Die Regeneration Aegyptens, speciell in Bezug auf den Sclavenhandel

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Autor: Adolf Ebeling
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Titel: Die Regeneration Aegyptens, speciell in Bezug auf den Sclavenhandel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 828–832
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Regeneration Aegyptens, speciell in Bezug auf den Sclavenhandel.

Von Adolf Ebeling.

Die Cholera ist im Pharaonenlande jetzt gottlob so gut wie erloschen, wenigstens im Haupttheile desselben, in Unterägypten, denn auch die vereinzelten Todesfälle in Alexandria sind nach Aussage der Aerzte sämmtlich auf Dysenterie zurückzuführen, die dort alljährlich in der heißen Jahreszeit vorkommt.

Nach dem Aufhören der Epidemie wird man sich nun mit verdoppelter Energie der inneren Neugestaltung Aegyptens zuwenden müssen, und jedenfalls hat diese letzte Heimsuchung das Gute gehabt, neue Schäden und Unzuträglichkeiten aufzudecken, die gebieterischer als je zuvor Abhülfe fordern. Dann wird man sich auch leicht mit der englischen Oberhoheit als mit einer vollendeten Thatsache versöhnen und aus der Noth eine Tugend machen.

Drei Hauptübelstände sind es namentlich, die gewissermaßen als die Grundursachen der ganzen ägyptischen Misère anzusehen sind und deren Beseitigung vor Allem in’s Auge gefaßt werden muß. Letztere wurde schon seit Mohammed Ali’s Tode stets feierlich versprochen, ist aber niemals, wenigstens nicht durchgreifend und allgemein, erfüllt worden. Das sind die Frohndienste, [829] das willkürliche Eintreiben der Steuern und die Bastonnade.

Noch bis in die jüngste Zeit hinein, unter dem Exkhediv Ismaïl, wurden die Fellachen zu den Regierungsbauten und zur Anlage von Dämmen und Canälen und zu sonstigen Arbeiten auf den viceköniglichen Domänen „gepreßt“, Männer, Weiber und Kinder, bei nothdürftiger Nahrung, kümmerlicher oder gar keiner Bezahlung und bei vielfach roher und unmenschlicher Behandlung. Ihre eigenen Felder und Ländereien mußten dadurch unbestellt bleiben, und doch sollten ihre Besitzer vierteljährlich von dem Ertrag derselben hohe Steuern bezahlen. Diese Steuern wurden an die Mudire der verschiedenen Provinzen und von diesen wieder an die Schechs der einzelnen Dörfer verpachtet, die unnachsichtlich und grausam die Gelder eintrieben und als Zwangsmittel dazu die Bastonnade anwandten.

Die bei einer solchen Mißwirthschaft auch anderweitig hervortretenden Uebelstände liegen auf der Hand. Hat ein Mudir oder sonst ein Pascha, der in der Provinz allmächtig ist, Arbeiter [830] nöthig, so „preßt“ er sie gleichfalls, und um ferner für seinen eigenen Beutel mehr Geld zu machen, als ihm von Rechtswegen zukommt, zieht er die Steuerschraube nach Gutdünken stärker an, und die „Nilpeitsche“[1] verhilft ihm bequem zu beiden.

Charakteristisch ist dabei der Umstand, daß diese schlimmen Dinge aus den beiden Hauptstädten, Alexandria und Kairo, und deren nächster Umgebung gänzlich verbannt sind und zwar wegen der dort residirenden Generalconsuln und diplomatischen Agenten, die beileibe nichts davon sehen und wissen dürfen, um sie in dem frommen Glauben zu lassen, daß dergleichen, und namentlich die abscheuliche Bastonnade, längst nicht mehr im Nillande existirt, wie es ja auch die europäischen Zeitungen von jeher versichert haben.

Hier wird nun die englische Verwaltung, oder was rücksichtsvoller klingt, die ägyptische Regierung unter englischer Aufsicht, energisch zu reformiren haben, und es sind schon jetzt verschiedene Anzeichen vorhanden, daß dies geschehen wird. Es ist zugleich das beste und sicherste Mittel, den Engländern die Sympathien der Landbevölkerung zu gewinnen.

Die weiteren Reformen werden sich dann auf das Heer- und Polizeiwesen erstrecken; die erstere ist zur Zeit noch zurückgestellt, weil die Neubildung einer eigentlichen ägyptischen Armee zunächst unnöthig erscheint, und die zweite ist bereits schon so gut wie organisirt. Auch hier ist der Chef natürlich ein englischer Stabsofficier und zwar der sehr fähige Baker Pascha.

Dann wird die Einrichtung neuer und zwar inländischer Gerichtshöfe, zu zwei Dritttheilen aus arabischen und zu einem Dritttheil aus europäischen (englischen) Mitgliedern bestehend, an die Reihe kommen, und ebenso die Gründung einer Menge Volksschulen in allen Theilen des Landes. In dieser letzteren Beziehung sieht es nämlich noch bös in Aegypten aus, denn mit Ausnahme der höheren Unterrichtsanstalten in den großen Städten, von denen viele unbestrittene Anerkennung verdienen, ist der gesammte Volksunterricht noch nicht über die sogenannten Koranschulen hinausgekommen.

Bei der unleugbar guten, ja man möchte fast sagen glänzenden Befähigung der männlichen arabischen Jugend, ihrer Lernbegierde und Folgsamkeit eröffnet sich hier ein schönes Feld wahrhaft segensreicher Thätigkeit. Hundert gute Elementarschulen in Aegypten, unter verständiger Leitung und mit tüchtigen Lehrkräften (gewissermaßen paritätisch, das heißt arabisch-europäisch) – und es würde um die Volksbildung in Aegypten ganz anders aussehen, und die so oft als Trumpf fälschlich ausgespielte „abendländische Civilisation“ wäre dann kein hohles Scheinding mehr.

Ein anderer nicht minder wichtiger Gegenstand der Reform wird alsdann die Besteuerung der in Aegypten lebenden und dort etablirten Ausländer sein. Die völlige Steuerfreiheit der Ausländer in Aegypten datirt schon aus früheren Jahrhunderten durch die „Capitulationen“ (Verträge zwischen der Türkei und den einzelnen europäischen Mächten), und Mohammed Ali erneuerte dieselben mit noch weiter gehenden Zugeständnissen, um dadurch immer mehr Europäer in’s Land zu ziehen. Damals unstreitig eine sehr gute politische Maßregel. Aber die Verhältnisse haben sich seitdem wesentlich geändert; die Europäer haben sich, und zumeist auf Kosten des Landes, maßlos bereichert und genossen außerdem, wenigstens in den großen Städten, alle Vortheile wohlgeordneter staatlicher Einrichtungen, blieben aber nach wie vor abgabenfrei. Indirect wurden sie allerdings durch die außerordentlich hohen Eingangs- und Ausgangszölle auf alle nur denkbaren Waaren, auch durch den städtischen Octroi u. dergl. stark besteuert, und hier müßten wesentliche Aenderungen und Erleichterungen eintreten und namentlich der überall herrschenden Willkür Schranken gesetzt werden. Da nun aber die Engländer selbst von diesen neuen Steuergesetzen betroffen werden und zugleich dabei die Hauptstimme haben, so darf man wohl auf eine für alle Theile günstige Lösung dieser Frage hoffen.

Die Zeit der Sinecuren, der hohen Gehälter bei möglichst geringer und nur allzu oft gar keiner Arbeit, dürfte für immer in Aegypten vorüber sein, und das ist ein Glück für das Land; man wird sich nach Männern umsehen müssen, die fleißig und gewissenhaft arbeiten wollen, und daß man diese gut bezahlen wird, versteht sich von selbst; der Arbeiter ist seines Lohnes werth, sagt nicht allein die Bibel, sondern auch der Koran.

Ein Mann ist bereits gefunden, der in allen diesen Dingen den Engländern mit seiner Erfahrung, seinen Kenntnissen und seiner Energie zur Seite stehen wird. Dieser Mann ist kein Anderer, als Nubar Pascha, der frühere Premierminister des abgesetzten Khediv Ismaïl.

Dies könnte auf den ersten Blick Bedenken erregen, aber Nubar stieg und fiel bekanntlich mit der schwankenden Politik seines Herrn und trat jedesmal zurück, wenn er mit seinen wohlmeinten Rathschlägen nicht durchdringen konnte; so bei der unseligen abessinischen Expedition, bei der verhängnißvollen Rentenconversion, bei den schlimmen Experimenten des damaligen Finanzministers, des berüchtigten Mufetisch, und in manchen ähnlichen Fällen. Ueberdies ist Nubar ein Christ, mit einer französisch, d. h. europäisch gebildeten Armenierin vermählt und ein Freund europäischer Bildung. Er ist auch der Schöpfer der internationalen Justizreform in Aegypten, die den Anfang bilden sollte zu einer neuen Gerichtsbarkeit im ganzen Lande und die er jetzt gewiß durchführen wird.

Was uns Europäern aber Nubar besonders werth macht und uns wünschen läßt, ihn bald seinen früheren Ministerposten wieder einnehmen zu sehen (was möglicher Weise, wenn der Leser dies liest, schon geschehen sein kann), ist der wichtige Umstand, daß er von jeher ein unerbittlicher Gegner des Sclavenhandels[WS 1] gewesen ist und denselben, soweit es in seiner Macht stand, unaufhörlich bekämpft hat.

Dies bringt uns auf den eigentlichen Brennpunkt der ägyptischen Frage, ohne welchen alle geplanten Reformen nur halbe sind, wenn anders dieselben, wie man auch jetzt wieder beständig versichern hört, das Land der abendländischen Cultur und Gesittung zuführen sollen. Auch hier, und vielleicht noch weniger als auf anderen Gebieten, ist von heute auf morgen keine Wandlung zu schaffen, aber es steht doch zu hoffen, daß jetzt endlich, endlich! einmal Ernst gemacht wird, um wenigstens für Aegypten dieses verruchte „Geschäft“ gründlich und dauernd zu beseitigen.

Nach einer allgemeinen Schätzung von competenter Seite gehen noch alljährlich aus den südlichen ägyptischen Provinzen Dar-fur und dem Sudan und aus den noch südlicher gelegenen nicht-ägyptischen Gallaländern wenigstens 50,000 Köpfe, nach anderen gar 80,000, in die Sclaverei, und mehr als die Hälfte von ihnen geht über Kartum direct durch Aegypten bis nach Assuan, ja bis nach Kairo selbst, von wo sie östlich über das Rothe Meer nach dem Hedschas und Syrien und nordwestlich durch die Libysche Wüste nach Tripolis, Tunis und weiter transportirt werden. Auch die kleinasiatischen Städte, und vor Allem Constantinopel, haben Theil daran; der abessinischen Sclaven, die über Massaua an der Küste des Rothen Meeres nördlich hinauf, also auch durch Aegypten gehen, gar nicht zu gedenken. Kartum ist der Hauptstapelplatz dieser Menschenwaare, und dort finden sich auch die Händler aus Unter- und Mittelägypten und aus den übrigen eben genannten Ländern ein, um die Geschäfte abzuschließen.

Wir wollen unsere Leser mit der Schilderung der Sclavenjagden, der unmenschlichen Behandlung der armen Gefangenen auf dem Transporte zu Land oder zu Wasser, und mit den sonstigen grauenhaften und empörenden Einzelheiten verschonen; viele von ihnen haben dergleichen gewiß schon in Reisebeschreibungen und ähnlichen darauf bezüglichen Schriften oder auch in den Tagesblättern gelesen;[2] nur das Eine sei hier bemerkt, und wir knüpfen daran die folgende kurze Notiz, daß selbst die schrecklichsten und entsetzlichsten jener Schilderungen in nichts übertrieben sind, ja zumeist noch hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Noch heute gilt nämlich so ziemlich Alles, was einer der zuverlässigsten Gewährsmänner, der Afrikareisende Dr. Alfred Brehm, aus den fünfziger Jahren darüber meldet, und zwar durchweg nach eigener Anschauung, mithin als unwiderlegbarer Augenzeuge.

„Ich habe,“ so schreibt er unter Anderem, „einen Transport Dinkha-Neger in Kartum ankommen sehen. Der Anblick war schauderhaft. Die schmerzgepeinigten Männer, welche noch Wunden [831] vom Schlachtfelde her tragen (als sie von den Sclavenjägern überfallen wurden und auf Tod und Leben um ihre Freiheit kämpften) und deren Hälse die Schaba wund reibt (eine schwere, nachschleppende Holzgabel, in welche der Hals des Gefangenen gesteckt wird), dann die armen, halbverdursteten und halbverhungerten Weiber mit ihren nackten Kindern, die sich kaum mehr fortschleppen können und durch Peitschenhiebe immer wieder aufgetrieben werden … keine Feder kann diesen Anblick beschreiben, Worte drücken ihn nicht aus. Mir hat er wochenlang wie ein grausiges Bild des Schreckens und Entsetzens vor der Seele gestanden.“[3]

So Brehm, und wir citiren aus Rücksicht für den weiblichen Leserkreis dieser Blätter noch nicht einmal die entsetzlichsten und abscheulichsten Stellen seiner Schilderung.

Im Ganzen bestehen diese haarsträubenden, grausigen Zustände noch heute, nur wird die Sache seit den letzten Decennien heimlicher betrieben, und die Sclavenjäger und ihre Helfershelfer sind mehr auf ihrer Hut und wagen sich nicht mehr über Dongola und Wadi-Halfa (also über den zweiten Katarakt) hinaus, wo alsdann der bis dahin öffentlich betriebene Handel zum Schmuggelhandel wird. Kartum ist nach wie vor der Centralpunkt dafür und der Weg des Klägers in Kartum bis zum Richter in Kairo ist weit.

Denn das darf man zur Steuer der Wahrheit und zugleich zur Ehre der ägyptischen Regierung, besonders seit dem Regierungsantritt des Exkhediv Ismaïl (im Jahre 1863) nicht verschweigen, daß von jener Zeit an wenigstens die öffentlichen Sclavenmärkte in Unter- und Mittelägypten, speciell in Kairo, aufgehoben sind, und daß man sogar gegen diejenigen Händler, die nicht vorsichtig genug waren und zu viel Lärm von ihrem Geschäft machten, polizeilich einschritt und ihnen ihre „Waare“ confiscirte, allerdings nicht, um die Unglücklichen in Freiheit zu setzen, sondern nur um die männlichen Sclaven in die Armee einzureihen und die weiblichen „anderweitig“ unterzubringen.

Auch auf den berüchtigten jährlichen Messen zu Tanta im Delta, wohin Hunderttausende strömen, wurde der sonst auf freien Plätzen vor der Stadt abgehaltene Sclavenmarkt verboten, aber in besonderen Zelten, für deren Besuch man ein kleines Eintrittsgeld erhob, fortgesetzt. Auch streute man der Regierung Sand in die Augen durch Errichtung von sogenannten Gesindebureaux, wo man pro forma die betreffenden Personen miethete, aber de facto kaufte, und es fanden sich stets gewissenlose Beamte, die diesem Unwesen gegen gute Bestechung durch die Finger sahen.

Thatsächlich ist also von Seiten der ägyptischen Regierung bis jetzt so gut wie nichts geschehen, um dem verruchten Gewerbe ein Ende zu machen, denn auch die verschiedenen, mit lauter Reclame und großen Kosten von ihr in’s Werk gesetzten militärischen Expeditionen nach dem Süden haben keine irgendwie greifbare Frucht getragen.

Alles, was man darüber in europäischen Zeitungen ab und zu veröffentlichte, beruht entweder geradezu auf Unwahrheit, oder doch auf starker Uebertreibung und Schwindel. Wie wäre es auch anders möglich, wo der Landesherr selbst (obwohl der Khediv Tewfik „bis jetzt“ nur eine legitime Gattin hat) für seinen Harem und Hofhalt Sclaven, Sclavinnen und Eunuchen in Menge besitzt, und wo alle Paschas und überhaupt alle diejenigen, die nur das Geld dazu aufwenden können, diesem Beispiel folgen?

Von oben her und aus eigenem Antrieb ist mithin für diese große Sache der Humanität nichts zu erwarten, aber in einem ganz anderen Lichte erscheint sie, wenn die Engländer sich derselben thatkräftig annehmen. Sind sie jetzt wirklich die Herren im Nillande, und das sind sie, denn sie gebieten nach allen Richtungen hin, haben an der Spitze sämmtlicher Verwaltungszweige die Ihrigen eingesetzt, sie überwachen, leiten und controlliren Alles und halten dabei die Hand an den Degen, um jedweder Maßregel den gebührenden Nachdruck zu verleihen – dann tritt auch die moralische Nöthigung ernst und gebieterisch an sie heran, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben und es nicht, wie es die ägyptische Regierung bisher immer gethan, bei schönen Worten und Verheißungen und unbedeutenden Palliativmitteln bewenden zu lassen, sondern das Uebel bei der Wurzel zu fassen und mit Stumpf und Stiel auszurotten. Das hieße ihrer civilisatorischen Mission die leuchtende Krone aufsetzen, und die ungetheilten Sympathien des christlichen Europas würden sie darin nicht allein stützen und ermuthigen, sondern ihnen auch da zu Theil werden, wo sich jetzt noch politische Bedenken erheben wegen ihres Auftretens in Aegypten, das (wir verhehlen dies nicht) auf eine gänzliche Annexion hinweist. Um diesen Preis, für den uns im Interesse der Humanität nichts zu hoch dünkt, aber auch nur um diesen, mag dann früher oder später das Nilland gern vollständig englisch werden!

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Leider sind diese erfreulichen Aussichten, so weit sie wenigstens die sofortige friedliche Entwickelung der politischen und socialen Verhältnisse in Aegypten betreffen, in jüngster Zeit wieder sehr in die Ferne gerückt und vielleicht für die nächste Zukunft ganz in Frage gestellt. Der Mahdi (der falsche Prophet), der schon vor drei oder vier Jahren sein abenteuerliches Treiben im östlichen Sudan und in Dar-fur begann, das die ägyptische Regierung damals mit gewohnter orientalischer Lässigkeit unterschätzte, ist nämlich mit seinen Anhängern, die nach vielen Tausenden, ja, wie Manche behaupten, nach Hunderttausenden zählen, zu einer solchen Macht angewachsen, daß er jetzt das Nilland selbst bedroht und das eigentliche Aegypten durch seinen bloßen Namen in Schrecken setzt.

Nach der kürzlich erfolgten Niederlage der englisch-ägyptischen Truppen unter Hicks Pascha, die natürlich auch den Lesern dieses Blattes in ihren Einzelnheiten, so weit dieselben bis jetzt nach Europa gelangten, bekannt ist, scheinen die Actien des Mahdi augenblicklich sehr günstig zu stehen, aber man darf der Bewegung auch keine allzu große oder gar phantastische Tragweite zuschreiben und namentlich nicht schon jetzt für Kairo und Unterägypten fürchten, wie in manchen Zeitungen von Unkundigen versichert wird.[4] In gerader Linie beträgt die Entfernung von jenem Kriegsschauplatze bis Kairo wenigstens die doppelte Länge von ganz Italien, und wegen der Krümmungen des Nils (denn nur an diesem hinab wäre ein Vormarsch überhaupt denkbar) wenigstens das Vierfache; vor der Hand ist also höchstens Kartum in Gefahr, denn Obeïd, die Hauptstadt Kordofans, wird wohl schon gefallen sein.

Kartum ist die südliche Grenz- und zugleich Hauptstadt Nubiens, die mit Massaua, an der diesseitigen Küste des Rothen Meeres, ungefähr auf demselben Breitengrade liegt und durch gute Karawanenstraßen mit ihr verbunden ist. Dort (das heißt zunächst in Kartum und eventuell auch in Massaua) könnte es möglicher Weise bald zu einem neuen Zusammenstoß kommen, schon weil Massaua der ewige Zankapfel zwischen Abessinien und Aegypten ist und die Abessinier deshalb mit dem Mahdi gemeinsame Sache machen dürften, wie es theilweise ja schon geschehen ist.

Die Hauptstütze hat der Mahdi bis jetzt nur in Dar-fur gefunden, jener großen Länderstrecke zwischen Wadai und Kordofan, deren Bevölkerung von jeher das aufgezwungene ägyptische Joch mit Widerwillen getragen. Jetzt rächen sich die unklugen Annexionsgelüste des Ex-Khediv Ismaïl in schrecklicher Weise, ähnlich wie die unselige Expedition nach Abessinien im Jahre 1876.

Eine weitere Hauptstütze des falschen Propheten ist mittlerweile ganz in Rauch aufgegangen, nämlich Arabi Pascha, von dem jetzt längst erwiesen ist, daß er ein Zusammengehen mit dem Mahdi im Sinne hatte. Wäre Arabi’s Revolutionsplan gelungen, so hätte alsdann diese Doppelbewegung im Norden und Süden für Aegypten wohl verhängnißvoll werden können; nach seiner Vernichtung indeß ist die eigentliche Gefahr, speciell für Mittel- und Unterägypten, verschwunden oder doch dergestalt verringert, daß man ihr jedenfalls, freilich nach hart bezahltem Lehrgeld, mit Erfolg wird begegnen können.

Das englische Element ist gleichfalls ein günstiger Hebel für die Unternehmungen des Mahdi, und zwar deswegen, weil es überall verhaßt ist, und dieser Haß führt dem Agitator, der wohlweislich das beliebte geflügelte Wort „Aegypten für die Aegypter“ [832] auf seine Fahne geschrieben hat, weit mehr Anhänger zu, als die Begeisterung für die Reform des Islam, die er für sein Hauptziel, für seine eigentliche Mission ausgiebt. In dieser letzteren Beziehung dürfte er sich aber arg getäuscht sehen, denn schon haben die Ulemas der großen Azhar-Moschee, der ersten Universität der gesammten mohammedanischen Welt, ihn als Betrüger verurtheilt, und selbst im fernen Stambul regen sich bereits die Schriftgelehrten des Korans, um ihn als Verräther des wahren Propheten in Bann zu erklären.

Vom Fanatismus der großen Massen hat also der Mahdi nicht viel zu hoffen, und deshalb hatte der scharfblickende Baker Pascha ganz Recht, als er beim Beginn der Hicks’schen Expedition, die so verhängnißvoll werden sollte, und vor welcher er vergebens eindringlich warnte, vorschlug, derselben alsdann wenigstens einige der ersten Ulemas von Kairo mitzugeben, um die Bevölkerung dem falschen Propheten abtrünnig zu machen und zum wahren Glauben zurückzuführen.

Bei uns in Europa wäre das allerdiugs eine seltsame Manier, Krieg zu führen; aber Land und Leute in Central-Afrika sind eben ganz anders, so ganz anders, daß nur die damit Vertrauten sich ein richtiges Urtheil über die dortige Lage der Dinge bilden können. Wie dieselbe nun aber einmal ist, und zwar durch die Fehler der ägyptischen Regierung geworden ist, darf an eine Zurückziehung der englischen Truppen aus Aegypten, die bereits für den November in Aussicht genommen war, nicht mehr gedacht werden; im Gegentheile, es wäre gar so unwahrscheinlich nicht, wenn sie angesichts dieser neuen bedrohlichen Verwickelungen demnächst verstärkt würden. Somit scheint es, als solle das schöne Pharaonenland noch immer nicht zur Ruhe kommen, deren es doch so sehr, so sehr bedarf.


  1. Im Volke so genannt, weil sie aus der zolldicken Haut des Nilpferdes geschnitten wird. Sie ist unverwüstlich und geschmeidig wie der feinste Stahl.
  2. Die „Gartenlaube“ selbst, auch auf diesem Gebiete, wie auf so manchem anderen, echt philanthropisch, hat schon mehrfach darauf bezügliche Schilderungen gebracht (unter Anderen von dem verstorbenen Baron von Maltzahn) und mehr als eine Lanze für die armen Sclaven, als gleichberechtigte Mitglieder der großen Menschenfamilie, eingelegt.
  3. „Reiseskizzen aus Nordost-Afrika“ (Aegypten, Nubien, Kordofan etc.) von Dr. Alfred Brehm, ein umfang- und lehrreiches und zugleich sehr unterhaltendes dreibändiges Werk, das kaum noch antiquarisch zu haben ist und das wohl eine neue Auflage verdiente. Es ist eine wahre Fundgrube für die nähere Kenntniß jener Länder, und fast alle neueren Schriftsteller (ich selbst, woraus ich gar kein Hehl mache) haben mehr oder weniger daraus geschöpft.
  4. Ein namhaftes rheinisches Blatt sprach sogar schon, und das ganz ernsthaft, von einem nahe bevorstehendem Angriffe des Mahdi auf das Nildelta!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sllavenhandels