dachte er; „in solch alten Eulennestern, wie dieses Haus zu sein scheint. Die müßte einmal nach dem ‚vergnügten‘ Hamburg – ob da nicht Rosen auf die Wangen kämen?“ Nun, vielleicht war sie morgen gesprächiger beim Hochzeitsdiner.

Hortense stand um zwölf Uhr in der schwarzen funkelnden Toilette bereit und wartete auf ihren Bräutigam, der sie hinunter geleiten sollte zum Baron, bevor sie nach dem Standesamt fuhren. Lucie, die Hortense beim Ankleiden geholfen, brachte der jungen Frau eben ein Glas Wein; sie sah so blaß und leidend aus. Da trat Weber herein.

Hortense, die hastig einen Schluck getrunken, ging ihm entgegen. „Ich bin bereit,“ sagte sie. Dann wandte sie sich noch einmal nach Lucie um. „Adieu, Luz!“

„Adieu, Hortense!“ antwortete das Mädchen mit feuchten Augen, und in ihrem Herzen sprach sie: möchte es ein glücklicher Gang sein!

Als sie im Begriff waren, zur Thür hinauszugehen, trat ihnen Peter mit einem Brief entgegen. „An Herrn Weber; er ist durch Eilboten –“

[182] Waldemar Weber betrachtete das Schreiben, welches ihm der Diener überreicht hatte, und schüttelte den Kopf.

„Einen Moment,“ sagte er zu Hortense, die zwei Schritte zurückgetreten war, und er öffnete, ihr zugewandt, das Kouvert. Ein gedrucktes Blättchen, einem Zeitungsausschnitt ähnlich, entnahm er dem Umschlag und begann zu lesen; während des Lesens stieg allmählich eine dunkle Röthe in sein Gesicht. Er wandte das Blatt auf die andere Seite, und wieder um, und las noch einmal. Eine schwüle Pause entstand. Hortense war zum Spiegel getreten und ordnete die Schleifen ihres Hütchens; Lucie sah, wie ihre Finger zitterten und wie ihre Augen nicht auf ihr Spiegelbild blickten, sondern die Gestalt des Lesenden beobachteten, die das Glas zurückgab. Er war jetzt nicht mehr roth, sondern bleich, und auf seiner Stirn ringelte sich eine blaue Ader. Langsam steckte er den Zeitungsabschnitt nebst Kouvert in die Brusttasche seines Fracks und wandte sich dann zu Hortense:

„Verzeihen Sie den Aufenthalt,“ sagte er ruhig und bot ihr den Arm. Und als er in ihr Auge blickte, aus dem in diesem Moment alles Leben gewichen schien, fragte er: „Ist Ihnen nicht wohl?“

„Vollkommen!“ sagte sie aufathmend und schritt vor ihm aus der Thür.

Lucie war schon im festlichen Kleide, als Hortense zurückkam. Sie wartete im Schlafzimmer, um der jungen Frau bei der Brauttoilette zu helfen. Sie hörte, wie Weber und dessen Bruder sie bis zu ihrem Zimmer geleiteten und wie sie heiter mit ihnen plauderte; Lucie traute ihren Augen nicht, als Hortense blaß und müde eintrat, die Thür verschloß, sich in den nächsten Stuhl fallen ließ und in Thränen ausbrach. Es war das erste Mal, daß Lucie die junge Frau weinen sah, und sie weinte so leidenschaftlich, so heiß, daß es dem Mädchen bange ward. Sie umfaßte die bebende Gestalt, aber zu sprechen vermochte sie nicht diesem Schmerz gegenüber. Erst ganz allmählich ward Hortense ruhiger; sie nahm die Hände von dem verweinten Gesicht und sah in die leise bewegten Blätter der Rüstern vor den Fenstern.

„Nun weiter,“ sprach sie, „ich hab’s gewollt!“ Sie sprang empor und schlang ihre Arme um des Mädchens Nacken. „Ich heiße jetzt ‚Hortense Weber‘, Luz; ich habe einen schweren Weg vor mir, aber Du gehst neben mir, Du, mein guter Engel!“ Und so leidenschaftlich sie vorhin geweint, so leidenschaftlich küßte sie jetzt die Freundin. „Und nun kannst Du das Opfer schmücken,“ sprach sie und schleuderte das perlengeschmückte Hütchen auf den Tisch. „Sehe ich verweint aus, Luz?“

„Aber Bräute dürfen ja weinen!“ Und hastig streifte sie das schwarze Kleid ab, um es mit dem weißen bräutlichen Gewande zu vertauschen.

„Ahnst Du, was auf dem Zettel steht, den er durch Eilboten bekam?“ fragte sie vor dem Spiegel sitzend, während Lucie ihr den Schleier und das Diadem von Orangeblüthen in dem dunklen Haar befestigte.

„Nein, Hortense; vielleicht etwas Geschäftliches. Warum?“

„Ich dachte – ich dachte – Du weißt schon; lache mich nicht aus!“

„O, Dein Vater spukt schon wieder?“

„Ach, Lucie, Du hast, Gott sei Dank! nie so etwas erlebt. Es ist ja vorüber! Gieb mir die Perlenkette, die Waldemar mir heute gebracht; ich muß sie doch wohl tragen, wie? Am liebsten – ich möchte am liebsten in Sack und Asche gehen.“

Luciens Finger schlossen die Kette am Halse der jungen Frau; sie brachte ihr das stark duftende Bouquett aus weißen Rosen und Orangeblüthen.

„Ich will Dich nun allein lassen,“ sagte sie, „er wird gleich kommen, um Dich zu holen, und ich muß vorher dort unten sein im Gewölbe.“

„Was hast Du für traurige Augen?“ fragte Hortense.

Lucie winkte abwehrend mit der Hand und ging hinaus. Es war ihr, als hätte sie Blei in den Gliedern; sie mußte sich ordentlich anstrengen, die Füße zu heben. Peter, der des Brautpaares gewärtig an der rundbogigen Thür stand, öffnete ihr. „Sie sind Alle schon versammelt,“ wisperte er ihr zu.

Sie kam mit tiefgesenkten Wimpern über die Schwelle; ganz automatenhaft stellte sie sich neben Mademoiselle auf.

„Wo blieben Sie so lange?“ raunte ihr diese zu. „Wir stehen hier schon eine Ewigkeit!“

Dann öffnete sich wieder die Thür; eine seidene Schleppe rauschte; das Brautpaar war eingetreten. Tiefe Stille. Und nun klang voll und laut des Predigers Stimme durch den Raum:

„Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ Er sprach von der Treue, daß sie das A und O der Ehe sei, daß Gott dem Menschen keine herrlichere Tugend gegeben, als Treue, und daß, wo sie wohne, kein Unfriede weilen, kein Mißverständniß aufkommen könne.

Wie Dolchstöße trafen die Worte Luciens Herz. Wie verurtheilt kam sie sich vor. Treue! klang es in ihrer Seele – hatte sie nicht die Treue gebrochen, die Treue gegen ihn, gegen die Schwester, gegen die verwaisten Kinder dieser Schwester? Ihr schwindelte. Wollte denn die Predigt kein Ende nehmen?

Jetzt endlich kniete das junge Paar nieder und empfing den Segen. Dann ein lautes „Amen“, ein leises Geflüster, das Rauschen der Brautschleppe, und Lucie wußte, die Ceremonie sei vorüber. Gottlob! Sie hatte keine klare Vorstellung von dem, was um sie her geschah. Sie sah nur, wie Hortense die Arme um den Nacken des alten Herrn schlang, wie Alle sich händeschüttelnd um das neuvermählte Paar drängten, und sie [183] hörte den Ausruf des Schreckens, als der Baron plötzlich schwankte und wie leblos in des jungen Ehemannes Armen lag.

Eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung folgte. Man drängte sich um den regungslos daliegenden alten Herrn, sprengte ihm Wasser ins Gesicht und rief nach dem Arzt. Nicht lange dauerte es, bis Doktor Adler, welchen die ausgeschickten Diener zufälligerweise auf der Straße gefunden hatten, erschien.

„Aengstigen Sie sich nicht, gnädige Frau, es ist nur eine Ohnmacht,“ sagte er, nach kurzer Untersuchung, „die Aufregung, die schwüle Gewitterluft.“ – Er nahm ihn wie ein Kind auf die Arme und trug ihn hinaus. Hortense und ihr junger Gatte eilten ihm nach, die Andern blieben leise redend beisammen.

„Er konnte so lange nicht stehen,“ bemerkte der alte Major und strich sich den silberweißen Schnurrbart, „ich hab’s ihm vorhergesagt, er sollte sich einen Stuhl bringen lassen, aber sein Wahlspruch war von jeher: ‚Lieber todt als unhöflich!‘“

Zu Lucie, die wie schwach an der Wand lehnte, trat der junge Hamburger. Man sah ihm die ungemüthliche Stimmung an.

„Das war schon mehr eine Grabrede,“ sagte er so leise, daß der Prediger, der mit Mademoiselle sprach, nichts davon hören konnte, „als ob mindestens in Jahresfrist der Eine oder Andere von dem Paar gestorben sein müßte; wie ich bemerkt zu haben glaube, sehen sie weder nach Schwindsucht aus, noch leiden sie an Altersschwäche.“

Aber das blasse stille Mädchen hatte kein Lächeln für den Scherz. Sie dachte an Mathilden und sagte leise. „Es kann so rasch kommen, und wenn man etwas versäumt hat gegen den Andern, so thut es lebenslang weh.“

Der junge Mann machte die Augen weit auf, ihm schauerte förmlich; so jung, so reizend und so düster – und das sollte er ertragen während eines langen Diners? Er würde froh sein, wenn er erst wieder gen Hamburg dampfte, und morgen Mittag wollte er Robert Synkoff auf der Börse davor warnen, sich jemals in eine Kleinstädterin zu verlieben, er könne sich ebenso gut eine Trauerweide in den Garten pflanzen.

„Adler,“ sagte Waldemar Weber, als der alte Herr wieder zu sich gekommen, während er an Hortense’s Arm dem Speisezimmer zuschritt, „thue mir den Gefallen, bleib’ hier; es ist doch eine ängstliche Geschichte, und –“

„Ich kann nicht, Waldemar, wahrhaftig nicht; aber ich komme gegen halb sechs Uhr vor und frage nach, wie es geht. Lebe wohl, und wenn ich Dich nicht wiedersehen sollte – dann alles Glück der Welt, mein alter Freund!“

In wenig Minuten war die kleine Gesellschaft im Speisesaal versammelt, auch der Baron war wieder erschienen; er hatte sich rasch erholt und wollte durchaus an dem Diner theilnehmen. Er saß oben vor der Tafel zwischen dem Brautpaar. Das Gespräch wand sich mühsam weiter. Mademoiselle und der Prediger, der alte Major von Schenk thaten das Meiste dabei. Der Herr Pastor brachte einen Toast aus auf das neuvermählte Paar, der Major auf den Baron. Dann sprach man von der russischen Politik, von Italien und der Cholera. Erst gegen das Ende der Mahlzeit wurde es etwas lebhafter. Der jüngere Weber bot Lucie ein Vielliebchen an, sie dankte. Bei Mademoiselle war er glücklicher, er ließ sie auch sofort gewinnen und fragte zart nach ihren Wünschen. Ein charmanter, ganz charmanter Mann! dachte entzückt die alte Dame und wünschte sich einen japanischen Fächer, roth mit Goldstickerei, recht groß. Lächelnd notirte er es in seiner Brieftasche.

Als das Eis servirt wurde, winkte Hortense Lucien zu sich. Das Mädchen schob einen Stuhl zwischen den des Barons und der jungen Frau, und nun saßen sie Hand in Hand und flüsterten mit einander. In diesem Augenblick trat Doktor Adler in das Gewölbe, er blieb verborgen hinter der Orangerie des Altares stehen und sah durch die zurückgeschlagene Portière auf die hochzeitliche Tafel, welcher der offenbar wieder vollständig hergestellte Baron präsidirte. Seine Augen blieben an den beiden jungen Frauenköpfen hängen, die sich neben dem Baron zu einander geneigt hatten. In der wunderlichen Beleuchtung, welche Kerzenschein und Tageslicht mit einander schufen, glänzte des Mädchens Haar wie gesponnenes Gold über der bleichen Stirn. Zuweilen bog sich Hortense ein wenig vor, und der Spitzenschleier umgab dann Luciens Gesicht, als trage sie den bräutlichen Schmuck, und sein Herz klopfte in der Erinnerung an die Träume, die einst der Verwirklichung so nahe gewesen. – Wo würde sie eine Heimath finden? Ob Remmert sie gutmüthig wieder aufnehmen wird? Er kannte das herbe Urtheil, das der Oberförster über das Mädchen gefällt, als seine sterbende Frau nach der Schwester verlangte und sie nicht kam. Es durchzuckte ihn der Gedanke, an Remmert begütigend zu schreiben, sollte das junge schöne Geschöpf so allein in das häßliche gefahrvolle Leben hinaus?

Er schüttelte den Kopf; wie kam er dazu. Was ging ihn ihr Schicksal noch an? Mochte sie auf das Meer des Lebens hinaus treiben, mochte ihre Fahrt glücklich und ruhig sein, oder mochte sie untergehen – er hatte kein Recht an ihr, wollte auch keines haben.

Nun rückten die Stühle, Hortense hatte sich erhoben. Er trat rasch in eine der tiefen Fensternischen, als fürchte er gesehen zu werden; er wollte ihr nicht noch einmal begegnen.

Dort drinnen wurde jetzt Kaffee gereicht, die lebhafte Unterhaltung dauerte fort. Warum ging er nicht? Was hielt ihn denn zurück? Der Baron bedurfte seiner offenbar nicht mehr. Und dennoch kam er seltsamer Weise nicht vom Fleck. Er betrachtete zerstreut die bunten Fensterscheiben; nach und nach fesselte ihn, was er sah, es waren uralte Glasmalereien, er wußte, daß der Baron ein eifriger Antiquitätensammler.

Ein junger Patricier in der ernsten Tracht des sechzehnten Jahrhunderts stand in einer gewölbten Halle mit weiter Perspektive auf getäfelten Fußboden. „Wernher Grundmann“ war darunter zu lesen. Auf der andern Seite des Fensters in gleicher Umgebung erblickte Adler ein junges blondes Weib in reichen farbigen Gewändern, das goldgestickte Frauenhäubchen auf demüthig gesenktem Kopf, die Spindel in der Hand. „Und Barbara Grundmannin, da sie dreien Wochen mit einander vermählet“, las er hier; die Schrift war auf beide Seiten vertheilt, auch der folgende Vers und das Datum:

„Wo Er ist fest und treu gesinnt,
Und Sie mit Demut dem hause dient,
Und Gotteswort wird recht geehrt,
Da ist ein reiches Glück beschert.
  Lübecke anno domini 1536.“

So war es heut nicht mehr! Er konnte sich nicht satt schauen an dieser Barbara; es lag eine so unendliche Anmuth über der Gestalt, der Maler mußte ein holdes Vorbild gehabt haben. Er begann diesen längst vermoderten Wernher Grundmann noch jetzt zu beneiden, er glaubte, diesen leicht zur Seite geneigten zierlichen Kopf, das holde Lächeln um den Mund zu kennen. Hastig fuhr er sich mit der Hand über die Augen.

Dann stockte sein Athem – das Rauschen einer seidenen Schleppe drang in das Zimmer und leichte Füße traten die Stufen.

„Schließ’ die Portière, Luz,“ hörte er Hortense sagen, „und laß uns Abschied nehmen. Komm, setze Dich auf diesen Tritt. Weine nicht, Liebling, wir sehen uns ja wieder – in drei Wochen schon, denk’ an mich indessen.“

„Leb’ wohl, Hortense,“ antwortete die weiche Mädchenstimme, „werde glücklich; ich kann Dir nichts Besseres wünschen, als daß Du ihn bald von Herzen liebgewinnen möchtest.“

„Du weißt ja am besten, Luz, Liebe ist ein Geschenk vom Himmel, sie läßt sich nicht kommandiren und erzwingen.“

„Ich weiß es; ich weiß aber auch, daß man dieses Geschenk zuweilen längst besitzt, ohne es zu ahnen, sie schläft und man merkt ihre Gegenwart gar nicht, und plötzlich erwacht sie durch einen Zufall und schaut um sich mit blauen sonnigen Augen – oder mit Thränen, die sich niemals wieder trocknen lassen! Und das ist, wenn sie zu spät erwacht und die Reue kommt und spricht: ‚hättest Du nur Geduld gehabt – nun ist’s vorbei für immer, immer!‘“

„Ach, Luz, trockne die Thränen! Ich sage Dir, es ist Alles nur Einbildung, mache mir das Herz nicht noch schwerer, gieb mir noch einen Kuß und gehe hinein zu unseren Gästen! Auf Wiedersehen, Luz!“

Es war still im Zimmer, nur das Knistern der Seide klang zu dem Manne hinüber, der regungslos vor dem Bilde der Frau Barbara stand. Nun ein leises Schluchzen, noch einmal ein Lebewohl, dann schritt die junge Frau der Thür zu, die nach dem Flur führte, und auf der andern Seite schlossen sich die Vorhänge hinter einer weißen Gestalt. Er war allein.

Was hatte er gehört? Bereute sie? Bereute sie wirklich? Es war ihm, als müsse er ihr nacheilen und sagen: „Komm, Lucie, es soll vergessen sein, Alles vergessen, was Du mir angethan.“ Dann schüttelte er den Kopf, und seine Hand ballte [186] sich zur Faust; eine zweite Enttäuschung würde er nicht ertragen. Vorbei für immer! Was sind Worte, ihre Worte gar? Er brauchte nur an die Kinder im Forsthause zu denken, die Abends mit großen furchtsamen Augen in ihren Bettchen lagen und um die todte Mutter weinten, an den verlassenen Platz vor dem Nähtischchen Frau Mathildens. Fort, vorüber!

Er richtete sich auf und trat plötzlich in den Speisesaal, so ruhig und gemessen, als habe kein heißer Gedanke sein Herz klopfen gemacht, über das weiße schlanke Mädchen streifte sein Blick kühl und gleichgültig. Er nahm Platz zwischen den Herren, die sich eine Cigarre angezündet hatten, und schien es nicht zu bemerken, daß Lucie den Saal verließ, zu Mademoiselles größtem Aerger, die sich als einzelne Dame ungemüthlich zu fühlen begann und wider Willen ihr folgen mußte. Sie konnte ihrem Unmuth nicht einmal Worte verleihen: Lucie verschwand schon oben im Dunkel des Korridors.

Sie ging in die Zimmer der jungen Frau; sie waren leer, die Bewohnerin hatte sie verlassen für immer. Die Dämmerung des Sommerabends webte schon in den tiefen Ecken; ein starker Duft von welkenden Rosen und Orangeblüthen drang betäubend auf sie ein. Auf dem Sessel lag noch das feuchtgeweinte Taschentuch von Hortense, dort über der Chaise longue, gespensterhaft anzuschauen, das eilig abgeworfene Brautkleid. die weißen Atlasschuhe, es hatte noch Niemand aufgeräumt, nachdem sie hinausgegangen; es war so still, so unheimlich still in den beiden Gemächern. Eine namenlose Angst packte das Mädchen – wenn sie Hortense nicht wiedersehen sollte, wenn sie ihre Liebe verlieren könnte! Dann hatte sie nichts mehr, nichts weiter auf der Welt. „Hortense, verlaß mich nicht!“ flüsterte sie und preßte die Hände in einander, „verlaß mich nicht,“ wiederholte sie, als könnte die junge Frau sie hören.

Sie saß dann in ihrer Stube am offenen Fenster und schaute in den dämmerigen Garten hinunter, den die Centifolien durchdufteten. „Verlaß mich nicht, bleibe mir gut; ich habe Niemand weiter als Dich, Hortense, Niemand weiter!“

Im Speisesaal unter ihr mochten jetzt die Fenster geöffnet sein. Sprechen und Lachen scholl herauf, man saß noch beim Glase Bier. Lucie unterschied deutlich eine tiefe, wohlbekannte Stimme. Von drüben her tönte eine Harmonika über die Gärten, und eine Altstimme sang dazu ein altes, schwermüthiges Lied:

„Er hat’s mir oft gesagt,
Wenn ich ihn hab’ geplagt:
Du wirst noch manchmal, manchmal um mich weinen.“

Hastig schloß sie das Fenster und legte den Kopf gegen die hohe Lehne des Stuhles; langsam rannen die Thränen über ihre blassen Wangen.




Mademoiselle hatte keine Ruhe im Hause. Sie nahm ein Tuch um und ging durch die dunklen Straßen zu Fräulein Dettchen, sie mußte Jemand haben, dem sie ihr Herz ausschütten konnte über die Ereignisse des festlichen Tages.

Die alte Dame saß im Garten, in der Laube und wartete auf ihren Neffen. Sie hatte den Abendimbiß zurecht gestellt und strickte nun im Finstern. Kein Lüftchen regte sich; nur das Wasser gluckste und murmelte leise, das hinter der Laube vorüber zog.

Mademoiselle war ganz echauffirt; sie küßte erregt das kleine rundliche Fräulein auf die Wangen und setzte sich athemlos auf die Bank. „O mon dieu, nun ist’s vorüber, sie sind fort! Es war ein anstrengender Tag.“ Und ohne Tante Dettchen zu Worte kommen zu lassen, schilderte sie in den glänzendsten Farben die Braut, die Geschenke, das Menu und schließlich auch den Unfall, welcher den Baron betroffen. „Ihr Neffe, Liebste, ist noch da, die Herren nahmen eben ein Glas Bier; Lucie –“

Ein schrilles Klingeln an der Pforte unterbrach sie; Tante Dettchen, die den Weg entlang geeilt war, kam mit einer langen Gestalt an ihrer Seite zurück.

„Erlauben Sie, Mademoiselle,“ sprach sie in die finstere Laube hinein, „meine Schwägerin, Frau Steuerräthin Adler.“

Die Damen verbeugten sich und Frau Adler tastete nach einem Sitz. „Es ist doch unerhört, daß diese alte Schachtel spät Abends noch die Leute überfällt,“ dachte sie und holte das Strickzeug aus der Tasche. Eine Weile hörte man weiter nichts, als das Klappern der Nadeln unter den Clematisblättern.

„Selma kommt nach,“ begann endlich die Frau Steuerräthin, „sie ist nur zu Bäcker Schulzens gegangen, um Kirschkuchen zu holen, wir haben nämlich noch kein Abendbrot gegessen, waren spazieren und hielten uns etwas lange auf.“

Sie verschwieg, daß sie mit Fräulein Selma zwei Stunden lang auf dem Bahnhofe gesessen bei einem Glase Bayerisch, um „ganz zufällig“ mit anzusehen. wie Herr Weber und seine junge Frau in das Koupé stiegen. Da die Trauung nicht in der Kirche stattfand, mußte sie sich auf andere Weise überzeugen, daß wirklich diese Hortense verheirathet sei. Und nun galt es noch zu erfahren, was aus Lucie würde.

„Ist Alfred nicht zu Hause?“ fragte sie jetzt.

„Er ist noch beim Herrn Baron, welcher einen leichten Anfall hatte, sich aber bereits wieder besser befindet, ich erzählte es eben,“ tönte Mademoiselles Stimme.

„Da kommt er ja,“ bemerkte Dettchen.

Das Gitterthor fiel eben ins Schloß und den Weg herauf klang ein fester Schritt.

„Alfred!“ rief die Mutter, „hier – in der Laube!“

Er kam herüber und blieb am Eingange stehen.

„Das Thor offen?“ fragte er, nachdem er guten Abend geboten.

„Selma kommt noch.“

„Ah so!“ Er machte Miene zu gehen.

„Alfred, bleib’ doch! Man sieht Dich so selten.“ bat die Mutter und rückte etwas herauf, „so, ich habe Dir Platz gemacht, setze Dich einen Moment.“

Er that es auch wirklich. Mademoiselle sah nur die dunklen Umrisse seiner Gestalt und das leuchtende Pünktchen der Cigarre.

„Da wird es wohl sehr still werden in Ihrem Hause?“ nahm Frau Steuerräthin endlich das Wort, nach der Richtung sprechend, wo Mademoiselle saß.

„Bei uns? O entsetzlich!“ antwortete diese, „zumal Fräulein Walter –“

„Sie hier, Mademoiselle?“ fragte Adler erstaunt.

Mais oui! Ich kam, um mit Fräulein Dettchen zu plaudern.“

„Ah, deßhalb haben wir Sie auch vergebens gesucht. Herr Weber, der eben nach Hamburg zurückreist, wollte sich von den Damen verabschieden; wir glaubten schließlich, als auf das Klopfen keine Antwort erfolgte, Sie schliefen oder stellten sich schlafend. Er läßt sich Ihnen angelegentlich empfehlen. Eben bringt ihn der Major von Schenk in seiner Equipage zum Bahnhof.“

„O, ich bedaure herzlich! Aber Lucie – Fräulein Walter – sie war doch oben! Vermuthlich hat sie sich eingeschlossen und weint Abschiedsthränen.“

„Vermuthlich,“ sagte er.

„Fräulein Walter geht nun wohl nach Bornrode zu ihrem Schwager?“ erkundigte sich Frau Steuerräthin. Endlich war sie im richtigen Fahrwasser.

Quelle idée!“ rief Mademoiselle, „sie wird mit Hortense in Woltersdorf leben; so war es von Anfang an bestimmt; sie haben nicht daran gedacht, sich zu trennen.“

Keiner sprach ein Wort in den nächsten Minuten.

„Und das läßt er sich gefallen?“ fragte endlich die Mutter.

„Er?“ betonte Mademoiselle mit erhobener Stimme.

„Nun, Herr Weber.“

„Ah so! Aber wie soll ich das verstehen, Madame?“

„Ich meine, Mann und Frau haben an einander genug, und ein Dritter ist da überflüssig. Wenn die Frau den Mann lieb hat, so kann man eine Freundin entbehren.“

„Sie vergessen, daß es sich nicht um kleinbürgerliche Verhältnisse handelt, meine Beste,“ unterbrach Mademoiselle scharf, „Schloß Woltersdorf ist groß genug, um beiden Theilen neben der Freude des Beisammenseins völlige Freiheit zu gewähren. Und außerdem ist Madame in der Lage, sich eine Gesellschaftsdame zu gestatten.“

„Ach so! Das ist freilich etwas Anderes, die kann man hinausweisen, wenn sie lästig wird. Ich dachte, Fräulein Walter sei ihre Freundin?“

„Das ist sie auch, Madame, und zwar eine treue Freundin; sie werden ein beneidenswerthes Leben führen,“ gab Mademoiselle zurück, empört von der Art und Weise, wie man sie ausfragte.

Aber Frau Steuerräthin blieb kühl; sie sprach nur ein paar Worte, deren Sinn Mademoiselle nicht verstand. „Warte ab, sagt Tuckermann.“

„Wie?“

„Man soll den Flegel nicht früher aufhängen, ehe das Korn gedroschen ist, und den Tag nicht vor dem Abend loben.“

„Aber ich verstehe Sie nicht.“

[187] „Nun, ich meine, es wäre das erste Mal in der Welt, daß Freundschaft und Liebe vor einen Wagen gespannt sind zu gleichem Rechte. Eines muß dabei zu Schaden kommen. – Wo bleibt denn nur Selma?“

„Empfehle mich,“ sagte Mademoiselle, „es wird mir hier zu kühl in der Laube. Herr Doktor, hat es etwas zu sagen mit dieser Ohnmacht des Barons?“

„Nein, nein! Bedenken Sie doch, die Aufregung des Abschiedes; er schlief ganz ruhig, als ich fortging. Aber Sie gestatten, daß ich Sie begleite?“

[197] Mademoiselle in ihrem rauschenden Seidenkleide trippelte neben Alfred her, das Herz voll Zorn über diese spießbürgerlichen Ansichten. Er ging langsam, den Hut in der Hand, als sei es ihm zu heiß, ohne zu sprechen, nur hier und da einen „Guten Abend!“ erwiedernd, der ihm von einer Bank vor den Hausthüren her zugerufen wurde. Als sie an dem Eckhause der Wasserstraße vorüber kamen, an der Apotheke zum „Goldenen Elefanten“, trat eine große lichte Gestalt heraus auf die Straße, und in dem hellen Schein, der durch die Fenster strahlte, erkannte Adler den Besuch seiner Mutter, Fräulein Selma. Sie stand, ohne ihn zu bemerken, und sah glücklich lächelnd durch die Scheiben zurück, hinter denen ein zierlicher junger Herr mit schwarzem Schnurrbärtchen beschäftigt war, eine Flasche Medicin zu pfropfen und mit buntem Papier zu verbinden. Dann ging sie eilig in der Richtung seines Hauses fort.

„Gute Nacht – mille remerciments, Doktor!“ sagte Mademoiselle vor der Pforte des Meerfeldt’schen Grundstückes. „Vergessen Sie uns Einsame nicht!“

„Schlafen Sie wohl, Mademoiselle; ich werde meine Pflicht als Hausarzt gewissenhaft erfüllen.“

Als er zurückkam, schritt er mit einem ruhigen „Guten Abend!“ an der Laube vorbei, aus der jetzt Fräulein Selma’s helles Kleid leuchtete.

„Alfred!“ rief die Mutter.

„Ich bitte um meine Lampe,“ scholl es aus der Hausthür zurück, „ich habe zu arbeiten.“

Dettchen brachte eilig das Verlangte, ließ die Vorhänge herab und entfernte sich, auf den Fußspitzen gehend. Er saß dann an seinem Schreibtisch vor einem angefangenen Berichte über die Beschaffenheit des Trinkwassers hiesiger Stadt, den Bau einer Wasserleitung betreffend; aber er hielt die Feder in der Hand, ohne sie einzutauchen.

Sie ging nicht zurück zu den mutterlosen Kindern, sie hatte nicht einmal die Absicht dazu gehabt! Sie folgte Hortense als Gesellschafterin, als Freundin in das vornehme Leben des reichen Hauses.

Wie würde es gehen zu Woltersdorf? – Da war sie schon wieder, die Sorge um sie! – Was ging sie ihn noch an? Und hastig tauchte er die Feder in das große Porcellantintenfaß und schrieb:

„In dem Wasser des Rathhausbrunnens zum Beispiel entdeckte ich bei der gestrigen Untersuchung eine erhebliche Menge salpetriger Säure –“

Es war zwei Uhr Morgens, als er einen Strich darunter machte, um sich zur Ruhe zu begeben.




Acht Tage waren vergangen, da hielt Lucie einen Brief in der Hand, auf den Hortense mit ihren riesigen Buchstaben die Adresse geschrieben.

[198]  „Meine Luz!

Bitte, packe umgehend Deine nöthigsten Sachen und komme. Wir sind bereits seit zwei Tagen auf Woltersdorf: ich hielt es nicht mehr aus in Frankfurt zwischen den mir doch sehr fremden Menschen, die mich wie ein Meerwunder begafften und von einem Diner zum andern zerrten. Der einzige Lichtstrahl ist seine Mutter. Dafür erfreut er sich einer jung verheiratheten Schwester, die mich durch ihre Neugier aus einer Aufregung in die andere trieb. Sie wich nicht von meiner Seite und hätte am liebsten gesehen, ich führte meine Vergangenheit in photographischen Aufnahmen bei mir.

‚Wem siehst Du ähnlich, Hortense, Deinem Vater oder Deiner Mutter?‘

‚Wo lebt Dein Papa jetzt?‘

‚War er auf der Hochzeit?‘

‚Was hattest Du für ein Brautkleid?‘

‚Nicht wahr, Dein Vater war Officier?‘

Weber hatte natürlich so viel zu thun – er war ja fast während eines Jahres auf unseren Spuren – nach der langen Trennung seiner Mama zu berichten, wie es ihm ergangen, daß er meine Situation nicht bemerkte. Da erklärte ich am vierten Abend unseres Dortseins, ich wollte fort.

‚Wohin?‘

‚Es ist mir gleich, nur fort.‘

‚Dann nach Hause,‘ sagte er. – Ich glaube, er hatte Lust, die Sache etwas übelzunehmen, ich beachtete es aber gar nicht. So kamen wir denn hier an.

Woltersdorf ist so nett, wie ich es noch in der Erinnerung hatte; am meisten freute ich mich, als mir der Goldfuchs und die ‚Hella‘, die einen Tag vor uns mit Gerd eingetroffen waren, entgegen wieherten; mein erster Gang war in den Stall. – Dein Zimmer habe ich heute früh ausgesucht, vor den Fenstern plätschert ein Springbrunnen, eine steinerne Nymphengesellschaft lagert um denselben her im Schatten alter Linden; es ist Rokoko, echt Rokoko. Komme bald, Luz! Deine Sachen laß durch Minna verpacken, sie mögen mit meinen Kisten und Kasten hergeschickt werden. Telegraphire, mit welchem Zuge Du kommst, ich hole Dich von

der Haltestelle ab.
Deine Hortense.“ 

Lucie stand bereits am andern Morgen reisefertig vor Mademoiselle, die kleine Dame hatte Kopfschmerzen und war zum Weinen aufgelegt.

„Grüßen Sie mir Hortense, Lucie, vergessen Sie nicht zu schreiben! Denken Sie, daß wir hier leben wie in einer Gruft, der Baron und ich, und daß Madame und Monsieur die Verpflichtung haben, uns zu besuchen. Leben Sie wohl! Ich begleitete Sie gern zum Bahnhof, aber ich fürchte, meine Nerven halten es nicht aus.“

Sie küßte des Mädchens Stirn und wandte sich schluchzend ab. Lucie ging, um dem Baron Adieu zu sagen.

Als sie die Thür öffnete, erblickte sie Doktor Adler beim Glase Wein mit dem alten Herrn.

„Ah, Sie kommen, Abschied zu nehmen!“ rief er. Lucie trug eine kleine Reisetasche am Riemen über der Schulter und einen leichten Mantel über dem Arme. Und er streckte ihr die Hand hin. „Leben Sie wohl, liebes Kind, alles Glück für Schloß Woltersdorf und seine Bewohner!“

Sie wagte nicht, die Augen aufzuschlagen. „Adieu!“ stammelte sie, und ihre Hand aus der des Barons befreiend, wendete sie sich rasch um und schritt der Thür zu. Sie hörte, wie Adler den Stuhl wieder heran schob, von dem er aufgestanden, und in einem unterbrochenen Gespräche fortfahrend zu dem alten Herrn sagte: „Da bin ich nicht ganz Ihrer Meinung, Herr Baron“ –. Es klang völlig ruhig. Die unbewegte tiefe Stimme tönte ihr noch in den Ohren, als sie, schon meilenweit entfernt von Hohenberg, sich dem Ziele ihrer Reise näherte.

Es war gegen Abend, als sie anlangte auf der kleinen Haltestelle, die mitten im freien Felde lag. Auf dem kiesbestreuten Platze vor dem hölzernen, vorn offenen Gebäude stand Hortense in staubgrauem Leinenkleide, hinter ihr ein Diener. Sie spähte zu den ersten Wagen hinüber und merkte es nicht, daß am Ende des Zuges ein junges Mädchen ausstieg und zu ihr eilte.

„Hortense!“ rief es neben ihr, und die Beiden hielten sich in den Armen, als seien sie jahrelang getrennt gewesen.

„Wie geht es Dir?“

„Und Dir?“

„Und bist Du gern gekommen, Luz?“

„O, so gern!“

Sie saßen dann in dem eleganten Landauer und fuhren in raschem Trabe durch den duftigen dämmernden Sommerabend der neuen Heimath zu.

„Entschuldige, daß Weber Dich nicht begrüßte; er wollte kommen – ich weiß nicht, wo er geblieben, er hat sich mit solchem Eifer auf die Wirthschaft gestürzt –“

„O bitte, Hortense!“ Und Lucie sah in das schöne Gesicht der jungen Frau, über dem ein müder Zug lag. „Wie freue ich mich auf Deine Heimath!“ sagte sie, Hortense’s Hand fassend.

„Wir sind gleich da, dort sieht schon das Dach über den Bäumen hervor.“

Sie fuhren jetzt hinter dem Dorfe herum und bogen in eine dunkle Lindenallee, am Ende schimmerte es licht. In dem letzten rosigen Tagesscheine sah Lucie weite Rasenplätze, prachtvolle Baumgruppen, die sich in Wasserflächen spiegelten, und altersgraue Sandsteinfiguren. Sie befanden sich im Park. Nun lag vor ihnen ein weißes Schlößchen, steinernes Blumengerank und eben solche Arabesken umschlangen Thüren und Fenster, verschnörkelt, kraus und unregelmäßig, und doch unendlich reizvoll lag diese Laune einer lustigen heiteren Zeit inmitten der ernsten grünen Umgebung. Blau und weiß flatterte eine Fahne im Abendwind und blau und weiß war das Zelt auf dem Rasenplatz und das Schutzdach über der Auffahrt – Hortense’s Lieblingsfarben.

Vor dem weit geöffneten Portale hielt der Wagen, der Diener half den Damen beim Aussteigen, ein Mädchen in weißem Häubchen und blendend weißer Schürze sprang herzu und nahm das leichte Reisegepäck Luciens in Empfang.

„Willkommen!“ sagte Hortense noch einmal und küßte sie auf den Mund. „Jetzt ist mir schon ganz traut und heimlich, nun Du da bist.“

Sie faßte Lucie an der Hand, und so stiegen sie die weißen, mit blauem Teppich belegten Marmorstufen hinauf. Ueberall Stuckverzierungen, neben ihnen, über ihnen, und Deckengemälde in zarten Farben, und überall wiederholte sich an Wanddekorationen und Malereien ein Schmetterling, bald weiß, bald vergoldet, bald in matter blauer Farbe, um eine Rose flatternd.

„Allerliebst!“ sagte Lucie bewundernd, „was bedeutet dieser Schmetterling?“

„Der Erbauer dieses Schlosses hieß bei Hofe ‚le papillon‘,“ erklärte Hortense; „die Herrschaften hatten einen Orden gestiftet – das sind nun annähernd hundertundsechzig Jahre her – der hieß ‚des Hermites de bonne humeur‘, sie trugen Pilgerkleider von braunem Taffet, blumenbekränzte Hüte und rosenroth bebänderte Stäbe. Geistreich und lebenslustig, amüsirten sie sich wie die Götter. Das Ordenszeichen war eine Schleife von weißem Band mit der Devise: ‚Vive la joie!‘ Sie gaben sich lauter neckische unsinnige Namen, der liebenswürdige Graf R. hieß also der ‚Schmetterling‘ und hat den lustigen Eremiten die brillantesten Feste hier gegeben. Du kannst dieses harmlose Emblem an allen Zimmerdecken, auf allen Bildern und Möbeln wiederfinden. Bitte, Lucie, hierher.“

Sie waren durch ein kleines Entrée geschritten, und Hortense öffnete linker Hand eine weißlackirte Thür. „Möge es Dir gefallen!“

„O Hortense, wie schön!“ sagte Lucie.

Sie standen auf einem spiegelglatten Parkett; weißer, mit Rosenbouquetts bedruckter baumwollener Stoff bekleidete die Wände, das Himmelbett, die Polsterstühle. Ein Marmorkamin mit Spiegel, verschnörkelte weißlackirte Möbel, unter der Decke eine rosa Ampel und durch die Fenster die rosige Beleuchtung des Abends – es war wie ein Märchen.

Hortense setzte sich in eins der kleinen Sesselchen. „Mach’ es Dir bequem,“ sagte sie und nahm den Hut ab, „ich warte auf Dich, dann können wir speisen. – Ist Herr Weber daheim?“ fragte sie das Mädchen, das Luciens Sachen eben brachte.

„Der Herr ist noch nicht zurück!“

„Thut nichts – wir wollen in einer Viertelstunde essen; bestellen Sie es unten!“

Lucie machte eilig ihren Anzug ein wenig zurecht, bürstete den Reisestaub ab und ordnete die blonden Haare. „Mir ist’s, [199] als passe ich gar nicht in diese bunte Pracht,“ sprach sie und sah traurig lächelnd auf ihr schwarzes Kleid herunter.

„Wie sagtest Du?“ fragte Hortense, die an etwas Anderes gedacht hatte. Und ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie hinzu: „Komm, Lucie, mich hungert.“

Gehorsam folgte das Mädchen. Sie war ganz verwirrt von der üppigen koketten Einrichtung dieser Räume. Hortense’s Salon und Boudoir waren mit blau und weiß gewirkter Seide dekorirt, altes Meißner Porcellan, wunderliche Uhren standen umher, an denen wieder der Schmetterling sein Wesen trieb. Dazu spiegelblanke Parquetts, an den Decken Schäferscenen à la Watteau. Dem Eßsaal und dem daranstoßenden Zimmer des Hausherrn hatte man mit dunklen Farben einen mehr soliden Anstrich gegeben. In Letzterem bekleideten die Wände alte kostbare Gobelins, Jagdscenen darstellend, den Boden deckte ein einfacher grüner Teppich, in welchen der Fuß wie in schwellendes Moos versank. Das in vergoldeter Stuckguirlande eingefaßte Deckengemälde, gegen welches der Schein der Hängelampe strahlte, zeigte die Göttin Diana, welche den Hirsch verfolgte. Möbel aus dunklem Holze, grün bezogene Schränke, hinter deren Glasscheiben prachtvolle Gewehre sichtbar wurden, und auf grüner Tuchplatte des offnen Schreibtisches die Photographie einer alten Dame mit silberweißem Scheitel.

„Wie schön habt Ihr es,“ sagte Luceie, als sie wieder in dem kleinen Boudoir Hortense’s standen, „ich werde mich gar nicht an diese Herrlichkeit gewöhnen können.“

Hortense sah ungeduldig nach der Uhr, die auf dem Kamin tickte, sie wies auf nahezu Acht.

„Wenn er nicht bald kommt –“ sagte sie.

„O, laß uns warten, erzähle mir von Dir, Hortense.“

„Was ist da zu erzählen, Luz!“ erwiederte die junge Frau, „ich schrieb Dir ja schon.“

„Ich dachte Dich heiterer zu finden.“

„O, ich wüßte nicht – bin ich es nicht? Ich fühle mich ganz zufrieden, ich habe es ja so gewollt.“ Sie stand mit dem Rücken gegen das Fenster, Lucie konnte ihr Gesicht in der tiefen Dämmerung nicht erkennen.

Durch das anstoßende Zimmer kamen rasche Schritte; im nächsten Augenblick trat der Hausherr ein. „Ich bitte tausend Mal um Entschuldigung,“ sagte er zu Hortense herübereilend, „aber warum hast Du nicht noch ein kleines Weilchen gewartet? Ich war zwei Minuten nach der verabredeten Zeit auf der Haltestelle; am Ende der Chaussée verschwand eben Dein Wagen, und da ich das Pferd leichtsinnigerweise bereits zurückgeschickt hatte, so mußte ich zu Fuße gehen. Ist Fräulein Walter eingetroffen?“

Sie wies zu Lucie hinüber. „Dort! Und wir wollen essen.“

Er begrüßte das junge Mädchen und bot dann Hortense den Arm. Sie saßen bald darauf an dem runden Tisch im Speisezimmer. Lucie mußte berichten, wie es dem Baron ergehe und wie er die Trennung ertragen; Hortense sagte kaum ein Wort. Als die Rede auf Woltersdorf kam und schließlich auf seine Umgebung, bemerkte Weber: „Wir müssen auch gelegentlich unsere Besuche machen, Hortense, ich habe bis jetzt in allen Familien verkehrt.“

„Ich liebe keine große Gesellschaften Waldemar,“ erwiederte die junge Frau, „bitte, verschone mich damit!“

„Ich glaube, das kann ich nicht, liebes Kind.“

„Aber was gehen mich diese Menschen an? Ich will nicht, Waldemar.“

„Wenn Du nicht willst, Hortense,“ und ein leichtes Roth färbte ihm die Stirn, „ist die Sache entschieden, ich kann Dich nicht mit Gewalt in den Wagen heben und werde es ertragen müssen, daß mein Haus eine Art Einsiedelei wird.“

„Das ist das Allerbeste!“ erklärte Hortense und klingelte nach dem zweiten Gang.

„Ich fürchte nur, Dir wird diese Einsamkeit am allerersten lästig, es ist öde auf dem Lande ohne die guten Freunde und getreuen Nachbarn.“

„Oede? Ich habe ja Lucie, mein Klavier, meine Malerei und die Pferde.“

Er lachte leise, während er Wein eingoß. Lucie verstand ihn, es war kein lustiges Lachen; Hortense hatte Alles aufgezählt, was sie besaß – von ihm war keine Rede.

„Nous verrons,“ sprach er ruhig, ich halte es aus, denn ich habe Dich, Hortense, und wenn ich sehe, daß Du Dich wohl fühlst in Deinem Hause, so werde ich den Umgang nicht vermissen. Also, meine Damen: der wieder auferstandene Orden des Hermites de bonne humeur! Möchte uns die gute Laune eben so treu bleiben wie denen, die hier vor uns gelebt haben!“

Er trank, indem er über das Glas hinweg die schöne Frau anschaute, die keine Miene verzog bei dem Scherz.

In diesem Augenblick erschien hinter dem Diener eine kleine starke Frau, das freundliche Gesicht von weißer Haube umrahmt, eine große weiße Schürze um die Hüfte und ein gewichtiges Schlüsselbund an der Seite.

„Bitte viel tausendmal um Verzeihung,“ begann sie nach einem altmodigen Knix, „bringe nur der Gnädigen das Wirthschaftsbuch.“

Sie legte ein Buch neben Hortense’s Teller und trat zurück. „Wollen es die gnädige Frau später nachrechnen? Und dann möchte ich bemerken. daß die Milch abgeschlagen hat; die Frau hat überall nur den Marktpreis bekommen in der Stadt.“

Hortense rührte das Buch nicht an. Waldemar nahm es und blätterte darin.

„Es wird ja stimmen,“ sagte die junge Frau ungemüthlich; „ich verstehe davon nichts.“

Da schlangen sich zwei Arme um ihren Hals. „Laß mich das übernehmen, Hortense, bitte! bitte! Es ist so schwer für mich, unthätig zu sein.“

„Aber wozu denn? Ich traue der Frau Rein vollständig.“

Die Alte knixte wieder. Viele Ehre, gnädige Frau, aber verzeihen Sie, man muß der Herrschaft Rechnung legen können, es gehört sich so. Ich war zehn Jahre bei der Gräfin Hagen und die Frau Gräfin haben jede Woche ihr ‚In Ordnung‘ unter mein Buch geschrieben.“

„Bitte, bitte, Hortense!“ wiederholte Lucie. „Nicht wahr, Frau Rein, wir werden schon fertig mit einander?“

„Warum denn nicht, wenn die Herrschaft befiehlt, daß ich mich an Sie zu wenden habe?“

Hortense schob Lucie das Buch hin: „Da, wenn Du es willst!“

„Belieben die gnädige Frau den Küchenzettel für morgen?“

Hortense zeigte auf Lucie. „Hier, Frau Rein.“

„O, wir werden das später immer in meinem Zimmer überlegen, Frau Rein,“ sagte das Mädchen, dem zum ersten Male heute froh um Herz wurde. „Bestimmen Sie nochmals, von morgen ab sollen Sie mich pünktlich in meinen Pflichten finden.“

„Sehr wohl!“ erwiederte die Frau und ging hinaus. Waldemar hatte kein Wort gesprochen, er saß mit ernster Miene vor seinem Teller und streute Zucker über einige Erdbeeren.

„Ist Dir Derartiges wirklich so unangenehm, Hortense?“ fragte er.

„Ich verstehe es nicht,“ erwiederte sie, indem sie aufstand.

Man wünschte sich „gesegnete Mahlzeit!“

„Hortense,“ bat er, „singe ein Lied, ich glaube, Du hast den Blüthner’schen Flügel drüben noch gar nicht aufgeschlagen.“

„Ich will es versuchen,“ erwiederte sie, „komm, Lucie.“

Die Fenster des ziemlich großen Salons standen offen; jetzt lugte der Mond herein und streifte die Bilder auf der rothseidenen Tapete, und die in die Wände eingelassenen Spiegel, deren blumige geschnörkelte Rahmen Amoretten krönten.

„Kein Licht!“ sagte Hortense und winkte dem Diener, der mit zwei Lampen eintrat.

Lucie setzte sich still an das offene Fenster, wo Weber geblieben, das konnte sie nicht entdecken, vielleicht im Schatten der seidenen Vorhänge auf einem der kleinen Sofas. Hortense saß vor dem Flügel inmitten des dämmernden Raumes.

„Was soll ich singen?“ sprach sie, während ein Notturno von Chopin unter ihren Fingern erklang. Sie wandte dabei den Kopf zu Lucie.

„Was Du willst.“

Bald darauf hallte ihre wunderbar weiche Stimme durch den Raum. Sie begann ein Schubert’sches Lied und brach wieder ab. Dann eines von Brahms, es ging eben so, es war, als quelle ihr etwas im Halse empor. Sie stockte einige Male. „Ich will ein Lied singen, wie es sich für Leute vom Orden der guten Laune paßt,“ sagte sie und begann.

„Ein Bauer hatt’ ein Taubenhaus –“

[200] Auch das wurde nicht fertig gesungen. „Erlaubt, daß ich nur spiele,“ sagte sie, und ein altes Menuett erklang, so leise und zierlich, wie von einer Spieluhr aus alter Zeit.

Lucie träumte in den Garten hinaus. Der Spingbrunnen rauschte und die Mondstrahlen lagen auf den Rasenflächen, auf denen man einst vielleicht nach jenen Klängen getanzt hatte. Vor ihren Augen schimmerte es wie bauschende Gewänder und flatternde Schleifen, es schwebte und drehte und verbeugte sich.

„Hör’ auf Hortense,“ rief sie neckend, „Du beschwörst Geister! Ich denke, die ganze lustige Gesellschaft von dazumal muß wieder lebendig werden bei diesen Klängen. Wie schade, daß Du nicht singst!“

„Ich kann nicht,“ sagte sie, „mir sind alle die sentimentalen Liebeslieder so unsympathisch,“ und sie schloß geräuschlos den Flügel und kam zu Lucie herüber. „Verzeihe, Luz!“

„O, ich! Aber Dein Mann hätte Dich gewiß gern gehört?“

„Ein andermal! Ein andermal!“ erwiederte sie ungeduldig; „es singt sich so schlecht auf Kommando, man muß aufgelegt sein.“

Aus dem äußersten Winkel des Saales kamen jetzt Schritte und entfernten sich durch eine der Thüren.

„Du hast ihn verletzt!“ sprach Lucie.

„O, Gott bewahre!“ erwiederte Hortense. „Er sieht nach, ob etwa drüben die Knechte mit Licht auf den Heuboden steigen oder so etwas Aehnliches, obgleich dazu der Inspektor vorhanden ist. Nur keine unnöthigen Formalitäten und Rücksichtnahmen bei der Aussicht, sein ganzes Leben mit einander verbringen zu müssen. Du weißt ja, Luz, heucheln kann ich nicht. Ich möchte Dich aber nicht mehr ermüden, Schatz; willst Du schlafen?“

„Ja,“ sagte das Mädchen, „ich bin müde.“

„Komm, ich bringe Dich hinüber.“ – Sie blieb dann noch eine Weile bei ihr sitzen, während Lucie sich vor dem Spiegel die Haare aufflocht.“

„Kannst Du Dir vorstellen, Luz,“ sagte sie endlich, „daß er die begehrteste Partie war in der ganzen Umgegend?“

„Dein Mann? O ja, das glaube ich,“ klang es überzeugungsvoll.

„O, ich meine nicht seines Besitzes wegen! Es soll Frauen geben, die sogar etwas wie Leidenschaft für ihn empfunden haben.“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie es verneinen, und sah Lucie dabei fragend an.

„Er ist ein stattlicher, ritterlicher Mann – warum nicht, Hortense?“

„Du glaubst es?“ Sie schwieg ein Weilchen und wickelte ein blaues Band um ihre Finger, an Lucie vorüberblickend. „Gute Nacht, Luz, schlafe schön!“ Sie küßte das Mädchen auf den Mund und ging hinaus.

Lucie stand noch am Fenster und sah auf den Wasserstrahl der Fontäne, der Silberfunken im Mondlicht warf. – Gott sei Dank, sie war nicht ganz unnütz, sie würde Arbeit haben; Arbeit – das Einzige, was sie hinwegtragen konnte über Leid und Sehnsucht, das Einzige, was ihr das Hiersein weniger drückend machte; das Einzige, womit sie Hortense Dankbarkeit erweisen konnte für die Zuflucht, die sie ihr bot. Nichts würde ihr zu schwer, zu viel werden für sie, nichts! Wenn sie nur auch helfen könnte, daß Hortense glücklich würde – es sah nicht aus danach, trotz alles Glanzes und Schimmers.

Lucie hielt Wort. Früh stand sie auf und ging in die Wirthschaftsräume hinunter, und wenn Hortense an den Frühstückstisch trat, so sah sie ein freundliches Gesicht und fand einen frischen Blumenstrauß neben ihrem Teller. Keine Frage über wirthschaftliche Gegenstände kam zu den Ohren der jungen Frau; es ging Alles wie am Schnürchen; die Dienerschaft war musterhaft unter Luciens Aufsicht, ein richtiger Musterhaushalt. – Frau Rein wurde krank, Hortense erfuhr es erst, als Weber besorgt das Mädchen fragte, ob ihr die Arbeit nicht zu viel werde? Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

„Niemals!“ sagte sie, und ihre Augen suchten Hortense, „ich fühle mich befriedigter, als seit langer Zeit. Ich bin an Arbeit gewöhnt.“

Sie hatte auch stets Zeit für die junge Frau. Sie ging im Park mit ihr spazieren, sie las ihr vor und machte Besorgungen in der Stadt mit ihr und für sie, sie half gewissenhaft Hortense das Leben ertragen und das war nicht leicht, es gehörte Geduld dazu. Die junge Frau war nie launenhafter gewesen als jetzt: bald still, bald von einer ungewohnten Heiterkeit. Mitunter spielte sie halbe Tage lang Klavier, an anderen rührte sie keine Taste an, auch auf das Bitten des Gatten nicht. Sie schlief einmal bis in den Mittag hinein, und das andere Mal erschreckte sie Lucie in aller Morgenfrühe, die eben aus dem Garten kam mit frisch geschnittenen Blumen für Hortense’s Boudoir. Sie ritt stundenlang allein spazieren, ohne Lucie oder ihren Mann zu benachrichtigen, und lag dann müde und abgespannt auf ihrem Sofa.

Herr Weber ließ sie gewähren. Er fand sich anscheinend mit Ruhe in diese wechselvollen Stimmungen, kein Widerspruch, keine Kaprice brachte ihn außer Fassung, gleichmäßig artig und freundlich verkehrte er mit ihr. Aber er bat sie nun nicht mehr, mit ihm auszufahren; sie hatte es öfters abgelehnt, er erzählte ihr schon nach einigen Tagen nie mehr von den Geschehnissen in Haus und Hof, er hatte keine andere Antwort darauf erhalteu als ein: „So?“ oder „Ach!“ Es blieb ihm nichts übrig, als in Hortense’s Abwesenheit das Wirthschaftliche mit Lucie zu besprechen.

Und das Haus lag da wie vergessen, kein Wagen bog mehr durch das weit geöffnete schmiedeeiserne Thor, dessen vergoldete Spitzen auf dem dunkelgrünen Hintergrund der Bäume blitzten, kein fremder Blick bewunderte das Empfangszimmer mit seiner blauseidenen koketten Einrichtung. Es waren wunderliche Wochen, die mit der Augusthitze über Woltersdorf dahinzogen, gewitterhaft schwül wie in der Natur war die Stimmung der Menschen, aber ein Sturm, der da draußen die Wolken zertheilt, der neue frische Luft von den Bergen herabweht, blieb für die Gemüther aus. Ein Tag schlich wie der andere hin, die „gute Laune“, die einst hier ihr Scepter geschwungen, schien sich mit in das Gewölbe am Ende des Parkes geflüchtet zu haben, das über dem Grabe des lustigen Grafen „Papillon“ erbaut war. In lateinischer Sprache stand über der Pforte zu lesen: „Omnes una manet nox!“ – „Auf Alle harret ein und dieselbe Nacht.“

Ja, dieselbe Nacht! Aber wie war der Tag?

Hortense saß anfänglich stundenlang in Luciens Zimmer; es war da so traut und gemüthlich. Das Mädchen hatte sich ein Plätzchen zum Nähen eingerichtet, auf dem Tische lagen stets einige Bände, die sie just las, daneben das Wirthschaftsbuch und eine Schiefertafel zur Berechnung. In den Vasen des Kamins dufteten frische Rosen, die Silhouette der verstorbenen Mutter und eine kleine verblichene Photographie Mathildens hingen über dem Bette, verdeckt von den rosageblümten Vorhängen wie ein heiliges Geheimniß. Dort war Hortense ruhig und beobachtete, wie das Mädchen rechnete oder nähte.

„Warum bist Du so still?“ fragte diese oft, und Hortense hatte irgend eine nichtssagende Antwort. Mit feinem Taktgefühl schwieg Lucie, sie suchte nur so viel wie möglich die junge Frau zu erheitern.

„Du solltest doch Verkehr suchen, Hortense,“ sagte sie eines Tages, „Du brauchst Zerstreuung, und ebenso Dein Mann.“

„Ich bin ja bereit, nach Ostende zu gehen mit ihm – er will nicht.“

„Er war so lange von der Heimath entfernt, Hortense.“

„Du hast doch für Alles, was er thut, eine Entschuldigung, Luz; schade, Du würdest viel besser für –“ Sie schwieg und biß sich auf die Lippen.

Das Mädchen hob die Wimper und sah sie verwundert an. „Ich verstehe Dich nicht!“ sagte sie. „Bitte, sprich deutlicher, Hortense.“

Die junge Frau umarmte die Freundin und küßte sie. „Vergieb mir, Luz, ich bin halb verdreht.“

„Und warum bist Du böse auf ihn?“

„Ich bin es ja gar nicht,“ stotterte Hortense.

„Fräulein!“ rief Frau Rein, die eben wieder ihre Pflichten, soweit es die Kräfte gestatteten, übernommen hatte, und schob sich durch die Thür, „der Herr möchte Sie einen Augenblick sprechen; er wartet im Saal.“

„Verzeih, Hortense, es ist wahrscheinlich wegen –“

Die junge Frau winkte mit der Hand. „Es ist ja gleichgültig, weßwegen. Ich werde Dich hier erwarten.“

Lucie ging; sie fand ihn am Fenster, lesend. Als sie eintrat, wandte er sich um.

„Verstehen Sie sich auf Handschriften?“ fragte er. „Bitte, haben Sie die Güte, Fräulein Lucie, vier Augen sehen mehr als [202] zwei, urtheilen Sie, ob ich mich täusche, wenn ich annehme, daß diese beiden Schriftstücke von ein und derselben Hand geschrieben sind?“

Er hatte ein kleines Tischchen zum Fenster gerückt und legte nun eine Postkarte und einen Zeitungsabschnitt, auf dessen weißem Rand einige Zeilen geschrieben waren, neben einander und reichte Lucie eine Lupe.

Das Mädchen beugte den blonden Kopf darüber. „Ich kann aber nichts dafür, wenn ich die Worte dabei lese,“ sprach sie.

,Darum bitte ich sogar, auch das Gedruckte. Vielleicht erinnern Sie sich, daß ich, im Begriff mit Hortense nach dem Standesamt zu fahren, einen expressen Brief bekam. Diese Zeitungsnotiz war in ihm enthalten. Lesen Sie!“

Es war der Ausschnitt einer französischen Zeitung und enthielt den Bericht eines Skandals in Baden-Baden, dessen Held Herr von Löwen war. Letzterer habe den Grafen S. gefordert, weil derselbe ihn beim falschen Spiel ertappt zu haben behauptete; der Geforderte habe aber die Genugthuung verweigert, da es unter seiner Würde sei, sich mit ihm zu schlagen, und besagter Herr von Löwen sei sodann noch an demselben Tage spurlos verschwunden. Man vermuthe, er treibe sich in Belgien umher; hoffentlich gelinge es der Polizei, seiner habhaft zu werden.

Am Rande standen folgende Worte geschrieben: „Wunderbar, daß ein Mitglied der hochehrenwerthen Familie Weber, die sonst so wählerisch ist, sich mit der Tochter dieses mauvais sujet verheirathet! Schreiber dieses sah die junge Dame, in Begleitung des Herrn Papa, vor einigen Jahren in Baden-Baden herumabenteuern.“

Lucie war roth erglüht. „Abscheulich!“ sprach sie.

„Bitte, vergleichen Sie die Schriftzüge! Die Karte an und für sich ist nicht von Bedeutung, auch nicht an mich gerichtet, sondern an einen mir befreundeten Herrn, der sie gelegentlich von dem mir längst Verdächtigen erhalten hat und mir borgte, behufs Feststellung der Thatsache.“

„Es ist kein Zweifel,“ rief das Mädchen, „dieselben Formen, dieselben Uebergänge und breit aus einander gezogenen Buchstaben.“

„Das meine ich auch, ich danke Ihnen, Fräulein Lucie.“

„Wer ist der Schreiber?“ fragte sie unwillkürlich.

Einer, der vor zwei Jahren einen Korb von meiner Schwester davontrug, eine erbärmliche Rache! Er lebt in unserer nächsten Nähe, das heißt, er war seit einem halben Jahre im Auslande und ist erst vor einigen Tagen zurückgekehrt. Und nun soll –“

„Was wollen Sie thun?“ unterbrach sie.

„Ihn züchtigen!“

„Wie aber?“

„Das ‚Wie?‘ ist meine Sache, Lucie! Bitte dringend, daß Hortense vor der Hand nichts davon erfährt.“

Das Mädchen war bleich geworden. „O, immer dieser Vater!“ stammelte sie.

„Lassen Sie den unglücklichen Mann. Er liegt schwer erkrankt in einem belgischen Hospital.“

„Sie wissen?“

„Ich weiß Alles, ich kenne seine Vergangenheit, besser vielleicht, als selbst die Tochter, und nicht erst seit der letzten Zeit.“

„Ahnt das Hortense?“

Er faltete die Zettel zusammen und legte sie in seine Brieftasche. „Hortense? Sie hat den Namen ihres Vaters nie erwähnt mir gegenüber, und ich verlange nicht, daß die Tochter seine Anklägerin werde.“

„Wie schwer hat sie gelitten um seinetwillen! Ich bitte Sie, beurtheilen Sie aus diesem Grunde Manches milder bei ihr,“ sagte Lucie. Sie wußte selbst nicht, wie ihr diese Entschuldigung auf die Lippen kam. Verlegen senkte sie den Kopf.

„Ich habe kein Recht über sie zu klagen, Lucie,“ sprach er. „Hortense hat nie geheuchelt, daß sie mich liebe, ich kann weiter nichts thun als warten, warten in Geduld, ob nicht doch einmal ihr Herz sich wendet.“

Er hatte die letzten Worte leise gesprochen; nun schwiegen sie Beide.

„Seien Sie mein guter Anwalt,“ sagte er endlich, sich zusammennehmend; „Hortense liebt Sie – und, Fräulein Lucie: Diskretion!“

Er schüttelte ihr die Hand. Niedergeschlagen kam Lucie zurück und traf die alte Frau noch mit Hortense plaudernd.

„Ja, so war’s, gnädige Frau,“ sprach sie, ohne sich stören zu lassen, „halbtodt und erstarrt brachten sie ihn. Seine Frau Mutter und die jüngste Schwester, die damals noch nicht verheirathet war, kamen gleich zur Pflege her. Ich erzähle eben, Fräulein“ wandte sie sich an Lucie, „wie unser Herr einen Mann aus dem Fluß gezogen beim Eisgang. Er ertrank beinah, aber nachher hat der Kaiser ihm die Rettungsmedaille geschickt, das ist der schönste Orden, sagte meine Gräfin immer, den kriegt nur der, der sein Leben gewagt für einen Anderen. Doch was sprach ich denn – ja richtig, das wollte ich nur sagen: es war ein lustiges Leben, als der Herr wieder gesund wurde. Die Damen blieben noch ein paar Wochen hier, drüben im Saal haben sie getanzt und drunten im Garten beim Mondenschein. Jetzt ist’s auch gar zu trübselig, alle meine schönen Konserven in der Speisekammer und dem Herrn seine feinen Weine liegen umsonst da. So war’s noch nie auf Woltersdorf, selbst nicht, als der Herr ganz allein wirthschaftete.“

Die junge Frau drehte eine Rose zwischen den Fingern, auf ihrem Gesicht lag eine zarte Röthe. Sie sah Lucie an, als frage sie: „Was wollte er von Dir?“

„Dein Mann – er will –“

Sie stockte und schwieg, es fiel ihr nichts ein.

„Was geht das mich an!“ unterbrach sie Hortense kurz und erhob sich. „Auf Wiedersehen bei Tische!“ Damit verließ sie das Zimmer.

Lucie blieb traurig zurück. Wollte es denn niemals Tag werden zwischen den beiden Menschen? Nein, Hortense liebte ihn nicht, würde ihn nie lieben. Er hoffte umsonst. Aber sie wollte noch einmal mit ihr sprechen, wollte ihr sagen, daß sie Unrecht thue gegen ein Herz, das ihr so treu ergeben. Ja, sie wollte sein Anwalt sein und der ihre, sie mußten glücklich werden, diese Zwei.




Am Tage darauf, es war an einem Sonntag, ging Lucie in die Kirche. Als sie die Allee durchschritt, gesellte sich Weber zu ihr, der aus dem Gewächshause kam. Er erkundigte sich nach Hortense, das Mädchen hatte sie noch nicht gesehen.

„Steht sie nicht dort am Fenster?“ fragte er, sich nach dem Hause umschauend. Auch Lucie wandte sich, aber sie erblickte nichts als die Vorhänge. Ruhig plaudernd gingen sie weiter. Am Ausgange des Parkes blieb er stehen; er wollte zurück, um Hortense beim Frühstück Gesellschaft zu leisten. „Beten Sie für uns mit,“ sagte er scherzend, aber seine Miene war bekümmert.

„Ja, von Herzen!“ erwiederte sie warm.

Er wandte sich rasch und schritt auf Umwegen zurück. Als er im Hause nach Hortense fragte, erhielt er den Bescheid, die gnädige Frau sei vor wenigen Minuten ausgeritten. Er zuckte die Schultern und sah in den Regen hinaus. Lucie kehrte nach ein paar Stunden aus der Kirche zurück, die Essenszeit rückte heran. Hortense war immer noch nicht da. Endlich ritt sie auf den Hof, Lucie kam ihr ängstlich auf der Treppe entgegen.

„Mein Gott, Hortense, in diesem Wetter!“

Die junge Frau lachte, aber sie schüttelte sich dabei vor Frost. „Ich werde gleich zu Tische kommen, bitte, wartet nicht auf mich.“

„Ich will Dir doch helfen.“

„Ich danke,“ klang es zurück. Sie zog eine lange nasse Spur auf dem blauen Teppich und verschwand hinter einer Thür.

Lucie harrte allein im Eßzimmer; Weber schritt in der Nebenstube auf und ab, dann ließen sich Stimmen dort innen vernehmen: „Wie konntest Du bei diesem Wetter ausreiten, Hortense!“

„Es machte mir Vergnügen.“

„Ein schönes Vergnügen!“ sagte er, „Du wirst krank werden.“

„Sei nicht böse!“ klang es wider Erwarten sanft.

„Ich bin nicht böse, nur besorgt.“

„Ich danke Dir, aber komm zu Tische,“ bat sie und öffnete die Thür des Speisezimmers. Sie hatte auch jetzt noch ein Lächeln um den Mund. „Können wir essen?“ fragte sie Lucie.

„Gewiß, wir haben ja nur auf Dich gewartet.“

„Ich habe einen Brief von Mademoiselle,“ sagte Hortense ganz beiläufig; „Großpapa ist vor einigen Tagen wieder ohnmächtig geworden.“

Man sprach bedauerlich darüber. Weber äußerte, er wolle an Adler schreiben deßhalb.

[203] „Bitte, thue es!“ sagte Hortense. Es war wieder der ungewöhnlich weiche Tonfall.

Der Mittag ging stiller vorüber als sonst, Hortense’s Widerspruch fehlte. Lucie hatte wie immer tausend Aufmerksamkeiten für sie, aber keine einzige wurde beachtet. Als man sich erhob, kam das Mädchen ihr nach: „Liebe, gute Hortense, ist Dir wieder warm? Leg’ Dich etwas; darf ich Dir vorlesen?“

Sie wies Alles zurück. Betrübt suchte das Mädchen ihr Zimmer auf, setzte sich vor den Nähtisch und arbeitete an einer Decke für Hortense’s Geburtstag. Es war todtenstill um sie her; draußen plätscherte einförmig der Regen hernieder, im Park war kein lebendes Wesen zu sehen. Die Arbeit sank ihr in den Schoß; sie legte den Kopf zurück und dachte, nicht an die Vergangenheit, damit war sie fertig, der Faden zerrissen. Sie dachte an die Zukunft; sie sah sich hier in demselben Zimmer sitzen, das Haar gebleicht, die Stirn gefurcht, die Rosenbouquette um sie her verblaßt – alt geworden in Arbeit, in Sorge für Hortense und ihr Haus!

Die Welt würde weiter rollen, in Sturm und Kampf, in Leidenschaft und Glück, sie würde kein Hauch davon treffen in ihrem ewig gleichen Tageslauf. Sie blickte empor, in dem kleinen Spiegel, der dort auf dem Tische stand, sah sie blondes Haar schimmern. Leise strich sie über ihren Scheitel, wie ewig lange mochte es noch dauern, ehe es grau geworden!

Drunten rollten jetzt Räder über den Kies, Lachen und Sprechen scholl befremdend hinauf. Was mochte das Ungewohnte bedeuten? Von ihren Fenstern aus konnte sie nichts erspähen; der Mittelbau sprang hier etwas vor. Nun war das Knirschen des Wagens verstummt, er hielt vor dem Portal. Vermuthlich Besuch; er würde bald wieder heimwärts lenken; Hortense empfing ja Niemand. Als neulich die alte Frau von B. sich bei ihr melden ließ mit dem Bemerken, sie habe die verstorbene Mutter gekannt, mußte Herr Weber die Dame allein empfangen und Hortense mit „Kopfweh“ entschuldigen.

Es war wieder still, Lucie nahm die Arbeit aufs Neue empor und nähte die bunte Seide in das Linnen.

„Fräulein!“ rief Frau Rein in die Thür, „die Herrschaft läßt bitten, es ist Besuch gekommen.“ Die alte Frau hatte ein dunkelrothes verärgertes Gesicht. „Eine schöne Gesellschaft! Sie kamen in Herrn Rostau’s Equipage, drei B…er Officiere: scheinen vorher gut dinirt zu haben, heiße Köpfe haben sie und lärmen wie die Spatzen, wenn’s Tag werden will. Und die gnädige Frau – als ich die Herren anmeldete, ich war gerade im Flur – antwortete: ‚Sehr angenehm!‘ Ich denke, mich rührt der Schlag! Sie müßten nur dem Herrn sein Gesicht sehen, Fräulein; er sieht aus, als nähme er sie am liebsten sämmtlich am Kragen und setzte sie an die Luft. Dem Herrn scheint’s auch aus anderen Gründen nicht recht zu sein; er saß in seiner Stube mit dem Herrn Hauptmann von Röder, der vor einer halben Stunde gekommen ist, sie wollten wahrscheinlich über etwas Wichtiges reden; denn als ich ihm die Gäste meldete, hatten sie Papiere vor sich.“

Hortense – Besuch angenommen?

Lucie schüttelte den Kopf wie ungläubig. „Wer ist Herr Rostau?“

„Jenseit A. hat er ein Rittergut, Fräulein,“ berichtete die alte Frau, während Lucie vor dem Spiegel stand und ihr schwarzes Trauerkleid etwas durch einen Jetschmuck verzierte, „Ichelsleben heißt es. Er hat sich einmal viel zu schaffen gemacht hier, als Frau Weber mit ihrer jüngsten Tochter bei unserem Herrn zum Besuch war; na, man sagt, das Fräulein hätte ihn nicht gewollt. Verdenken konnte man es ihr nicht. Seitdem hat er sich nicht wieder blicken lassen. Ich will nichts weiter sagen; aber ich meine, der Herr sieht ihn lieber gehen als kommen.“

Lucie erschrak, sie dachte an das Billett; sollte er –? Sie wäre am liebsten nicht hinunter gegangen.

Im Entrée vor dem sogenannten Empfangszimmer trat ihr Weber entgegen.

„Thun Sie mir den Gefallen, Fräulein Lucie, gehen Sie zu Hortense. Sie ist bei der Toilette, ich ließe sie dringend bitten, nicht herüber zu kommen; die Herren sind mehr oder weniger angeheitert.“

Er sah finster aus und sprach hastig.

Lucie wandte sich um, da rief er hinter ihr her: „Kommen Sie, es ist zu spät, sie ist bereits von der anderen Seite eingetreten.“

Das Sprechen und Lachen nebenan war plötzlich verstummt; man hörte Stühle rücken und die Stimme der jungen Frau.

„Gehen Sie rasch hinein, Lucie,“ flüsterte Weber.

Im nächsten Augenblick war sie drinnen; hinter ihr der Hausherr. Hortense stand an einem Sessel, sie hatte soeben ihre Gäste begrüßt. Sie sah wunderbar gut aus in dem einfachen dunkelblauen Kleide aus weichem Seidenstoff, den hohen Kragen schloß eine kleine Brillantbroche in Hufeisenform; das blauschwarze Haar schmiegte sich schlicht an den zierlichen Kopf, und die Augen schimmerten so dunkel wie die Farbe ihres Kleides.

Weber stellte die Herren Lucien vor, Hortense hatte sich bereits als Hausfrau zu erkennen gegeben. Die Gäste waren drei junge Lieutenants und ein Hauptmann, welcher der einzige Ruhige unter ihnen zu sein schien. Und neben Hortense im Fauteuil, sich ihr ganz zuwendend, saß, oder lag vielmehr, ein Herr in sandfarbenem Civil neuester Sommermode; er trug sein hellblondes spärliches Haar kunstreich frisirt, sein Teint spielte genau in der Farbe des Anzuges, und der kräftige Schnurrbart stand in zwei kunstvoll gewichsten Spitzen zu beiden Seiten über das magere Antlitz hinaus. Es lag etwas herausfordernd Unverschämtes in diesem Gesicht, in der ganzen Art und Weise wie er sich benahm. Als er sich vor Lucie verbeugte, ließ er das Monocle fallen, um es sofort wieder in das Auge zu werfen und Hortense anzustarren.

Befremdet glitt der Blick der jungen Frau über ihn hin, sie machte eine halbe Wendung und sprach mit dem Hauptmann, der auf der andern Seite saß.

Lucie hatte zwischen Herrn Weber und einem kleinen zwanzigjährigen Lieutenant ihren Platz gefunden, dem das Leben, seinem strahlenden Gesichte nach zu schließen, noch göttlich vorkam. Er gab sich die größte Mühe, den Unterhaltenden zu spielen.

„Famose Idee von Rostau, brachte diese Fahrt hierher nach Tische aufs Tapet, Regentage sind so gräßlich langweilig, Sommertheater fängt erst um halb acht Uhr an. Dieses Woltersdorf ist eine Perle; schade, daß die Herrschaften so –“

Der Diener trat mit Kaffee ein.

Lucie blieb ihrem Nachbar die Antwort schuldig; sie blickte nur auf Hortense, die bald roth, bald blaß wurde, es war, als ob Herr Rostau etwas darin suchte, sich in ihrer Gegenwart so ungenirt wie möglich zu benehmen.

„Rostau“ rief des Hausherrn Stimme laut, „nehmen Sie Ihr Glas aus den Augen, es belästigt meine Frau.“

Mit einer Gesichtsverzerrung fiel das Monocle. „Seit wann denn?“ fragte er, nachlässig mit der Schnur spielend; „ich erinnere mich doch, daß Frau von Löwen durch alle Arten von Gläsern angesehen worden ist! Hat die Einsamkeit Sie so – schüchtern gemacht, Gnädigste?“

Er hatte nur halblaut gesprochen. Weber, der wie gefoltert dort drüben saß, verstand es nicht.

In Hortense’s Augen blitzte es auf. „Ich habe nie bemerkt, daß ich mehr angesehen worden bin, als Andere, und eben so wenig haftet Ihre Persönlichkeit in meiner Erinnerung.“

Rostau lachte. „Ich bin auch keineswegs so eingebildet, das Letztere anzunehmen; Sie werden jedoch verzeihlich finden, wenn man Gedächtniß für Ihre Persönlichkeit haben muß, gnädige Frau.“

Hortense zuckte unmerklich die Achseln.

„Ich hatte einmal die Ehre in Baden-Baden; wenn ich nicht irre, waren Sie in Begleitung Ihres Herrn Vaters!“

Hortense’s bleiches Gesicht überzog eine dunkle Röthe. „Es ist möglich, ich erinnere mich nicht.“

„Ich hatte damals den Vorzug, Ihrem Herrn Vater eine kleine Gefälligkeit erweisen zu dürfen, er versprach mir gewissenhaft, eines Tages zu schreiben,“ hier lachte er spöttisch. „Darf ich mich erkundigen, meine Gnädigste, wie befindet sich Herr von Löwen, wo lebt er?“

Die junge Frau stand plötzlich auf.

„Herr Hauptmann,“ sprach sie, „darf ich Ihnen das Bild zeigen, von dem wir eben sprachen? Es hängt in meinem Zimmer.“

Sie schritt der Thür zu, gefolgt von dem Officier, der sich zwar auf kein Bild zu besinnen wußte, die Sachlage jedoch völlig begriff.

„Lucie,“ bat Weber halblaut, folgen Sie Hortense.“ Und er heftete seine Augen groß auf Rostau, der, eigenthümlich [204] lächelnd und das Glas im Auge, der jungen Frau nachschaute. Es mochte wohl etwas Besonderes in dem Blick des Hausherrn liegen; das Lächeln auf Rostau’s Gesicht verschwand; er rückte sich etwas höher in seinem Stuhle und begann wieder mit der Schnur des Monocle zu spielen.

„Weber, was macht Ihre famose Kegelbahn?“ fragte einer der Officiere, „wie wär’s mit einem Partiechen?“

„Ich bin gern bereit, meine Herren, warten Sie nur einen Augenblick; wenn ich nicht irre, ist Herr Rostau im Begriff aufzubrechen. Ich möchte ihn nur noch in seinem Wagen sehen, dann –“

„Allerdings deutlich!“ sagte Rostau lachend und wurde um eine Schattirung fahler.

„Es freut mich, daß Sie verstanden haben,“ erwiederte Weber, und dem Diener, der eben eintrat, zurufend: „Herr Rostau wünscht seinen Wagen!“ wandte er sich an die völlig verdutzten Officiere: „Es wird mir eine Ehre sein, die Herren mit meinem Geschirr nach E. zu fahren, wie es mir stets eine große Freude sein wird, Sie zu sehen wenn Sie – ohne diesen Herrn mein Haus besuchen.“

Eine unangenehme Pause trat ein, die bestürzten Gesichter schauten Weber fragend an.

„Es ist hier nicht der Ort, meine Herren, zu näheren Auseinandersetzungen; ich muß Sie auf später vertrösten.“

„Der Ansicht bin ich auch,“ schnarrte Rostau, die Handschuhe mit Seelenruhe zuknöpfend. „Ich denke, Sie werden meinem Sekundanten Aufklärung geben, mein Herr.“

„Mit größtem Vergnügen!“

„Auf Wiedersehen!“ Im nächsten Augenblick war Rostau verschwunden.

„Er hat stark getrunken, Herr Weber,“ entschuldigte ihn einer der Officiere, während ein zweiter Rostau nacheilte.

„Er ist ein Verleumder! Ein Unverschämter!“ erwiederte Weber.

„Es war allerdings sein Benehmen der gnädigen Frau gegenüber etwas unbegreiflich; ich saß wie auf Kohlen,“ sprach der Andere. „Verzeihen Sie, bester Herr Weber, daß wir – es war eine tolle Laune von uns.“

„Bitte sehr! Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ Er klingelte und hieß die Kegelbahn zum Spiel bereit machen. Dann schritt er hinüber in das kleine lauschige Boudoir Hortense’s. „Schieben Sie Kegel, Röder? Wir sind eben im Begriffe, hinunter zu gehen.“

Der Hauptmann empfahl sich den Damen und folgte dem Hausherrn.

„Darf ich mich Ihnen zur Verfügung stellen, Weber?“ fragte er und nahm die Cigarre, die ihm dieser präsentirte.

„Ich wollte Sie darum bitten.“

„Wie wurde es?“

„Ich warf ihn einfach hinaus.“

„Unverschämter Bursche!“ murmelte der Hauptmann. „Denken Sie, Weber, Ihre Frau Gemahlin glaubte, daß ich mit Rostau gekommen sei –. Ich habe sie dabei gelassen; es wird ihr weniger auffallend sein; sie darf keinesfalls eine Ahnung haben. Wie?“

„Durchaus nicht!“ rief Weber. „Es ist doch merkwürdig, Röder, daß heute, wo ich mit Ihnen überlegte, wie ich den Gentleman am besten fassen könnte, er hier angegondelt kommt!“

„Also Pistolen, Weber?“

„Selbstverständlich! Alles Uebrige überlasse ich Ihnen. – Lieutenant von Weißkirchen ist mit ihm gefahren,“ bemerkte Weber und blickte, mit dem Hauptmann über den nassen Kies des Gartens kommend, zu der eleganten Kegelbahn hinüber, wo nur zwei Officiere standen, leise das Geschehene besprechend. Bald rollten die Kugeln über die glatte Bahn, und die Stimme des kleinen Pferdeburschen, der als Kegeljunge fungirte, rief laut die Anzahl der Gefallenen.

[226] Als der Hauptmann das Zimmer Hortense’s verlassen, blieb es ein Weilchen still zwischen den beiden Freundinnen. Hortense, die bis dahin scheinbar unbefangen und liebenswürdig geplaudert hatte, saß jetzt in dem kleinen Sessel, blaß und mit einem herben Zug um den Mund. Lucie schob ihren Stuhl etwas näher und bog den blonden Kopf zu ihr herunter.

„Hortense,“ fragte sie, „hattest Du eine Unannehmlichkeit? Wie kamst Du aber auch darauf, die Herren zu empfangen?“

Die junge Frau lachte kurz und hart auf und antwortete nicht. Lucie schwieg erschreckt; sie hatte schon einmal dieses Lachen gehört; es war an jenem Tage, dessen sie nie ohne Schauder gedenken konnte. Sie nahm ein Buch von dem niedrigen Tischchen neben der Chaiselongue. „Darf ich Dir vorlesen?“ fragte sie hastig.

Hortense blieb stumm; sie machte eine Bewegung mit dem Kopfe, als wollte sie sagen: „Lies oder lies nicht – mir ist es gleichgültig.“

Lucie zögerte ein Weilchen, dann las sie, es war eine Novelle von Heyse „David und Jonathan“, die sie gestern Nachmittag begonnen. Sie wußte nicht, ob Hortense zuhörte, sie vergaß während des Lesens die Gegenwart und nahm an dem Geschick des vom Freunde betrogenen Hans so innig Theil, daß ihr die Stimme leicht bebte. Ein leises Rauschen ließ sie einhalten, Hortense war aufgestanden und schickte sich an, hinauszugehen.

„Verzeih, ich habe Kopfschmerz,“ murmelte sie.

„Aber, liebes Herz, dann lese ich nicht, Du brauchst es doch nur auszusprechen,“ sagte Lucie verletzt. „Wenn es Dir unangenehm ist, so gehe ich, ich meinte es ja nur gut.“

„Fräulein,“ rief Frau Rein, die plötzlich in der Thür erschien, „bitte um Tafelgedeck und Silberzeug; die Herren bleiben zum Abendessen.“

Lucie nickte und griff nach dem Schlüsselkorb; Hortense war ohne ein Wort durch die entgegengesetzte Thür hinausgegangen. Das Mädchen wandte sich seufzend um und ging, das Verlangte zu besorgen, Frau Rein folgte ihr.

„Nur für drei Kouverts, bitte,“ sagte sie. „Herr Rostau ist mit dem einen Herrn bereits fortgefahren. Bitte, die Fischgabeln, Fräulein, ich habe Forellen.“

Lucie gab still, was gefordert worden, dann ging sie unruhig durch die Zimmer, Hortense zu suchen, sie ängstigte sich um ihr verstörtes Wesen. Die junge Frau war nirgends zu finden. An dem Wohnzimmer stand sie still und pochte mit leisem Finger:

„Hortense, liebe Hortense, kann ich Dir etwas thun?“

Es blieb still dort drinnen. Durch die offenen Fenster neben ihr klang das Rollen der Kegelkugeln und die Stimmen der Herren. Sie faßte leise, ganz leise den Drücker, die Thür war verschlossen.

Hortense hörte es wohl, aber sie rührte sich nicht. Sie hatte ein Morgenkleid angezogen und lag regungslos auf dem Sofa, zur Decke emporstarrend, die mit geblümtem Stoff zeltartig bekleidet war. Ihr Gesicht glühte fieberheiß; das Herz schlug ihr zum Zerspringen vor Zorn und Weh. War sie denn in alle Ewigkeit dazu verdammt, unter dem Ruf ihres Vaters zu leiden? Mit welchem Rechte durften die Menschen frech und hämisch an sie herantreten und mit plumpem Finger an die wunde Stelle rühren? Sie lachte wieder auf. „Thörin!“ flüsterte sie.

Was hatte sie denn eigentlich gewollt? Wie kam sie dazu, plötzlich nachgiebigere Regungen zu verspüren, ihm mit der Annahme dieses Besuches eine Freude machen zu wollen? Dieses Besuches oder eines anderen! Sie kannte ja die Menschen nicht. Recht so, sie hatte ihren Lohn dafür erhalten!

Die funkelnden Thränen standen ihr in den Augen, während sie über sich selbst lächelnd die Schultern zuckte. Sie konnte es ihm noch nicht einmal klagen, sie konnte nicht bitten: „Beschütze mich, daß mir die Menschen nicht weh thun!“ Sie besaß sein Vertrauen nicht, und er nicht das ihre – und nie würde sie es besitzen; sie hatte es verscherzt; jetzt war es zu spät.

„Zu spät!“ wiederholte sie leise. Sie dachte daran, wie sie am Hochzeitsabend mit sich gekämpft, ob sie ihm sagen sollte: „Ich will Dir etwas erzählen, Du hättest es längst wissen müssen,“ und wie ihr Mund doch stumm blieb. Sie dachte, wie sie an der Seite seiner Mutter gesessen und unter dem milden Frauenblick das Eis an ihrem Herzen zu thauen begann; sie hätte die Arme um die Kniee der alten Frau schlingen mögen und ihr sagen: „Ich bin so namenlos schlecht, Mutter; ich habe Waldemar verschwiegen, daß die Leute mit Fingern auf die Löwens zeigen dürfen; ich habe nicht den Muth gefunden, aus Stolz – aus Furcht, er könne mich lassen.“

Umsonst! Der Bann auf ihren Lippen war auch da nicht gewichen. Sie hatte zum Aufbruch getrieben, gemeint, hier, allein mit ihm in der Stille ihres Hauses, würde es ihr leichter werden; aber sie schwieg auch hier, sie war scheu und absprechend gegen ihn und – allmählich war es zu spät geworden, zu spät!

Anfänglich war sie neben ihm geschritten, dann entfernte sie sich mehr und mehr von ihm und schritt am äußersten Rande des Weges, und jetzt hatte auch er die Mitte verlassen und ging am Rande, aber nicht an dem nämlichen wie sie, am entgegengesetzten. Der breite Weg lag zwischen ihnen; sie konnten sich die Hand nicht mehr herüberreichen, sie konnten nicht lesen, was im Auge des Andern stand, nicht hören, was ihr Mund flüsterte; kein Zweifel – Weber war müde geworden, er liebte sie nicht mehr!

Sie sah empor und preßte die Hände an die Schläfen. Draußen auf dem Korridore klangen wieder leichte Tritte und leises Klingen wie von einem Schlüsselbund. Mit finsterer Miene schaute sie nach der Thür.

Das war sie, die in der Mitte des Weges ging, zwischen ihnen, deren Ohr das Wort, deren Auge die Blicke auffing, die ihr zukamen, die es in alle Ewigkeit unmöglich machen würde, daß sie je wieder Seite an Seite mit ihm weitergehe!

„Hortense!“ rief die weiche liebliche Stimme.

Sie sah die Beiden in diesem Augenblick, wie sie heute früh durch die Allee schritten, eifrig sprechend, nachdem er für sie doch kein Wort gefunden. Da hatte sie sich auf ihr Pferd gesetzt und war stundenlang im Walde umher geritten, kämpfend, ringend, und mit den Regentropfen hatten sich ihre Thränen gemischt. Sie hatte unter einer Eiche gehalten am Waldessaume und in die nasse Landschaft geschaut, das Mittagläuten aus dem Dorfe war just herüber geklungen, als sie die Hände gefaltet und gesprochen: „Es soll anders werden! Ich will versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen, ich will da gehen, wo jetzt Lucie geht, will das thun, was sie vollbringt, die Mühen der Hausfrau auf meine Schultern nehmen! Ich ertrage es nicht, daß –“

Wie war ihr erster Versuch gleich so kläglich gescheitert! Sie fühlte, nun sei es mit ihrer Kraft wieder vorbei auf lange, vielleicht auf immer. Sie würde sich mehr und mehr auf sich selbst zurückziehen, und Lucie – ja, die würde neben dem Schlüsselkorb auch sein Herz eines Tages beherrschen, nicht daß sie betrügen wollte, nein, nein! – aber es würde sich so ganz von selbst machen, so naturgemäß! Und dann –

„Hortense, ich habe eine Bestellung von Deinem Mann; bitte, mach auf!“

Sie sprang empor. Wieder flog das verzerrte Lächeln um ihren Mund. Langsam ging sie hinüber und öffnete.

Luciens Augen hingen besorgt an ihr. „Hortense, Du bist krank, Du hast Dich erkältet heute früh,“ sagte sie ängstlich und legte ihre kleine kühle Hand auf die Stirn der jungen Frau.

Mit einer unwilligen Bewegung wich diese aus und trat zurück.

„Herr Weber läßt Dich fragen, ob es Dir angenehm ist, wenn er mit den Herren allein speist; Du könntest ja eine Unpäßlichkeit vorschützen, meint er.“ Sie sprach es stockend.

„Sehr einsichtsvoll!“ flüsterte Hortense, „natürlich! Mit Vergnügen.“

„Ich lasse unser Abendessen in das grüne Zimmer bringen, und wir speisen einmal wieder allein zusammen, Hortense, wie früher, ja? Willst Du?“

„Wie Du bestimmst.“

„Ich will ihm Antwort sagen lassen, Hortense, und noch einmal die Tafel inspiciren, dann bin ich gleich bei Dir, entschuldige einen Augenblick.“

[227] „O bitte,“ klang es gleichgültig. Die junge Frau wandte sich um und begann langsam im Zimmer auf und ab zu gehen. Warum kam er nicht selbst? Hatte er wirklich nicht bemerkt, daß man sich unverschämt gegen sie betragen? Zürnte er ihr so bitter, weil sie diesen Besuch empfin? Er hatte sie so finster angesehen, als er sie bei den Gästen fand. Sie fing Alles ungeschickt an, sie konnte es Keinem recht machen. – Wie käme er auch dazu, darauf zu achten, ob man ihr die schuldige Ehrerbietung gewähre oder nicht? Wenn es Lucie gewesen – –.

Sie hielt an vor dem großen Stellspiegel und schaute hinein; ein heißes entstelltes Gesicht blickte ihr entgegen, die Augen verschwollen wie vom Weinen, der Morgenrock saß so nachlässig. Sie verglich sich mit der zierlichen biegsamen Gestalt in dem schwarzen Wollkleide, das weiße gestickte Schürzchen um die Hüften, die Sammetschleife im blonden Haar, das Schlüsselkörbchen am Arm, so schwebend, so frauenhaft mild und lieblich. War sie denn wahnsinnig gewesen, als sie darauf bestand, dieses Mädchen sich zur Seite zu stellen, mitherzunehmen in ihre junge Ehe?

Sie fuhr zusammen, eben trat Lucie herein. Sie trug ein thauig beschlagenes Glas auf dem Präsentirteller, ein paar Citronenscheiben schwammen darin.

„Trink’, Hortense,“ bat sie freundlich, „es ist Limonade. Du bist so heiß, armes Herz.“

„Ich danke,“ stammelte die junge Frau. Es wäre ihr unmöglich gewesenn, das Glas zu berühren.

„Willst Du auch nicht essen?“ fragte das Mädchen.

„Nein!“

„Soll ich Dir Deinen Mann schicken, Hortense? Vielleicht müßte man den Arzt fragen.“

„Ich will nicht, daß Du Waldemar schickst, er wird vielleicht – vielleicht von selbst – –“ Sie sank auf den nächsten Stuhl bei diesen Worten. sie fühlte, es war ihr nicht länger möglich, sich aufrecht zu halten.

„Hortense, komm, ich bringe Dich zu Bette,“ bat Lucie.

„Laß mich allein!“ rief heftig die junge Frau, unfähig sich noch länger zu beherrschen, „ich bitte Dich!“

Lucie stand regungslos; ein unendliches Erschrecken prägte sich auf ihrem Gesichte aus. „Bist Du mir böse? Was that ich Dir?“ fragte sie leise.

„Quäle mich nicht! Thue mir den Gefallen und laß mich allein!“

Still ging das Mädchen hinaus. Auf dem Korridor begegnete ihr die Jungfer; sie schickte sie hinein mit der Weisung, zu fragen, ob die gnädige Frau irgend etwas wünsche.

Ein Weilchen stand Lucie wartend; das Mädchen kam nicht zurück; Hortense hatte ihre Hilfe angenommen. Verständnißlos saß Lucie dann in ihrer Stube und fragte sich vergeblich, was sie Hortense gethan. Sie fand nichts. Eine große Bangigkeit, wie die Ahnung eines bevorstehenden Unglücks, überkam sie; das Zimmer erschien ihr fremd und unwohnlich in der tiefen Dämmerung; sie zündete die Lampe an und meinte, so trübe habe sie noch nie gebrannt. Aus dem Gartensaal, der sich unter ihrem Zimmer befand, schollen die Stimmen der Tafelnden. Der Hausherr hatte hier serviren lassen, als wollte er die Gäste den Gemächern fern halten, die Hortense bewohnte.

Gegen halb zehn Uhr klopfte es an Luciens Thür; sie saß noch auf demselben Fleck. „Hortense!“ dachte sie und wandte den Kopf, es war Frau Rein.

„Ja ja, Sie sitzen hier und die gnädige Frau liegt drüben, und meine schönen Forellen stehen da unberührt im grünen Zimmer, und vom Rehbraten ist kein Stückchen gegessen.“

„Wie geht es Frau Weber?“ fragte Lucie.

„Sie liegt ganz still und rührt sich nicht. Der Herr war einmal bei ihr, wird aber ebenso wenig eine Antwort erhalten haben wie ich. Es sind lauter Räthsel hier im Hause, Fräulein,“ plauderte die alte Frau weiter und setzte sich behaglich auf einen Stuhl. „Der Officier, der so Hals über Kopf mit Herrn Rostau davon fuhr, ist vorhin allein wiedergekommen, dann ist er mit dem Hauptmann von Röder eine lange Zeit im Garten auf und ab gegangen, und nun wieder fort. – Ich wollte schon, die Herren gingen endlich ihrer Wege; ich habe Angst, die Gnädige ist kränker, als wir denken. Ich faßte einmal ihre Hand; sie war so heiß wie ein Plätteisen.“

Lucie hielt es nicht länger aus; sie schlich hinüber zu dem Schlafzimmer. Die rothe Ampel brannte unter dem Zeltdach; regungslos lag die junge Frau in den weißen Kissen. Leise trat das Mädchen an das Lager und bog sich herab.

„Hortense!“ flüsterte sie angstvoll, „laß mich bei Dir bleiben.“

Eine abwehrende Handbewegung war die einzige Antwort.

„Hortense, erbarme Dich, sage, warum Du mir zürnst! Wenn ich Dich gekränkt habe, will ich Dir abbitten, – Du weißt ja, wir hielten es immer so,“ flehte Lucie mit einer Stimme, die nach verhaltenen Thränen klang.

Hortense führ mit ihrer Hand an die Schläfen; es lag eine so nervöse Ungeduld in dieser Bewegung, daß Lucie sich wandte und ging.




Am anderen Tage saßen Lucie und der junge Hausherr allein beim Mittagessen einander gegenüber. Hortense war nicht aufgestanden; sie hatte sich durch Frau Rein Frühstück ans Bette bringen lassen und dieselbe, so zu sagen, als Krankenwärterin in Anspruch genommen. Waldemar Weber war den ganzen Morgen schon mit besorgter Miene zwischen Hortense’s Lager und seinem Schreibtisch hin und her gewandert. Nun aßen sie schweigend, das heißt, Lucie nahm ein paar Löffel Suppe; es ward ihr schwer, zu sprechen; die schlaflose Nacht, die Angst hatte sie angegriffen. Sie hatte auf einmal das Gefühl verloren, als sei sie hier daheim, und damit kam die Reue geschlichen über leichtsinnig Verlornes, so stark und weh, wie es noch niemals gewesen.

Sie hatte das Zimmer der jungen Frau nicht mehr betreten; aber sie glaubte doch jeden Augenblick, Waldemar oder die Jungfer oder Frau Rein würde kommen, um sie zu rufen. Vergebens!

„Darf ich bitten, Fräulein Lucie,“ sagte Waldemar am Schluß des Mittagessens, „daß Sie sich in ungefähr einer Stunde in mein Zimmer bemühen? Ich habe Ihnen etwas mitzutheilen – eine Bitte.“

Sie nickte stumm.

„Ich fahre heute Abend fort und bleibe möglicherweise bis morgen Abend aus, ich habe dort – doch später davon, jetzt muß ich noch Einiges an meinem Schreibtisch besorgen.“ In der Thür wandte er sich noch einmal. „Was haben Sie mit Hortense?“

„Nichts! Ich frage mich vergeblich, was ich ihr gethan.“

„Sie wissen auch nicht, was gestern dieser Herr Rostau zu ihr sprach?“

„Nein, Hortense hat schon lange, lange kein Vertrauen mehr zu mir.“

„O, es ist nichts, wird nichts sein,“ tröstete er zerstreut und verließ das Zimmer.

Lucie machte einen Gang durch den Park. Sie pflegte sonst immer hinauszutreten, um einen Strauß Feld- oder Wiesenblumen für die junge Frau zu pflücken, heute unterließ sie es. Sie setzte sich außerhalb des Parkes auf einem Hügel nieder, an dessen Abhange sich die zum Gute gehörige Kirschplantage hinzog, und blickte in das Land hinein, bis wo die Berge sich dunkelblau am Horizont erhoben. Die Felder vor ihr waren abgeerntet, an den Zweigen der Ebereschen hingen die Beeren in purpurner Röthe, und da flog durch die warme Luft des Septembertages der erste Bote des Herbstes, ein langer silberglänzender Faden.

Sie saß da stundenlang, nur zuweilen den Kopf nach dem Park wendend, durch dessen üppiges Laub das Schlößchen schimmerte. Mitunter machte sie eine Bewegung, als wolle sie aufstehen und zurückkehren, blieb aber, einer andern Regung nachgebend, doch festgebannt an ihrem Platz. Endlich hörte sie Schritte und ging nun rasch dem Parkthore zu.

Hinter ihr kam ein Mann, ein Postbote, die kleine schwarze Mappe in der Hand. Er schritt grüßend an ihr vorüber. Als sie gleich nach ihm den Park betrat, wandte er sich: „Eine Depesche an Fräulein Walter.“

„Bitte, geben Sie.“ Sie bezahlte den Mann und las stehen bleibend:

„Baron gestern Abend Schlaganfall, einseitig gelähmt. Suchen

Sie Hortense schonend zu benachrichtigen.
Bertin.“ 

Auch das noch! Wie würde diese Nachricht auf Hortense wirken! Sie ging langsam dem Hause zu.

„Der Herr hat nach Ihnen gefragt, Fräulein,“ scholl Frau Rein’s Stimme aus dem Souterrain.

[228] Sie hatte es ganz vergessen; nun konnte sie ihm zugleich Mittheilung machen von dem Telegramm; es war doch schließlich seine Angelegenheit, Hortense vorzubereiten.

Er erwartete sie in seinem Zimmer. Die dunkelgrünen schweren Dekorationen machten es schon dämmerig, obgleich draußen noch das letzte Abendroth am Himmel schwamm; gespensterhaft leuchteten die Gesichter der Reiterinnen und Jäger auf den Gobelins in dem grauen Zwielicht. Der weiche Teppich machte die Schritte des Mannes, der vor dem Kamin auf- und abwandelte, ganz unhörbar. Nun blieb er stehen.

„Ich habe eine Bitte an Sie,“ begann er, „eine große Bitte –“ er sprach langsam, „morgen früh schieße ich mich mit Rostau – und –“

Ein leiser Schreckensruf antwortete ihm.

„Ruhig!“ fuhr er noch leiser fort. „Sie wissen, weßhalb. Ihrer Diskretion bin ich versichert. Hier in meinem Schreibtisch, im Schube rechts, liegt mein Testament und ein Brief an Hortense, für den Fall, daß – Sie verstehen mich wohl. Hier übergebe ich Ihnen den Schlüssel. Ich habe nur noch die innige Bitte an Sie: verlassen Sie das arme Wesen nicht; sie wird Ihrer Freundschaft bedürftiger sein, denn je! Ich habe ihr gesagt, daß ich zu einer Abendgesellschaft geladen bin, an die sich morgen eine Hühnerjagd anschließen wird, habe auch bereits Abschied von ihr genommen. Sie ahnt ja nichts, sie hat mir nicht einmal die Hand gedrückt. In dem Briefe dort –“ er brach ab – „auch Sie, Lucie, sagen Sie es ihr später noch einmal, daß ich sie sehr geliebt habe.“

Er hatte des Mädchens Hand ergriffen und zog sie an seine Lippen.

„Leben Sie wohl, Lucie, vielen Dank! Der Wagen wartet; Gott gebe uns ein Wiedersehen!“

Er ergriff hastig Hut und Ueberzieher und verließ eilends die Stube.

Lucie, die einen Augenblick regungslos gestanden, eilte jetzt zur Thür des Ankleidezimmers hinüber, welches sich neben der Schlafstube befand, sie wußte nun, daß sie Hortense nicht einen Augenblick allein lassen dürfe; alles Andere war vergessen. Betroffen wich sie zurück, hinter den Vorhängen stand – Hortense.

„Ich habe Dich erschreckt?“ fragte die junge Frau unheimlich ruhig. „Verzeih!“

„Einen Augenblick nur, Hortense. Gott sei Dank, daß es Dir besser geht!“

„Komm her,“ sprach die junge Frau und faßte Luciens Hand, „setze Dich da, neben mich –“ sie drückte das bebende Mädchen auf einen Divan. „Ich will Dich um etwas bitten.“

„Bitte, Hortense.“

„Geh fort von hier – wenn es Dich nicht schon zuviel kostet, sonst – will ich es thun,“ stieß sie hervor.

„Ich verstehe Dich nicht, Hortense, bis auf das Eine, daß ich Woltersdorf verlassen soll.“

Die junge Frau in ihrem weißen Morgenkleide bebte an allen Gliedern. „Lucie, Du sagtest immer, Du habest mich lieb. Wäre es wahr gewesen, müßtest Du schon lange –“

„Gegangen sein?“ schrie das Mädchen auf.

„Ja, Du mußtest sehen, wie ich litt.“

„O, war ich denn blind bisher?“ jammerte Lucie. „Hortense, was verbrach ich nur, daß Du mir dies anthust, daß Du mir das Schlechteste zutraust, was man von einem Mädchen glauben kann, daß Du mir nachschleichst, um –“ Sie war plötzlich auf den Füßen. „Leb’ wohl, ich gehe!“

„Bleib’; ich bin noch nicht fertig, Lucie, Du sollst erst wissen –“

„Ich will nichts wissen, Du hast mich auf den Tod beleidigt!“

„Luz! Nein, bei Gott, ich bin Dir nicht nachgeschlichen!“ rief Hortense. „Ich denke nicht schlecht von Dir! Ich wollte Waldemar Adieu sagen; mich trieb es mit sonderbarer Angst zu ihm, und da – o Luz, Du kannst ja nicht dafür, er mußte Dich ja lieb gewinnen, Du bist der Sonnenschein im Hause, das einzig Lichte für ihn. Ich – wenn Du nicht gewesen, wer weiß, ob er es so lange ertragen hätte mit mir!“

[229] Sie glitt vor Lucie auf die Erde und umfasste ihre Kniee. „Lucie, Du mußt es hören, mußt wissen, daß ich ihn liebe, daß ich ihn Dir nicht gönnen will, nein – ich will, ich kann es nicht! Sage mir die Wahrheit, was ist hier eben geschehen? Bin ich ihm gleichgültig geworden? Hat er Dir – gestanden?“

Lucie sprang empor, bebend, glühend. Sie faßte sich an die Stirn und stieß mit der andern Hand die junge Frau zurück, die noch immer auf den Knieen vor ihr lag.

„Sprich, Lucie!“

„Ja!“ sagte das Mädchen mühsam die Worte hervorstoßend, „ich will sprechen – ich breche mein Wort, aber Du, Du bist schuld daran, nicht einen Augenblick darf ich die Rechtfertigung des Mannes aufschieben, der hier eben vor mir gestanden. Er trug mir Grüße auf für Dich, er bat mich, Dir zu sagen, daß er Dich mehr geliebt, als Du je geahnt, er bat mich, Dich nicht zu verlassen, wenn –“ sie stockte.

Hortense verharrte regungslos; ihre weiße Gestalt zeichnete sich deutlich ab gegen den dunklen Teppich, auf dem sie knieete.

„Wenn ihn ein Unglück treffen sollte,“ vollendete Lucie, „er schießt sich mit Rostau Deinetwegen.“ Das Letzte war fast unverständlich.

Hortense gab keinen Laut von sich.

„Steh’ auf!“ sagte Lucie fast rauh. „Dort in dem Schreibtisch liegt sein Abschiedsbrief.“ Und sie faßte den Arm der jungen Frau. „Steh’ auf! Ich konnte Dir diese Stunde nicht ersparen, Deinet- und seinetwegen nicht. Ich will bei Dir bleiben bis morgen, wie ich ihm versprach, und Dir tragen helfen; dann gehe ich. Komm, fasse Dich!“

Hortense richtete sich empor, langsam, als sei sie nicht Herr ihrer Glieder.

„Den Wagen,“ flüsterte sie, „ich will zu ihm; den Wagen!“ Und sie war im nächsten Augenblick an der Thür und drückte den Knopf der elektrischen Klingel.

„Wozu das?“ sagte Lucie, „wir wissen Beide nicht, wohin er gefahren. Sieh ein, daß, selbst wenn Du ihn erreichen könntest, Dein Erscheinen ihm unnütze Aufregung bereiten würde in einem Augenblick, wo er so besonnen wie möglich bleiben muß. Eine Flasche Selterswasser!“ wandte sie sich an den Diener, der eben eingetreten war. Nun trat sie nahe zu der jungen Frau „Fasse Dich, ertragen muß es sein; ich konnte nicht anders handeln!“ Ihre Stimme hatte einen ungewohnten Tonfall, aller Klang schien daraus entschwunden und als sie das Licht auf dem Schreibtisch anzündete, trafen seine Strahlen unheimlich veränderte Züge. Es war das weiche traurige Mädchenantlitz nicht mehr; es war ein hartes Gesicht, dessen Lippen im Schmerz zuckten.

Hortense saß wie vernichtet auf dem kleinen Stuhle, dessen Lehne, aus dem Geweih eines Schauflers hergestellt, ihr kaum eine Stütze bot. Sie hielt die Hände in einander gelegt auf dem Schoß und starrte vor sich hin.

„Trinke,“ bat Lucie und reichte ihr ein Glas Selters, das sie eben eingeschenkt.

Hortense hob den Blick, und die Beiden sahen sich an; in den Augen Luciens lag der Ausdruck, den Hortense schon einmal gesehen, als nach Empfang der Todesnachricht Mathildens das Mädchen vor sie getreten war, drohend und verächtlich.

„Lucie, verlaß mich nicht!“ stotterte sie.

„Ich bleibe bei Dir, bis er wiederkehrt, Hortense.“

„Bis er wiederkehrt! Wird er wiederkehren? Nein, Lucie, ich ertrage die Qual nicht, ich glaube, ich verliere den Verstand!“

Sie schritt im Zimmer auf und ab und blieb vor dem Schreibtisch stehen. „Wo liegt der Brief?“

„In dem oberen Schube, rechts. Hier ist der Schlüssel.“

Hortense nahm mit zitternden Händen das Schreiben von der bezeichneten Stelle, setzte sich an den Tisch und las:

„Wenn Du dieses Blatt Papier in der Hand hältst, so bist Du frei, Hortense, bist Du Wittwe. Fast wünsche ich, daß ich nicht umsonst geschrieben: sehe ich doch, daß Du nicht glücklich neben mir bist; glaub’ ich doch zu wissen, daß Du nie ein Herz zu mir fassen wirst. Ich habe schwerer darunter gelitten, als ich es Dir zeigte. Zürnen darf ich Dir nicht. Du hast mir nie eine Zuneigung [230] geheuchelt; es war vermessen von mir, zu glauben, daß eine so treue tiefgefühlte Liebe, wie ich sie Dir entgegengebracht, nothwendig früher oder später Erwiederung finden müsse. Ich habe mich geirrt! Das ist meine Schuld! Ich schlage mich mit Rostau, Du wirst das Nähere von Lucie erfahren.

Leb’ wohl, Hortense, hab’ Dank auch für das Wenige, was Du mir gegeben; mögest Du glücklicher sein in Deinem späteren Leben! Waldemar.“ 

Eine dunkle Röthe hatte allmählich ihr Gesicht überzogen; sie breitete die Arme über das Papier und barg ihr Gesicht hinein, ihr Körper bebte. „Er wird sterben, weil ich ihn liebe – um meinetwillen! Und ich kann ihm nicht mehr sagen, daß er mir so theuer ist wie Nichte auf der Welt!“

Wieder sprang sie auf „Rede, weßhalb er Rostau forderte! Bloß weil er sich taktlos benahm? Er hat ja nicht hören können, was dieser Mensch zu mir sprach.“

„Er hat Deinen Vater und Dich beschimpft, Hortense. Erinnere Dich des Briefes, den Peter brachte, als Ihr eben zum Standesamt fahren wolltet! Dein Mann hat sich damals schon vorgenommen, ihn zu fordern, wußte aber nicht mit Bestimmtheit, ob er wirklich der Schreiber sei, und außerdem hielt sich Rostau bis jetzt in Schweden auf.“

„Waldemar wußte von Papa? Wußte –?“

„Alles, Hortense, schon ehe er ein Wort mit Dir gesprochen, ehe er Dich gekannt.“

„Er ist in A., Lucie, ich weiß es!“ rief die junge Frau, „wo sollte er sonst auch sein? Rostau’s Gut liegt in der Nähe. Ich muß ihn sprechen – hörst Du – ich muß! Ich fahre hinüber, hindere mich nicht!“ Abermals klingelte sie, daß es durch das Haus scholl. „Er muß in A. sein, glaubst Du nicht? Lucie, ich bitte Dich, sprich ein Wort! Die Hella vor den kleinen Wagen, und halten Sie sich bereit, mitzufahren!“ befahl sie dem eintretenden Diener.

Stillschweigend trug Lucie Sachen herzu. Tücher und Mäntel, und stumm schwang sie sich neben Hortense auf den hohen Sitz. Und nun sauste das feurige Thier mit dem leichten Gefährt durch die dunklen Alleen des Parkes und flog in das Freie. Der Mond sandte durch Wolken ein schwaches Dämmerlicht, wie ein weißer endloser Streifen lag die Chaussee vor ihnen. Hortense ließ das Thier wie rasend gehen; die ganze große Leidenschaft, deren sie fähig, preßte sich auf ihrem schönen Gesichte aus, das unter dem dunklen Filzhütchen wie Marmor hervorleuchtete. Beide schwiegen.

Sie hatten ein Dorf zu durchfahren, es lag schon im tiefen Schlafe; aus den kleinen Gärten kam der Duft von Reseda, hier und da war noch ein Fenster hell, ein Hund wurde wach und bellte hinter dem Wagen drein. Vor dem Chausseehause am Ende des Dorfes lag der Schlagbaum nieder, Hortense pochte mit dem langen Peitschenstiel an das Fenster. Niemand antwortete. Eine furchtbare Ungeduld malte sich in ihren Zügen.

Plötzlich wandte sie um, fuhr im Trab ein Stück zurück, bog in einen Feldweg und kam jenseit des Chausseehauses durch den nicht allzu tiefen Graben wieder auf die Landstraße. Das Gefährt hatte dabei fast auf der Seite gelegen. Der Diener murmelte etwas zwischen den Zähnen, sie schien es nicht zu bemerken. Lucie hatte sich krampfhaft an die niedrige Sitzlehne gehalten, sie sah noch blasser aus als vorher, aber kein Schreckenslaut war über ihre Lippen gekommen. Hella sprang nach einem Peitschenhieb in Galopp an, der sich in einen schlanken Trab verlor, und da, am Ende des Weges, schimmerten bereits die Thürme der Stadt.

Nach wenig Minuten rasselte der Wagen über das Pflaster der stillen Gassen und hielt vor dem einzigen anständigen Hôtel des Ortes, dem Gasthof zur „Goldenen Forelle“. Das Thier zitterte und war mit Schaumflocken bedeckt, Hortense hatte kein Auge für den sonst so gehätschelten Liebling. Ein Kellner kam schlaftrunken aus dem schwach erleuchteten Thorwege daher, und der Hausknecht läutete die Glocke.

„Ist Herr Weber aus Woltersdorf hier?“

„Nein, gnädige Frau.“

Die Hand mit dem Zügel sank herab. „Nicht hier? Wirklich nicht?“ klang es noch einmal mit versagender Stimme.

„Nein!“

Sie lenkte um. Schritt vor Schritt fuhr sie zurück.

„Gnädige Frau nehmen den falschen Weg. Bis E. kommen wir nicht mehr mit der Hella, es sind über drei Meilen,“ wagte der Diener zu erinnern, als sie vor der Stadt rechts ablenkte.

Sie mochte es einsehen und zog das Thier zurück.

„Sie hinkt stark, gnädige Frau.“

Es war in der That so. „Es sollte nicht sein!“ murmelte sie.

Langsam, wie ein Trauerwagen, fuhren sie durch die kühle Nacht die zwei Meilen zurück. Als sie in Woltersdorf ankamen, lag schon das Morgengrauen über Park und Schlößchen; in den Kastanien lärmten die Sperlinge und auf dem Hofe war es bereits lebendig. Feucht vom Nachtthau und erfroren betraten sie das Haus. Hortense ging wieder in sein Zimmer, Lucie bestellte Thee. Sie trat dann einen Augenblick in ihre Stube, um ein wärmeres Kleid anzuziehen. Da knisterte ein Papier in der Tasche, schreckhaft kam ihr die Erinnerung an den Kranken in Hohenberg; jetzt durfte sie Hortense nichts sagen. Sie setzte eine Depesche auf mit der Anfrage, wie es heute gehe? Herr Weber sei leider abwesend, Hortense nicht wohl, und sie habe deßhalb gezögert, es ihr mitzutheilen, sie bitte um Nachricht.

Sie kam wieder herüber und saß getreulich neben Hortense. Erschöpft und fiebernd lag die junge Frau auf dem Sofa; Frau Rein blickte ab und zu mit besorgter Miene herein.

Kein Wort war noch gewechselt zwischen den Beiden. Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster lugten, griff Hortense nach des Mädchens Hand:

„Bete für mich – ich kann nicht!“

Lucie holte das kleine in schwarzen Sammt gebundene Gebetbuch Hortense’s, in dem für jeden Tag des Jahres ein Bibelspruch verzeichnet war. Sie schlug den 8. September auf: „Sei getreu bis in den Tod,“ las sie. Es war merkwürdigerweise der Trauspruch.

Die junge Frau wandte sich ab, die Hände vor dem Gesicht gefaltet; so blieb sie regungslos. Unheimlich still war es; die Dienerschaft schlich auf den Fußspitzen umher, als sei ein Todter im Hause. Im Eßsaal klirrten leise Teller und Tassen und scheu lugte der Kopf der alten Rein in das Zimmer.

„Fräulein, was auch geschehen sein mag, essen Sie etwas, sorgen Sie, daß auch die Gnädige etwas nimmt! Essen und Trinken muß der Mensch, wie will er sonst Schweres ertragen!“

Lucie trank ein paar Schlückchen Thee, Hortense wies Alles zurück.

Wer weiß genau zu sagen, wie solche Stunden vorüber gehen? Es wurde hoher Morgen, es wurde Mittag, das Bild im Zimmer des Hausherrn war dasselbe noch, zwei schweigende Frauen, auf denen der Bann der Angst lag, die sie so starr machte, als hingen sie an einem Abgrund und die leiseste Bewegung lockerte das Bischen Boden, auf dem ihr Fuß noch schwebte, um mit ihnen hinabzustürzen. Mitunter zuckte Hortense empor, dann schien es ihr, als habe sie einen Wagen gehört.

Lucie schickte Frau Rein endlich nach dem Thurmzimmer, und die Alte stand dort und schaute, die Hand über die Augen gelegt zum Schutz gegen die strahlende goldene Septembersonne, und spähte nach der Anhöhe, über welche die mit Ebereschen besetzte Chaussee lief, und nach dem Wagen ihres Herrn. Lieber Himmel, was mochte dort unten wieder für ein finsteres Stückchen Schicksal durchgekämpft werden? Sie glaubte nicht an das Märchen, das Fräulein Walter ihr vorgesprochen; sie war zu lange schon auf der Welt und hatte Manches erlebt. Hühnerjagd? Ja, ja, sie kannte das, sie hatte es einmal mit angesehen, wie von solcher Jagd Einer starr und leblos hereingetragen worden, „ein unglücklicher Zufall“ hatte es geheißen. „Gott schütze unsern Herrn vor solchem unglücklichen Zufall! Der schlechte Mensch, der Rostau!“

Und endlich kam etwas über den Berg und bewegte sich langsam vorwärts. Die alte Frau hatte scharfe Augen, sie meinte Pferde und Wagen zu erkennen, es machte sie nur irre, daß Johann gar so langsam fuhr, es war seine Art nicht. Sie stand und stand; nun waren es doch die Füchse, die so mager und hungrig aussahen und so rasch laufen konnten. Sie stieg eilig das schmale Treppchen hinab und winkte unter den Thürvorhängen verstohlen Lucie zu.

„Was ist’s?“ fragte Hortense, die gefühlt, daß das Mädchen sich von ihrer Seite erhob, und in ihren Zügen spiegelte sich eine tödliche Angst.

[231] „Ich glaube – der Wagen,“ sagte Lucie, und auch sie fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen drang.

Hortense wollte aufstehen, aber die Füße trugen sie nicht, sie blieb sitzen, den Kopf nach der Thür gewandt. Die dunkelblaue Sammtschleife, die sie um den Hals trug, bebte in raschen Schlagen, ihre Hände stützten sich gegen die Polster der Lehne.

Nun knirschten die Räder auf dem Kies und verstummten. Und nach einem Weilchen kamen Schritte die Treppe empor.

Die junge Frau stand plötzlich auf den Füßen und eilte zur Thür hinüber, draußen war seine Stimme erklungen: „Ein kleines Malheur, beste Frau Rein weiter nichts – wo ist meine Frau?“

Hinter Lucie fielen im selben Augenblick die Vorhänge zu; sie schritt eilig durch das Eßzimmer in ihre Stube, ein erlösender schluchzender Schrei hallte ihr nach: „Waldemar! Ach, Waldemar!“ wie ihn nur Der ausrufen kann, der dem Tod noch eben ins Auge blickte und nun plötzlich in lachendes Leben schaut.

Sie stand vorerst wie betäubt in dem trauten rosengeschmückten Stübchen, dann riegelte sie die Thür hinter sich zu. So hatte sich denn erfüllt, was ihr Alle prophezeit: Hortense wendete sich von ihr. Was sollte nun werden? Sie begann alles Mögliche aus den Schubkästen zu nehmen, sie holte ihre Kleider aus dem Wandschrank und warf sie auf einen Stuhl – man würde ihr das ja nachschicken können, nur fort, so bald wie möglich!

„Fräulein, ich bitte,“ rief Frau Rein, „der Herr Doktor gebraucht alte weiche Leinewand.“

Sie stand einen Augenblick zögernd, dann kam sie mit den Schlüsseln heraus.

„Sie wissen, Frau Rein, wo sie liegt. Ich –“

„Sie sehen ja entsetzlich aus!“ rief die kleine alterirte Frau, „legen Sie sich schlafen auf ein Stündchen. Sie wissen doch, der Herr hat einen Schuß durch den Arm? Nicht gefährlich, aber schmerzhaft, ein ‚unglücklicher Zufall auf der Jagd‘! Na, es passirt so, und man kann Gott danken, wenn das ‚Hühnerschrot‘ keinen größeren Schaden thut.“ Sie war bei diesen Worten schon am Ende des Ganges und verschwand in einer Thür.

Lucie überlegte weiter, während sie sich das Nöthigste für die Reise zurecht legte, ihr Haar flocht und das Gesicht mit kaltem Wasser wusch. Ihr war so unheimlich nüchtern, so kühl zu Muthe, als sei da innen in ihrer Brust Alles todt und still. Zu Georg? Wenigstens vorläufig. Wenn er sie nicht aufnahm, dann – sie hatte eine Schulfreundin im Dorfe, die seit Kurzem verheirathet war, ein Unterkommen von ein paar Tagen würde man ihr ja gewähren.

Frau Rein brachte die Schlüssel wieder. Lucie legte sie in den Korb, die Wirthschaftsbücher rechnete sie nach, und die kleine Geldwanne nahm sie aus dem Mittelfach, sie setzte sich dann an den Tisch, um ein paar Worte an Hortense zu schreiben. Der Zug, den sie benutzen konnte, fuhr erst gegen Abend, sie wollte bis zur Haltestelle gehen; diese mochte kaum eine halbe Stunde entfernt sein. Abschied zu nehmen würde ihr unmöglich sein. Auch war es Nachmittag geworden, Niemand hatte bisher nach ihr gefragt –.

Sie räumte die Sachen alle wieder fort, nur der Regenmantel, die kleine Reisetasche und der Schirm lagen bereit. Dann saß sie müßig am Fenster und blickte mit brennenden Augen auf den plätschernden krystallklaren Wasserstrahl, der aus der umgestürzten Amphore des ziegenhujigen Fauns sprudelte, welcher mit verschmitztem Gesicht inmitten der Nymphenschar stand.

Allmählich wurde es auch wohl Zeit zum Gehen.

Sie trat vor den Spiegel und setzte das Hütchen auf die blonden Flechten; da öffnete sich die Thür hinter ihr, und in dem Glas sah sie Hortense’s Gesicht, blaß, mit großen erschreckten Augen.

„Was willst Du thun, Luz?“ und ihre Blicke flogen über die kleinen Reisevorbereitungen.

Das Mädchen hatte sich gewandt. „Gehen will ich, wie ich Dir versprach.“

„Lucie!“ rief die junge Frau schmerzlich, „wiegt denn ein Wort, in der Verzweiflung gesprochen, so schwer, daß Du nicht verzeihen kannst?“ Und sie schlang, in Thränen ausbrechend, die Arme um den Hals des stillen Mädchens. „Bleib’ bei uns, wir haben Dich Beide so herzlich lieb! Ich war wahnsinuig, als ich glaubte, er habe sich von mir gewandt, ich weiß es ja so genau seit ein paar Stunden, seit dieser Nacht schon, daß ich nicht einen Augenblick aus seinem Herzen verdrängt bin! Verzeihe mir und laß mich gut machen, was ich Dir gethan –“

„Nein, Hortense, es ist besser so, und am besten – wir machen rasch ein Ende.“

„Ich will nicht, Luz! Stoße mich nicht zurück; ich habe Dir so unendlich viel abzubitten. Sei nicht so furchtbar hart!“

Sie drängte das Mädchen zu dem kleinen Sofa hinüber. „Ich will Dich für Alles um Verzeihung bitten in dieser Stunde,“ fuhr sie fort, „nichts will ich beschönigen! Ich habe Dich gelehrt, unzufrieden sein mit dem bescheidenen Lose, das Du erwählt; ich habe Dich umhergezerrt in der Welt und Dich gehindert, Deine Pflicht zu thun bei Deiner sterbenden Schwester. – Vergieb, Lucie, ich wußte bis jetzt nicht, was es bedeutet: Liebe! Friede!“ Sie preßte die kleine kalte Hand demüthig an ihren Mund und blickte sie mit überströmenden Augen an. „Vergieb mir und beweise, daß Du mir verziehen, indem Du bei uns bleibst!“

„Ich habe Dir nichts zu vergeben, Hortense; beschäme mich nicht, indem Du mich als ein völlig willensschwaches Geschöpf hinstellst! Ich war kein Kind mehr; was ich gethan und gefehlt – ich allein trage die Schuld – Und nimm auch Dank von mir,“ fuhr sie fort, als Hortense sprechen wollte; „Du hast mich viel Schönes und Herrliches kennen gelehrt, die Erinnerung daran und an Dich wird mich immer sehr beglücken. Laß mich aufstehen, Hortense, ich will! Ich muß!“

„Der Herr läßt bitten, die Damen möchten einmal hinüber kommen,“ bestellte der Diener, vor der Thür sprechend.

Lucie nahm die Handschuhe. Sie sah an Hortense vorüber. „Komm,“ sagte sie, „ich will auch Deinem Mann noch danken.“

Er lag auf dem Sofa in seinem Zimmer, den Arm verbunden. Ein Tischchen mit Wasserkaraffe, Eisstückchen und allem Möglichen, was man bei solcher Gelegenheit braucht, neben sich. Still schritt Hortense zu ihm hinüber, und vor dem Lager niederknieend, sagte sie weinend: „Sie will fort, Waldemar, sie läßt sich nicht versöhnen.“

Er hatte dem Mädchen ernst die Hand entgegengestreckt, die ein Blatt Papier hielt. „Lesen Sie, Fräulein Walter, eben kam das Telegramm.“

Lucie erschrak. „Mein Gott, ich hatte gestern nicht den Muth, davon zu sprechen. Haben Sie Nachricht? Wie geht es dem Baron?“

Hortense sah fragend von Einem zum Andern.

„Dein Großpapa ist unpaß; es ist nicht gefährlich, er hat eine kleine Lähmung,“ erklärte er ihr und strich leise und zärtlich über ihre blassen Wangen. „Und nun will er Dir Lucie wegkapern. Mademoiselle steht händeringend, sie möge kommen; es sei mit dem alten Herrn, dem es sonst nicht schlechter geht, kaum zum Fertigwerden.“ Und zu dem Mädchen gewendet fragte er: „Wollen Sie es thun, Lucie?“

Sie stand und sah mit den müden Augen durch das Fenster. Es war ja am Ende so grenzenlos gleichgültig, wo sie ihre Tage verbrachte. Einen flüchtigen Moment durchzuckte sie der Gedanke an Adler; aber was hatte sie mit ihm noch zu thun? „O gewiß, gern, wenn ich nützen kann,“ sprach sie tonlos.

„Luz, bleibe hier!“ schluchzte Hortense. „Luz, ich bitte Dich –“

Sie blickte auf die junge Frau, die noch immer neben ihrem Mann knieete, von seinem gesunden Arm fest umschlungen. Was sollte sie hier? Leise schüttelte sie den Kopf. „Laß mich gehen, es ist –“

„Wenn Sie lieber hier sind, Lucie –“ begann er herzlich. „Glauben Sie, Sie sind uns stets eine liebe Hausgenossin; Großpapa findet wohl eine andere Pflegerin.“

„Nein, nein, ich danke, ich gehe nach Hohenberg.“

„Eigentlich müßte ich zürnen mit Ihnen,“ sprach er freundlich ernst, „wie haben Sie die arme kleine Frau in Angst versetzt! Es soll Ihnen aber verziehen sein, Lucie; denn ohne diese Angst wüßte ich vielleicht noch zur Stunde nicht, wie sehr ich geliebt bin.“

Sie nahm die dargebotene Hand. „Ich konnte nicht anders,“ sagte sie, und eine tiefe Röthe stieg in ihr Gesicht. „Leben Sie wohl, Herr Weber, werden Sie bald gesund! Hortense, ich will nun gehen. Lebt wohl!“

„Gehen?“ rief er, „das fehlte noch; bitte, klingele, Hortense.“

[233] Die junge Frau trat mit unsicheren Schritten zur Glocke; dann folgte sie stumm dem Mädchen in ihr Zimmer. „Ich komme mir so schlecht, so grenzenlos schlecht vor,“ flüsterte sie.

„Warum, Hortense? Sieh, ich könnte ja hier bleiben. Ihr habt es mir so freundlich angeboten! Daß ich gehe, ist mein freier Entschluß. Lebe wohl!“ Sie schluckte herzhaft die Thränen hinunter. „Die Sachen – Du läßt sie mir wohl nachschicken? Werde nicht krank, Hortense, Du siehst so blaß aus. Wenn Du mich einmal brauchst – es kann ja sein – Du weißt, ich komme. Hier, ich hätte es fast vergessen, die Schlüssel, Deine Schlüssel. Kannst Du mir verzeihen, daß ich – es war nur das Verlangen, Dir nützlich zu sein.“

Sie war die Treppe hinunter geschritten; der Wagen hielt vor dem Portal, derselbe, der sie einst hierher gebracht.

Hortense sprach nicht mehr; sie mußte die Lippen zusammenpressen, um nicht vor den Dienstleuten laut aufzuschluchzen.

„Ich werde Deinen Großpapa gut pflegen,“ sagte Lucie und ihr blasses Gesichtchen bog sich noch einmal aus dem Wagen zu ihr hinunter; noch einmal drückten sich Mund auf Mund, Hand in Hand; dann zogen die Pferde an und der Wagen rollte durch den Park.

Hortense wandte sich und flog die Treppe hinauf und weinte am Halse ihres Mannes; es war als könne sie nicht aufhören. Es weint sich so süß ein Kummer aus, wenn man ein sicheres großes Glück besitzt.

Lucie weinte nicht, während sie in den sinkenden Abend hineinfuhr. Auf der ganzen weiten Welt hätte sie kein einziges Herz gewußt, bei dem sie sich ausweinen durfte, keines.

[248] In Hohenberg kam Lucie am andern Morgen an. Ein leichter Herbstnebel hing über der weiten Landschaft, undeutlich schimmerten die Thürme und Häuser der Stadt daraus hervor. Sie hatte kein Herzklopfen, als der Zug in den kleinen Bahnhof einfuhr, wie damals, als sie ihrem Glücke entgegen zu eilen vermeinte, auch nicht das peinliche Gefühl, wie bei der zweiten Ankunft, sie stand ruhig und müde am Fenster des Koupés und reichte Peter, der sie mit freundlichem Gesichte empfing, ernst nickend ihr kleines Reisegepäck zu. Die Woltersdorfer hatten wohl telegraphirt, daß sie ankomme. Die dicken Schimmel mit dem Landauer hielten vor dem Bahnhofe, sie stieg ein und fuhr durch die morgenstillen Gassen.

Frau Steuerräthin klopfte eben ein Wischtuch am offenen Fenster aus und sah verwundert ein wohlbekanntes blasses Gesichtchen in dem Wagen. „Da haben wir’s ja,“ murmelte sie vor sich hin, „und nun kommt das wieder hierher!“ Verdrießlich trat sie zurück und erschlug einen Brummer an der Gardine mit dem Tuch. „Unnützes Zeugs! Was sie hier nur will? – Die Frau Hortense wird wohl schon dahinter gekommen sein, was für eine Last sie sich und ihrer Familie aufgepackt hat mit solcher Freundschaft.“

In der Thür des Meerfeldt’schen Hauses stand Mademoiselle mit ausgebreiteten Armen.

O quel bonheur, Lucie!“ rief sie, „Gott segne es Ihnen! Es war absolument nicht mehr zu ertragen hier!“

Sie drückte die schlanke Gestalt an sich und liebkosend zog sie das Mädchen in ihr Zimmer. Sie ließ sie kaum zu Worte kommen, die ganze Leidensgeschichte des Barons, der unerhörte Schreck, als man ihn bewußtlos gefunden, seine Wuthanfälle, wenn er sich nicht verständlich machen konnte: Alles floß in unaufhaltsamem Redestrom in Luciens Ohr, während sie ohne Appetit vor dem heißen Kaffee saß und ihre schmerzenden Schläfen mit dem Tuche hielt.

„Die Nachtfahrt, ma petite! Ja freilich, das macht Kopfweh. Wie geht’s Hortense?“ 0, ich kann mir denken, wie verzweifelt sie über Ihren Weggang –. Zürnen Sie nur nicht, ich kam auf die Idee, Sie zu bitten, unsere barmherzige Schwester, unser Engel des Trostes zu werden. Sie haben so eine eigene Art, so leicht, so zart, und ich bin so ungeschickt, ich kann mich nicht drehen und wenden, nicht bücken. Kommen Sie, der Baron wartet mit Ungeduld.“

Lucie ging hinüber zu dem alten Herrn. Er lag in einem fahrbaren Krankenstuhl.

„Lucie, mein Kind,“ lallte er, „wollen Sie bei mir bleiben? Alter Krüppel geworden –. Danke Ihnen, Lucie,“ er zog ritterlich die kleine Hand an seine Lippen; „dankbar,“ stammelte er, „dankbar übers Grab hinaus.“

Sie setzte sich zu ihm und erzählte von Hortense, daß sie glücklich sei, von ihrer schönen Heimath, von ihrem Gatten, der sie auf Händen trage.

„Ehrenmann! Prächtiger Mann!“ sagte der alte Herr, und ein freudiger Strahl brach aus seinen Augen.

Als Doktor Adler, wie gewöhnlich seinen Krankenbesuch bei dem Baron machend, in das Zimmer trat, verschwand eben eine schlanke schwarze Gestalt hinter den Vorhängen der gegenüberliegenden Thür. Er blickte ihr befremdet nach.

„Doktor! Giebt noch Engel in der Welt, Kleine gekommen, mich zu pflegen. Bin so dankbar! Armes Kind! Schlechtes Vergnügen, einen Halbtodten zu versorgen!“

Adler’s Miene blieb finster. „Wie geht es Ihnen?“ fragte er dann, sich setzend und in gewohnter Weise seine Untersuchung des Kranken beginnend.




In ihrem alten Zimmer oben stand Lucie und blickte sich um; Alles unverändert. Dort lag der stille Garten vor den Fenstern, in den gelbseidenen Gardinen des Himmelbettes fand sie jeden Bruch, jede Falte wieder. Auf der Kommode aber prangte ein Strauß von Georginen und Astern und ein paar späten Rosen, die sich dazwischen sehr gedrückt zu fühlen schienen. Den hatte wahrscheinlich Mademoiselle hingestellt.

Eine furchtbare Müdigkeit überkam sie nach den zwei durchwachten Nächten, sie legte sich auf das Bett und schlief einen bleiernen Schlaf, der nicht erquickt, wie er nach großer Abspannung einzutreten pflegt. Erschöpft wachte sie auf, trocknete die feuchten Perlen von ihrer Stirn und begann ihr Tagewerk.

Bald lebte sie sich ein in die neuen Pflichten; es waren ihrer nicht viele, aber unendliche Geduld beanspruchten sie bei dem Kranken, dessen Sprache sie allein recht verstand. Und nun folgten sich die Tage in öder Einförmigkeit, die Stunden jedes einzelnen glichen sich genau in ihrer Wiederholung; wie eine aufgezogene Uhr spann sich das Leben ab. Es ist schlimm, wenn ein junges Herz den Schlaf herbeisehnt, um den Tag zu vergessen, der ihm nichts weiter bringt als Arbeit und Gram, schlimm, wenn es Morgens das Erwachen wie einen Schmerz empfindet und mit umflorten Augen in den goldigsten Sonnenglanz schaut, als wäre es ein grauer Regenhimmel. „Schon wieder ein Tag? Wäre er vorüber! Was soll ich noch auf der Welt, wozu lebe ich?“

Und Lucie stand vor dem Spiegel und wand ihr blondes Haar zu einem Knoten wie jeden Morgen, und wie jeden Morgen ging sie hinunter zu dem alten Baron und fragte, wie er geschlafen? und las ihm die Zeitung vor. Und jeden Morgen winkte Mademoiselle sie in ihr Zimmer und plauderte mit ihr über die kleinlichen Vorkommnisse des Städtchens. Und Mittags saßen sie sich gegenüber in dem großen kühlen Speisezimmer, und Peter brachte die Suppe, die Lucie vorlegte, und dann den Braten, den sie zerschnitt. Nachmittags hielt mit gewissenhafter Pünktlichkeit der Wagen vor der Thür, und nach der Uhr gemessen fuhren die Damen eine und eine halbe Stunde spazieren, immer den nämlichen Weg zum Wasserthor hinaus. Mademoiselle that es nicht anders, nach dieser Seite war keine Bahnlinie zu passiren, und Schienen, die den Weg kreuzten, machten sie stets nervös. Die dicken Schimmel kannten genau den Fleck, an dem umgewendet wurde, sie wandten jedesmal, ohne den Wink des Kutschers abzuwarten, und trabten in einem ein klein wenig schnelleren Tempo der Heimath zu.

Dann kam das Allerschrecklichste, die Zeit der Einsamkeit droben in ihrem Zimmer. Lucie konnte dort stundenlang sitzen, ohne sich zu rühren. Die kleinen Hände, die früher so fleißig gewesen am Nähtisch, lagen müde im Schoß, die Augen blickten in den stillen Garten hinaus, ohne etwas zu sehen. Zuweilen holte sie Bücher, als wollte sie sich Vergessenheit darin erlesen; aber sie hatte Unglück mit der Lektüre: Alles was sie las, verstimmte sie noch mehr. Sie hatte im „Manfred“ geblättert, und die düstere Verzweiflung des Helden schuf ihr eine bange schlummerlose Nacht:

„Es ist ein Wirken in mir, das mich hält
Und Weiterleben mir zum Schicksal macht,
Wenn Leben heißt, so einen öden Geist
In sich herumzutragen.“

Jetzt verstand sie es; hätte sie nie gelernt, es zu verstehen! Wie Recht hatte er!

Ein andermal ergriff sie Chamisso’s Gedichte, und ihre Blicke fielen auf folgende Strophen:

„Ich hätte nicht den reichsten, den schönsten nicht begehrt,
Nur einen, der mich liebe, der meiner Liebe werth,
Ja, keine Prunkgemächer, nur ein bescheiden Haus –“

Und da stand plötzlich neben den schwarzen Buchstaben, wie ein zierliches Aquarell, ein kleines von der Abendsonne beschienenes Haus – das Paradies, das sie verloren, auf ewig verloren durch eigene Schuld!

Sie warf das Buch auf den Tisch und lief in den Garten hinunter, um ihrer schmerzlichen Gedanken Herr zu werden, und dort fand sie sich an der Gartenmauer wieder, wie sie starr zu einem Paar purpurrother, wilder Weinranken aufsah, die vom Nachbargarten herübergeklettert waren. Sie nickten und winkten im Winde, als wollten sie sagen: „Sollten wir Dich nicht kennen, Du blondes Mädchen? Saßest Du nicht auf der Bank unserer Laube im vorigen Jahr mit Deinem Schatz? Damals konnten [250] wir noch nicht über die Mauer sehen, wir kannten nur das kleine Gärtchen drüben. Wie kommst Du hierher? Und so allein?“

Und dann ging sie weiter, so eilig und rasch, als gelte es einen Wettlauf; und die Erinnerung zauberte ihr jeden Blick, jedes Wort zurück, wie sie mit ihm dort gesessen, und die Gegenwart sagte höhnisch: „Vorbei! Dort wartet eine Andere auf ihn!“ Daß sie ihn verlor durch eigene Schuld, war furchtbar; daß er aber im Stande gewesen, sie zu vergessen und so bald, das dünkte sie das Schwerste von Allem. Und sie hatte doch so gar kein Recht, ihm Vorwürfe zu machen, nein, wahrhaftig nicht!

Und dennoch! Es waren Zorn und Schmerz zugleich, die sie aufspringen und flüchten ließen von der Seite des alten Herrn, wenn sie die Schritte des Doktors im Flur hörte. Und dann wieder konnte sie stundenlang dabei verweilen, sich auszumalen, wie sie ihn um Verzeihung bitte und er ihr die Hand entgegen strecke, um zu sagen: „Laß es vergessen sein, Lucie, ich habe Dich noch immer lieb.“ Hinterher schalt sie sich und versuchte ihr armes Herz durch Stolz zu trösten und aufzurichten, aber es war so schwach und verzagt, so demüthig und klein geworden, daß das alte Stärkungsmittel gramvoller Herzen sich als wirkungslos erwies.

Hortense schrieb oft; es waren kurze und abgerissene Briefe, die stets eine Bitte um Verzeihung enthielten und von dem Befinden des Patienten meldeten, so, als ob die Schreiberin keine Zeit habe und doch eine Pflicht nicht versäumen wollte. Und dabei schimmerte durch die nüchternen Zeilen eine mühsam verhehlte Glückseligkeit. Warum gestand Hortense sie nicht offen ein? Fürchtete sie, ihr, der Einsamen, wehe zu thun? Ach, sie wußte es ja so genau, welch strahlendes Glück in Woltersdorf seinen Einzug gehalten! Gott möge es hüten! Sie fühlte sich nur immer so doppelt arm nach solchen Briefen. Auf der ganzen weiten Welt hatte sie ja doch nichts mehr, woran die sehnsüchtigen Gedanken haften konnten in Hoffnung und heimlichem Glück.




Trüb und still gingen der September, der Oktober vorüber; der November kam, in den Kachelöfen brannten die Feuer, und im Speisesaal war es so finster, daß zum Diner eine der Lampen des Kronleuchters angezündet werden mußte. Mademoiselle stemmte ihre Füße gegen das Gitter des Kamins und trug einen rothen Shawl, in den sie sich wie ein Eskimo einwickelte.

Der Baron stand fast gar nicht mehr aus dem Bette auf, ihn fror beständig. Lucie saß geduldig neben ihm, die Zeitung lesend, plaudernd, oder sie hörte zu, wenn er aus seinem bewegten Leben erzählte in der abgebrochenen Redeweise, die seine Krankheit mit sich brachte. Es waren Geschehnisse aus einer Zeit, die sie nicht gekannt, sie lernte daraus, daß es schon immer Kummer und Gram gegeben in der Welt und daß sie sich am schwersten tragen, wenn eigene Schuld sie brachte. Mademoiselle und Lucie speisten allein in dem großen Gemach. Es waren peinlich stille Mahlzeiten, wovon sollte man auch sprechen? Es kam, außer Doktor Adler, kein fremder Mensch ins Haus, und dieser hatte immer merkwürdig wenig Zeit und erzählte nichts Neues, der alte Major von Schenk lag schon seit Wochen krank. Und wenn Mademoiselle einmal bei Fräulein Dettchen gewesen war und heimgekommen erzählte, so wechselte Lucie schon bei der geringsten Andeutung die Farbe und senkte den Kopf, aus Furcht, sie würde sagen: „So, nun ist die Verlobung erfolgt.“

Sie wußte, sie würde es hören eines Tages, und sie hatte allerlei wirre Gedanken über den Seelenzustand, der darauf folgen müßte; sie meinte, sie könnte dann nicht weiter leben.

So saßen sie wieder an einem trüben Tage des Novembers; draußen hing ein düsterer Himmel hernieder; einzelne große Schneeflocken taumelten in der Luft und legten sich wie Sterne gegen die Scheiben der Fenster. Die kleine Französin sprach heute wenig; die Hammelrippchen, die Peter zu eingelegten grünen Bohnen servirte, nahmen ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch: sie waren nach ihrer Aussage fast so excellent, wie daheim im schönen Frankreich.

Endlich wischte sie sich den Mund, legte die Serviette auf die Tafel und fragte: „Lucie, würden Sie mir einen Gefallen thun? Würden Sie den Kaffee bei mir trinken? Ich bekomme Besuch.“

Die Augen des Mädchens kehrten aus irgend einem Winkel zurück und hefteten sich erstaunt auf das runde Antlitz der alten Dame. „Besuch?“

„Ja! Warum nicht? Sehen Sie, Lucie, ich mußte endlich einmal Fräulein Adler invitiren; sie bietet mir jedesmal etwas an, Kaffee, Kuchen oder Limonade. Ich fürchtete mich – entre nous – immer ein wenig vor diesem événement, aber was soll ich thun? Eigentlich wollte ich sie zum Abend bitten, zum Thee, mit dem Doktor – natürlich hätte ich Sie dann nicht inkommodirt; aber – denken Sie – er sagte ab, und sie – die deutschen Frauen sind wunderlich, wenigstens diese Art – sie wollte lieber einmal gemüthlich zu einem Täßchen Kaffee kommen, erklärte sie; Abends ginge sie ungern aus, sie vertrüge es schlecht. Nun war ich gestern da und lud sie auf heute ein, und sie nahm es an, bedauerte aber gleichzeitig, nicht lange bleiben zu können, da sie zu ihrer Schwägerin müsse, um Fräulein Selma im Ballstaat zu bewundern, und dann gleich wieder heim; denn auch ihr Neffe gehe zum Ball. Ich glaube, irgend so ein Klub hat Stiftungsfest. Na, das paßt ja denn auch sehr schön; kommen Sie, Kleine? 0, Sie thäten mir einen so großen Gefallen.“ Und als Lucie zögernd schwieg, sagte sie hinzu: „Ich weiß, Fräulein Dettchen würde sich freuen, sie hat immer nur Gutes von Ihnen gesprochen.“

Lucie hatte die kleine freundliche Dame nicht wiedergesehen seit jenem letzten Morgen im Hause der Schwiegermutter, es ergriff sie eine förmliche Sehnsucht nach diesem guten Gesicht.

„Wenn Sie erlauben,“ sagte sie, halb gegen ihren Willen, „so komme ich.“

„Charmant! Also um vier Uhr? Bis dahin will ich schlafen, ich bin entsetzlich abgespannt.“

Mademoiselle verbarg in der That ein Gähnen hinter der kleinen rundlichen Hand. Als Peter mit dem Nachtisch eintrat und sie statt der vielgeliebten Mehlspeise nur Aepfel und kleine Kuchen erblickte, wie sie die Köchin für alle Fälle stets in Blechbüchsen vorräthig hielt, zuckte sie unmerklich die Schultern, und, Lucie die Hand reichend, sagte sie im Davongehen: „Auf Wiedersehen!“ und trippelte aus dem Speisezimmer.

Lucie hatte dem Diener einen Brief abgenommen; er war von Hortense, aber sie konnte sich nicht entschließen, ihn gleich zu lesen; sie hatte einen ihrer bittersten Tage. Als sie diesen Morgen am Bette des Barons saß, der über außergewöhnliche Mattigkeit klagte, war Adler hereingekommen, ohne daß es ihr möglich gewesen, vorher zu entschlüpfen. Er hatte ihr eine Verbeugung gemacht, sie einen Augenblick angesehen und dann, ihre Gegenwart völlig ignorirend, sich mit dem Kranken beschäftigt. Es war etwas wie Trotz, das sie dennoch mehrere Minuten auf ihrem Platz neben dem Lehnstuhl des Barons verharren ließ; als er aber nach einigen Fragen über den Gesundheitszustand des alten Herrn mit wahrem Feuereifer von der gestrigen Stadtverordnetensitzung und dem dabei zur Verhandlung gekommenen Projekte, den Bau eines Krankenhauses betreffend, zu erzählen begann, erhob sie sich langsam und schritt hinaus. Sie hörte nur noch, wie er sagte: „Und ich werde nicht ruhen, die Beweise zu führen, daß der von der Stadt bewilligte Bauplatz die ungesundeste Stelle im ganzen Weichbild ist.“

„Vorbei!“ sagte sie sich auch heute wieder, „verloren!“ und sein kühler gleichgültiger Blick ließ sie förmlich aufschauern. Sie nahm das Tuch, welches über der Lehne ihres Sessels hing, und stieg die Treppe wieder hinauf; sie hatte hier unten augenblicklich nichts zu thun, bis fünf Uhr hielt der alte Herr Ruhe. Sie hatte auch oben nichts zu thun, überhaupt kaum noch etwas auf der ganzen weiten Welt; sie war so überflüssig, so grenzenlos überflüssig!

Sie saß in der zunehmenden Dämmerung am Ofen auf einer Holztruhe, die einst Hortense nach einem alten Renaissancemodell hatte anfertigen lassen und die hier verblieben war, weil sie nicht zu der Rokoko-Einrichtung in Woltersdorf paßte, und spann weiter an diesen schwarzen Fäden.

„Ich bin recht schlecht geworden,“ sagte sie halblaut vor sich hin, „ich bin eine von den Naturen, welche Unglück bitter macht. Wenn mich der liebe Gott gut haben will, muß er mich besser behandeln; ich weiß nicht mehr, wie es weiter gehen soll; ich glaube, ich kann niemals wieder Jemand lieb haben; ich bin keiner guten Regung mehr fähig.“

Sie begann an Alle zu denken, die ihr nahe gestanden; Hortense? Was war sie ihr noch! Der alte müde Mann dort unten? Das morsche Tau, das ihr Schifflein noch in sicherem [251] Hafen hielt, ehe es hinausgetrieben ward in die Wellen und den Sturm des Lebens! Aber dieses stille flache Wasser drückte sie noch schrecklicher als der Sturm, der sie draußen erwartete. – Georg? Sie zuckte die Schultern; Georg war froh, daß er dieser Last ledig; was ging ihn die Schwester seiner verstorbenen Frau an? Er hatte nicht das mindeste Interesse für sie, das zeigte er jetzt deutlich, übergenug! Er hatte nie wieder nach ihr gefragt.

Sie erhob sich und suchte am Nähtisch nach ihrer Häkelarbeit und strich ein paarmal mit dem Schildpattkämmchen durch das Haar, sie stand dabei vor dem Spiegel, blickte aber nicht hinein. Im Begriff hinunter zu gehen, dachte sie an Hortense’s Brief. Sie zog ihn mit raschem Griff aus der Tasche, trat zum Fenster und begann zu lesen:

 „Meine liebe kleine Luz!
Du wirst immer geiziger mit Deinen Briefen, und ein liebes herzliches Wort hast Du gar nicht mehr für mich. Ich ängstige mich, Du könntest krank sein, oder Du seiest nicht mehr gerne dort, jetzt, wo es Großpapa wieder besser geht. Aber Du weißt doch, wie willkommen Du uns jeder Zeit bist, und dann – man soll zwar nicht aus der Schule schwatzen – hatten wir noch einen anderen Plan für Dich. Waldemar meint nämlich, Du würdest seiner Mutter außerordentlich gefallen und könntest bei ihr angenehme Tage verleben als liebes verhätscheltes Pflegetöchterchen. Mich hat dieser Gedanke sehr beglückt. Du weißt, Luz, ich leide furchtbar unter der Idee, Dich nicht glücklich zu wissen.

Ich glaube, Luz, Mama würde auch über das Grab hinaus für Dich sorgen; wen die Webers einmal lieb haben, den lassen sie nicht wieder, es sind so treue prächtige Menschen. Habe ich Dir schon geschrieben, daß Waldemar Papa nach Ungarn gebracht hat auf sein Gut, das meiner Schwiegermutter gehört? Er soll eine Art Inspektor dort vorstellen.

Möchte er sich doch einleben! Ich kann nicht verhehlen: mir macht es Sorge, aber Waldemar sagt, Papa wisse, daß dies der letzte Versuch ist. Gott gebe das Beste!

Noch eine Neuigkeit, Luz. Kannst Du rathen, worin das Geburtstagsgeschenk meines Mannes besteht? Du erräthst es nicht – er hat Dillendorf zurückgekauft, er überraschte mich mit der Urkunde, sie steckte in einem Rosenstrauß! Du weißt, Luz, ich weine selten, aber da habe ich geschluchzt an seinem Halse vor lauter Seligkeit. Ach, Lucie, laß es mich einmal aussprechen, auf das Papier schreiben, daß ich den besten Mann auf der Welt gefunden habe. Möchte Dir ein gleiches Glück beschert werden, darum bitte ich Gott jeden Tag.

Du siehst die Flecke auf dem Briefbogen befremdet an? Luz, es sind Freudenthränen – vergieb mir, daß ich mich so gehen lasse. Ich habe eine Bitte an Dich. In meinem Schlafzimmer, im Wandschrank steht im untersten Fach ein kleiner Koffer aus Juchtenleder, es sind die ersten Sächelchen darin, die ich getragen, Mama hat sie selbst für mich gemacht. Ich möchte sie haben – Du ahnst es, Lucie? Ach, Du glaubst nicht, wie glücklich wir sind! Wenn Großpapa es doch noch erleben möchte! Leb’ wohl! Ich hoffe, zu Weihnacht sehen wir uns, Waldemar versprach mir die Reise. Wie freue ich mich!

Ich muß schließen; wir haben Gäste heute Abend, und ich habe noch allerlei zu thun. Waldemar grüßt, sowie
 Deine Hortense.“

Lucie zerdrückte das Papier in der Hand, sie legte den Kopf an die Scheiben und blickte hinaus. Der allerletzte Tagesschein lag über dem einsamen Garten; leise taumelten die Schneeflocken hernieder; eine Schar Dohlen zog mit heiserem Geschrei ihren Nestern in dem alten Wartthurm zu. Eine Eiseskälte rann durch des Mädchens Glieder; so muß einer Bettlerin zu Muthe sein, die von windiger kalter Straße aus in ein behagliches warmes Zimmer lugt. Ach nein, die hatte doch vielleicht noch eine Seele, die mit ihr hungerte und darbte; sie war allein, ganz allein!

Mit diesen bitteren Gedanken ging sie hinunter. In Mademoiselle’s Zimmer brannte die Lampe noch nicht; vom Sofa her scholl die bekannte Stimme Tante Dettchen’s.

„Ja, meine Schwägerin glaubt, daß sie einig sind; er ist so verschlossen und geht vollständig in seinem Berufe auf. Man erfährt nichts Sicheres; sie meinte aber, heute Abend würde wohl – ich –“

Sie verstummte, es war ihr, als habe sie einen leisen Schrei gehört. „Was war das?“ fragte sie.

„Ach Sie sind es, Lucie?“ klang jetzt die Stimme der Französin. „In der That, ich hatte es schon aufgegeben, Sie zu sehen. Seien Sie vorsichtig; es ist ja ganz finster hier, Fräulein Adler wollte noch kein Licht.“

„Guten Abend,“ sprach dann eine weiche Frauenstimme, und Lucie, die zum Tische hinüber getreten, fühlte ihre Hand leicht erfaßt. „Wie geht es Dir – Ihnen, Lucie?“

„Ich danke, gut,“ sagte sie klanglos. Sie saß dann neben Tante Dettchen und blickte durch das Fenster auf die leicht beschneiten Dächer der Stallgebäude, die sich blendend von dem abenddunklen Himmel abhoben, und auf den hellen Stern, der durch eine zerrissene Wolke funkelte. Sie hörte wohl die Beiden weiter sprechen, das leise Klirren der Kaffeetassen und das Knistern des Feuers im Kachelofen, aber sie achtete nicht darauf.

„Aber, was wollten Sie doch erzählen, Liebste?“ fragte die lebhafte Wirthin mit der ihr eigenen Ungezwungenheit.

„Ich weiß es nicht mehr,“ stotterte Dettchen.

Die Dienerin war mit der Lampe eingetreten, und die kleine gutmüthige Dame sah in diesem Moment ein paar so glanzlose traurige Augen, daß sie abbrach.

„Lucie,“ sprach sie nach einer Weile und ergriff des Mädchens Hand, „Lucie, sind Sie – bist Du krank?“

„Nein,“ antwortete sie und richtete sich in die Höhe, während ein leises Roth ihr schmales Gesicht überflog. Und sie griff nach ihrer Arbeitstasche und begann zu häkeln mit zitternden Fingern.

Das Gespräch schleppte sich mühsam weiter, Mademoiselle fragte und Tante Dettchen antwortete. Sie redeten über die vielen Krankheiten in der Stadt und von dem Ball, der heute Abend stattfinden werde. Es sei das fünfundzwanzigjährige Stiftungsfest der Reunion, erzählte Dettchen, und werde ganz besonders glänzend gefeiert in diesem Jahre. Selma ziehe ein grünes Kleid an; darauf blinke es wie Tropfen, und Wasserrosen und Schilfblätter bildeten die Garnirung, berichtete sie auf eine Frage nach der Toilette.

,O, wie poetisch!“ hauchte Mademoiselle; „Hortense trug einmal einen ähnlichen Anzug, natürlich in Seide und Illusionstüll, magnifique! Sie war bezaubernd an diesem Abend. Liebste, tanzt er denn?“

„Wer? Ach so – nein – ich glaube, er macht sich nichts daraus; aber er lebt doch nun einmal hier und kann sich nicht zurückziehen – Sie verstehen wohl?“ Tante Dettchen stockten die Worte im Munde, sie konnte nicht vor dem Mädchen seinen Namen aussprechen. Sie sah in ihrer Verlegenheit nach der silbernen Uhr, die sie an einer Haarkette mit goldenem Schieberchen trug, und sagte: „Schon dreiviertel auf Sechs! Ich möchte wohl, ich müßte –“

„O Himmel!“ fiel Mademoiselle ein, „Sie sind ja eben erst gekommen, und mein Marasquino-Kreme – Lucie, bitte, läuten Sie einmal.“

Das Mädchen stand auf.

„Ich danke! Ich danke!“ wehrte Fräulein Adler, „ich muß wirklich gehen; ich will doch Selma noch helfen, denn Klara hat mit sich genug zu thun; ich glaube, sie warten schon.“

Sie ließ sich nicht halten. Lucie legte ihr den wattirten Mantel um die Schultern und reichte ihr die Kapuze.

„Es war mir eine große Ehre,“ sagte Tante Dettchen unbehilflich und schüchtern zu Mademoiselle, welche sie mit dem Anstand einer Fürstin zur Stubenthür begleitete. „Vielen Dank, herzlichen Dank für Ihre Freundlichkeit! Leb’ wohl, Lucie. Einen Regenschirm hatte ich noch – danke vielmal!“

Lucie stand am Fenster und sah sie durch den Schnee über den Hof trippeln, von Peter geleitet.

„Um Gotteswillen, Lucie, können Sie langweilig sein!“ schmollte Mademoiselle. Aber das Mädchen erwiederte nichts; sie sah starr hinüber, wo durch die Pforte, die Tante Dettchen eben passirte, eine große Männergestalt trat, von Peter’s Laterne mit zuckendem Schein gestreift, und nun schloß sich die Pforte hinter ihm, und sie kamen auf das Haus zu. Lucie erkannte, daß noch ein kleines Wesen neben dem Fremden einherging. Dann trat sie bestürzt zurück und eilte aus dem Zimmer.

„Was giebt’s?“ rief Mademoiselle, aber Lucie hatte schon die Thür aufgerissen; „Georg?“ fragte sie athemlos, „Du?“

Es bebte freudig in ihrer Stimme; er kam zu ihr – er hatte sie nicht ganz vergessen!

[252] Im Hausflur stand der Oberförster, sein jüngstes Töchterchen neben ihm. Er nahm die Pelzmütze ab und streckte Lucie die Hand entgegen „Ja,“ sagte er, „ich! Ich habe den Zug in L. verpaßt und komme darum so spät. Ich wollte Dich sprechen Lucie –“ er stockte – „und die Annemarie soll zum Doktor; ich störe doch nicht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein,“ erwiederte sie und sah ihn an. Er schien so gebeugt, so gealtert.

Mademoiselle, die einen Augenblick gelauscht, machte die Thür geräuschvoll wieder zu, was sie da sah, ging sie nichts an. Peter hatte sich entfernt, nachdem er die Laterne auf einen Bord im Flur gestellt. Die Drei standen noch immer in dem kalten Raume.

„Mich friert,“ sagte die Kleine weinerlich.

„Kommt,“ bat das Mädchen und ging der Treppe zu. Dann wandte sie sich und führte die unerwarteten Gäste in das Eßzimmer. Im Kamin glühten die Kohlen noch und eine der Lampen brannte am Kronleuchter über dem Tisch inmitten der Stube.

„Lege doch ab,“ sagte Lucie zu dem Schwager und knieete vor dem Kinde nieder, um ihm das Mäntelchen auszuziehen. „Ihr seid gewiß hungerig und durstig und erfroren, gleich sollt Ihr essen.“

„Die Kleine vielleicht,“ erwiederte der Oberförster, „ich esse lieber im Hôtel, wo ich wohne. Kannst Du Annemarie hier behalten?“

Er hatte den Pelz abgenommen und sah zu Lucie hernieder, die eben das Hütchen von dem Blondkopf nahm und das Kind küßte und wieder küßte. Sie nickte mit überströmenden Augen. „Was fehlt ihr?“ fragte sie aufstehend.

„Immer noch dasselbe; sie wird von Tag zu Tag magerer. Es ist ja auch kein Wunder.“

Lucie ging in die Küche und bat um etwas Milch und Weißbrot für die Kleine, und dann trat sie an das Bett des alten Herrn.

„Mein Schwager ist ganz plötzlich angekommen,“ sagte sie, mit einer Stimme, aus der man ihre freudige Aufregung erkannte, „sonst wäre ich schon hier und läse die Zeitung vor. Darf ich Mademoiselle an meiner Stelle schicken?“

„Dank! Dank!“ stammelte der Baron. „Was will Remmert? Doch nicht Sie holen, Lucie? Wünscht er mich zu sehen – gerne, gerne!“

„Ich werde ihn nachher schicken,“ erwiederte das Mädchen. „Warum er kommt, weiß ich nicht.“

„Oder lieber morgen früh,“ sagte der Baron. „Ja, das ist besser, besser – bin so müde heut.“ Er reichte ihr die Hand. „Schlafen Sie wohl, Lucie!“

Sie kam wieder in die Eßstube zurück. „Was mochte er wollen?“ Und mit dieser Frage in den großen Augen setzte sie sich still ihm gegenüber in den hochlehnigen Kaminsessel. Er hielt die Kleine auf dem Schoß und sah in die Gluth.

„Wie geht es Dir denn sonst?“ fragte er, ohne aufzublicken, mit leiser, etwas heiserer Stimme, die bei vielen Menschen das Zeichen großer Gemüthserregung ist.

„Ich danke, gut. Und Dir?“

„Wie soll es mir gehen? Du kannst es Dir denken – allein mit den Kindern! Sei nur nicht böse, daß ich Dir nie geschrieben habe,“ fuhr er fort. „Im Anfang wußte ich nicht, was? Ich war so erbittert, auch auf Dich, und jetzt dachte ich: es wäre besser, ich redete selbst mit Dir; Du weißt, ich bin nicht fürs Schreiben.“

Lucie antwortete nicht; ein tiefes Mitleid überkam sie. Sie bemerkte, wie seine Rechte zitterte, die das Kinderhändchen hielt, und wie über sein vergrämtes Gesicht ein Zucken ging. Er sah so unordentlich aus, so vernachlässigt. Und das Kind! Die hübschen blonden Löckchen mittelst Wasser zu glatten Scheiteln gebändigt, das Kleidchen von schwarzem Wollstoff mit aufgedruckten weißen Punkten so bäuerisch im Schnitt; das karrirte Knüpftüchelchen um den Hals an den Ecken zerrissen. „Ich hatte auch schuld,“ sagte sie, „ich bin Dir nicht böse, aber wenn Du wüßtest, wie damals die Verhältnisse lagen! Sprich, Georg, kann ich irgend etwas für Dich thun?“

„Lucie,“ und er ließ das Kind von seinem Schoß und drängte es zu ihr hinüber, „Du weißt, wie ich Mathilde geliebt habe –“

„Ja!“ sagte sie.

„Und Du auch, Du auch! Wenn Du auch damals nicht gekommen bist.“

„Ich auch, Georg, Gott weiß es!“

Er schwieg und zog das rothbunte Taschentuch hervor, und fuhr sich über die Stirn.

„Es geht nicht länger so,“ sprach er, „wenn nicht die Kinder ganz verkommen sollen.“

„Du möchtest, Georg, daß ich –?“

„Die Kousine verträgt sich mit den Erzieherinnen nicht; sie hat vorige Woche die Dritte weggebissen, sie keift den lieben langen Tag im Hause umher, die Kinder haben Angst vor ihr, und ewig sehe ich weinende Gesichter. Ich möchte schelten und strafen, sobald ich mich blicken lasse, und wahrhaftig – nie war Friede mir nöthiger, als jetzt.“

„Du meinst, ich soll kommen, Georg, der Kinder wegen?“ fragte sie noch einmal. „Du weißt es ja, ich wollte schon damals bei ihnen bleiben.“

„Sie sind verlassener, als Du denkst, Lucie,“ sagte er ausweichend.

„Und glaubst Du, daß die Kousine sich mit mir vertragen wird, Georg?“ Sie war aufgestanden und hatte ein kleines Präsentirbrett mit der dampfenden Tasse aus Peter’s Händen genommen.

Er antwortete nicht, er betrachtete sie, während sie das Kind an den Tisch führte, auf den Stuhl hob und ihm die heiße Milch in der Untertasse verkühlte. Es lag wie Angst in seinen Blicken.

„Nein, die Kousine bliebe nicht, wenn Du –“

Lucie kam zurück und stand jetzt vor dem Schwager, ihn erstaunt ansehend.

„Setze Dich,“ sprach er, „ich will Dich etwas fragen.“

Sie saß gehorsam nieder.

„Viel schöne Worte machen kann ich nicht, Lucie,“ begann er tief athemholend.

„Es ist auch nicht nöthig, Georg,“ unterbrach sie mit ihrer müden Stimme, „wenn mich Mathildens Kinder brauchen, so komme ich; sie müssen dann sehen, wie sie hier ohne mich fertig werden.“

„Ja – schön! Aber – Du weißt nicht, wie ich es meine. Ich denke nämlich, Lucie, es wäre das Beste, wir – wir heiratheten uns – wenn Du – wenn ich Dir –“

Er kam nicht weiter. Sie war von ihrem Sitz emporgesprungen und streckte tödlich erschreckt die Hände wie zur Abwehr aus. Sie wollte sprechen, aber brachte kein Wort über die Lippen.

„Denke Dich nur in meine Lage,“ sagte er wie entschuldigend. Er war ebenfalls aufgestanden, nun setzte er sich wieder. „Höre mich doch wenigstens an, Lucie! Ich bin weit entfernt davon, Dir vorzuschwatzen von Liebe und so etwas, ich kann Dir weiter nichts versprechen, als ehrliche rechtschaffene Dankbarkeit für das, was Du an mir und den Kindern thun würdest, Dankbarkeit bis an mein Lebensende. Was hast Du denn so auch, Lucie? Du drückst Dich bei Fremden umher und wirst verdrießlich und verbittert. Für mich verlange ich ja so wenig, aber die –“ er zeigte auf das Kind und ward still; es hing ihm ein großer Tropfen in den Wimpern.

Sie stand noch immer so; nur die Arme waren ihr herabgesunken. Als ob sie bei der geringsten Bewegung in einen Abgrund versinken müsse, so regungslos verharrte sie.

Eine lange Pause entstand. Das Kind glitt von seinem Stuhl und kam herüber mit trippelnden Schrittchen. „Es thut weh,“ sagte es und zeigte auf den Hals. Er nahm das kleine Geschöpf auf seine Kniee und strich ihm über die Löckchen.

„Es wird wieder gut,“ tröstete er leise.

„Warum weinst Du denn, Vater?“ Und das Gesichtchen, das dem Mathildens so ähnlich war, verzog sich ebenfalls zum Weinen. „Mein Kopf thut weh, Vater.“

„Sie hat Hitze,“ bemerkte er gepreßt zu Lucie, „sie wird doch nicht krank werden?“

„Ich will sie ins Bette legen,“ brachte das Mädchen endlich hervor, „komm, Annemarie!“

Die Kleine kam gehorsam zu ihr.

„Ich gehe dann, Lucie,“ sagte er. „Du weißt nun, was ich will, drängen mochte ich Dich nicht; Deine Antwort hole ich morgen. Gute Nacht, Lucie!“

„Gute Nacht!“ klang es tonlos dagegen, aber die Hand, die sich ihr entgegenstreckte, wurde nicht erfaßt. Stumm zog er den Pelz an und nahm den Hut, und stumm ging er aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Sie stand noch immer da und sah in dem Gemach umher; es war ihr, als träumte sie einen furchtbaren Traum.

„Tante Lucie!“ sagte das Kind weinend.

[253] Sie faßte die kleine Hand und trat mit dem Kinde auf den Flur; Mademoiselle öffnete ihre Stubenthür und schaute hinaus.

„Kommen Sie zu Tische, Lucie? Mon dieu, bleibt la petite hier? Wie alt ist sie?“

„Vier Jahre,“ antwortete das Mädchen, das Kind empor nehmend, und ging mit sonderbar schwankenden Schritten der Treppe zu.

„Himmel! Was ist Ihnen denn?“ schrie Mademoiselle, als sich Lucie an dem Knauf des Treppengeländers hielt. „Sie werden das Kind fallen lassen!“

„O nein; ein wenig Schwindel nur. Ich will mich legen, ich habe es öfter –.“ Sie stand da wie erschöpft; es war ihr, als hebe sich der Fußboden im Flur schräg in die Höhe, als flöge die Lampe dort oben an der Decke in einem feurigen Kreise. Mit Aufbietung ihrer ganzen Kraft erstieg sie die Treppe und betrat ihr Zimmer. Sie zündete Licht an und begann die Kleine auszuziehen, Alles ganz automatenhaft.

„Tante böse?“ fragte die zarte Stimme. Sie hörte es nicht. Sie legte das Kind in ihr eigenes Bett, und dann flüchtete sie in den dunkelsten Winkel des Zimmers und fuhr wild mit den Händen an ihre Schläfen. „Muß ich denn? Muß ich denn? Giebt es denn keinen Ausweg?“

Aber was wollte sie eigentlich? Noch einmal that sich ihr eine Zukunft auf! Was hatte sie denn noch zu hoffen, daß sich ihr innerstes Herz empörte bei dem Gedanken, an Mathildens Stelle zu treten? – O, es war so furchtbar! So furchtbar, eines ungeliebten Mannes Weib zu werden! Nie! Nie! Sie sah ihn vor sich, so müde, so gebrochen, wie er ihr Dankbarkeit bot – weiter nichts als Dankbarkeit! Aber mußte sie’s denn nicht thun der armen Kinder wegen? Nein! Hätte sie’s denn gekonnt, wenn sie Adler’s Frau geworden wäre? Ja dann, dann!

Und mächtiger als je erwachte in ihr die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Ein schluchzender Schrei klang durch das Zimmer: „Ich kann nicht! Ich kann es nicht!“ – Sie wollte Alles thun, seine Kinder pflegen, sein Haus in Ordnung halten, Alles, nur nicht sein Weib werden!

„Nie!“ sagte sie laut und zornig, und ihre Hände ballten sich. „Nie! Ich will nicht!“

„Tante, komm doch her,“ weinte das Kind. Sie ging hinüber und beugte sich über das fiebernde Gesichtchen. „Mich dürstet, Tante; mir thut der Kopf so weh.“

Sie reichte Wasser und legte ihre kühle zitternde Hand auf die heiße Stirn. Sie setzte sich auf den Bettrand und starrte auf einen Fleck. Vor ihren Augen tanzten glühende Funken; dann flog ein leichter grüner Schein vorüber.

„Das ist seine Braut im Ballkleide! Geh weg,“ murmelte sie; „geh weg, was willst Du hier?“

Aber näher und näher kam es; sie schreckte empor – sie hatte doch nicht geschlafen?

Ein leises Flüstern drang in ihre Ohren; es war das alte Gebet, das Mathilde ihre Kinder gelehrt:

„Müde bin ich, geh zur Ruh –“

„Amen! Mein Kopf thut so weh!“ Die Kleine warf sich unruhig hin und her. „Bleibst Du bei mir, Tante? Geh’ nicht weg, wie die Kousine; ich fürchte mich.“

Lucie war vor dem Bette auf die Kniee gesunken. Sie dachte, wie auch sie einst krank gelegen und die Schwester nicht von sich gelassen, Tag und Nacht nicht.

„Ich muß! Ich muß!“ flüsterte sie. „Ich bleibe bei Dir, mein Annemariechen, schlafe, damit Dein Kopfweh besser wird.“

„Liebe, liebe Tante! Und ein weiches Aermchen schlang sich um ihren Hals.

Sie wagte nicht, sich zu rühren, bis das Kind schlief. Dann stand sie auf und tastete sich zu der Ofentruhe; dort saß sie regungslos im Kampfe mit sich selbst, stundenlang.

„Barmherziger Gott!“ schrie sie endlich, „ich kann es nicht, ich kann es nicht!“ Und schwer sank ihr Kopf gegen den Ofen.

[268] Tante Dettchen war in das Wohnzimmer der Schwägerin getreten, in dem zu Ehren der festlichen Vorbereitung drei Lampen brannten und eine geradezu erstickende Wärme herrschte, durchduftet von Mandelseife, frisch geplätteten Unterröcken, Pomade und Parfüms zweifelhafter Güte, Maiglöckchen und white rose. Fräulein Selma machte ein verdrossenes Gesicht, sie war von ihrer Mutter gescholten worden. Als nämlich die Friseurin kam, die es natürlich heute furchtbar eilig hatte, war sie nicht zu finden gewesen und erschien just in dem Augenblicke, als die des Wartens nicht gewohnte Dame gehen wollte mit dem Bemerken, ob sie später wiederkommen könne, wisse sie nicht.

Sie habe doch nur ein wenig Talkum aus der Apotheke geholt, entschuldigte sich das junge Mädchen, damit sich die Handschuhe leichter anzögen.

„Schon wieder in der Apotheke!“ tadelte die Frau Steuerräthin, „was Du für Geld dahin trägst, ist nicht zu sagen, Selma! Vorgestern hast Du erst Brausepulver geholt und vorvorgestern Hoffmannstropfen. Ich begreife nicht, daß Du das erlaubst,“ wandte sie sich an die Mutter Selma’s, „nebenbei ist das Mediciniren auf eigene Faust so unpassend, noch obendrein, wo der Arzt so zu sagen zur Familie gehört.“

„Tante,“ sagte Fräulein Selma unter dem Kamme der Friseurin, „Du trinkst doch selber Königstrank, ich hab’s gesehen, und im Keller stehen vier leere Flaschen.“

Frau Steuerräthin ward dunkelroth, aber sie erwiederte nichts. „Wart’ nur,“ dachte sie, „Du sollst wohl ducken, wenn Alfred erst Dein Mann –.“

In diesem Augenblick brachte das kleine Dienstmädchen ein großes Bouquett herein aus rothen Kamelien und weißen Primeln, mit rother Atlasmanschette. Fräulein Selma ward so roth wie die Farbe des Straußes.

„Wer schickt das?“ fragte Frau Steuerräthin und rauschte in ihrem Grauseidenen an die Thür.

„Ein Mann hat’s gebracht; er sagte nicht, von wem.“

Frau Adler hielt den Strauß nachdenklich in der Hand. „Ich begreife Alfred nicht,“ flüsterte sie Dettchen zu, „er hat doch gewußt, daß Selma ein grünes Kleid anzieht! Nun sieh diese Zusammenstellung, als wenn die Bauern Hochzeit hielten. Aber nehmen muß sie es.“

Dettchen schüttelte ungläubig den Kopf. „Von Alfred?“ fragte sie zweifelnd, „er ist doch gar nicht so – so –“

„Er wird Dich wohl vorher fragen, Dettchen! So was thun die Männer heimlich.“

Und indem die Frau Steuerräthin die Blumen aus einer Wasserkanne besprengte, sagte sie laut zu Selma’s Mutter, die eben vor dem Spiegel ein paar große, mit Brillanten besetzte Ohrringe einhäkelte. „Sieh mal, liebe Mähnerten, schön ist eigentlich anders, aber wenn’s Herz nur gut ist.“

„Das Bouquett ist sehr schön!“ fiel Fräulein Selma gereizt ein mit ihrer eigenthümlich tiefen, etwas rauhen Stimme. Und sie richtete sich in ihrer ganzen Höhe empor; denn die Friseurin hatte eben die letzte Nadel in die vielen blonden Haarpuffen gesteckt.

Die Mutter sagte gar nichts. Sie war eine kleine starke Person mit kurzem Athem und wäre viel lieber zu Bette gegangen als auf den Ball, wie sie heute Abend schon hundertmal versichert hatte.

Dettchen quälte sich weidlich bei der Toilette der jungen Dame; bald stieg sie auf eine Fußbank, bald hockte sie an der Erde. Und endlich stand die „Wasserjungfer“ fertig da, wie das kleine Dienstmädchen bewundernd ausrief, der bei Wasserrosen, Schilfblättern und Wachsperlen nichts Besseres und Schlechteres einfiel. Es galt nur noch, mit den weißen Atlasschuhen in die dicken wollenen Strümpfe des seligen Herrn Steuerraths zu schlüpfen, und um diesen in ein paar respektable Holzpantoffeln, den poetischen Kopfputz mit einem Tuche und die grüne Gazewolke mit dem Mantel zu verhüllen. Und nun wanderten die drei Damen, begleitet von Tante Dettchen, deren Weg an der „Goldenen Krone“ vorüberführte, und gefolgt von dem kleinen Dienstmädchen, die das Bouquett, Tücher und Pelzkragen trug, dem Balllokale zu.

Dettchen verabschiedete sich, „viel Vergnügen“ wünschend und der Frau Steuerräthin versprechend, den etwa säumigen Doktor zur rechten Zeit nach der „Krone“ zu expediren, und ging nun durch die schlüpfrigen Straßen, von denen allenthalben der Schnee verschwunden war und sich in Schmutz verwandelt hatte, ihrer Wohnung zu. Wahrhaftig, Alfred hatte noch Licht in seinem Arbeitszimmer! Eilig schritt die kleine Tante durch den Garten in das Haus und klopfte an seine Stubenthür.

„Aber, Alfred!“ rief sie dem eifrig Schreibenden zu, „in der ‚Krone‘ tanzen sie schon die Polonaise, und Du sitzest noch hier im Hausrock und vergißt Alles! Und ich habe Dir doch Wäsche und Kravatte und Frack so schön zurecht gelegt in Deiner Stube!“

Er sah sie in der That ganz verdutzt an.

„Ist es schon so spät, Tante? Na, dann muß ich wohl Ernst machen. Es ist aber wirklich ein Entschluß! Ich kann Dir sagen, Tante Dette: ich führe heute Abend lieber noch drei Meilen über Land –.“

„Na, mach’ nur, mach’ nur, Alfred!“

„Warst Du bei Mademoiselle, Tante?“

„Ja!“

„War’s nett?“ Er räumte bei dieser Frage seine Bücher zusammen und schloß den Schrank.

„Ach ja, Alfred, zuerst, und als wir da im Dunklen uns etwas erzählten – aber dann –“

„Nun?“

Sie war näher zu ihm getreten und hatte die Hände in einander gelegt.

„Ach Gott, Alfred, was ist aus dem Mädchen geworden! So blaß, so mager und so groß die Augen – arme kleine Lucie!“

Er steckte die Schlüssel hastig in die Tasche.

„Wozu erzählst Du mir das, Tante?“ fragte er ruhig, „laß es doch, das ist vorbei. Uebrigens, ich habe dieselbe Bemerkung heute früh gemacht und wünsche von Herzen, daß ich es nicht wieder sehen muß. Wir können ihr ja doch nicht helfen; ihr Wille ist ja geschehen.“

„Es dauert mich nur so,“ sagte Dettchen sich abwendend und zupfte an der Decke auf dem Tische und bückte sich nach einem Stückchen Kohle, das vor dem Ofen lag, und dann klinkte sie leise die Thür auf und ging hinaus, indem sie sich verstohlen die Augen wischte.

Er brauchte heute eine Ewigkeit für seine Toilette. Einmal ertappte er sich, die Kravatte in der Hand, vor dem Spiegel und mußte sich mühsam besinnen, was er eigentlich vorchatte.

Als er in die Saalthür der „Goldenen Krone“ trat, wirbelten die Paare schon in einem flotten Walzer an ihm vorüber. Blendendes Licht, luftige bunte Gewänder, lachende Augen und rosige Wangen unter Blumenkränzen, und dazu die leichte Melodie aus der „Fledermaus“: das war es, was er zunächst sah und hörte. Dann erblickte er die Mutter, quer durch den Saal auf sich zusteuernd, mit lächelnder festlicher Miene und fliegenden rosa Haubenbändern.

„Alfred, willst Du nicht die Mähnerten begrüßen? – Alfred, Du hast doch Selma zu Tische engagirt? Da Du nicht tanzest, ist es das Einzige, was –“

Er nickte zerstreut und folgte ihr, den tanzenden Paaren mit Mühe ausweichend, zu den Sofas an der Hinterwand des Saales, wo die Ballmütter in langen Reihen saßen.

„Was ist das für ein kleiner zudringlicher Herr, der mit meiner Tochter schon zum zweiten Male tanzt?“ fragte ihn Frau Mähnert schläfrig.

„Es ist der erste Provisor aus der ‚Elefanten-Apotheke‘, ein netter Mensch –“

„Hm! Kaum drei Käse hoch – wie das aussieht!“ murmelte ärgerlich die Mutter.

Frau Steuerräthin hatte die Lorgnette vor den Augen und folgte der großen grünen Gestalt, die ihr kleiner Tänzer leicht [270] und sicher durch das Gewühl führte. Der rothe Strauß tauchte wie eine feurige Rakete bald hier, bald dort auf.

„Wo hast Du das Bouquett bestellt, Alfred?“

Aber der Sohn antwortete nicht. Er sprach mit ein paar Herren, das Wort „Skat“ schlug an die Ohren der Mutter, und da verschwanden sie auch schon im Nebenzimmer. Er saß bald darauf am Spieltisch mit dem Amtsrichter Böhm, dem Bürgermeister und dem Kreisphysikus. Noch ehe sie die Karten aufnahmen, waren sie in einen Disput über das Krankenhaus gerathen.

„Die Herren Doktoren würden es vermuthlich am liebsten gesehen haben, wir hätten ihnen den besten Bauplatz in der neuen Villenstraße angewiesen,“ meinte das Oberhaupt der Stadt und ordnete die Blätter in der Hand.

„Den Platz, den Ihr uns geben wollt, nehmen wir einfach nicht,“ sagte der Kreisphysikus; „darauf könnt Ihr Torf stechen lassen und ihn dann im Rathhause verheizen. Adler, Sie wissen, wie wir gestern da waren, stand das klare Wasser über dem Grase, das dort so üppig wächst wie nirgend sonst.“

„Natürlich,“ sagte Doktor Adler zerstreut, und sein Blick kam wie aus weiter Ferne zurück. Er dachte eben an ein paar braune Mädchenaugen, die er heute früh gesehen, als er das gleiche Thema behandelte, traurig und zornig zugleich. Er war wirklich unartig gewesen – aber bah! was konnte auch das Gegentheil noch nützen? Natürlich!“ wiederholte er, „die Regierung wird auch wohl noch ein Wörtchen mitreden.“

Der Bürgermeister warf ihm einen ärgerlichen Blick zu; dann wurde gespielt und dabei das Krankenhaus vergessen. Ein allgemeiner Aufbruch störte die Partie nach einer Stunde; aus dem Ballsaal drängten die Tänzer herein; Kellner schleppten dafür riesenhafte Tafeln in den Saal, man rüstete zum Souper.

Adler wurde von einer niedlichen jungen Frau in weißer Seide angeredet, offenbar ihr Brautkleid und funkelnagelneu.

„Haben Sie meinen Mann nicht gesehen, Herr Doktor? Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie ihn mir herschicken könnten. Ich fürchte,“ raunte sie ihm zu hinter ihrem silberblitzenden Fächer hervor, „er sitzt unten im Gastzimmer beim Bier.“

Seine ernsten Züge wurden freundlich beim Anblicke dieses frischen Gesichtchens mit den besorgten Augen.

„Ich werde ihn suchen und ihn todt oder lebendig hierher schleppen,“ sagte er und wand sich durch die dicht gedrängte Menge.

Dann fühlte er sich am Arm gehalten. „Alfred,“ wisperte die Mutter, „hast Du Selma engagirt?“

Er besann sich auf seine Ritterpflicht dem Besuch seiner Mutter gegenüber und schob sich in einen Kreis duftiger Toiletten, aus dem Fräulein Selma um Kopfeslänge hervorragte.

„Darf ich die Ehre haben zu Tisch?“

Fräulein Selma ward roth, führte den großen Strauß an die Lippen und flüsterte. „Ach, verzeihen Sie, aber ich wußte nicht – ich dachte nicht – ich habe Herrn Lippert bereits zugesagt.“

Er verbeugte sich stumm, drängte sich völlig durch die Menge und erreichte den Korridor, tief aufathmend in der kühlen Luft. Die Gastzimmer lagen zu ebener Erde; Lachen und Sprechen scholl ihm entgegen, als er die Thür öffnete; eine große Zahl fahnenflüchtiger Herren saß hier unten und stärkte sich mit echtem Kulmbacher. Adler trat zum Amtsrichter Böhm und legte ihm die Hand auf die Schulter, „die Gattin fordert Sie,“ sagte er scherzend.

Der junge Mann sprang auf. „Das weiß der Himmel,“ rief er, „sie hat’s doch gleich gemerkt. Was in aller Welt mag sie denn wollen? Sie saß doch eben noch im eifrigen Gespräche mit ihrer Mutter und Tante!“ Er trank hastig sein Seidel leer und ging hinaus.

Adler wollte ihm folgen, da fiel sein Blick auf einen Mann, der, weitab von dem großen dicht besetzten Mitteltisch, in einem dämmerigen Eckchen saß; er hatte eine Zeitung in der Hand; das halb geleerte Glas stand vor ihm, und dazu rauchte er eine kurze Pfeise.

„Remmert?“ fragte er, als er dicht vor ihm stand, „wahrhaftig, Sie sind’s! Wie in aller Welt –?“

Der Oberförster war aufgesprungen, und die beiden Herren schüttelten sich die Hände. Der Doktor zog einen Stuhl heran, und nun saßen sie sich gegenüber. „Das nenne ich eine Ueberraschung!“ sagte er.

„Ich wäre morgen früh zu Ihnen gekommen, Adler – wegen der Kleinen, der Annemarie.“

„Sie haben das Kind mit?“

„Ja!“

„Hier?“

„Nein, es ist bei Lucie. Es miesert so weiter; ich weiß nicht, was es mit dem Würmchen sein mag –“

„Ich wäre ja gern zu Ihnen gekommen, Remmert. Sind die Andern wohl?“

„Ja, ich danke. Ich wäre doch hergereist, wissen Sie – ich habe mit meiner Schwägerin zu reden.“

„So, so!“

Das Gastzimmer war jetzt fast leer; nur ein paar reisende Kaufleute saßen in dem entgegengesetzten Winkel des großen gewölbten Gemaches im leisen eifrigen Gespräch; am Büffett lehnte verschlafen ein halbwüchsiger Kellnerjunge, eines von den unglücklichen kleinen Geschöpfen, denen um neun Uhr vor Müdigkeit die Augen zufallen, weil sie eben noch Kinder sind.

„Wollen Sie nicht auch hinaufgehen?“ fragte der Oberförster; „ich meiue, es wird jetzt gespeist. Ich hatte keine Ahnung, daß diese Nacht hier solch ein Tumult sein würde; ich wäre sonst in den ‚Anker‘ gegangen.“

„Wenn Sie erlauben, bleibe ich bei Ihnen, Remmert; man sieht sich so selten, und ich habe da oben keine Verpflichtung zu erfüllen. Meine Dame gab mir einen Korb. Erzählen Sie, wie geht es draußen in Wald und Heide?“

„Die Frau fehlt, Doktor, die Frau fehlt!“ Der große Mann mit dem gramvollen Zug in dem Gesichte nahm den Krug und trank hastig. „Es hapert an allen Ecken und Enden, und erst die Kinder! Sie sind so hilflos wie ein Nest voll junger Vögel, denen die Alten weggeflogen sind, es geht nicht länger so!“ Er hatte das Taschentuch schon wieder in der Hand, und in den Augen blinkte es feucht. „Die Leute werden wohl darüber schreien,“ fuhr er fort, „wenn sie hören, daß ich heirathen will; die Frau ist noch kein Jahr todt. Aber wenn Sie wüßten, Adler, wie das bei mir im Hause ist – zum Davonlaufen kalt und unheimlich! Wie da Alles nur gethan wird, weil es geschehen muß, und immer nur das Nothwendigste; wie bei Tische kein freundliches Wort fällt und man sein Bischen Suppe mit heimlichen Thränen hinunter würgt, sieht man die gedrückten Mienen der Kinder. Mit einem Worte, es ist kein Leben mehr, Adler –“

„Sie haben wohl Recht, Remmert,“ sagte Doktor Adler mitleidig. „Von Herzen wünsche ich eine gute Wahl, schon der Kinder wegen.“

„Ich dachte auch nicht an eine Fremde,“ erwiederte der Oberförster, „ich habe nicht Zeit herumzuscharwenzeln.“ Dann flog es wie eine leise Verlegenheit über sein Gesicht, und den Bart mit dem Taschentuch streichend, setzte er hinzu. „Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Doktor? Ich dachte an – “

„Lucie?“ sagte Doktor Adler. Es klang wie athemlos. „Sie wollte bleiben –“ mnrmelte er.

Der Oberförster nickte.

„Ja – das arme Ding! Ich war ungerecht gegen sie. Aber, wie schon gesagt, im Schmerz wägt man seine Worte nicht. Ich war so verbittert und unglücklich, und dann – die Welt ist zu schlecht, Adler; Gott weiß, welchem Gerede ich sie ausgesetzt hätte, und deßhalb –“

Er bekam keine Antwort. Doktor Adler sah mit fest zusammen gepreßten Lippen auf den Deckel seines Stammseidels, das der kleine Kellner vor ihm auf den Tisch gestellt hatte. Oben wurde eben ein Hoch ausgebracht; Menschenstimmen und Musik fanden ihren Weg bis hinunter. „Und sie?“ fragte er endlich kaum hörbar.

„Es ist nicht leicht, Stiefmutter zu werden, Doktor.“

„Und sie?“ fragte er noch einmal mit anderer Betonung.

„Es sind doch die Kinder ihrer Schwester, Adler.“

„Sie ist noch so jung!“ sagte er dumpf.

„Aber sie hat ein Herz für die Kinder, Doktor, und das ist die Hauptsache.“

„Und sie weiß es?“

„Ich bin ja deßhalb bei ihr gewesen.“

Sie sprachen nicht weiter. Die beiden Herren, die dort gesessen, waren gegangen, der kleine Kellner schlief jetzt wirklich am Büffett, das leise Ticken des Regulators scholl deutlich durch die Stille. Dann schlug es zwölf Uhr.

[271] „Ich störe Sie aber doch wohl?“ fragte der Oberförster endlich.

„Ich will auch zu Bett; ich denke, ich schlafe trotz der Musik. Wann darf ich denn morgen mit der Annemarie zu Ihnen kommen, Doktor?“

Adler erhob sich. „Von neun bis zehn oder von ein bis zwei Uhr,“ sagte er; aber er sah den Andern dabei nicht an.

„Gute Nacht denn, Adler!“

„Schlafen Sie wohl, Remmert.“ – Er setzte sich wieder, ohne recht zu wissen, was er that; er rührte sich erst, als der Wirth hereintrat und ihn verwundert anblickte. Da stand er auf und ging nach oben.

Man saß noch bei Tische, und zwar in animirter Stimmung; Alles sprach, Einer lauter als der Andere. Die Musik spielte dazu ein Potpourri; sie ging eben aus einem weichen Liebeslied in eine lustige Melodie aus dem „Bettelstudenten“ über.

„Hierher!“ rief der Amtsrichter Böhm von einem Ende der großen hufeisenförmigen Tafel, sein Champagnerglas aufhebend; „Adler, hierher! Wir rücken zusammen!“

Die kleine Frau im weißen Brautkleidc winkte lebhaft mit der Serviette: „Herr Doktor, kommen Sie, wo bleiben Sie so lange?“

Der Kellner schob ihm einen Stuhl hin, und bald saß er an der fidelsten Ecke, wie man ihm versicherte, zwischen zwei reizenden Frauen, die ihn seines Ausbleibens wegen neckten, und trank Champagner, und sprach und antwortete.

„Trotz alledem ein lustig Lied,
Nun, Schicksal, schlag’ nur zu –“

trällerte Böhm mit der Musik. „Doktor, schlichten Sie einen Streit zwischen meiner Gattin und mir. Sie sind ja ein halber Heiliger; man soll jetzt nur Ihre jammervolle Miene sehen – als ob Sie bei einem Leichenschmaus säßen.“

„Ja wohl, der Doktor soll den Ausschlag geben!“ riefen die Damen.

„Schön! Also, Doktorchen, die Damen behaupten, eine Frau brauche ihren Mann nie um Verzeihung zu bitten, auch wenn sie wirklich Unrecht hat. Wo bleibt die Logik?“

„Wo bleibt die Galanterie?“ rief die kleine Frau Elsa Böhm lachend. „Und wenn Du bis an den jüngsten Tag wartest, ich sage niemals: ‚Pater peccavi‘!“

„Aber, ich bitte Sie,“ begann der Doktor, „Derjenige, welcher Schuld hat, muß doch –“

„Gewiß! Aber nicht Diejenige. Wir haben überhaupt nie Schuld!“ erklärte sie seelenvergnügt.

Adler mußte lächeln; dann ward er ernst.

„Jetzt hat das nichts mehr auf sich,“ bemerkte gelassen der Ehemann; „aber als der Pastor sein Amen noch nicht über uns gesprochen, da bestand sie einmal, eigensinnig wie sie Alle sind, darauf, ich solle einen Fußfall thun wegen einer Lappalie, oder ich wäre in Gnaden entlassen worden. Es war Ernst, wahrhaftig! Und was sollte ich machen? Mit Schmollen und Trotzen kommt man ja bei ihnen nicht durch, aus dem einfachen Grunde, weil sie das besser verstehen als wir. Elsa, sieh einmal, was der Doktor für ein Gesicht macht; bei dem möchtest Du Dich verrechnet haben. Danke Gott auf Deinen Knieen, daß Du so ein Lamm wie mich gekriegt hast.“

„Ja, allerdings,“ sagte Adler, „ich hatte – ich wäre –“ er brach zerstreut ab.

„Sie ließen wahrscheinlich Ihre Zukünftige in der Ecke stehen oder auf Erbsen knien? Ich werde alle Mädchen warnen,“ schmollte Frau Elsa.

Er hörte es nicht; er dachte an sie, an den Mann, der die Hand nach ihr ausgestreckt, um für seine Kinder eine Mutter zu haben, nur weil sie zufällig die Schwester der Verstorbenen. Warum hatte er ihr nicht vergeben können, die er ja doch nicht vergessen konnte? Es war gut so – gut? Ja freilich! Er nahm sein Glas und trank; die Andern waren schon wieder mitten im Lachen und Plaudern.

Am entgegengesetzten Ende der Tafel saß Fräulein Selma, nicht weit davon seine Mutter. Sie blickte böse zu ihm herüber. Fräulein Selma war purpurroth erglüht hinter ihrem riesigen Bouquett; ihr kleiner Tischnachbar redete eifrig in sie hinein.

Dann tupfte etwas leise Adler’s Schulter und ein Kellner flüsterte ihm einige Worte zu. Er nahm langsam seine Serviette und legte sie auf den Tisch.

„Entschuldigen Sie mich,“ sagte er.

„Schon wieder fortgeholt? Nehmen Sie es mir nicht übel, es ist ja ein schreckliches Metier, das Ihre,“ rief einer der Herren.

„Kommen Sie bald wieder, Doktor!“

Er war schon aus der Thür und die Treppe hinunter. Der alte Peter stand da, eine Laterne in der Hand, mit verschlafenen Augen.

„Mademoiselle bittet sehr um Entschuldigung,“ begann er, während Adler sich den Ueberzieher umgeben ließ. Er setzte den Hut auf und winkte zum Gehen.

[283] Ein eisig kalter Wind hatte sich erhoben; die zahllosen Pfützen der schlecht gepflasterten Straßen waren leicht überfroren, die Wolken gewichen und ein klarer Sternenhimmel schimmerte hernieder.

Mademoiselle trat Adler sichtlich erregt im Hausflur entgegen. „Mein lieber Doktor,“ rief sie, „welche Geschichten! Verzeihen Sie nur, daß ich Sie stören mußte, grad’ heute stören –“

Sein blasses Gesicht blickte sie fragend an.

„Was denken Sie, was geschehen ist?“ lamentirte sie. „Um Mitternacht hören wir – die Minna vielmehr – ein jammervolles Kinderweinen, und wie sie hinzu läuft, findet sie ein todkrankes Kind – ich versichere Sie, solch dicken rothen Kopf!“ – Mademoiselle wies mit den Händen in weitem Bogen um ihr eigenes Haupt – „und das Allerschlimmste: Lucie ohnmächtig am Ofen! Sie ist wieder bei sich; aber sie sitzt wie eine Irrsinnige neben dem Bette des Kindes und rührt sich nicht.“

Er wandte sich und stieg rasch die Treppe empor; er nahm immer gleich zwei Stufen auf einmal. In Luciens Zimmer brannte eine verschleierte Lampe, und an dem Bette, dessen Vorhänge weit zurückgenommen waren, saß das Mädchen regungslos wie ein Wachsbild, und so gelblich bleich schien auch das schmale Gesicht in der dämmernden Beleuchtung.

Sie stand auf, als er über die Schwelle kam, und wies stumm auf das Bett; dann trat sie an das Kopfende und faltete die Hände über einem geschnitzten Engelskopf, der als Verzierung diente.

Er sah die Kleine gar nicht an, nur sie. Aber sie blickte nicht auf. So standen sie eine ganze Weile. Dann bog er sich herab zu dem fiebernden Kinde. „Worüber klagt sie zumeist?“ fragte er.

„Ueber den Hals,“ war die leise Antwort.

Sie brachte ein Licht auf sein Verlangen. Er erschrak, als er das Mädchen in der hellen Beleuchtung erblickte: so verstört, so unheimlich erschien ihm der Ausdruck des sonst so lieblichen Gesichtes.

„Es ist eine einfache Halsentzündung mit Fieber,“ sagte er und löschte das Licht. „Ich werde in der Apotheke etwas verschreiben.“

Sie stand wieder am Kopfende des Bettes, an dem vorigen Platz. „Ist sie sehr krank?“ fragte sie.

„Die Kleine nicht, aber Sie scheinen es zu sein.“

„Nein!“ sagte sie abweisend.

„Ja!“ sprach er laut und fest.

Sie erwiederte nichts. Sie hatte den Kopf gesenkt; ihre Hände klammerten sich fester an die Bettverzierung und über ihre Wangen rannen langsam ein paar große stille Thränen.

„Ich habe Remmert gesprochen,“ klang es leise in ihr Ohr.

Sie nickte zustimmend und senkte aufs Neue den Kopf.

„Sie haben Schweres übernommen, Lucie, zu Schweres fast für Ihre Jugend.“ Er sprach so langsam, als ob er seiner Zunge nicht mächtig wäre.

Sie rührte sich immer noch nicht, und ihm dünkte, als ob sie selbst es nicht mehr sei: so groß war die Qual, die sich auf ihrem Antlitz spiegelte.

„Gott gebe Ihnen alles Glück!“ murmelte er; dann wandte er sich schnell. Er fühlte, seine Kraft war plötzlich zu Ende. Im nächsten Augenblick schon war er an der Thür.

Da hallte ein Schrei durch das Zimmer, der Ausbruch einer wahnsinnig geängstigten Seele; das Mädchen war in die Kniee gebrochen und ihre Hände hatten sich in das Haar gewühlt. „Muß ich denn? Muß ich denn – ich kann doch nicht!“

Im nächsten Augenblick war er bei ihr und hielt sie in seinen Armen.

„Gehen Sie!“ wehrte sie ihm; „gehen Sie doch!“

„Ich soll gehen? Jetzt gehen? – Sprich, warum ist es Dir nicht möglich? Sprich, Lucie – es ist ja das Wenigste, was Du thun kannst, mir zu sagen, daß Du mich doch nicht ganz vergessen hast –“

Sie antwortete nicht; sie sah ihn an mit ausdruckslosen Augen.

„Für all das Leid nicht ein gutes Wort, Lucie?“

„Wozu mich so grenzenlos quälen!“ rief sie außer sich, als käme sie erst jetzt zur Besinnung. „Ich sehe mein Unrecht ja ein! Ich bitte Sie ja um Verzeihung für Alles, und wenn es Sie beruhigt, so wissen Sie, daß ich das elendeste und herzensärmste Geschöpf bin auf der weiten Welt. Und nun gehen Sie und sagen es Ihrer Braut, und – werden Sie glücklich!“

Sie hatte heftig gestikulirt; nun fühlte sie ihre Hände gehalten.

„Sich mich an, Lucie,“ sagte er mit fester Stimme, „wie kommst Du dazu, mir von einer Braut zu sprechen? Denkst Du, daß es so kinderleicht ist, Dich zu vergessen? nach Dir – eine Andere lieb zu haben? – Nein, Lucie, ich gehöre in diesem Augenblick noch ebenso Dir wie damals, als Du mir den ersten Kuß gegeben; weißt Du, im Walde, unter den Buchen? O, Du hast viel gut zu machen, Lucie. Willst Du das?“

Sie sagte kein Wort; sie legte, in Thränen ausbrechend, die Arme um seinen Hals, und immer heftiger ward ihr Schluchzen. Es war, als ob alles Leid und alle Angst von ihrer Seele mit den Thränen fließen sollte.

Er ließ sie stumm gewähren.

„Auch ich trage meinen Theil der Schuld,“ flüsterte er endlich und hob ihren Kopf empor und küßte die Tropfen von den Wimpern und das wirre blonde Haar, „auch ich, Lucie!“ – 0000000000

Als er wenige Minuten später die Treppe hinunter kam, fand er Mademoiselle mit blassem Gesicht in der geöffneten Thür ihres Zimmers angstvoll seiner wartend.

„Ist es so schlimm?“ fragte sie. „Sie blieben ja eine Ewigkeit!“

„Die Kleine schläft,“ erwiederte er. „Es ist eine leichte Halsentzündung. Sie können ruhig hinaufgehen, Mademoiselle, ich [284] bitte Sie sogar darum. Nehmen Sie sich meiner Braut etwas an, sie ist furchtbar angegriffen.“

Comment?“ fragte die alte Französin und sah ihn verständnißlos an.

Er reichte ihr die Hand herüber. „Lucie ist wieder mein,“ sprach er.

Mais non – ich meine – ich denke, Sie sind verlobt?“

„Ja freilich! Gute Nacht, Mademoiselle.“ Er küßte die kleine runde Hand und ging hinaus.

Die alte Dame stand ganz fassungslos, dann stieg sie die Treppe empor und kam in Luciens Zimmer. Das Mädchen saß wieder im Sessel neben dem Bette und blickte auf das schlummernde Kind; sie hatte die Hände gefaltet: über ihrem Gesichte lag ein seliger Schimmer.

„Lucie, quelle surprise!“ rief Mademoiselle. „Ich träume wohl, wie ist es möglich?“

Lucie legte den Finger auf den Mund und ging leise zu der alten Dame hinüber.

„Mademoiselle,“ flüsterte sie und nahm die Hände der Erstaunten, „wollen Sie ein glückliches, dankbares Menschenkind sehen? Schauen Sie mich an –.“

„In Wahrheit, Lucie? Mais je ne comprend pas – warum erst jetzt? Sie konnten ja schon längst so glücklich sein! Wie wunderlich seid Ihr deutschen Frauen!“

„O Mademoiselle, mein Herz war so schwach und krank. Haben Sie nie gehört, daß kranke Leute die Welt anders betrachten als gesunde?“

„Und nun ist die Krise vorüber?“

Das Mädchen fiel, statt zu antworten, ihr um den Hals und küßte sie auf das gute Gesicht.

„Wunderlich!“ murmelte die alte Dame. „Aber legen Sie sich; er will es; Sie müssen frisch sein morgen. Wenn es nicht ansteckend ist – wahrhaftig nicht? – so will ich wachen.“

„Nimmermehr!“ erklärte Lucie, „das Sofa ist bequem; lassen Sie mich, Mademoiselle. Ich habe so Vieles gut zu machen, auch hier.“




„O, und ich will mich nur noch recht schön bedanken, liebe Adlern,“ sagke Selma’s Mama, die plötzlich gar nicht mehr verschlafen aussah, während sie ihren Mantel und ihre Kapuze in der Wohnstube der Frau Steuerräthin des Morgens um vier Uhr ablegte – sie waren eben vom Balle gekommen; „schön bedanken, daß Du so gut auf Selma Acht gegeben hast.“

Frau Adler sah verwundert ihre Freundin an; sie war schon so ärgerlich über des Sohnes Verschwinden vom Balle. Was sollte denn nun noch kommen?

Fräulein Selma saß in ihrem zerdrückten grünen Kleide schluchzend in der Ecke am Ofen.

„Ja, weine nur,“ schalt die Mutter, „der Vater wird schon dafür sorgen, daß Du Deine Thränen trocknest, Du undankbares Kind.“

„Ich kann doch nichts dafür,“ schluchzte das Mädchen.

„Verlobt hat sie sich, Klara!“ wandte sich die zürnende Frau zu der sprachlosen Steuerräthin, „verlobt mit diesem Herrn Provisor da. Hast Du denn gar nichts bemerkt? Du bist doch sonst so schlau in dergleichen Dingen? Und das ist Alles fix und fertig und abgemacht! – O, und wir denken, sie ist hier in den besten Händen!“

„Selma!“ rief Frau Adler, „pfui! Schämst Du Dich denn nicht?“

„Du hättest nur besser aufpassen sollen,“ fiel die Mutter ein. „Ich denke, es wird ein schöner Tanz werden mit meinem Mann. Zieh’ Dich an, mein Kind, und packe Deine Sachen ein; sobald es hell ist, wird gefahren.“

„Der Vater könnte ihm doch eine Apotheke kaufen,“ tönte es weinend hinter dem spitzenbesetzten Battisttuche des Mädchens hervor.

„Apotheke kaufen? Als ob es ein Pfefferkuchen wäre! Was weißt Du von Geld! So stehen die Angelegenheiten jetzt: Verlobt hast Du Dich – von Heirathen ist keine Rede, mein Kind!“

Das kleine Dienstmädchen brachte Kaffee; aber es mußte ihre Herrin erst dreimal um den Schlüssel zur Zuckerdose bitten, so verdonnert stand diese da –. Alles umsonst, Alles; dieses undankbare Mädchen!

„Wo habt Ihr Euch kennen gelernt?“ examinirte die Mutter, „heraus mit der Sprache!“

„Auf dem Schützenfest, im Sommer.“

„Wie denn das?“

„Im Cirkus. Ich saß zufällig neben ihm, und dann – ich war mit Postmeisters da – sind wir noch, die Liese und ihr Vetter, und er und ich, Karoussel gefahren, und da hat er mich nach Hause gebracht.“

„Recht hübsch! Und das hast Du erlaubt, Klara? – Wo habt Ihr Euch noch sonst gesehen?“

„Auf der Straße und in der Apotheke.“

„Aha! Daher die vielen Bedürfnisse an Talkum, Cold Cream und Brausepulver! Und wann hat er es Dir gestanden?“

„Schon lange, schon vor acht Wochen –“

„Empörend!“ sagte Frau Steuerräthin und schob ihre Kaffeetasse zurück. „Selma, Du bist eine ganz falsche Person! So lohnst Du mir alle Freundlichkeit?“

„Ich bin nicht falsch,“ vertheidigte sich das Mädchen weinend, „ich habe niemals geheuchelt, daß ich mich für den Herrn Doktor interessire.“ Wenn er das gedacht hat, so –

Da richtete sich Frau Steuerräthin in ihrer ganzen Höhe auf „Mein Sohn?“ fragte sie, „mein Sohn? Was hat denn mein Sohn mit dieser ganzen Angelegenheit zu thun? Du hast Dir doch nicht etwa eingebildet, daß er Dich –? Lächerlich!“

Und sie rauschte in ihrem Grauseidenen majestätisch nach der Schlafstube, und als sie zurückkam, trug sie ihren Schlafrock und ein Lächeln um ihre Lippen, und nöthigte zum Kaffee.

Als eben der Tag graute, brachte das Dienstmädchen des Herrn Doktors einen Brief an die Frau Steuerräthin. Die alte Dame hatte sich nicht gelegt, denn ihr Besuch rüstete zur Abfahrt; sie saß und sah in die graue Morgendämmerung und in ihrem Herzen war eitel Zorn und Weh.

Da kam das Schreiben. „Mein Gott, was will er denn? Und wie lang!“ Sie holte die Brille hervor, ging zum Lichte und las.

Wie? Das that er ihr? Regungslos verharrte sie – war denn die Welt aus den Fugen gegangen?

„Ich hoffe, die Mutter wird sich bemühen, das Mädchen, an dem des Sohnes ganzes volles Erdenglück hängt, lieb zu haben so sehr sie kann, und sie mag versichert sein, daß dann zwei innig dankbare Herzen sich bestreben werden, den Abend ihres Lebens hell und freundlich zu gestalten.“

Also: „Beide – oder Keines!“ las sie zwischen den Zeilen. O, und es gab doch eine ganze Welt voll hübscher, reicher Mädchen! Zornig knitterte sie den Brief in der Hand. Da fiel ihr Blick auf ein kleines Daguerreotyp, das an der Fensterwand über ihrem Nähtisch hing, ein lockiger Bub’ im karrirten Kittelchen mit treuen guten Augen. So war er, als er noch auf ihrem Schoße saß und die Aermchen um ihren Hals schlang und sie mit heimlicher Lust an die Zukunft dachte. Sie hatte die ganzen Jahre hindurch nur den einen Gedanken gehabt, den Abend ihres Lebens in seiner Familie zu verbringen, geehrt und geliebt und um Rath befragt, in Küche und Keller und Kinderstube.

„Meine liebe Mutter!“ hörte sie den Klang der hellen Kinderstimme von damals. – Er war kein Kind mehr, er war ein Mann geworden, ein rechter Mann mit stärkem Willen, war ihr Stolz, ihr Einziger! Wie hatte sie vor ein paar Stunden erst wieder im Ballsaal so viel des Lobes über ihn eingeerntet! Da hatte eine dankbare Mutter ihr die Hand gedrückt, der er Trost zugesprochen am Krankenlager der Kleinen; hatte ein Mann, dem er die Gattin erhalten, gesagt: „Wie glücklich müssen Sie sein, diesen Sohn zu besitzen!“ Und die Frau eines kränkelnden nervösen Mannes war in begeistertes Lob ausgebrochen: er sei nicht allein Helfer dem kranken Körper, er richte auch die gebeugten sorgenbeschwerten Herzen auf. Und sie wollte diesem Sohne ein Glück mißgönnen?

Wenn’s nur eines wäre!

Aber die Frau sucht sich jeder tüchtige Mann allein aus – nein, so Einer läßt sich keine aufschwatzen. Und diese Selma, diese –

Eben kam sie herein mit ihrer Mutter. Wie sah sie doch aus, so grau der Teint, so plump die Figur in dem dicken Mantel, und so mürrisch! Luciens leichte zierliche Gestalt, ihr süßes Kindergesicht tauchte vor ihren Augen auf „Hübsch ist sie und fein, ja, ja – hm –“

„Adieu, Adlerchen,“ sagte die Mutter. „Das Wiederkommen kann ich Dir nicht versprechen; ich bin zu böse auf Dich.“

„Ich will Dir Etwas sagen,“ begann die Frau Steuerräthin, „rede Deinem Alten zu – wenn die Selma nun einmal den [286] Mann liebt. Es ist doch eine nette Sache, so eine Apotheke; mein Seliger behauptete immer, sie sei besser als ein Rittergut. Man muß darin den Kindern nachgeben; was sie sich einmal in den Kopf gesetzt haben, drücken sie durch. Mein Alfred ist doch auch schon seit längerer Zeit heimlich verlobt mit –“

Fräulein Selma sah mit offenem Munde die Redende an.

„Mit seiner alten Lucie. Ja, ja, mein Kind, Du hast davon nichts gemerkt. – Hätte ich übrigens den Kopf nicht so voll gehabt, so wäre ich doch am Ende dahinter gekommen, wie es zuging, daß Du den ganzen Tag Magenmorsellen geknabbert und Reglise gelutscht hast.“

„Mit Lucie Walter?“ stammelte das Mädchen. „Na, und siehst Du, Mähnerten, die Lucie hat auch nichts, gar nichts, aber Alfred liebt sie nun einmal, und schließlich haben doch die Beiden, die zusammen leben wollen, die Hauptstimme bei der Sache. – Nun sei verständig und red’ den jungen Leuten das Wort und laß uns wie früher Freundinnen bleiben und trinke Deinen Kaffee nach wie vor bei mir, wenn Du in die Stadt kommst. Denke einmal, was wir Beide Alles durchgemacht haben! Wie mein Mann starb, da hast Du neben mir auf dem Sofa gesessen und hast mit mir geweint, und als Dein Aeltester ertrank, da bin ich es gewesen, die den schweren Gang zu Dir that, um Dir die schreckliche Nachricht zu bringen. So etwas –“

Frau Mähnert weinte und gab der Steuerräthin die Hand. „Wie Gott will!“ sagte sie und ging aus der Thür, von Fräulein Selma gefolgt. Und die Frau Steuerräthin sah aus dem Fenster und rief den Einsteigenden zu: „Gut Glück! Und schickt bald eine fröhliche Nachricht!“

Dann stellte sie sich vor das Bildchen ihres Sohnes: „Gelogen habe ich niemals gern,“ sagte sie laut, „aber heute – der liebe Gott wird es mir doch nicht übel nehmen? – Eine Antwort will er haben, der Junge, gut! Aber erst muß ich schlafen.“

Als es zwölf Uhr Mittags schlug, that sich die Hausthür der Frau Steuerräthin auf, und sie ging im Pelz und Sonntagshut und in feierlich schwarzseidenem Kleide an der Mauer entlang und klingelte an der Meerfeldt’schen Pforte. Peter öffnete und führte sie hinein, Mademoiselle kam der alten Dame im Flur entgegen.

„Lucie ist oben, Madame; sie pflegt das Kind,“ sprach sie, „wollen Sie sich hinaufbemühen? Ihren Herrn Sohn werden Sie ebenfalls treffen.“

Sie stiegen mit einander die Treppe empor, Mademoiselle öffnete eine Thür und ließ Frau Steuerräthin eintreten. Dettchens Stimme scholl ihr entgegen:

„Ich versichere Euch, Kinder, ich thue es herzlich gern; ich bin glücklich, wenn ich aushelfen kann.“

„Du Seele von einer Tante!“ sagte der Doktor.

Frau Steuerräthin räusperte sich vernehmlich ein paarmal; da wandte sich der blonde Kopf, der an des Sohnes Schulter lag, und große erstaunte Augen schauten sie an.

„Die Mutter!“

Lucie war hinüber geeilt, blaß vor Ueberraschung, und still lächelnd folgte der Bräutigam.

„Du – hier?“ sagte das Mädchen noch einmal, „und wir wollten eben zu Dir gehen; ich mußte nur warten, bis Tante Dettchen mich ablöste bei der Kleinen.“

Sie beugte sich über die Hand der ernsthaften Frau, die steif wie ein Götzenbild stand und sich selbst zu wundern schien über ihr Hiersein.

„Sei mir wieder gut,“ bat Lucie. „Ach, wenn Du wüßtest, wie ich mich gegrämt habe um ihn –“

Frau Steuerräthin sah das schmale Gesicht an und die bleichen Wangen; sie bestätigten ihr vollauf die Wahrheit. Sie war so bewegt und ergriffen, daß sie sich kaum zu fassen wußte – aber zeigen durfte man das nicht. Tapfer schluckte sie die Rührung hinunter und küßte die Schwiegertochter auf die Stirn.

„Wir wollen das Alles vergessen,“ sagte sie und gab auch ihrem Sohne die Hand; „es ist gut, wenn man seinen Irrthum einsieht, so lange es noch Zeit ist zur Umkehr. Was fehlt denn der Kleinen da?“

„Sie hat sich ein wenig erkältet und muß noch im Bette bleiben.“

„Und ihr Vater ist auch hier? Welche Unvernunft, mit solchem Wurm in dieser Jahreszeit zu reisen! Wo ist er denn? Der Mann hat wohl gar keine Ahnung, wie Kinder behandelt werden müssen?“

„Mein Schwager sitzt beim Herrn Baron und erzählt von den letzten Jagden,“ berichtete Lucie, die des Bräutigams Hand nicht losließ. „Er reist Nachmittag wieder ab, und wenn die Kleine gesund ist, so wird Tante Dettchen sie zurückbringen.“

„Und vorläufig bei ihm bleiben,“ ergänzte der Doktor.

„Will er das? Wie kommt er darauf?“

„Ich habe ihm den Vorschlag gemacht,“ erklärte der Sohn.

„So, und Du?“

Der Doktor zog die Braut näher an sich.

„Für mich ist gesorgt“ sagte er glücklich. „Das Jahr soll nicht zu Ende gehen, bevor in mein Haus die Frau einzieht.“

Als die Frau Steuerräthin ging, bat Lucie sie, einen Brief mit auf die Post zu nehmen. „Frau Hortense Weber“ war die Aufschrift. Die alte Dame schob ihn in den Kasten, und als sie die Frau Postmeisterin am Fenster gewahrte, klopfte sie mit dem Regenschirm an die Scheiben.

„Sagten Sie nicht gestern, Sie hätten einen Preiskourant fertiger Herrenwäsche aus Berlin? Borgen Sie ihn mir doch einmal, Liebste, Alfred heirathet gleich nach Weihnacht und die Zeit ist so kurz.“

Die runde kleine Frau am Fenster schlug die Hände zusammen. „Mein Himmel! Also wirklich? Wohl gestern Abend? Wen denn – Sel–?“

„Lucie Walter – wen denn sonst? Das ist ja nie ganz aus gewesen; sie haben nur ein wenig – na, wie das so manchmal ist. Ihr Kleiner kann wohl den Katalog herumbringen? Guten Morgen, Liebste!“

„So!“ sagte sie im Weiterschreiten vor sich hin. „Verlobungskarten konnten sie doch nicht gut noch einmal schicken – dies thut’s auch.“




Es war am Sylvesterabend. Bei völliger Windstille schneite es, und der lockere weiße Schnee legte sich auf die Rasenplätze im Garten des Herrn Doktor Adler, auf jedes Zweiglein der hohen Bäume, auf die Spitzen und Verzierungen des Thores und breitete sich wie eine köstliche leuchtende Decke über das Dach des kleinen Hauses aus. Darunter lugten helle Fenster gar traulich hervor, und an einem derselben zeichnete sich ein Schatten ab auf den weißen Vorhängen, der behende hin- und herglitt. Das war im Eßzimmer; Frau Lucie deckte dort den Tisch. Sie erwartete offenbar Besuch; es lagen vier Kouverts auf, und inmitten der Tafel unter der Hängelampe stand eine einfache Glasschale auf hohem Fuß, in der anmuthig Tannenzweige und Christrosen geordnet waren. Tafeltuch und Servietten zeigten ein altes Damastmuster; die stammten noch aus dem Brautschatz ihrer verstorbenen Mutter und waren so fein, so seidenglänzend – ach, heut zu Tage giebt es so etwas gar nicht mehr! Mit schmeichelnder Hand strich die junge Frau über das schimmernde Linnen.

Auch die Weingläser, die Teller und Schüsseln sprachen von vergangener Zeit; wenn auch hier und da eine Stelle an den vergoldeten Rändern etwas abgenutzt war, was that es? Davon hatten in Zufriedenheit und Freude ehrenwerthe prächtige Menschen gegessen, und mit den alten Römern war schon auf Luciens Taufe angestoßen.

Die junge liebliche Frau betrachtete endlich mit verklärtem Lächeln ihr Werk, sie meinte, noch nie etwas Trauteres, Behaglicheres gesehen zu haben, als diesen einfachen runden Tisch in der mäßig großen, niedrigen Stube, und sie faltete die Hände, wie in inniger Dankbarkeit.

Da klopfte es mit leisem Finger an die Thür, und in dem Rahmen derselben stand gleich darauf Hortense, in Pelzmantel und Mützchen, auf dem noch leuchtende Schneesternchen lagen.

„Guten Abend, Luz! Ich komme etwas früher als Waldemar, er sitzt noch bei Großpapa am Bette; mich aber,“ sie küßte die Wange der kleinen Frau Doktor, „mich trieb es zu Dir, ich wollte Dich auch einmal allein haben. Dein Mann ist noch aus?“

„Zu Schlitten nach Bützow,“ erwiederte Lucie, „vor acht Uhr wird er nicht zurück sein,“ und sie nahm geschäftig den Mantel von Hortense’s Schultern.

„Ich sehe ja nur vier Kouverts?“ rief diese nicht unzufrieden, „sind wir allein?“

„Meine Schwiegermutter feiert heute bei Mähnert’s Verlobung mit, da durfte sie ja doch nicht fehlen! Und Mademoiselle gab mir einen Korb.“

[287] „Ja, sie wollte bei Großpapa bleiben; seine Pflegerin kommt erst morgen an: in Wahrheit glaube ich aber, sie hat sich auf Deiner Hochzeit den Magen verdorben.“

„Hortense, Du bist doch immer noch die alte Spötterin,“ sagte Lucie, aber sie mußte lachen dabei; denn ihr Mann hatte es bereits bestätigt. Mademoiselle aß zu leidenschaftlich gern etwas Gutes, und da der alte Herr von Meerfeldt ihr überlassen hatte, das Menu für diesen Ehrentag zu bestimmen, so war es echt französisch ausgefallen. Frau Steuerräthin bemerkte hinterher, es habe gut geschmeckt; aber woraus die einzelnen Gänge nun eigentlich bestanden, das hätte sie nicht herausgekriegt: es könne alles Mögliche in den Ragouts gewesen sein; und nun glaube sie auch, daß die Franzosen Anno siebzig in Paris Giraffen und Strauße wirklich schmackhaft zubereitet hätten; mit den Saucen müßte Alles schmecken, selbst Schuhsohlen.

„Wie geht es Tante Dettchen?“ fragte Hortense.

„Gut! Die Kinder hängen an ihr, und Georg schreibt, die Behaglichkeit sei mit ihr wieder eingezogen.“

„Werden sie bald heirathen?“

„Ich kann Dir keine Auskunft geben. Aber setze Dich, Hortense, oder Wollen wir hinaufgehen in meine Stube?“

Aber Hortense saß schon am Ofen auf der Truhe, die sie Lücken geschenkt hatte, und sah sie ernsthaft an. „Wie Du blühst,“ sagte sie lächelnd, „das ist Dein altes Gesicht wieder.“

Die junge Frau erglühte über und über. „Ich bin glücklich,“ sprach sie.

„Komm her, Lucie,“ bat Hortense; und als sie neben einander saßen, flüsterte die schöne Frau: „Bist Du mir noch böse, Lucie? Ich hätte Dich so gern auf Deiner Hochzeit schon gefragt; aber Du warst so ernst, so ganz in der Bedeutung des Tages verloren, daß ich es nicht wagte.“

„Ach, laß das ruhen, Hortense; ich war Dir niemals böse, ich war nur traurig. Mich friert, wenn ich an die Zeit denke, da wir uns Beide einbildeten, frei und glücklich zu sein, erhaben über alles Mögliche, und ich so recht im innersten Herzen krankte. Gott sei gelobt, es ist überwunden!“

Hortense saß ganz still. „Du hast Wohl Recht; mir kommt es zuweilen vor, als hätte ich dumpf und fieberhaft geträumt. Es ist schön, so zu erwachen. Aber Du, Luz, Du kamst gesund hierher, Dich habe ich angesteckt; ob Du mir das vergeben willst, möchte ich wissen?“

„Ach tausendmal, Hortense! Ich weiß ja jetzt erst mein Glück so recht zu schätzen. Nun sei ruhig davon, auf immer!“

Sie bog sich herüber und küßte die junge Frau. „Horch!“ rief sie dann aufspringend, „da klingen Schlittenglocken!“

Sie eilte hinaus und den verschneiten Weg entlang. Vor dem Gartenthor hielt das Gefährt; ein Mann im Pelz sprang eilends heraus.

„Alfred!“ rief sie jubelnd.

„Wie? Mein eigenes, leichtsinniges Weib?“ antwortete er fröhlich, „da muß ich ja schelten, obgleich wir erst drei Tage verheirathet sind! Du willst Dich erkälten, wie? Komm her, Du Bösewicht,“ fuhr er fort, und er nahm die zierliche Gestalt mit unter den weiten Pelz, und so kamen sie langsam, eng an einander geschmiegt, den Gang hinauf, wie ein Liebespaar im Mai.

„Wie ist’s meiner kleinen Frau ergangen, während ich fort war?“ fragte er zärtlich, „hat sie an mich gedacht?“

„Ich habe gar keine Zeit gehabt, Dich zu vermissen; ich habe Heringssalat gemacht für unsere Gäste.“

Er lachte laut und glücklich. Sie standen nun vor der Hausthür, über der noch die Tannenguirlanden hingen mit der Inschrift: „Gott segne Euren Eingang!“ Sie sahen sich ernst in die Augen, und er bog sich hinunter und küßte sie. Und um sie her wogten die Klänge der Glocken, die das alte Jahr zu Ende läuteten.

„Nehmt mich mit!“ sagte eine lachende Männerstimme hinter ihnen, „mich friert hier draußen.“ Es war Waldemar Weber.

Lucie floh erglühend in das Zimmer zu Hortense. „Sie kommen alle Beide!“ rief sie; die junge Frau wandte sich lächelnd um, sie hatte am Fenster gestanden.

Bald saßen sie am Tische, vier glückliche Menschen, und sprachen von allen möglichen Dingen, wie fröhliche Leute es thun.

Dann stand der Doktor auf. Er hielt das Glas in der einen Hand, mit der andern ergriff er Luciens Rechte. Eben schlug die alte Uhr auf der Konsole „Zwölf“.

„Ein neues Jahr,“ sprach er bewegt, „es sei gegrüßt! Möge es das Glück befestigen, welches das scheidende uns so überreich gebracht!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ge-gestanden