Die Pest
Nicht ohne anzuklopfen, weder unbekannt noch unerhört, aber auf einem früher nicht benutzten Wege hat gegen den Schluß des vergangenen Jahres die Pest ihren Eintritt in Europa gehalten, ein „neuer Feind mit altem Gesicht“. Ja, es ist viel gezeichnet worden, dieses Schreckensantlitz, zu einer Zeit, da es weder der weitschweifigen Signalements der Aerzte, noch der Beobachtungsgabe gelehrter Chronisten bedurfte, um seine Züge zu erfassen. Wem hatte es in jenem berüchtigten Pestjahrhundert nicht irgendwo einmal entgegengegrinst?“
In künstlerischer Weise und mit großer Naturtreue malt es der treffliche Alessandro Manzoni in den „Verlobten“. Der wüste Don Rodrigo kehrt im August 1630 in Mailand nach seinem Hause zurück, begleitet von einem der wenigen ihm treugebliebenen Diener. Er kommt aus einer Gesellschaft von Fremden, die sich gewöhnlich zu schwelgerischem Schmause versammelten, um die finstere Betrübniß der Zeit zu vergessen; jedesmal stellten sich neue Freunde ein; jedesmal vermißte man alte. Indem Rodrigo aber vorwärts schreitet, empfindet er ein befremdliches Mißbehagen, eine Niedergeschlagenheit, eine Schwäche in den Beinen, eine Beschwerde beim Athemholen, eine innere Hitze, die er gern ganz und gar auf Rechnung des Weines, der durchwachten Nacht oder der Jahreszeit setzen möchte. Nachdem zu Hause das Licht angezündet, betrachtet der Diener das Gesicht seines Herrn: es ist verzerrt, entflammt, die Augen hervorgetreten und glänzend. Und so hält er sich fern; denn in solchen Tagen hatte der gemeinste Knecht sich bereits das Auge eines Arztes angeschafft.
„Ich bin gesund, geh!“ sagt Don Rodrigo, da er in den Geberden des Dieners den Gedanken liest, welcher ihm durch den Kopf fliegt. „Ich bin ganz gesund, ich hab’ aber getrunken, hab’ vielleicht ein wenig zuviel getrunken. ’S war so ’n weißer, süßer Wein. Mit einem tüchtigen Schlaf ist Alles abgemacht. Er liegt mir in den Gliedern. Bring’ mir das Licht aus den Augen! Es blendet mich; ich kann’s nicht leiden.“
Nun kommt die Nacht; das Kissen drückt ihn wie ein Gebirg; [146] er wirft es weg und krümmt sich zusammen, um einzuschlafen, denn er kommt vor Schlafsucht fast um. Kaum aber hat er die Augen geschlossen, so wacht er ungestüm auf, als wenn ein Mensch im heftigen Aerger ihn geschüttelt hätte; er fühlt die Hitze steigen; die innere Unruhe vermehrt sich. Nach langem Kampfe schläft er endlich ein; den Schlaf bevölkern die schwärzesten verworrensten Träume. Ueber einem von ihm selbst ausgestoßenen furchtbaren Geheul erwacht er und strengt sich an, gänzlich wieder zu sich zu kommen und die Augen zu öffnen; denn das Licht des Tages ist ihm nicht weniger lästig als der Glanz der Kerze. Er erkennt sein Bett, sein Zimmer, begreift, daß Alles ein Traum gewesen, nur eins nicht – ein heftiger Schmerz an der linken Seite. Zugleich empfindet er im Herzen einen beschleunigten ängstlichen Schlag, in den Ohren ein summendes Geräusch, ein inneres Feuer, eine Schwere in allen Gliedern, schlimmer als da er zu Bett gegangen. Er zaudert einige Secunden, ehe er nach der schmerzenden Stelle sieht; endlich entdeckt er sie deutlicher, betastet sie mit den Fingern, blickt hin und schaudert – er wird eine Beule von mißfarbigem Violet gewahr. Er sieht sich verloren.
Nicht immer kam es zum Wiedererwachen, zu einer Erkenntniß des eigenen Zustandes. In den schwersten Pestfällen ging der rauschartige Zustand in den einer tiefen Bewußtlosigkeit über; in 24 bis 48 Stunden erfolgte der Tod, ohne daß es zu einer Ausbildung der äußerlichen Drüsengeschwülste, der Achsel- und Leistenbeulen, gekommen wäre. Innerlich allerdings waren starke Anschwellungen der Lymphdrüsen am Darm und an der Lungenwurzel fast ausnahmslos erfolgt; sie gingen den äußerlichen Auftreibungen voran und wurden bei den Sectionen kaum je vermißt. In den Erscheinungen der Blutzersetzung und der Vergiftung des Lymphsystems gesellten sich die einer gänzlichen Unterdrückung aller Absonderungen und eine Reihe sichtlicher Veränderungen an der Haut. Nicht nur daß dieselbe über den Drüsenbeulen auffällig verfärbt erschien – Blutgeschwüre größten Umfangs, harte ausgedehnte Carbunkel wie beim Milzbrand, Flecke, denen beim ansteckenden Typhus ähnlich, dunkle Blutaustritte, schwärzliche Streifen und Punkte bildeten sich an den verschiedensten Körperstellen.
Doch bezieht sich die Benennung Beulenpest in erster Reihe auf die Lymphdrüsengeschwülste, und der Name des „schwarzen Todes“ leitet sich nicht von den Hautverfärbungen, sondern von jener übertragenen Bedeutung her, in welcher das „Schwarz“ schon bei den Alten das dunkle, unvermeidliche, grauenvolle Fatum bezeichnete. Denn die Epidemien des „schwarzen Todes“, die Erscheinungen der indischen Pest, wie sie seit den ersten Jahrzehnten dieses Säculums an den südlichen Abhängen des Himalayagebirges ohne jemals ganz nachzulassen herrscht, gehören ihres furchtbar schnellen Verlaufes wegen zu den gefährlichsten Pestformen. Zu den Symptomen der Hitze, des verschwindenden Pulses, der Unterdrückung aller Absonderungen, der Hinfälligkeit, des Kopfschmerzes, des rauschähnlichen Zustandes und der Herzbeklemmung gesellen sich Athemnoth, Bluthusten und die Zeichen totaler Lungenentzündung, denen die Befallenen schnell erliegen.
Die etwas milderen Formen deuten sich dadurch an, daß die Ausscheidungen des Körpers nicht ganz unterdrückt sind, und daß mit Beginn des dritten Tages eine theilweise Rückkehr der Besinnung erfolgt. Nach seinen Klagen gefragt, deutet der Patient auf Kopf und Herzgrube, läßt aber dann, wie nach ungeheurer Anstrengung und zum Tode matt, die Hand wieder sinken und ist selten im Stande, sich in zusammenhängenden Lauten auszudrücken. Nun zeigt sich auch die Anschwellung der Drüsenbeulen sehr energisch, sodaß dieselben oft einen beträchtlichen Umfang erreichen. Die günstige Bedeutung, welche diesem Vorgange beigelegt wurde, ist jedoch keine unbedingte, die anscheinende Besserung oft trügerisch; noch bis zum fünften und sechsten Tage kann der Kranke schnell wieder bewußtlos werden, in wenigen Minuten gänzlich verfallen, sich bis zur Unkenntlichkeit verändern und sterben. Gelangt er jedoch unter unregelmäßigen Fieberanfällen, zwischen Halbschlaf und dämmerndem Bewußtsein schwankend, über den siebenten Tag hinaus, so stellen sich die Körperabsonderungen, besonders auch starker Schweiß, stellt sich klares Bewußtsein, natürlicher Schlaf, Appetit und Lebenslust wieder ein. Die größte Gefahr droht dann noch von einer Eiterung und Verjauchung der inneren Lymphdrüsengeschwülste, während die äußeren unter geeigneter Behandlung schnell der Heilung entgegen gehen.
„Wie konnten,“ so fragt der Laie und der Arzt angesichts der gegenwärtig in den südöstlichen Provinzen Rußlands herrschenden Pest, „wie konnten so auffällige Zeichen mißdeutet werden? Wie war es möglich, daß die Berichte eines russischen Stabsarztes, noch nach Hunderten von Todesfällen, von Flecktyphus und schnell tödlichen Lungenentzündungen zu erzählen wußten?“ Gestehen wir es zunächst ein, daß die Kenntnisse in der geographisch-historischen Pathologie, der Wissenschaft, welche sich mit den erloschenen oder erloschen geglaubten und mit denjenigen Krankheiten beschäftigt, welche in außereuropäischen Ländern, in einzelnen klimatischen und geographischen Bezirken herrschen, ganz allgemein eine beklagenswerth geringe ist. Die heute vorherrschende sinnlich-praktische Ausbildung in der Medicin gönnt derartigen für theoretisch verschrieenen Studien keinen Raum. Demnächst sei erwähnt, daß die Pest von manchen Forschern wegen der Symptome der Blutvergiftung, der Betheiligung des Gehirns und der des Haut- und Lymphgefäßsystems den typhösen Krankheiten im weiteren Sinne angereiht worden ist, und daß ja in der That großartige Lungenentzündungen sie begleiten können. Aber die Art der Entwickelung, die Form des Fiebers, eine Reihe sonstiger Symptome, vor Allem aber die ungeheure Sterblichkeit und der kurze Verlauf sprechen auf’s Schreiendste gegen jede Form des Flecktyphus und gegen jede bekannte Art von selbstständiger Lungenentzündung. Keine noch so crasse Unwissenheit, keine noch so systemklügelnde Spitzfindigkeit kann jene unwahren ärztlichen Berichte rechtfertigen; die Verantwortlichkeit ihres Verfassers wäre eine ungeheure geworden, wenn, wie es leicht hätte geschehen können, die Ortsregierung des Astrachaner Bezirks die Absperrung der Seucheherde aufgehoben hätte.
Noch an zwei anderen Stellen müssen wir den vertuschenden Berichten über die heutige Epidemie jede Stütze entziehen. Ihr ungewöhnlicher Weg kann schon deshalb nicht zur Entschuldigung des Verkennens dienen, weil die Seuche ihn nicht unangemeldet beschritt. Kleinere Epidemien hatten 1863 in den Bergdistricten des nordöstlichen Persiens, 1870 im persischen Kurdistan geherrscht, zunächst ohne die türkische Grenze zu überschreiten. Im Jahre 1873 bis 1875 trafen Ausbrüche der Pest das südliche Mesopotamien; 1876 wurde Bagdad ergriffen, wo 4000 Einwohner starben, und eine in Reschd am Kaspischen Meere im Jahre 1877 wüthende Seuche wurde von dem Leibarzt des Schahs von Persien bereits im April desselben Jahres als Pest erkannt. Von Reschd nach den Wolgamündungen und den Handelsplätzen des östlichen russischen Kaukasus mag sie dann schnell gelangt sein, – unerwartet oder gar verkannt jedoch nur von Denen, welche sie verkennen wollten. – Endlich konnte man fragen: „Wie sollte aber gerade die Form der Pest hier erwartet und sofort erkannt werden, welche man in Indien heimisch glaubte, da doch sicher Lungenblutungen in der diesjährigen Epidemie vorgekommen sind?“ Es ist vor Allem nirgends erwiesen, daß die indische Pest (der schwarze Tod) und die orientalische Pest sich gegenseitig ausschließen. Der Schrecken war zur Zeit der Epidemien so groß, daß Niemand genau darauf achtete, ob nur Fälle mit Lungenblutungen oder daneben auch solche reiner Beulenausbrüche vorkamen. Ging doch in der allgemeinen Aufregung das Unterscheidungsvermögen derart verloren, daß die Aerzte behaupteten, alle anderen Krankheiten hörten während der Pestzeit auf. Wahrscheinlich kommt eine Betheiligung der Lungen auch bei der orientalischen Pest weit häufiger vor, als dies in den älteren Beschreibungen erwähnt wird.
So fallen bei näherem Zusehen fast alle Entschuldigungen für jene Vertuschungsversuche fort, wenn man nicht den Umstand dafür nehmen will, daß ein Bestreben, die Pest zu verleugnen, nicht blos in der Pestgeschichte Rußlands, sondern auch anderswo schon öfter dagewesen ist. Klingt es nicht wie in unseren Tagen geschrieben, wenn Ripamonti, der oberitalische Chronist, sich 1640 wörtlich äußert: „Im Anfange also keine Pest, durchaus keine; selbst das Wort hören zu lassen verboten. Dann großartige Fieber; der Begriff durch ein untergeschobenes Wort verdreht. Nachher keine wahre Pest; nämlich eine Pest, aber nur in einem gewissen Sinne; nicht eine eigentliche Pest, sondern etwas, wofür sich kein anderer Name findet. Endlich Pest ohne Widerrede.“
Wir sehen jetzt, da alle Zweifel über den Charakter der Seuche beseitigt sind, Rußland in einem neuen Kriege, im Kampfe mit der Pest, und interessiren uns aus Gründen, die [147] keiner Erörterung bedürfen, zunächst für die Bundesgenossen beider kämpfenden Mächte, der Seuche wie der Menschen. Wohl ist es zuzugeben, daß für manche Bezirke starke Durchfeuchtungen des Bodens, für andere Nahrungsmangel und Hungersnoth, für noch andere abscheuliche Mißbräuche in der Handhabung des Leichenwesens als mächtige Beförderungsmittel der Pest sich erwiesen haben. Doch ist die Krankheit an solche Einzelmomente nicht gebunden. Die durchgreifendste Bedeutung hat eine Verkommenheit der unteren Volksschichten, mangelhafte Lüftung und Schmutz in den Wohnungen, tiefgreifende Verunreinigung des Bodens, enges Zusammenleben armseliger Bewohner. Wer russische Verhältnisse kennt, wird zugeben müssen, daß die Pest in den aufgezählten Momenten ihre gewohnten Alliirten vorfindet, daß die socialhygienischen Zustände des Landes ihre Verbreitung begünstigen. Dazu kommt eine gewisse Panik in den besser situirten Kreisen, die sich schon durch starke Auswanderungen nach dem Westen und Norden bemerklich gemacht hat, die Rohheit des niederen Beamtenstandes, die Bestechlichkeit Derer, welchen die Absperrung der verseuchten Orte anvertraut ist. Warnende Stimmen haben auch besonders hervorgehoben, daß die Pilgerzüge und Messen, welche um die Frühlingszeit das russische Landvolk von Alters her in gewissen Mittelpunkten vereinigen, sich leicht der Seuche dienstbar erweisen könnten. Die Regierung hat einen schweren Stand; sie muß die militärischen und finanziellen Hülfsmittel des Landes anstrengen und dasselbe gleichzeitig die wirthschaftlichen Nachtheile tragen lassen, welche die Grenzsperre mit sich bringt. Sie muß ferner schwer durchführbare Sanitätsmaßregeln, wie das Niederbrennen ganzer Dörfer, durchsetzen und dieselben einer durch den Krieg verwilderten Soldateska anvertrauen, welche zu Allem fähiger erscheint, als dazu, die geängstigte und mißvergnügte Landbevölkerung mit den Regierungsmaßnahmen zu versöhnen. Ein Bauernaufstand aber müßte als einer der gefährlichsten Pestalliirten angesehen werden.
Sehen wir uns nun die Bundesgenossen des anderen Theiles an! Die natürlichen Anwälte des Menschengeschlechts im Kampfe mit einer Krankheit sind die Aerzte. Bis zum Jahre 1864 gab es in Rußland auf dem Lande, in den Dörfern und auf den Gütern so gut wie keine Aerzte, denn diejenigen, welche von reichen Edelleuten engagirt waren, bildeten eine so kleine Zahl, daß sie für die vierzig Millionen von keiner Bedeutung waren. Als dann im genannten Jahre das Institut des „Semstwo“ – der landschaftlichen Selbstverwaltung – in’s Leben trat, war der Aufbau medicinischer Einrichtungen von Grund aus neu aufzuführen, vollzog sich aber mit einer Schnelligkeit und Energie, welche bewiesen, daß es sich um ein natürliches Bedürfniß handelte, dessen sich kein Volk entschlagen kann.
Kaum einige Jahre waren verflossen, so gab es schon Hunderte von Aerzten in Gegenden, wo nie vorher daran gedacht worden war. Doch befanden sich die Verhältnisse noch lange im Stadium der ersten Entwickelung; es war unmöglich , für jedes größere Dorf, ja nicht einmal für vier bis fünf Dörfer einen Arzt zu bestellen, weil Geld und Aerzte fehlten; die Letzteren, mit dem vielen Umherfahren unzufrieden, wechselten oft ihre Stellen, erschienen in den Dörfern wie Meteore und verschwanden ebenso; gegen ihre Gehülfen, die in den Dörfern postirten Feldscheere, erhoben sich nicht enden wollende Klagen. Da entstand – zuerst unter den Aerzten des Gouvernements Twer im Jahre 1870 – der Gedanke, in eigenen Congressen die Medicinalangelegenheiten zu berathen, und seit dieser Zeit ist von einem Einflusse der Aerzte auf die Verbesserung der Volksgesundheit wenigstens die Rede. In einigen Gouvernements sind sogar besondere Aerzte angestellt, welche sich speciell mit epidemischen Krankheiten zu befassen und Alles anzuordnen haben, was sich bis zum Schlusse der Epidemien als nöthig erweist.
So erscheint Rußland nicht so vollkommen entblößt, wie man nach älteren Nachrichten zu glauben geneigt gewesen wäre. Einen der glücklichsten Umstände haben wir ferner darin zu suchen, daß die Gefahr der Krankheit vor dem Zeitpunkte erkannt wurde, in welchem schwer widerrufliche Dispositionen hinsichtlich größerer Truppenbewegungen gegeben wurden. Die nach früheren Kriegen so furchtbare Gefahr, daß die Pest in Reih und Glied der Colonnen mitmarschirt, überall ihre Opfer als lebendige Pestkeime ausstreut, jeden berührten Ort als Krankheitsherd zurückläßt – sie ist angesichts der Aufmerksamkeit, mit welcher ganz Europa jenen Truppenbewegungen folgt, unmöglich.
Mißverständlicher Weise haben die Pestbülletins ein großes Gewicht auf die Kälte gelegt und in einer Temperatur von – 10° bis – 15° eine Art von Schutz gegen die weitere Verbreitung der Epidemie finden zu sollen geglaubt. Ständen die Dinge wirklich so, dann wäre jede Nachricht über milderes Wetter, das wir doch sicher im natürlichen Verlaufe der Jahreszeit zu erwarten haben, schon als Alarmsignal zu betrachten. Glücklicherweise ist dem nicht so. Auf europäischem Boden hat die Pest vielfach in harten Wintern epidemisch geherrscht, so 1574 in Heidelberg, 1625 in London, 1710 in Marienburg, 1837 bis 1838 in Rumelien, wo sie bei einer Temperatur von – 13° an mehreren Orten ihre Höhe erreichte und erst gegen Ende des Frühlings erlosch. Man hat bei flüchtiger Betrachtung dieser Verhältnisse die Einzelerfahrung, daß die Pest in Constantinopel gewöhnlich im Januar aufhörte, viel zu sehr verallgemeinert, und es ist eine unbegründete Furcht, in der man vielfach im Herannahen des Frühlings an sich einen Wendepunkt für die Bedingungen der Pesterzeugung erblickt: Klima und Temperatur verhalten sich sowohl der Pest, wie den sie Bekämpfenden gegenüber neutral.
Daß die russische Regierung die Macht des Feuers in weiter Ausdehnung zu Hülfe rufen will, ist allgemein bekannt; weniger vielleicht, daß seitens ärztlicher Commissionen und des „rothen Kreuzes“ Vorkehrungen in’s Werk gesetzt worden sind, um durch Herstellung von Unterkunftsplätzen, Gratisverabreichung von warmer Nahrung, Ersatz inficirter Kleidung etc. dem Pestelend – und durch das eigene tapfere Beispiel dem Pestschrecken und der sinnlosen Flucht entgegenzutreten. Beide sind, wie bereits angedeutet, neben dem Vertuschungssystem, die furchtbarsten Alliirten der Pest und würden all die günstigen Momente, welche wir auf russischer Seite entdecken konnten, schnell aufwiegen.
Und dann? – Was hat zu geschehen, wenn der Feind sich der gegen ihn angewandten Taktik als überlegen erweist, wenn er, der ihn umzingelnden Cordons spottend, stetig im Rücken derselben erscheint, wenn er mit dem Winde und den Vögeln in der Luft, auf dem Rücken des Paschers geographische und politische Grenzen überschreitet, wenn er wie ein gährendes Giftatom unbemerkt in das Adernetz der europäischen Eisenbahnen sich einschleicht und plötzlich in irgend einem Centrum des Verkehrs entdeckt wird? Die staatliche Fürsorge hat in schnellgefaßter Besonnenheit, mit Benutzung aller bekannten Erfahrungen diesen Möglichkeiten vorzubeugen gesucht, doch werden jene „Wenn“ nicht eher in Vergessenheit kommen, als bis der letzte Pestort seines letzten Kranken ledig ist; bis dahin sollen sie nicht den Zaghaften erregen, sondern den Verstand des Besonnenen schärfen.
Eine rücksichtslose Offenheit würde uns über jede Bewegung der Krankheit, über jede Maßregel gegen sie seitens des Staates in Kenntniß setzen; die so vielbewährte Wohlthätigteit würde, wie in unseren Feldzügen, nicht müde werden, unerschöpfliche Hülfsmittel zu sammeln und an die geeignete Stelle zu bringen; reicher Ersatz aus den Fonds des Staates und der Wohlthätigkeit würde die Opferwilligkeit in Bezug auf verdächtig gewordenes Eigenthum unterstützen. Frei und gesund gelegene, nach den erprobtesten Mustern in Barackenform aufgebaute Isolirspitäler würden die Kranken bei vorher bestimmter geringer Belegungszahl aufnehmen; tüchtige Aerzte und Krankenpfleger in größter Anzahl würden sich an die bedrohten Orte begeben. In jeder Gemeinde würden organisatorische Vereinigungen entstehen, stets bereit zu Belehrungen und zweckmäßigen Anordnungen; jeder Ort würde seine Desinfectionsanstalt, jeder, was wir besonders betonen möchten, seinen Feuerbestattungsplatz haben, um, nach bereits erprobtem Verfahren, gleichzeitig die Todten zu ehren und die Lebenden zu schützen. So denken wir uns den schlimmsten Fall. Und diese „Hoffnungen in der Furcht“ würden sich nach unserer Ueberzeugung erfüllen – oder all unsere Cultur und unsere veredelten Gefühle, unsere Humanität und unsere Wissenschaft wären eitel Dunst.
Die Ansteckungsfähigkeit der Pest ist übrigens nach den Aussprüchen der bedeutendsten Epidemiologen eine höchst bedingte. Weder die Berührung des Kranken und dessen, was ihn umgiebt, noch die der Leiche rufen ohne Weiteres die Krankheit wieder hervor. Es bedarf eines geeigneten Mediums, eines reifenden Bodens, um den Keim der Krankheit zu einer Blüthe [148] zu bringen, welche ihrerseits erst die Erkrankung eines zweiten Individuums zur Folge hat. So lange diese Entwickelung des Keims nicht eingetreten ist, kann eine gesunde und gesund bleibende Person sein Träger und Verschlepper sein, wie ein Schiff mit dem Ballast Keime verschleppt, die zwar einst nach Berührung mit Luft, Licht und Wärme, aber nicht im Schiffe selbst zur Entwickelung gelangen. Stimmt doch diese wissenschaftliche Anschauung in so vollkommener Weise mit den Erfahrungen überein, denen die Briefe Moltke’s aus dem Jahre 1837 in Bezug auf die Pest Ausdruck geben: „Es gehört gewiß eine besondere Concurrenz von unglücklichen Umständen dazu, um durch bloßes Begegnen eines Kranken angesteckt zu werden.“
Allgemein wird in älteren Berichten die Machtlosigkeit der Heilkunst beklagt. Auch die diesjährige Epidemie weist bis jetzt wenig Tröstliches in dieser Beziehung auf. Wir erinnern aber an die Fortschritte auf dem Gebiete der Desinfection und den Umstand, daß das bei der Pest noch nie in ausgedehnter und systematischer Weise angewandte Chinin sich so vielen krankmachenden Einflüssen gegenüber als vortreffliches Vorbeugungsmittel bewährte. Endlich denken wir unwillkürlich an die mächtigen Wirkungen, welche ein erst ganz neuerdings entdecktes Heilmittel, das Alkaloid der Jalaorandipflanze (Pilocarpin), auf die Beförderung aller Ausscheidungen unzweifelhaft ausübt. –
Den Regierungen endlich legen die Ereignisse die Fragen nach der Einrichtung ständiger internationaler Seuchencommissionen und einer Wiederholung jener Maßregel der französischen Regierung, welche von 1844 bis 1858 eigene Aerzte zur Beobachtung der Pest in Kairo stationirte, sehr nahe. Die Sanitätsverwaltungen müssen leider auch heute noch Feldzüge unternehmen, ohne sich auf Vorposten und Kundschafter stützen zu können, weil deren Beschaffung angeblich zu kostspielig ist. Wie man aber auch rechnen möge: gegenüber dem ungeheuren materiellen Verkehrsverluste, den auch nur die Ungewißheit über die Natur der Seuche zur Folge hat, erscheint die reichste Dotation von einem halben Dutzend tüchtiger, ständiger Beobachtungsärzte als eine wahre Kleinigkeit.
Wenn ein mächtiger unterirdischer Quell in der einsamen Senkung eines Gebirgsthales plötzlich durch das Erdreich bricht, wenn er seine Umgebungen überströmt und endlich weit und breit Alles mit einem gleichmäßigen Wasserspiegel bedeckt, – wer vermag dann genau zu sagen, an welcher Stelle das Unheil seinen Anfang nahm? Zwar ist es Diesem oder Jenem noch dunkel in der Erinnerung, daß eine Uferstrecke erst neuerdings bedeckt wurde, aber eine genaue Vorstellung von der Zeitfolge, in der Alles verschwand, von dem Punkte des Durchbruchs läßt sich nicht gewinnen. Da fängt der Quell an, schwächer zu fließen; immer mehr Erdreich wird frei, und endlich legt sich von wenigen noch übrig gebliebenen kleinen Seen auch der vorletzte trocken: im letzten findet man die Durchbruchsöffnung des verhängnißvollen Quells.
Unter diesem Bilde stellen sich uns die geographischen und geschichtlichen Verhältnisse der Verbreitung der Pest dar. Grausend und wehklagend eröffnen uns die Chronisten des vierzehnten Jahrhunderts den Ausblick auf die Hochfluth des „großen Sterbens“, wie es den asiatisch-europäischen Continent von den Ostgrenzen Chinas bis zum atlantischen Ocean überzog; selbst entsetzt und Entsetzen erregend zeigen sie uns, wie von den 105 Millionen Menschen Europas 25 Millionen der Pest zum Opfer fielen. Wer fragte damals nach einer Beweisführung, ob alle die als „Pest“ oder „Pestilenz“ verzeichneten Volkskrankheiten des Mittelalters diesen Namen auch verdienten? Wer mochte auf der Flucht und im Schrecken prüfen, ob die erste wirkliche Pest unter Justinian im Jahre 543 nach Europa gelangte, oder ob man berechtigt war, im engeren Sinne zu sprechen von der Pest des Thucydides? Wer konnte sich so gründlich in die Tiefe des allgemeinen Unglücks versenken, um die Quelle zu entdecken, von welcher aus die Seuche über die Welt gekommen war?
Als durch die Forschung gesichert darf angenommen werden, daß in Europa die große Pest der Jahre 1346 bis 1347 am frühesten in Sicilien, Cypern, Griechenland, Sardinien und Corsica ausbrach, daß sie sich im folgenden Jahre von den südlichen Küsten her über Spanien und Frankreich, gleichzeitig von hier aus nach England und von Italien nach Dalmatien verbreitete. Das Jahr 1349 bringt die Verseuchung Deutschlands sowohl von Kärnthen und Mähren, wie andererseits vom Rhein aus, während gleichzeitig von England her Norwegen, Schweden, Dänemark und Schleswig-Holstein ergriffen wurden. Von Süden und von Norden her treffen dann beide Ströme der Seuche in Norddeutschland zusammen, und zu gleicher Zeit werden in östlicher Richtung Ungarn, Böhmen und Polen, endlich 1350 und 1351 Rußland – zuerst das mittlere, dann das nördliche und südliche – überfluthet. Die Angaben, daß in Wien 40,000, in Neapel 60,000, in London 100,000 Pesttodesfälle innerhalb weniger Monate vorgekommen, erscheinen fabelhaft, obgleich sie sich auf die übereinstimmenden Zeugnisse der glaubwürdigsten Berichterstatter stützen.
Von 1357 bis 1360 erneuern sich an verschiedenen Stellen Europas die wüthendsten Pestausbrüche, sodaß zuerst die Donauländer, dann Oberitalien und England, 1360 Ostdeutschland, Polen und Rußland in der entsetzlichsten Weise heimgesucht werden. Doch beginnt in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts eine entschiedene Ebbe, besonders auch bezüglich der Tödtlichkeit der Pest. Der sehr angesehene Arzt Chalin de Vinario stellte eine Vergleichung der durch die verschiedenen Pestepidemien verursachten Sterblichkeit an und kam zu dem Resultat, daß im Jahre 1348 zwei Drittel der Bevölkerungen erkrankten und dabei fast keiner genesen sei; 1361 sei die Hälfte erkrankt, sehr wenige genesen; 1371 betrug bei Genesung Vieler die Zahl der Erkrankungsfälle ein Zehntel, und auf die Epidemie von 1382 rechnet er nur ein Zwanzigstel Erkrankungsfälle, von denen die meisten in Genesung übergingen.
[180] Die Hochfluth der Seuche war vorüber; sie beginnt bereits im fünfzehnten Jahrhundert von den erreichten Grenzen zurückzutreten. Wird auch in den Jahren 1409 bis 1430 Rußland, in den schlimmen Jahren 1449, 1460, 1473 Deutschland, gegen das Ende der siebenziger Jahre Italien stark von der Pest befallen, so finden wir doch eine gleichzeitig und gleichmäßig ausgedehnte Verseuchung weder in diesem noch in dem folgenden Jahrhundert wieder, das nur noch zwei größere Pestepidemien (1533 und 1574) aufzuweisen hat.
Im siebenzehnten Jahrhundert beginnt bereits eine definitive Befreiung für einen Theil der früher verseuchten Länder Europas. England, das sich schon frühzeitig durch ein sehr ausgebildetes Sperrsystem zu schützen versucht hatte, übersteht 1665, Irland bereits im Jahre 1650 seine letzte Epidemie. Nordfrankreich und die Schweiz kennen nach 1668, Spanien nach 1681, Schweden und Dänemark sogar nach 1657 keine Pest mehr. Das westliche Deutschland reinigt sich um 1667, ein großer Theil des östlichen von 1682 ab. Auf anderen Punkten ist die Befreiung nur eine scheinbare: mit neuer Kraft stößt der Strom der Seuche noch in den beiden ersten Decennien des 18. Jahrhunderts über die Türkei nach Ungarn und Polen, nach Schlesien, Posen, Preußen, Rußland, nach Steyermark, Böhmen und der Lausitz vor, mit einer verheerenden Welle überschwemmt sie den Süden Frankreichs im Jahre 1721. Dann erfolgt ein weiteres Ebben: Siebenbürgen, Ungarn, Südrußland, Polen, Dalmatien, kurz die der Türkei zunächst liegenden Gebiete stellen sich in dieser Periode (1717 bis 1797) als die Ufer des Pestbezirkes dar. Im Anfange des laufenden Jahrhunderts walten ähnliche Verhältnisse, nur daß das eigentliche Pestgebiet sich immer mehr einengt und nur durch gelegentliche Durchbrüche (nach der Walachei, nach Griechenland, nach Siebenbürgen, den Küsten Italiens) von der Gefährlichkeit seiner Nachbarschaft Beweise liefert. Nach 1830 endlich lernen wir als einzig von der Pest leidende Gebiete noch die europäische Türkei, Syrien und Aegypten kennen und sehen die Bewohner dieser Länder im Streit über den unheilvollen Besitz: die Aegypter behaupten, daß ihnen die Pest stets aus der Türkei und Syrien, und die Syrer, daß ihnen die Krankheit immer aus der Türkei und Aegypten gebracht worden ist. Am heftigsten aber lehnten die Türken es ab, die ursprünglichen Erzeuger und Besitzer der Pest zu sein, und wurden nicht wenig in ihrer Behauptung bestärkt, als nach der Einführung strenger Quarantänen, das heißt seit dem Jahre 1838, die Krankheit auch aus Constantinopel wie aus der ganzen europäischen Türkei spurlos verschwand, während sie in Kleinasien und Aegypten noch mehrere Jahre später verheerend auftrat.
Was – im Hinblick auf unser Eingangs gebrauchtes Bild – das Anschwellen der Pestfluth bis 1346 betrifft, so ist uns in der That der Vorgang desselben fast verborgen. Erst nach langem Streiten ist die Frage über das erste Auftreten der Pest in Europa dahin entschieden worden, daß nicht das Jahr 430 vor, sondern das Jahr 543 nach Christi Geburt als dieser verhängnißvolle Zeitpunkt anzusehen ist: Thucydides beobachtete in jenem Jahre – wie man jetzt allgemein annimmt – nicht die Pest, sondern eine typhusartige Seuche, und erst dem Zeitalter des Kaisers Justinian war es vorbehalten, die Pest in Byzanz kennen zu lernen und sie als neue Krankheit zu beschreiben. Die Ergebnisse der Pestforschung über das siebente bis dreizehnte Jahrhundert aber kommen selbst diesem Resultate auch nicht annähernd gleich. Die Schriftsteller dieser Zeit liefern eben keine naturgetreue Beschreibungen, sondern begnügen sich, die Dauer der Seuche, die Zahl der von ihnen hingerafften Opfer anzugeben und vom Zorne Gottes, von widrigen Constellationen, Erdbeben, Meteoren und ungünstiger Witterung zu erzählen, ohne sich um die Entstehung und Ausbreitung der Epidemien, um ihre Ausgangspunkte und Wege zu kümmern. Dürfen wir nun – so fragen wir weiter – wenigstens in Beobachtung des allmählichen Zurücktretens schließen, daß die verengten Grenzen der jetzt noch übrigen Pestbezirke den Quellboden der ganzen Seuche darstellen? Ein Zufall hat das Rechte geliefert, mit einiger Zuversicht diese Frage zu bejahen, und dieser Zufall war eine Entdeckung in der Bibliothek des Vaticans, welche in das Ende der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts fällt. Der Cardinal Angelo Mai fand dort eine Handschrift des Oribasius auf, in welcher nach Rufus von Ephesus, der im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte, Stellen aus einem alten griechischen Schriftsteller Dionysius (wahrscheinlich 280 vor Christo) angeführt werden. Dieser beschreibt dir Pestbubonen und das hitzige Fieber und bemerkt ausdrücklich, „daß diese Zustände vorzüglich in den Gegenden von Libyen, Aegypten und Syrien entstehen“. So bleibt, wenn wir diesen unbefangenen Worten Glauben schenken wollen, von dem ganzen große Gebiet, auf welchem die Pest geherrscht, nur Kleinasien, Syrien und Aegypten übrig, in denen wir die Heimath der Pest suchen und vermuthen dürfen. Die letzte Pestepidemie in Syrien hatte im Jahre 1841 bis 1842 geherrscht; in Aegypten war die Seuche 1841 noch sehr verbreitet; 1843 beschränkte sie sich auf die Gegenden am östliche Nilarme; seit 1845 schien sie auch hier vollkommen verschwunden zu sein. – Eine eigentümliche fragwürdige Stellung nehmen bis jetzt die indischen Pestbezirke ein. Denn wenn es auch allenfalls zuzugeben ist, daß die Epidemien in Kutch und Sindh, sowie in Pali (dem Hauptstapelplatz für den Handel zwischen der Küste und den nordwestlichen Provinzen von Indien) auf Einschleppung von der Levante aus beruhen könnten, so wird dies von der Pest der an den südlichen Abhängen des Himalaya gelegenen Provinzen Gurwal und Kumaon doch kaum behauptet werden dürfen, und die Vermuthung erscheint nicht ungerechtfertigt, daß auch in den wenig durchforschten Theilen Indiens und Chinas Stammländer der Pest existiren können, die nur deshalb als solche unbekannt geblieben sind, weil sie keine Gelegenheit zur Weiterverschleppung der Krankheit darboten.
Jede auf gewisse geographische Bezirke beschränkte oder nur in bestimmten Zeitabschnitten auffallend herrschende, dann wieder zurücktretende oder ganz verschwindende Krankheit regt in hervorragender Weise den Scharfsinn an, die besonderen Umstände zu erforschen, welche vorhanden sein mußten oder fehlten, um so auffällige Erscheinungen zu erzeugen. Hinsichtlich des Ortes der Epidemien interessiren uns Klima, Lage und Bodenverhältnisse, hinsichtlich der Zeit besondere Wetter- und Erdveränderungen, Völkerwanderungen und die wechselnde Lebensweise der Menschen.
Es stellt sich bald heraus, daß die Wichtigkeit des geographischen und klimatischen Elements bei der Pest eine sehr verschiedene ist, je nachdem es sich um die Stammländer oder um die in zweiter Reihe befallenen Bezirke handelt. Während für die ersteren wichtige Fingerzeige auf gewisse Bedingungen des Klimas und des Bodens hinweisen, bedarf es für die letzteren nur der Einschleppung eines wohlgezüchteten Pestkeimes, um jede dieser Einflüsse als gleichgültig erscheinen zu lassen.
„Nicht die Verschiedenheit des Himmelsstriches, nicht der Süden oder die reine Luft des Nordens, nicht Wärme noch Kälte des Klimas vermögen die entsetzliche Krankheit aufzuhalten. Sie dringt in die Gebirge, wie in die Thäler, in Binnenländer, wie zu Inseln, in Ebenen, wie in hügeliges Gelände; nicht Wald noch See noch Sumpf läßt sie verschont. Sie folgt dem Menschen auf den Wellen des Oceans; sie dringt in Dörfer, Lager und Städte. Vergebens wird die Kälte des Winters herbeigesehnt, die Seuche achtet nicht der Milde des Frühlings, noch der Gluth des Sommers, nicht des Wechsels des Mondes und des Standes der Gestirne, nicht des feuchten Südwindes und rauhen Nords.“ Dies sind die Worte eines der wichtigsten Pest-Berichterstatter, des belgischen Arztes Covino.
Etwas anders liegen, wie bereits angedeutet, die Verhältnisse hinsichtlich des Klimas der Stammländer, besonders Aegyptens. Das Erlöschen der Epidemien fällt hier nach übereinstimmenden Zeugnissen mit dem Auftreten der stärkeren Sommerhitze (22 bis 25 Grad Réaumur) zusammen; niemals hat ferner die Krankheit Assuan (nahe der Grenze von Nubien) überschritten, um in dieses einem tropischen Klima unterworfene Land einzubrechen. Diese beiden Thatsachen sind jedoch die einzigen, welche selbst hier für klimatische Zusammenhänge sprechen; der von älteren Beobachtern behauptete gefährliche Einfluß des Wüstenwindes (Chamsin) ist längst durch Widersprüche in Frage gestellt worden.
In ähnlicher Weise läßt sich für Aegypten eine Eigenthümlichkeit des Bodens ermitteln, welche als pestbegünstigend angesehen werden darf: die Nilüberschwemmungen. Die überwiegend meisten Beobachter sprechen sich dafür aus, daß fast stets durch dieselben herbeigeführte sehr starke Durchfeuchtungen des Bodens der Pestentstehung wesentlich förderlich gewesen sind. Selten und sparsam trat sie in den sandigen Theilen und der Wüste auf; an den Nilufern, in den niedrig und feucht gelegenen Stadtteile Kairos herrschte sie vor. Doch wäre es vollkommen [181] unzulässig, diese Thatsache für die Wanderzüge der Pest zu verallgemeinern oder gar ihr eine Verwandtschaft mit den „Sumpffiebern“ aufdrängen zu wollen. Auf Kreide und Trachyt, auf Kalkboden und Urgestein hat sie sich ausgebreitet, und die selten angeführten Fälle, in denen sie einen hohen Berg oder eine Hügelkette verschonte, lassen bei ihrer Vereinzelung alle anderen Erklärungen ebenso gut zu wie die, daß die Krankheit durch die Bodenhöhe abgehalten werde. Auffallend ist übrigens, daß mit völliger Uebereinstimmung aus den großen Pestjahren des vierzehnten Jahrhunderts unerhörte Naturerscheinungen, so 1337 und 1338 in China sechstägige und zehntägige Erdbeben, 1348 allgemeine Erderschütterungen durch ganz Europa, Orkane, Sturmfluthen, Ueberschwemmungen, berichtet werden, um so auffallender, als die gegenwärtige Epidemie mit den nämlichen Naturerscheinungen zusammentrifft. (Man könnte wirklich versucht sein, die Falb’sche Hochfluth-Theorie mit ihrer auch nach Pettenkofer seuchenbefördernden Grundwasserhebung zur Erklärung herbeizuholen; wenn die Theorie nur wissenschaftlich anerkannt wäre! D. Red.)
Man muß mit einigem Befremden eingestehen, daß für eine dem Anschein nach so streng begrenzte Krankheit das Ergebniß der geographischen und klimatischen Bedingungen ein dürftiges ist, und mit um so größerem Interesse wenden wir uns dem Menschen selbst und denjenigen menschlichen Verhältnissen zu, welche zur Erklärung der Pestentstehung herangezogen werden können. Kein Lebensalter wird verschont; in gleichem Maße sinken Männer und Frauen, Greise und Kinder dahin; vereinzelt wird angegeben, daß jenseits des fünfzigsten Lebensjahres die Erkrankungen seltener seien; daß junge Mädchen und hoffnungsvolle Mütter stärker ergriffen werden; daß ein melancholisches und phlegmatisches Temperament mehr disponire als ein sanguinisches und cholerisches. Auch hinsichtlich der Racen finden sich nur zerstreute Angaben: ein stärkeres Erkranken der Neger in Aegypten, ein Freibleiben der Engländer von der Himalayapest werden erwähnt. Viel dreister und bestimmter treten schon in alten Pestberichten Erklärungen auf, nach denen die Seuche am frühesten und stärksten in den niederen Volksclassen ihre Opfer suchte.
„Diese Haufen von Armseligen und Schlechtgenährten,“ sagt Covino, „die unter dem unbeschränkten Einflusse des feindlichsten der Gestirne, des Saturnus stehen, fallen dem Todesengel vor Allen zur Beute. Nächst ihnen erliegen Personen von mittlerer Körperstärke, die dem Monde und Mercur Untergebenen, während dagegen Vornehme, Heerführer und Richter, denen alle Bequemlichkeit und jeder Genuß des Lebens beschieden ist, selten ergriffen werden.“
Diese Beobachtung, die sich ähnlich ausgedrückt in den meisten Darstellungen wiederfindet, führt fast unmittelbar auf die Frage, ob man Elend, Hunger und Schmutz etwa auch für die Entstehung der Pest verantwortlich zu machen habe?
Zur Beantwortung dieser Frage verlohnt es sich wohl, einen prüfenden Blick auf das Stammland der Pest zu werfen. Wer, wie der Verfasser dieses Aufsatzes vor zwei Jahren, Aegypten bereist hat, wer aus eigener Anschauung jene zerfallenden Lehmhöhlen der ägyptischen Dörfer kennt, wer mit schaudernder Verwunderung die starrenden Schmutzkrusten auf dem Leibe und in den Kleidern der Bewohner betrachtete und – roch, wer die gänzliche Indolenz begreifen lernte, mit der die Aegypter sich von Krankheiten und [182] Ungeziefer zerfressen lassen, wird mit schneller Ueberzeugung bereit sein, dort Alles wiederzufinden, was von dieser Seite her für die Pesterzeugung geltend gemacht werden könnte. Hinsichtlich der Nahrung sei es gestattet, folgende Bemerkungen aus des Verfassers „Geographisch-medicinischer Reise um die Erde“ zu wiederholen, welche am kürzesten über diese Frage orientiren: „In den Hospitalberichten über eingeborene Kranke spielen fieberhafte Magendarmaffectionen, Schwindsucht, Scrophulose, Typhen die Hauptrolle. Alle Welt leidet in diesem Lande an Verdauungsbeschwerden, und wie kann es anders sein unter einer so erbärmlichen Bevölkerung, welche sich von ungekochten Speisen nährt, von allerlei schlechter Pflanzenkost, von Käse und schwerem hartem Brod, das außerordentlich arm an stickstoffhaltigen Bestandtheilen und schwer zu verdauen ist. Der Mensch ist hier fast nur Pflanzenfresser; die seltenen Fleischmahlzeiten bestehen aus geschmacklosem, trockenfaserigem, oft auch aus direct verdorbenem Fleisch.“ Für die Anschauung, welche die Pest direct aus derartigen Zuständen hervorgehen ließ, spricht noch Manches: Schilderungen der indischen Pestländer schließen sich in Bezug auf das erbärmliche stumpfsinnige Schmutzdasein der Bewohner sehr nahe an die in Aegypten herrschende Misère an, und die Erfahrung hat auch bei den Wanderzügen der Pest ausnahmslos gelehrt, daß sie da am besten gedeiht und Herrschaft gewinnt, wo die Bevölkerung sich am weitesten vom Ideale eines civilisirten Zustandes entfernt.
Doch hat die Forschung sich nicht der Ueberzeugung verschließen dürfen, daß es auch sehr elende Bevölkerungen giebt, wohl noch weit unter den Aegyptern stehende, welche nie zu der traurigen Berühmtheit gelangt sind, hervorragende Pestgebiete oder gar Stammländer der Pest zu bewohnen. Diese Ueberzeugung hat einige französische Gelehrte dazu gedrängt, Aegypten in einer anderen Beziehung zum Gegenstande ihrer Untersuchungen zu machen. Die hierher von der französischen Regierung im Jahre 1828 entsandte Commission faßte das Zeugniß des Herodot und Strabo in’s Auge, welche das gesunde Klima Aegyptens preisen und seinen Bewohnern ein besonders langes Leben nachrühmen, und hielt einen Gegensatz zwischen jenen alten glücklichen Zuständen und den selbsterforschten für ausgemacht. Es schien ein gänzlicher Umschwung stattgefunden zu haben, und da die von uns angeführte Stelle des Rufus damals noch unentdeckt war, konnte es geschehen, daß man die Pest in derselben Zeit zuerst in Aegypten auftreten ließ, welche für Europa als erste Pestperiode festgestellt war, man nahm das Jahr 543 als das Jahr der ersten Epidemie an. Bei näherem Eingehen stellte es sich nun heraus, daß es sich annähernd genau um den Zeitpunkt handelte, in welchem die Einbalsamirung der Leichen, als eine dem Christenthum widersprechende Einrichtung, abgeschafft und der Gebrauch der Beerdigung allgemein eingeführt worden war. Bedenkt man dazu, daß die Art des Begrabens bei den Aegyptern (zum Theil schon in Folge von Bodeneigenthümlichkeiten) eine sehr mangelhafte war und geblieben ist, daß die Atmosphäre noch heutzutage um die Begräbnißplätze mit den Zersetzungsproducten der verwesenden Cadaver erfüllt erscheint, daß die Secte der Kopten die Leichen sogar in den Wänden und den Fußboden der Wohnhäuser, lose eingemauert, verwesen läßt, so wird man die Beweisführung der französischen Commission begreiflich finden: „So lange die Leichen einbalsamirt wurden, gab es keine Pest; mit Aufhören jener Maßregel erschien die Seuche; mit der gefährlichen Neuerung des Begrabens wurde die gefährlichste aller bekannten Krankheiten geschaffen.“
Es bedurfte der unzweideutigen Mittheilung des Rufus nicht, um die anscheinend so greifbare Hypothese zu widerlegen. Die Voraussetzung, als sei das Einbalsamiren ein Act der öffentlichen Gesundheitspflege und eine auf die ganze Masse des Volkes ausgedehnte Maßregel gewesen, ist falsch. Nimmt man die mittlere Dauer des menschlichen Lebens auf dreiunddreißig Jahre an (für Aegypten übrigens eine entschieden viel zu hohe Ziffer), so stirbt in einem Jahrhundert die dreifache Zahl der mittleren Bevölkerung eines Landes; innerhalb 4000 Jahren wären also in Aegypten 120 Bevölkerungen verstorben: die mittlere Stärke einer Generation zu 7,500,000 Individuen gerechnet, 900 Millionen, welche als Mumien einen Raum beansprucht hätten, weit größer als die Oberfläche von ganz Aegypten. Auch haben noch andere Nachforschungen erwiesen: daß nur die Angehörigen der privilegirten Classen und einige mit dem religiösen Cultus in Verbindung stehende Thiere zur Einbalsamirung gelangten, während im Uebrigen Menschen und Thier vor wie nach der Verwesung anheimgegeben worden sind.
Erweist sich somit jene Folgerung als nicht stichhaltig, so werden wir doch das wichtige Thema der Beerdigungsverunreinigungen sehr fest in’s Auge zu fassen haben. Maßgebende Stimmen haben die Aufmerksamkeit auf das schauerliche Treiben einiger persischen Stämme gelenkt, welche Tausende ihrer Leichen im verwesten Zustande nach besonders heiligen Orten bringen, und die Bedeutung hervorgehoben, welche diese Züge wohl für die Entstehung der diesjährigen Epidemie haben konnten, und wir haben sicher ein volles Recht, dem unheimlichen, widerwärtigen und schädlichen Unwesen, welches niedrigstehende Nationen mit den Leichen treiben, eine ähnliche Bedeutung für das Gedeihen der Pest beizulegen, wie wir sie für eine ärmlich-verkommene Lebensweise in Anspruch nahmen. Auch mag man immerhin beide Uebel aus einer Wurzel entsprossen sich denken; je ärmlicher und dumpfer ein Volk dahinlebt, je roher seine Culturbegriffe sind, desto weniger weiß es zu erfassen, daß die Leiche nichts Unvergängliches mehr enthält, und desto schonungsloser zerrt es den Cadaver in das Reich der Lebenden zurück.
Näheren Aufschluß über die letzte Quelle der Pestkrankheit, die eigentliche Beschaffenheit und Entstehung des Pestgiftes geben die berührten Verhältnisse an sich, wie wir gesehen haben, nicht. Wir kommen vielmehr schließlich zu dem Begriffe des Krankheitsstoffes, zum „Keim“, wie sich die neuen Ansteckungstheorien ausdrücken. Diesen Keim, seine Wirkungen und Lebensbedingungen, sowie seine Verbreitung und seine Zerstörung gedenken wir zum Gegenstande einiger weiterer Erörterungen zu machen.
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Keiner anderen Krankheit gegenüber hat sich im Geiste der Ungebildeten wie der Gelehrten so früh die Vorstellung eines Krankheitsstoffes befestigt, wie angesichts der Pest. In den ersten Epidemien schon richtete sich der Blick zunächst auf den Boden selbst als auf die Quelle eines Miasma. Wir erwähnten im vorigen Artikel der besonders betonten Berichte der Schriftsteller des vierzehnten Jahrhunderts über Erdbeben, Bergstürze etc.; – aber man wollte auch beobachtet haben, wie z. B. in Istrien die Erde sich spaltete und Blut und Wasser entströmen ließ, wie weiße giftige Dünste dem Boden entstiegen, die Athmungsorgane beklemmten und in bestimmten Richtungen als dicke Wolken weiter zogen. Später – aber noch während der Herrschaft des „schwarzen Todes“ – ging die Idee einer giftigen, todbringenden Bodenausdünstung in die der Brunnenvergiftung über. Nicht aber wurde daran gedacht, daß die Menschen selbst es sind, welche absichtslos durch ihre Auswurfstoffe sowohl den Boden, wie mittelbar die Brunnen und Wasserläufe verunreinigen; man dachte nur an ein wohlpräparirtes Gift, welches fremde Bosheit in die Brunnen geschüttet habe.
In ganz Europa ging die Sage, daß die Juden, von Toledo her, durch Sendlinge und Briefe von geheimen Oberen zu jener verbrecherischen Unthat aufgestachelt wären. Man wollte Briefe gefunden haben, verfaßt zur Zeit der Kreuzigung Christi und von den Juden zu Jerusalem an ihre Glaubensbrüder, z. B. in Ulm, gerichtet, deren Inhalt den Rachedurst des Pöbels wohl zu entflammen vermochte. Die gräuelhaften Folgen dieses Wahnes sind zu bekannt, als daß wir sie hier ausmalen möchten; zu Straßburg wurden 900 Juden verbrannt (von 1884, die überhaupt dort lebten); in Mainz gaben sich die zahlreichen Juden der Stadt in ihren Häusern freiwillig den Feuertod. Ebenso fanden in Augsburg, Ulm, Constanz, Hall, München, Salzburg, Erfurt, Eisenach massenhafte Judenverbrennungen wegen der angeblichen Brunnenvergiftungen statt.
Einige Jahrhunderte später wurde dem „Pestgift“ mit anderen Voraussetzungen nachgespürt. Man hatte beobachtet, daß es an gewisse Einzelherde, an menschliche Wohnplätze und die Orte größerer Versammlungen gebunden schien; es entwickelte sich die Idee eines Wohnungs- und Hausmiasma und zwar in der unklaren Form, daß die Mauern und Geräthe absichtlich verunreinigt, mit Peststoffen bestrichen seien. Sehr lehrreiche Beispiele liefern in dieser Richtung die Epidemien der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts in Italien. Man glaubte fest daran, daß überall teuflische Künste, Verschwörungen, organisirte Giftmischerbanden thätig wären, die Seuche zu verbreiten. Ein ausgesuchtes Gift von plötzlicher, höchst durchdringender Wirkung anzunehmen, lag ganz in der Denkweise [215] des Volkes und der damaligen Zeit; auch fand die Gewaltsamkeit der Krankheit, es fanden ihre dunklen und auffallenden Erscheinungen auf diese Weise eine Erklärung. Man sagte, jenes Gift sei aus Kröten und Schlangen bereitet worden, aus dem Eiter und Speichel der Pestkranken, aus Allem, was eine wilde, verkehrte Einbildungskraft nur Abscheuliches ersinnen konnte. Doch stand man nur mit einem Fuße in den Kinderschuhen der Chemie – zur guten Hälfte stützten sich alle jene Vergiftungsfabeln noch auf Hexereien; diese erst machten jede Wirkung möglich, entkräfteten alle Widersprüche und lösten alle Schwierigkeiten. Bei der Ueberzeugung, daß Giftsalber vorhanden seien, mußte man sie natürlich auch unfehlbar entdecken.
Aller Augen blickten aufmerksam umher, jeder Schritt konnte den Argwohn aufstören. Der Reisende, der von den Bauern außerhalb der Hauptstraße angetroffen wurde, der Unbekannte, welcher in Miene oder Kleidung etwas Unheimliches oder nur Auffälliges zeigte – Beide waren Giftsalber; bei dem Geschrei eines Kindes läutete man Sturm und lief herbei. Die Unglücklichen wurden gesteinigt oder im besten Falle in die Gefängnisse befördert. – In der Kirche des „Heiligen Antonius“ zu Mailand hatte ein mehr als achtzigjähriger Greis auf den Knieen sein Gebet verrichtet und stäubte, ehe er sich setzte, mit dem Mantel die Bank ab. „Der Alte salbt die Bänke!“ schrieen im Chor einige Weiber, die ihm zugesehen. Das Volk in der Kirche stürzt auf den Greis los – man zaust ihn an den weißen Haaren, schlägt ihn mit Fäusten, stößt ihn mit den Füßen und zerrt ihn halb todt hinaus, um ihn zum Richter, in den Kerker, zur Untersuchung zu schaffen. „So sah ich ihn schleppen,“ sagt der Chronist Ripamonti; „wie es geendet, weiß ich nicht; ich glaube kaum, daß er es lange hat überleben können.“
Wieder schwanden Jahrzehnte dahin; der Wahn der Pestsalberei schwand mit der Heftigkeit und der Ausbreitung der Epidemien, – und andere Hypothesen waren bereit, sich an die Stelle der alten zu setzen. In dem niederländischen Städtchen Delft arbeitete Tag und Nacht ein auf sich und sein großes mechanisches Talent angewiesener ungelehrter Mann, um seine von ihm selbst angefertigten Mikroskope auf eine noch unerreichte Stufe der Vollkommenheit zu bringen und damit „verborgene Naturgeheimnisse“ zu entdecken. Im April 1675 kam Anton Leeuwenhoek auf den Einfall, ein Glasröhrchen voll stehenden Regenwassers unter eines seiner Mikroskope zu legen; mit Staunen und Verwunderung erblickte er im Wasser wunderliche Gestalten, Glöckchen, die sich aufblähten und zusammenzogen, Kügelchen, die lebhaft hin und her schossen; er glaubte im ersten Augenblick die lebendigen Atome selbst zu schauen, aus denen schon der alte Demokrit alle Körper bestehen ließ und aus denen auch Philosophen seiner Zeit die Welt erbauten. Bald aber überzeugte er sich, daß er es mit kleinsten Thierformen zu thun habe, die, dem bloßen Auge unsichtbar, in zahlreichen Formen den Wassertropfen beleben. Kaum hatte er seine so überraschenden Beobachtungen bekannt gemacht, als die phantasiereicheren unter den Aerzten seiner Zeit auch schon das furchtbare Räthsel der Pestepidemien durch „mikroskopische Pestfliegen“ erklärt sahen. Aber vergeblich blieb ihr Versuch, in den vermuthlichen Ansteckungsstoffen mit Hülfe der damaligen Mikroskope lebende Wesen wirklich aufzufinden; es wäre ebenso leicht gewesen, die unsichtbaren Pfeile des ferntreffenden Apoll zu erschauen, mit denen ihn die Dichter in seinem Zorn Menschen und Heerden hinstrecken ließen.
Weite Fortschritte hat die Entwickelung des Mikroskops durchmachen müssen, ehe die fast zweihundert Jahre alt gewordene Entdeckung Leeuwenhoek’s eine unmittelbare Verwerthung in der Krankheitslehre fand. Die Pest war inzwischen fast vergessen und unter die todten Krankheiten gerechnet worden. – Wir würden Gefahr laufen zu wiederholen, was unsere Leser in anregender Darstellung vor einigen Wochen gelesen haben,[1] wollten wir hier ausführlicher darüber sprechen, was von Pollender und Davaine zuerst über den Milzbrand, von Chauveau und Klebs über die sogenannten Eitervergiftungen, von Waldeger, von Recklinghausen und vielen anderen, besonders deutschen und französischen Forschern über die Wochenbettfieber, die Diphtherie, die Rose etc. hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit kleinen lebenden Organismen, die in den Säften des lebenden Körpers sich vorfinden, ermittelt worden ist. Keinem Gebildeten sind diese Entdeckungen, die Zweifel, von denen sie noch beeinträchtigt werden, und die Hoffnungen ganz fremd geblieben, daß es nach Auffindung noch verbesserter Methoden, nach klarerer Erkenntniß jener unsichtbaren, aber um so furchtbareren Feinde auch gelingen werde, sie immer erfolgreicher zu bekämpfen.
Wir dürfen uns hier zunächst auf den kurzen Nachweis beschränken, daß die Pest alle Hauptcharaktere mit den anderen Ansteckungskrankheiten theilt. So verschieden auch die einzelnen Krankheitsbilder sein mögen, so haben doch alle Epidemien, Cholera, Pest, Typhus, Diphtherie, Pocken, Scharlach, Hospitalbrand, Eitervergiftung und wie sie sonst heißen, gewisse gemeinschaftliche Züge: die Krankheit wird von einem Orte eingeschleppt, wo sie bereits früher herrschte, durch einen Kranken oder durch Gegenstände, die mit einem Kranken in Berührung gekommen. Hat die Ansteckung stattgefunden, so vergeht einige Zeit (bei der Pest nur Stunden, bei manchen anderen Infectionskrankheiten Tage, selbst Wochen), ehe die ausgeprägten Zeichen der Krankheit hervortreten; nach dieser Zeit bricht die Krankheit aus durch gewaltsame Störungen in der gesetzmäßigen Lebenstätigkeit aller Organe, des Gehirns, der übrigen Nervenapparate, der Lungenthätigkeit, des Verdauungssystems etc.; der Kranke leidet eben, als stehe er unter dem Einfluß eines Giftes, welches in seine Säfte eingedrungen. Und wie er selbst durch einen belebten Giftstoff angesteckt wurde, so verbreitet er das Gift weiter; in manchen Krankheiten sammelt sich der Ansteckungsstoff in höchst concentrirter Form in besonderen Pusteln an – wie bei den Blattern –, deren klarer Saft schon in den geringsten Mengen das Blut eines vorher Gesunden wieder vergiften und denselben unter den nämlichen Krankheitserscheinungen zum Erzeuger neuen Giftes machen kann. Beim Hospitalbrande, bei der sogenannten septischen Blutvergiftung genügt, wie beim Leichengift, schon der Hauch, der am Messer des Chirurgen oder des Anatomen haftet, um jede Wunde zu vergiften; für den Milzbrand steht es fest, daß eine Fliege das Gift von einem kranken auf ein gesundes Thier übertragen kann.
Es ist nach Allem, was wir von Merkmalen der Pest kennen lernten, durchaus gerechtfertigt, auch in den Organen und Säften der Pestkranken nach einem mikroskopischen Organismus zu suchen, welcher die Störungen erzeugt und die Krankheit weiter verbreitet. Die große Aehnlichkeit ihrer Erscheinungen mit dem Milzbrande, dessen Bakterien am besten gekannt und ihren Lebensbedingungen nach am sichersten erforscht sind, läßt die Hoffnung nicht zu kühn erscheinen, daß die ersten Blicke, die ein kundiger Forscher durch ein modern vervollkommnetes und mit den neuerdings erfundenen Beleuchtungsvorrichtungen versehenes Mikroskop thut, ihm die Pestkeime in ihrer wirklichen Gestalt enthüllen. „Ist es denkbar,“ fragen wir mit dem Leser, „daß diese ersten Blicke bei der überreichen Gelegenheit in Wetljanka und den anderen Orten bis jetzt nicht getan wurden?“ Leider ja! Durch die Taktik, welche die russische Regierung der Epidemie gegenüber zu beobachten für gut fand, ist diese Gelegenheit, die wichtigsten Beobachtungen zu machen, für’s Erste versäumt worden. Die medicinischen Professoren der Universität Kasan sind fast alle in deutscher Schule gebildet; auch in Charkow sind tüchtige Gelehrte, welche mit Freude ihre Kenntnisse verwertet hätten, um das düstere Geheimniß zu ergründen. Man hat sie nicht an die von ihnen so leicht erreichbaren Orte entsendet – und wir stehen mit Voraussetzungen und Vermuthungen da, wo wir ohne jenen verhängnißvollen Fehler mit voller Erkenntniß stehen könnten.
Allerdings wird auch dann die Arbeit der medicinischen Forschung erst halb gethan sein, wenn, wie es vielleicht demnächst geschieht, Abbildungen des vermuthlichen Pestkeimes durch alle illustrirten Blätter gegangen und Jedermann so bekannt geworden sind, wie die Stäbchenbakterien des Milzbrandes oder die Spirillen beim Rückfalltyphus. Jede Art dieser verhängnißvollen Pilze hat ihre besonderen Lebensbedingungen, eine abweichende Art sich zu verbreiten und ihren Weg in den menschlichen Körper zu finden; jede widersteht mit der ihr eigenen Zähigkeit den Einflüssen, welche die Wissenschaft als bakterientödtende Mittel ausfindig gemacht und erprobt hat. Selbst die Rolle, welche den mikroskopischen Organismen in der Krankheit zufällt, kann noch verschieden gedeutet werden. Es ist denkbar, daß diese Wesen direct durch ihre Thätigkeit die lebenden Theile des Körpers angreifen und zerstören, aber auch, daß sie einen schädlichen Stoff, ein Gift hervorbringen, welches das Leben bedroht. Die erstere mehr mechanische [216] Thätigkeit schrieben schon ältere Beobachter den „Vibrionen“ in der Cholera zu; neuere Forscher erklären auf diese Weise die zerstörenden Wirkungen der Wundkrankheiten. Die zweite Erklärungsart, welche die Pilze als Gifterzeuger ansieht, faßt sie entweder als mikroskopische Giftpilze auf oder mißt ihnen diejenigen zersetzenden Eigenschaften bei, welche die Gährungspilze in den gährenden Stoffen entfalten.
Hinsichtlich der Wege, auf denen die Krankheitskeime sich in den menschlichen Körper schleichen sind einzelne uns wohlbekannt, so die absichtlich gemachte kleine Hautwunde für die Schutzblattern, die größeren Wunden für das Eiterfieber, die Schleimhäute des Mundes und der Athemorgane wie die Bindehaut des Auges für die Diphtherie, die zarteren Stellen der anscheinend unverletzten Oberhaut für den Milzbrand. Vieles spricht dafür, daß auch der Pestkeim diesen letzteren Weg zu wählen im Stande ist; so die Erfahrungen über die Carbunkel der verschiedenen Hautstellen, so die Thatsache, daß bei Erwachsenen, welche ohne Fußbekleidung gehen, die Drüsen der Leistengegend – bei kleinen Kindern, welche Alles in den Mund stecken die Drüsen am Halse zuerst durch ihre Verhärtung und Anschwellung als sichtbare Bezeuger der Erkrankung auftreten. Die ältere Erfahrung maß der Einathmung der Luft im Dunstkreise des Kranken die größte Bedeutung bei und ersann hauptsächlich Schutzmaßregeln gegen diese. Einen schauerlich-grotesken Eindruck machen die dieser Vorstellung angepaßten Costüme der Pestärzte früherer Zeit: die Abbildung eines Marseiller Quarantänearztes aus dem achtzehnten Jahrhundert zeigt ihn in einem bis auf den Boden reichenden faltenlosen rothen Rock, über den am Halse ein Lederkoller mit daran sitzender gelblederner Gesichtsmaske geknöpft ist. In dem schnabelartigen Fortsatz dieser letzteren befinden sich desinficirende Stoffe, welche die Athemluft reinigen sollen. In gleicher Absicht hält der Insasse der Maske eine glimmende Lunte in der Höhe des Mundes und der Nase vor sich hin. Dieser Räucherapparat fehlt auch dem Arzte aus dem Jahre 1819 nicht, welcher aber in einem langen schwarzen Talar mit daran sitzender Kapuze, die nur zwei runde Ausschnitte für die Augen aufweist, uns entgegentritt. – Alle diese Schutzkleider wurden auch reichlich eingefettet, da man, in der Türkei sowohl wie in Aegypten, die Erfahrung gemacht hatte, daß die Oelverkäufer, deren Kleidung von Fettstoffen starrte, fast nie von der Pest ergriffen wurden.
Die Annahme, daß die Luft die Pestkeime in besonders reichlicher Menge enthalte, sie uns entgegenwehe, ist einigermaßen dadurch erschüttert worden, daß ein besonders schädlicher Einfluß der Winde sich niemals mit Sicherheit hat beweisen lassen, vielmehr von Alters her die Thatsachen nicht sowohl aus eine Verwehung, als auf Verschleppung hinweisen. Auch die diesjährige Epidemie führte sich mit einer Anekdote ein, nach welcher ein junger Kosak, am 9. November, vom Regiment nach seiner Heimath Wetljanka entlassen, seiner Braut einen mitgebrachten türkischen Shawl schenkte, der die erste Erkrankung in jenem Orte veranlaßte. Vor allen anderen Transportmitteln schien stets der Mensch am geeignetsten, die Krankheit zu verschleppen, sei es daß sie an ihm selbst zum Ausbruch kam, sei es daß er gesund blieb und nur Anderen den entwickelungsfähigen Keim mittheilte. Hören wir die rührende Klage des Italieners de Mussis, welcher mit einem aus der Levante kommenden Schiff im Jahre 1346 in Genua landete: „Nun war es aber wunderbar, daß, wo auch die Schiffer landeten, überall Alle, die mit ihnen in Berührung traten, rasch dahin starben, gleich als ob Jene von einem verderblichen Hauche begleitet gewesen wären. Weh des Jammers! Wir betraten, nachdem wir gelandet, unsere Häuser. Da schwere Krankheit uns befallen, und von Tausend, die mit uns gereist, kaum noch Zehn übrig waren, so eilten Verwandte, Freunde und Nachbarn herbei, uns zu begrüßen. Wehe uns, die wir die Todesgeschosse mit uns brachten, daß wir durch den Hauch unseres Wortes das tödtliche Gift ausstreuten!“
Gegen die durch ähnliche sich stets wiederholende Berichte wohl zur Genüge constatirte Verschleppbarkeit durch den Verkehr richten sich nun alle diejenigen Vorsichtsmaßregeln welche man richtiger unter dem Namen der Verkehrssperre, als dem viel gemißbrauchten der „Quarantäne“ zusammenfaßt, wenigstens thut man wohl, zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden.
Es liegt nun allerdings eine Reihe von Gründen vor, nach welchen über den Nutzen wirklicher Absperrungen kaum ein Zweifel übrig bleiben kann. Das Erlöschen der Pest in Europa war, wie bereits gezeigt, ein allmähliches und hielt mit der Entwickelung und Vervollkommnung der Sperrvorrichtungen gleichen Schritt. Doch handelte es sich in den meisten Fällen um Maßregeln gegen verdächtigen Seeverkehr, um die durchführbare Ausschließung verpesteter Schiffe von der Berührung mit dem Lande. Eine Sperre aber, welche nicht blos die ganze Küste, sondern auch die ganze Landgrenze von der Ostsee bis an das schwarze Meer schließen soll, ist einfach undurchführbar. Selbst die Absperrung einzelner Ortschaften ist ohne die strengsten Maßregeln – wie Virchow neulich schlagend ausführte, ohne Erschießen – eine Illusion. So faßt man denn Paßwesen und Quarantänen in’s Auge als halbe Maßregeln, welche sich der Theorie anpassen und zugleich innerhalb der praktischen Ausführbarkeit liege sollen. Nur werden leider die Pässe und Gesundheitsatteste in Rußland häufig nach anderen Rücksichten, als denen des wahren Sachverhaltes ausgestellt, und Landquarantänen – wenn sie auch bei der Pest nicht auf vierzig, sondern höchstens auf zehn bis fünfzehn Tage anzuordnen wären – sind ein zweifelhaftes Schutzmittel. Vor allem hat ja eine mehrtägige Beobachtung, welche die Quarantäne leisten soll, nur den Menschen gegenüber einen Sinn; die Frage, ob an einem leblosen Gegenstande, an Waaren etc. lebensfähige Pestkeime haften, läßt sie gänzlich ungelöst, da keine andere Probe auf dieselbe existirt, als die Ansteckung eines Menschen. So gipfelt denn unser Bestreben und unsere Hoffnung auf Abwehr der Gefahr in der Tödtung der Keime, in den Versuchen einer absoluten Desinfection.
Sicher besitzen wir Mittel, welche die gefährlichsten Bacterienkeime tödten und zur weiteren Fortpflanzung ungeeignet machen. Die Wirkungen der Carbolsäure, der Benzoesäure, des Thymols, des Chlors sind allgemein bekannt. Doch beginnt immermehr die Auffassung sich Geltung zu verschaffen, daß die Lebensbedingungen der verschiedenen Bakterienarten sehr abweichende sind, daß manche z. B. unter Hitzegraden noch weiterleben, welche für andere tödtlich sind, daß einige ihre Fortpflanzungsfähigkeit wieder erlangten nach Behandlungsmethoden, welche für viele die sichere Abtödtung zur Folge hatten. Hiernach tritt die Aufgabe in ihr volles Recht, für jede Gattung dieser Organismen eine Vernichtungsmethode experimentell zu suchen. Von diesem Gesichtspunkt versteht sich auch das Urtheil Pettenkofer’s: „Es sei erst dann auf eine sichere Wirksamkeit der Desinfection zu rechnen, wenn man den Infectionsstoff und die Mittel, ihn unschädlich zu machen, näher kenne.“
Einstweilen hat man sich auf den Rath des eben genannten berühmten Epidemiologen mit einem Mittel zu helfen gewußt, welches vielleicht der älteste Desinfectionsstoff ist, den wir besitzen. Wenigstens benutzt Odysseus die schweflige Säure bereits (nach dem 22. Buche der „Odyssee“) und Ovid lehrt sie zur Desinfection der Schafe benutzen. Ihr neuerdings sehr gehobenes Ansehen besteht auf ihrer ebenfalls durch Versuche festgestellten Macht über die Bakterien des Milzbrandes. Auch soll nach Berichten schwedischer Aerzte die Cholera stets die in der Nähe von Schwefelbergwerken gelegenen Districte auffallend verschont haben. Die Entwickelung der schwefligen Säure aus verbrennendem Schwefel ist nicht bis zu dem Maße erforderlich, daß dadurch eine bleichende Wirkung (bei gefärbten Kleiderstoffen etc.) zu Stande kommt. Von anderer Seite ist eine trockene Hitze von über 120 Grad, wie sie in besonders dazu construirten eisernen Behältern hervorgebracht werden kann, als das beste Mittel, um Krankheitsstoffe in Betten, Decken, Kleidungsstücken zu zerstören, empfohlen worden. Trotz ihrer größeren Sicherheit wird im gewöhnlichen Grenzverkehr die trockne Hitze, zu deren Erzeugung stets besondere Apparate nothwendig sind, der schwefligen Säure ihrer leichteren Anwendbarkeit wegen nachstehen. Jeder etwas dicht gebaute Schuppen kann durch Abbrennen einer genügenden Schwefelmenge in eine Desinfectionsanstalt verwandelt werden, welche Tausende todbringender Pestkeime zerstört. Eine ältere französische Angabe behauptet, daß dieses Ergebniß auch durch das mehrstündige Eintauchen verdächtiger Gegenstände in Wasser erzielt werden könne; so erwünscht die Wirksamkeit eines so einfachen Verfahrens auch wäre, zweifelhaft erscheint sie der Thatsache gegenüber, daß auf die meisten Bakterienkeime das Wasser eher eine belebende als eine tödtende Wirkung ausübt. Wo es sich um dringende Maßregeln handelt, wird wohl stets das alte Radicalmittel des Hippokrates, das Feuer, seinen souverainen Rang behaupten. – –
[217] Das bisher Entwickelte bezeichnet den Standpunkt des Wissens und Könnens, auf welchem wir gegenwärtig der Pestfrage gegenüber stehen. Man sieht, daß wir in der Hauptsache vor einer Reihe offener Fragen angelangt sind, von deren ausreichender Beantwortung es abhängt, ob die Bewältigung des furchtbarsten Feindes, den das Menschenleben hat, endlich gelingen wird. So ist es wohlberechtigt, wenn wir mit ängstlicher Spannung der Berichte unserer abgesandten Commission harren. Erfahrene Mitglieder derselben berechneten die Zeit ihrer Abwesenheit auf fünfundzwanzig Tage. Die letztere sind (seit dem 8. Februar) abgelaufen in einem Moment, in welchem factisch erst die ersten Materialien für jenen Bericht gesammelt werden. Hält man die Abgesandten auf, führt man sie irre? – so wird in der Presse bereits gefragt. Mit Sicherheit läßt sich nur antworten, daß die Abwesenheit der Commission nach Berechnung der ihr zudictirten Quarantänefristen reichlich noch einmal so lange dauern wird, wie ursprünglich vorgesehen war. Mag indeß immerhin die Gelassenheit der Mitglieder durch die Verzögerungen, ihre Widerstandsfähigkeit durch Wetter und Wege hart geprüft werden – was sie uns bringen, wird Wahrheit sein und unbeeinflußt von russischen „höheren Gewalten“. Wir Alle aber begegnen uns in dem Wunsche, die Besprechung des erhofften Berichtes möge die letzte Veranlassung sein, unseren traurigen Gegenstand aus der Liste der „allgemein interessanten Themata“ erscheinen zu lassen.
Wer das ziemlich weit in das Kaspische Meer hineinragende Wolgadelta mit seinen 10 bis 12 größeren und unendlich vielen kleinen Mündungsarmen bei Astrachan hinter sich läßt, um eine Fahrt flußaufwärts zu unternehmen, wird besondere landschaftliche Schönheiten kaum zu verzeichnen haben. Zwar weisen die Inselniederungen zu gewissen Jahreszeiten Bilder üppigster Vegetation auf – aber dieselbe ist niedrig und einförmig; nur in geringer Zahl bieten Baumgruppen dem Blick einen Anhaltspunkt, und hat man nach etwa dreistündiger Dampfschifffahrt den Punkt erreicht, wo der mächtige Strom sich zuerst in zwei große Mündungsäste gabelt, so wirkt das ewig sich gleichbleibende Bild der flachen sandigen Ufer, wirkt selbst die Unterbrechung durch die zahlreichen, langgestreckten, niedrig bewaldeten Flußinseln in hohem Grade ermüdend. Zur rechten Hand – also auf dem östlichen Ufer – haben wir die bis zum Uralfluß sich hinstreckende innere Kirgisensteppe, links treten die Kalmückensteppen mit ihren fliegenden Dörfern bis an die Ufer des Flusses heran. Erst nach zehn- bis elfstündiger Fahrt beginnt am westlichen Ufer eine Erhebung, während das östliche vollkommen flach bleibt. In ungleichen Bogen erstreckt sich bis auf unabsehbare Entfernung eine Uferbank von 30 bis 60 Fuß Höhe; vor ihr ausgebreitet der vom Fluß bespülte Vorstrand, auf dem die an das Land gezogenen
[521] zahlreichen Fischerboote in sicherer Höhe an Pflöcken und Pfählen befestigt sind. Selten nur zeigt sich ein um diese Boote beschäftigtes menschliches Wesen dem über die schmale Sandfläche schweifenden Blick; noch seltener winkt eine menschliche Wohnung oder ein niedriger Kirchthurm über die Höhe der Uferbank einen Gruß herab, aber in Reihen, wie nach dem Lineal geordnet, sitzen auf der scharfen Kante Schaaren von Fischadlern, deren durch die schrägen Abendsonnenstrahlen verlängerte Gestalten wie eine Cohorte soldatischer Wächter erscheinen.
„Wie heißt der Ort, dessen Kirchthurm genau den Endpunkt des weiten Uferbogens bildet – dort auf dem Vorgebirge?“
„Przizib!“
„Und hier die Häuser, die gerade neben uns auf der Höhe der steinigen Uferbank sichtbar werden?“
„Wetljanka!“
Mehrere kleine Uferpfade, die im Laufe der Zeit durch Austreten der Spalten im lehmigen Erdreich gangbar geworden sind, auch ein großer, für Pferde und Karren passirbarer Weg vermitteln die Verbindung mit dem oberen Flecken und dem hier breiten, mit zahlreichen Fischerbooten bedeckten Ufersand. Der größere Weg führt auf den ziemlich geräumigen rechteckigen Dorfplatz.
Sind diese reinlichen, fast zierlich gebauten und in wohlgeordneten Reihen zusammenstehenden Holzhäuser die Brutstätten einer fürchterlichen Krankheit gewesen? Schuf der Boden dieser saubergehaltenen Vorplätze, dieser wohlgelüfteten Dorfstraßen, die in die jetzt üppig grünende blumige Steppe auslaufen – schuf dieser Boden die tödtlichen Keime der Pest?
Kein Vorurtheil, in der That, mag gründlicher enttäuscht werden, als das, nach welchem man sich die vielgenannten Peststätten an der Wolga als elende, fast nur aus ärmlichen Hütten oder Zelten bestehende Schmutzorte vorstellte, bewohnt von einer verkommenen, ärmlichen, halbverthierten Bevölkerung, durchseucht mit den Abfällen von Ueberbleibseln verwesender Fische.
Die Kosakendörfer (Stanitzen) sind meistens sauber, oft stattlich und wohlhabend. Die einzelnen Gehöfte sondern sich durch kleine Vorplätze und Stacketenzäune von einander ab und weisen vielfach zwei bewohnbare Gebäude, ein Sommer- und ein Winterhaus, auf. Das erstere enthält, etwas primitiv aus Flechtwerk hergestellt, durchgängig nur zwei Räume. Die Winterhäuser jedoch präsentiren sich ganz stattlich mit ihren Glasfenstern und einer Vorlaube, einer Art Veranda, durch welche man in den Flur tritt. Von diesem führen Thüren in zwei, drei, auch wohl vier innere Gemächer. Im oberen Stock befinden sich Schlafstellen für Knechte und Mägde, Aufbewahrungs- und Vorrathsräume; hinter dem Hause Hundehütte, Schweinekoben und die Ställe für die so nützlichen und zahlreich gehaltenen Kosakenpferde. Auch Kühe und Schafe, sowie Hühner werden, wenngleich in verhältnißmäßig geringer Zahl, in Wetljanka und den Nachbardörfern gezogen.
Jedoch besteht der Reichthum jener Wolgagegenden nicht im Viehstande, noch weniger in irgend welchen Bodenerträgen. Die Steppe bringt, wenn sie sich im späten Frühjahr endlich von den letzten Schneelagern befreit hat, auf ihren salzfreien Theilen eine reiche Menge duftiger Gräser hervor, die im frischen Zustande und als Heu das (in manchen Jahren kärglich zugemessene) Futter für die obengenannten Hausthiere liefern. Außerdem wächst auf dem salzfreien Boden noch Senf, Wermuth und Hanf, sowie eine Menge blühender Gewächse. Getreide reift wegen der allzugroßen Trockenheit nicht; Roggen und alle Getreidearten haben einen höheren Preis als der Reis, und selbst die Kartoffel eignet sich nicht zum Anbau im Großen. Nur mit dem Gemüsebau hat man in Wetljanka und seiner nächsten Umgebung einige erfolgreiche Versuche gemacht. So kommt denn auch, da er zur Förderung der Bodenfruchtbarkeit nicht gebraucht werden kann, der Mist der Hausthiere zu einer für uns ganz fremdartigen Verwendung: er dient, ausgetrocknet und aufbewahrt, als Brennmaterial, da Holz nur schwer und theuer zu beschaffen ist. Schon dieser Umstand läßt die Wolgadörfer reinlicher erscheinen, als viele Dörfer Deutschlands, in welche ungeheure Composthaufen und dicht vor den Hausthüren sich ausbreitende Jauchetümpel die Luft in der nächsten Umgebung der Hütten einen großen Theil des Jahres hindurch verpesten.
Auf den salzhaltigen Theilen der Steppe gedeiht kein pflanzliches Leben. Hier sammelt sich auf flachen Seen und Morästen das Salz zu einer dicke Kruste an, wird mit stangenartigen Werkzeugen abgebrochen und auf Salzmühlen zu einer bestimmten Grobkörnigkeit zerkleinert, um zum Einsalzen der Fische zu dienen. Beide Producte vereint bedingen die Wohlhabenheit jener Striche. Von dem Fischreichthum des Stromes macht man sich nur schwer eine Vorstellung. Wenn die Fische in der Wolga meerwärts ziehen, bilden sie in den kleineren und schmäleren Ausflüssen solche Anhäufungen, daß Boote nicht mehr passiren können. Mit den plumpsten Vorrichtungen werden Millionen größerer und kleinerer Fische gefangen und der reichliche Segen – besonders durch sinnloses Vernichten der junge Brut – in der Weise ausgebeutet, daß neuerdings gesetzliche Bestimmungen dagegen nöthig geworden sind.
Welchen bedeutenden Handelsartikel die größeren und feineren Fischsorten, die in den Einsalzanstalten (Batagen) für den Versandt bereitet werden, bilden, ist genügend bekannt. Nur eine der größeren Anstalten dieser Art befindet sich in unmittelbarer Nähe von Wetljanka, eine größere Menge flußabwärts und die meisten bei Astrachan. Hierhin bringen die Fischer der oberen Dörfer ihre frischgefangene Waare, hierhin begeben sich aber auch zahlreiche Einwohner der Stanitzen gegen den Sommer hin, um einen sehr lohnenden Verdienst zu finden.
Lassen schon diese Verhältnisse es als unannehmbar erscheinen, daß eine an industriellen Erwerb, an lebhaften Außenverkehr gewöhnte Bevölkerung stumpf und unintelligent, oder bedürfnißlos und halb wild sei, so widerspricht noch mehr die eigenartige Organisation der kosakischen Gemeinden derartigen Voraussetzungen durchaus. Nicht so vornehm wie die Donischen Kosaken, haben doch auch die an der Wolga ihre Vorrechte, ihren Adel, ihre eigene Verwaltung und Gesetzgebung – Punkte, auf deren Bedeutung und besonders auf deren Nachtheile wir noch zurückkommen müssen. Von ihren unmittelbaren Nachbarn, den buddhistische Kalmücken, halten sie sich ganz abgeschlossen, von irgend einer Vermischung ist keine Rede, und wenn schon die Körperbildung sie genügend von dem tatarischen Typus unterscheidet, so prägt sich dieser Unterschied noch schärfer aus in der Lebensweise und den Lebensbedürfnissen. Kein Ort entbehrt seiner Kirche, kein Wohnhaus seiner Glasfenster und Möbel, die, wenn auch im Wesentlichen aus Tisch und verschiedenen großen Bänken bestehend, mit dem stattlichen Samowar (Theemaschine), den Heiligen- und Kaiserbildern, dem hier und da vorhandenen Spiegel, kleinen Decken u. dergl. m. durchaus an den Inhalt behäbiger deutscher Bauernstuben erinnern.
Das ist die Scenerie, auf welcher sich von October 1878 bis Januar 1879 Ereignisse abspielten, welche die Blicke von ganz Europa zwingend auf sich lenkten, ein Trauerspiel, dessen ganze Furchtbarkeit durch unsere damaligen Nachrichten (Nr. 9, 11, 13 dieses Jahrgangs) nicht etwa übertrieben, sondern im Gegentheil verschleiert worden ist. Wir dachten uns unter dem Pestschauplatz eine ganze Menge scheußlicher ärmlicher Nester, so stinkend widerwärtig und unsauber, daß man ernstlich daran glaubte, die Pest könne ganz wohl dortselbst, in Folge der Orts- und Bodenbeschaffenheit, entstanden sein, und wir finden die Seuche in einem Flecken von 1700 Einwohnern; hier bricht sie aus; hier fordert sie eine unglaubliche Zahl von Opfern; hier tobt sie sich fast aus und greift nur nachträglich und vergleichsweise unbedeutend auf einige Nachbarorte über.
Boden, Klima, Lebensverhältnisse in dem unglücklichen Wetljanka erscheinen geradezu vorteilhafter, gesünder, als sie es in den allermeisten russischen Dörfern, ja in vielen westrussischen und ostpreußischen Landstrichen sind. Was aber noch mehr ist: nicht eine Horde empfindungsloser, untergeordneter Menschenwesen, sondern eine intelligente, das Leben liebende Bevölkerung war es, die hier litt und dahingerafft wurde. Nicht roher und härter als die unseren waren die Gemüther der Eltern, Wittwen und Waisen, welche in Jammer und Hülflosigkeit es ansehen mußten, wie das grause Geschick sich an den nächsten und geliebtesten Familiengliedern erfüllte. Lange dauerte es, bis das Massensterben und der Schrecken ohne Ende die Bande des Hauses und der Gemeinde so lockerten, daß ein Theil fliehend aus einander stob. Warnend, kämpfend und schließlich selbst erliegend heben sich aus diesem Chaos des Elendes Gestalten heraus, welche unsere Theilnahme in hohem Grade verdienen.
Unter diesen wahrhaft epischen Persönlichkeiten Wetljankas [522] tritt der Geistliche des Ortes in die erste Reihe. Aus seinen Aufzeichnungen und Briefen geht mit Sicherheit hervor, daß er von den ersten Anfängen das Ungewöhnliche der Erkrankungsvorgänge erkannte, daß er die wachsende Sterblichkeit mit ängstlicher Spannung verfolgte, daß er bemüht war, das Nothsignal für die russische Regierung zu geben, als von Seiten der zuständigen Verwaltung noch die beklagenswertheste Indolenz an den Tag gelegt wurde.
Es verlohnt sich wohl der Mühe, uns einen Augenblick an die Stelle dieses gebildeten, feinfühlenden Mannes zu versetzen. In der ersten Octoberwoche stirbt ein Individuum nach kurzer Krankheit unter auffälligen, ungewöhnlichen Krankheitssymptomen. Die nächste Woche bringt ihre ein bis zwei regulären Todesfälle aus bekannten Ursachen – nichts Ungewöhnliches; in der dritten Woche dieses Monats sterben wieder zwei, in der vierten drei Personen unter jenen räthselhaften Erscheinungen. So hat die Zahl der Todten in einem Monat, statt wie sonst regelrecht etwa vier bis sechs, die Höhe von zwölf Fällen erreicht. Die erste Novemberwoche beruhigt die gespannte Aufmerksamkeit wieder – aber in der zweiten regt sich der unheimliche Feind von Neuem, es werden drei dem noch immer räthselhaften Uebel Erlegene zu Grabe gebracht; die dritte Novemberwoche fordert sieben, die folgende acht Opfer.
„Was ist das?“ fragt in einem nach Zarizin gerichteten Briefe der geängstigte Seelsorger; „wir dachten nach der guten Heu-Ernte einen glücklichen, behäbigen Winter zu verleben. Nun sterben aber unsere jüngsten und kräftigsten Leute an einer schrecklichen Seuche dahin. Die Aerzte reden von den Malariafiebern, die an unseren Ufern heimisch sind, aber wir kennen, weiß Gott, unsere Fieber zur Genüge, und das, was hier jetzt herrscht, hat damit nichts zu schaffen.“
Er sucht überall beizustehen und zu helfen; er hält es für nöthig, die weitläufigen Begräbnißceremonien, welche die griechisch-katholische Kirche vorschreibt, abzukürzen; er sieht seinen eigenen baldigen Tod vor Augen und begiebt sich zu dem Amtsgenossen in dem benachbarten Przizib, um dort zu beichten. Denn schon die erste Decemberwoche verläuft mit gegen zwanzig Sterbefällen; in der zweiten vermag er sie kaum noch zu übersehen, denn 56 seiner jetzt schon nicht mehr 1700 Dorfeingesessenen sind es, die als Verstorbene gemeldet werden, aber sie Alle finden sich doch noch mit Namen, Alter, Familienbezeichnungen im Kirchenbuche notirt. Als aber die Woche vom 9. bis 16. December 169 Todesfälle bringt, da hören die schriftlichen Aufzeichnungen plötzlich auf, denn unter den 41 Todten des 14. December befand sich der treue Gewährsmann selbst. Er war aber mehr gewesen; mit seinem Tode lösten sich alle Grundlagen des Gemeinwesens auf. Einige flüchteten in die endlose Steppe, andere nach der großen Wolgainsel, die sich vor dem Orte lang hinstreckt; noch andere trugen die Pest, den Schrecken und die Verwirrung in die Nachbardörfer. Durch die eigenen Hände seiner Mutter und Schwester fand unser Geistlicher ein ruhiges Grab; viele von denen, die nach ihm starben, blieben unbegraben liegen an der Stelle, wo der Tod sie überfiel. Denn war auch die größte Wuth der Seuche mit dem eben genannten Datum erschöpft, so waren es doch noch 54 Opfer, welche ihr im letzten Abschnitte des December, und über 30, welche in den ersten beiden Wochen des Januar erlagen. Der Vorhang war über dem eigentlichen Schauplatze der Epidemie bereits gefallen, als in widersprechenden Zeitungsnotizen zu uns davon die Kunde drang; die Ausläufer der Krankheit, die 3, 5, 8 Pesttodesfälle in Przizib, Staritzkoje, Udatschnoje, Nikolskoje und besonders 32 in Selitrennoje waren es, die als frische das gespannte Interesse der Zeitungsleser erregten und es fast in den Hintergrund stellten, daß in Wetljanka über 26 Procent der ganzen Bevölkerung erkrankt und von diesen Erkrankten über 80 Procent gestorben waren.
Welche Umstände erklären uns dieses selbst in der Geschichte der Pest ganz unerhörte Factum? Mit anderen Worten: wie kam die Pest in diesen isolirten Bezirk, und wie konnte die Sterblichkeit, da besonders begünstigende Momente uns bis jetzt nirgend begegnet sind, diese kolossale Höhe erlangen? – Wir haben in unserem ersten Artikel (Nr. 9 dieses Jahrgangs) zwar einige Andeutungen über die Pestausbrüche in Persien und Mesopotamien gemacht, uns jedoch wohl gehütet, eine bestimmte Hypothese über den Weg der Pest nach Wetljanka auszusprechen. Nicht als ob wir die Vermuthungen, welche von anderen Seite laut wurden, damit ohne Weiteres hätten verurtheilen wollen. Die gangbarsten derselben waren durchaus nicht ohne Werth und Wahrscheinlichkeit. Man wußte sicher, daß die Pest einerseits im Jahre 1876 in Bagdad, andererseits 1877 in Rescht geherrscht hatte – und man vermuthete, daß im Sommer des Jahres 1877 auch in Astrachan ein Ausbruch erfolgt wäre, der eben nur der Anerkennung durch die russischen Behörden entbehrte und für’s Erste todtgeschwiegen worden war. Eine klare Vorstellung, auf welchen Schleichwegen die Seuche von den erstgenannten Orten, von Bagdad oder von Rescht aus, nach Wetljanka gelangt sein sollte, ließ sich nicht gewinnen. Man beklagte den dichten Schleier, der überhaupt die sanitären Zustände an den Ufern des kaspischen Meeres bedeckt; man hielt es für denkbar, daß durch persische Handelsverbindungen Keime nach Norden verschleppt, oder auch, daß die Truppenbewegungen auf dem armenischen Kriegsschauplatze anzuklagen seien. Die letztere Vermuthung wurde von sachkundiger Seite am frühesten für unbegründet erklärt. „Die in einem Heere ausbrechende Pest läßt sich schlechterdings nicht verheimlichen – das ist die übereinstimmende Meinung aller russischen, türkischen, österreichischen und anderen Truppenärzte, welcher sich auch die Mitglieder der Untersuchungscommissionen angeschlossen haben.
Eine ganz heimliche Verbreitung der Krankheit in den Umgebungen des kaspischen Meeres, sodaß in keinem Orte eine Epidemie bemerkt worden wäre, mußte bei aller Berücksichtigung der primitiven Sanitätszustände dieser Gegenden als ebenso unwahrscheinlich zurückgewiesen werden. Es wurde also durch Hinwegräumung dieser beiden Hypothesen nun die Annahme einer verborgenen Pestepidemie in Astrachan in den Vordergrund gerückt; für eine Verbreitung derselben von hier nach Wetljanka bedurfte es bei dem ziemlich regen Verkehr beider Plätze weiterer Erklärungen dann nicht. War nun aber wirklich das, was in den Monaten Juli bis September 1877 – nicht, wie hin und wieder irrthümlich angegeben, 1878 – in Astrachan beobachtet wurde, eine Pestepidemie?
Dem Obmann der internationalen Commission, Professor A. Hirsch, haben die vollständigen Regierungsacten über die betreffenden Vorkommnisse vorgelegen, und derselbe erklärte, aus diesen circa 150 Krankheitsfällen (mit sehr geringem Fieber und Drüsenschwellungen, die sämmtlich im Herumgehen der Patienten behandelt wurden und von denen keiner mit dem Tode endete und keiner als ansteckend sich erwies) die Züge einer Pestepidemie nicht herausfinden zu können.
Als die internationale Commission nach Wetljanka kam, schien ein ganz directer Fingerzeig sich in der Erkrankung einer Frau darzubieten, die, nach Astrachan gereist, von dort krank zurückgekehrt und – bereits im October – an der Pest verstorben war. Bald aber ließ sich nachweisen, daß diesem Falle schon mehrere vorangegangen waren, daß die Frau schon krank von Wetljanka abgereist war und daß auch nicht der leiseste Verdacht auf Personen oder Gegenstände, durch die sie in Astrachan hätte angesteckt sein können, begründet werde konnte. – Es ist nicht schlechterdings zurückzuweisen, daß ein Zusammenhang zwischen den Erkrankungen in Astrachan und der vollkommenen Pestepidemie Wetljankas bestehen könne. Aber die Verschiedenartigkeit der beiden Erkrankungsreihen, die Thatsache einer längeren Pause zwischen beiden und das isolirte Befallenwerden Wetljankas mit Uebergehung so vieler Ortschaften, welche in noch viel lebhafterem Verkehre mit Astrachan stehen – alle diese Umstände widersprechen der Wahrscheinlichkeit jenes Zusammenhanges.
Auf die naheliegende Frage, „ob wir denn im Stande sind, einen besser begründeten Zusammenhang von Thatsachen aufzufinden?“ antworten wir ohne Vorbehalt bejahend. Es findet sich ein greifbares Etwas vor, Objecte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit als Pestträger zu bezeichnen sind und die genau unmittelbar vor und während des Ausbruches der Seuche nach Wetljanka gebracht wurden. Diese Gegenstände sind Beutestücke, welche durch die aus dem Bezirke recrutirten Kosaken nach ihrem Heimathsorte theils geschickt, theils gebracht worden sind. An der massenhaften Einführung von Kriegsbeute, aus Seidenrollen, Gewändern, Shawls und dergleichen bestehend, nach Wetljanka ist gar kein Zweifel möglich; die internationalen Commissarien haben solche [523] Stücke selbst gesehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind dieselben in Persien fabricirt, an einem Pestorte inficirt und verpackt, nach Armenien versandt, hier – und zwar muthmaßlich in Kars – den plündernden Kosaken in die Hände gefallen und von diesen – in unausgepacktem Zustande, da in den Regimentern selbst die Pest nicht ausbrach – nach Wetljanka übermittelt. Die ersten Stücke der Art langten durch die Post Anfangs October an; eine größere Menge derselben brachte das am 9. November anlangende Detachement selbst mit. Bis hierher die auf jene Beute bezüglichen Facta, denen wir eine entsprechende Wichtigkeit besonders dann werden zuerkennen müssen, wenn gewisse unterstützende Einzelheiten ermittelt werden können und wenn Logik und Erfahrung mit ihnen im Einklange stehen. Von jenen Einzelheiten seien hier folgende kurz skizzirt.
1) Der erste an der Pest verstorbene Wetljanker war ein reicher Fischer, der mit mehreren der zurückgekehrten Kosaken über ihre Beutestücke in Verhandlung getreten war; sein Sohn folgte ihm sehr bald im Tode nach; in seiner Familie fiel eine große Reihe von Opfern.
2) Ein junger Kosak – man erinnert sich, diesen Vorfall in einer naiven, etwas verstümmelten Darstellung in den Zeitungen gelesen zu haben – schickte seiner Braut einen schönen erbeuteten Shawl. Das Mädchen sollte, damit angeputzt, unmittelbar vor dem Spiegel erkrankt und todt niedergesunken sein, was natürlich übertrieben ist. Thatsache jedoch ist, daß diese junge Person ebenfalls zu den ersten Pestkranken zählte, und weitere Thatsache, daß, als der heirathslustige Kosak sich sehr bald darauf an eine Wittwe mit seinen Werbungen und Geschenken wandte, auch diese und ihre Kinder der Pest erlagen.
3) Der Pfarrer von Przizib (bei welchem der Geistliche von Wetljanka zur Beichte gegangen war) erzählt: „Als die dortige Epidemie auf ihrer Höhe war, gingen von hier drei Betschwestern dorthin, um ,über’ einigen Kranken zu beten. Sie kamen jedoch dabei mit denselben nicht in Berührung. An einem der nächsten Tage entdeckte der Küster hinter einem Muttergottesbilde in der Kirche ein Stück schweren, fremdartigen Seidenzeuges, wie es bei uns gar nicht bekannt ist. Am vierten Tage nach ihrer Rückkehr erkrankten jene drei Betschwestern, sowie auch eine ihnen dienende Magd, die gar nicht nach Wetljanka gekommen war. Alle Vier starben. Die Mutter aber gestand später, daß Jene das Seidenzeug in Wetljanka zum Geschenk erhalten und es von dorther mitgebracht hätten. Da ließ ich es schleunig und mit aller Vorsicht verbrennen.“
Auch der letzte noch im März ganz unerwartet aufgetretene vereinzelte Pestfall beweist auf’s Schlagendste, welche wichtige Rolle inficirte Effecten bei der Verschleppung der Pest spielen. Die Erkrankung betraf ein neunzehnjähriges Mädchen, das in einer zum Verbrennen bestimmten Kleiderkiste gewühlt hatte, welche die Hinterlassenschaft einer vollkommen ausgestorbenen Familie enthielt.
Wir dürfen damit wohl die Reihe der Details, welche auf eine Uebertragung im gedachten Sinne schließen lassen, beenden und nur noch daran erinnern, daß die Logik durchaus nicht gegen dieselbe spricht, und daß vom Beginne sehr vieler Pestepidemien durchaus ähnliche Thatsachen, wenn auch meistens etwas ausgeschmückt, berichtet werden.
Warum breitete sich die Epidemie in so fürchterlicher Weise aus, warum nahm sie – wie wir hier am besten einfügen – allmählich eine so hohe Gefährlichkeit an? – Weil bei der Mangelhaftigkeit der ärztlichen Institutionen jeder Begriff über den Charakter und die Bedeutung der Epidemie fehlte, weil Niemand auftrat, um die nothwendigsten Abwehrmaßregeln in dem Momente zu unternehmen, als es noch Zeit dazu war.
Die Schilderung, welche wir in unsern früheren Artikeln von den ärztlichen Einrichtungen auf dem platten Lande in Rußland gaben, gilt nicht für die Kosakengegenden. Diese haben vielmehr eine Selbstverwaltung bis in die höchsten Stellen hinauf und zwar der Art, daß die Regierung sich in gewöhnlichen Zeiten gar nicht hineinmischt. Während also der Kosakenhetman des Bezirks, der in Astrachan seinen Wohnsitz hat, sich durch so unzureichende Organe, wie sie sich ihm eben darboten, über die ungewöhnlichen Ereignisse zu informiren suchte, betrachtete die Regierung in Petersburg die ganze Sache als einen gar nicht in ihr Ressort gehörigen Vorfall, als eine interne Angelegenheit des Kosakendepartements, die, wie alle anderen, ihrer Zeit schon zur Erledigung kommen würde. Diesem eigenthümlichen Dualismus in der inneren Verwaltung haben diese unglücklichen Dörfer, hat besonders Wetljanka sein Geschick zu verdanken. Die schließliche Regierungsmaßregel, welche in der Ausstattung des Generals Graf Loris Melikoff mit dictatorischer Vollmacht bestand, war der einzige Ausweg, um den Willen der Regierung wirklich zur Geltung zu bringen.
Jedoch war der Zeitpunkt längst vorüber, in welchem diese Veranstaltung zur Bekämpfung der Pest in den schon ergriffenen Orten auch nur das Geringste hätte beitragen können. Sie diente der festeren Sicherung der bereits bestehenden Cordons, und sie hatte den Zweck, den Schutt und die Leichname aus den befallenen Dörfern wegzuräumen, um diese für die europäische Commission sichtbar zu machen. In Wetljanka hatte die Seuche sich ausgelebt; in den anderen Dörfern hatten die Bewohner selbst zur Abwehr mittelst der unbarmherzigsten Isolirungsmaßregeln gegriffen. Wer in Verdacht kam, krank zu sein, wer nur über Kopfschmerzen klagte oder ungewöhnlich aussah, wurde von den entsetzten Bauern in die bereits verseuchten Häuser eingesperrt und seinem Schicksal überlassen. So wurde die Krankheit auf einzelne wenige ergriffene Häuser und Familien, ja auf einzelne Personen beschränkt, nachdem man ihre furchtbare Gewalt erkannt hatte. Das Princip der Absperrung und Unschädlichmachung der einzelnen Infectionsherde hat sich in den nebenher befallenen Dörfern auf’s Schlagendste bewährt.
Mit diesen Thatsachen tritt die letzte Pestepidemie in die Reihe derjenigen, welche eher geeignet sind zu beruhigen als aufzuregen. Sie verlief anfangs milde und erreichte die kolossale Sterblichkeit erst in der elften Woche; sie wurde verkannt und wie das unschuldigste Leiden, wie eines, bei welchem an Ansteckung nicht zu denken sei, angesehen. Von ärztlichen Maßregeln war nicht die Rede, weil in der Zeit, in welcher wirkliche gebildete Aerzte nach Wetljanka kamen, das Krankheitsgift durch die Vernachlässigung bereits eine so furchtbar tödtende Kraft erlangt hatte, daß diese Aerzte nach wenigen Tagen selbst ergriffen wurden und starben. Es fehlte endlich an allen, auch den primitivsten vorbeugenden und hygienischen Maßregeln, weil der Mechanismus der Verwaltung solche gar nicht kannte und weil keine Behörde existirte, die sich zu ihrer Ausübung ermächtigt fühlte.
Wie stark mit diesen Verhältnissen die unsrigen contrastiren, deuteten wir bereits am Schlusse unseres ersten Artikels an und können uns hier daran genügen lassen, die unabweisbaren Lehren, welche man an Ort und Stelle gewonnen haben dürfte, kurz zusammenzufassen. Die Möglichkeit, rechtzeitig die etwa wieder ausbrechende Krankheit zu erkennen, ist ungleich näher gelegt als vorher. Speciell dürfte in Bezug auf die etwa durch Vergraben von Effecten in Wetljanka und Umgegend conservirten Pestkeime der Schrecken, dem die Bevölkerung unterlag, die beste Bürgschaft dafür bieten, daß diese Keime ewig begraben bleiben. Die gespannte Aufmerksamkeit, welche die Blicke administrativer und ärztlicher Beamten viele Monate lang an die Unglücksstätte gefesselt hielten, wird in den nächsten Jahren schwerlich ganz eingeschläfert werden; auch dürfte die Nothwendigkeit, die Kosakengegenden etwas fester in den Regierungsmechanismus einzufügen, grell genug hervorgetreten sein, um diese Frage als eine wichtige erscheinen zu lassen.
Die russische Regierung hat ein schweres Lehrgeld bezahlt. Es existiren noch keine officiellen Darlegungen über die Kosten, welche die Erschwerung des Verkehrs, die Unterbrechung der Handelsbeziehungen, die enorme Verminderung der Exporte, die Cordonnirung so großer Striche und die an Ort und Stelle zur Ausführung gelangten Maßregeln erfordert haben. Daß sie sehr bedeutend gewesen sein müssen, unterliegt keinem Zweifel.
- ↑ „Gartenlaube“ 1879, Nr. 4. Vergl. auch Nr. 10.
- ↑ Fast scheint es einer Entschuldigung zu bedürfen, daß wir, ein unsern Lesern gegebenes Versprechen erfüllend, mit diesem Schlußartikel über die Pest in den Wolgadistricten (October 1878 bis Januar 1879) noch einmal an einen Gegenstand herantreten, der nicht mehr im Vordergrund des Tagesinteresses steht. Da aber die internationale Commission zur Untersuchung der Pestgegenden erst kürzlich die Resultate ihrer Forschungen endgültig gesichtet und geordnet hat, so war die Veröffentlichung dieses sich durchaus auf authentische Berichte stützenden Schlußartikels nicht früher thunlich.
Die Redaction.