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Die Redensarten der Völker

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: R.
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Titel: Die Redensarten der Völker
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 760
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Blätter und Blüthen
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[760] Die Redensarten der Völker scheinen nicht ohne Einfluß auf deren Thun und Treiben zu sein. Oder vielmehr beide hängen wohl gemeinsam von den Geistes- und Charaktereigenthümlichkeiten der verschiedenen Völker ab. Deshalb bringe ich den Gegenstand hier zur Sprache. Mögen Erfahrenere, Weitgereiste, wie z. B. Freund Gerstäcker, dieses Thema erwägen und weitere Beiträge dazu liefern!

Der Russe wiederholt immer das Wort „Nitschewo“, zu Deutsch „thut nichts!“ Dies Wort erklärt das Großwerden der russischen Nation, deutet aber auch die Grenze seines Wachsthums an. Mit Nitschewo stürmt der Russe auf die feindlichen Batterien los, läßt sich haufenweise niedermähen, bataillonsweise vom Schnee begraben (im Krimkriege), im Winter über ungangbare Alpen hetzen (unter Suwarow) und dergleichen mehr. Aber die Redensart „thut nix!“ taugt nicht dazu, um für die Dauer große Dinge zu gründen oder durchzuführen.

Der Türke sagt zu Allem: „jok, jok!“ zu Deutsch: „das ist mir gleichgültig!“ Nun in der That, wo man den Boden des türkischen Reichs betritt, da sieht man auch, daß diesen Leuten Alles gleichgültig ist. Wege, Brücken und Städte verfallen; die geldbringendsten Unternehmungen werden eines augenblicklichen Vortheils wegen zerstört; die besten Industriezweige durch alberne Steuern unmöglich gemacht; das ganze Reich verödet. „Alles gleichgültig!“

Der Spanier hat zwei stehende Redensarten „quien sabe?“ („wer weiß es?“) und „mas or menos“ („mehr oder weniger“). Nun ist klar, daß ein Volk, welches immer „wer weiß es?“ fragt, sich schließlich des Denkens entschlagen lernt und in die Hände von Leuten fallen muß, die ihm vorsagen und vorschreiben, was es denken und wissen soll. Daß diese Denkträgheit und Autoritätsgläubigkeit der Hemmschuh der gesammten spanischen Entwickelung ist, hat Buckle (Geschichte der Civilisation) schlagend bewiesen. – „Mehr oder weniger“ drückt[WS 1] ebenfalls die Neigung aus, nichts Bestimmtes zu denken, zu sagen und zu thun. Es deutet auf dieselbe geistige Schlaffheit hin.

Das Lieblingswort der Neugriechen ist „Dembirasi“, das heißt: „es wird wohl noch gehen, früher oder später, auf diese oder jene Weise, wenn nicht heute, so doch morgen, übermorgen oder über’s Jahr!“ (Friederike Bremer, Leben in der alten Welt.) Diese Redensart oder die Charaktereigenthümlichkeit, welche dahinter steckt, hemmt in Griechenland hauptsächlich den Fortschritt in Unternehmungen, die Verbesserung aller Arten von Angelegenheiten.

Ganz anders der Nordamerikaner der Vereinigt-Staaten-Republik. Sein Lieblingswort ist „go ahead!“ („geh’ vorwärts, immer drauf los!“) Er sagt nicht, wie wir: „ich meine, glaube, halte dafür“, sondern „ich rechne“, „I calculate“, wodurch er gewissermaßen sich selbst zwingt, seine Gründe mathematisch abzuwägen und zusammen zu stellen. In demselben Geiste setzt er, zu seinen Aussprüchen gern hinzu: „It is a fact“. („das ist eine Thatsache!“) womit er sich in die Nothwendigkeit versetzt, sie auch thatsächlich zu beweisen. – Alle drei Redensarten sind bezeichnend für den Grundcharakter dieser rastlos rührigen, illusionsfreien, positiven Nation.

Der Deutsche hat sehr viele Redensarten, nützliche und schädliche, doch meist nur auf kleinere Kreise beschränkte, wie z. B. der „gehorsame Diener“ in unseren mitteldeutschen Gegenden, welcher viel Schuld an der einheimischen Charakterlosigkeit haben dürfte. Von allgemeiner bei uns herrschenden Redensarten ist besonders das verderbliche „ich thue nicht mit“ der deutschen Kinder zu erwähnen. Ueberall, wo deutsche Knaben spielen, giebt es wenigstens einen oder zwei, welche ihr hohes persönliches Selbstbewußtsein dadurch an den Tag zu legen suchen, daß sie „nicht mit thun“. Als Erwachsene setzen sie dieselbe Redensart in anderer Form fort. Dies ist die Hauptursache, weshalb in Deutschland nichts Gemeinsames zu Stande kommen kann und weshalb überall, wo Deutsche beisammen sind, auch Spaltungen unter ihnen eintreten. „Ich thue nicht mit!“ muß ausgerottet werden, wenn die deutsche Einheit zu Stande kommen soll. Eine andere, durch ganz Deutschland verbreitete Redensart ist nicht salonfähig. Sie findet sich in der classischen Literatur gedruckt nur einmal. Und doch ist sie für unser Volk von größter Wichtigkeit. So lange der Deutsche zu dieser Redensart noch fähig ist, ist er noch nicht verloren. Sobald er zu ihr greift, ändert sich sein ganzes Wesen; er wird energisch, feurig, durchgreifend und ist fortan jeder andern Nation gewachsen.
R.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: rückt