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Die Sibyllinen/Einleitung

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Einleitung

Das ganze klassische Altertum, das griechische wie das römische und das griechisch-römische der Kaiserzeit, ist von Weissagungen und Orakeln voll; immerdar hat man gestrebt, in die Zukunft hineinzuschauen und sich, wo der menschliche Verstand nicht zulangte, göttlichen oder gottbegeisterten Beirat zu verschaffen. Das gilt von den Einzelnen und gilt von den Staaten ebenso und von dem größten Staate, dem römischen, am Meisten. Es hat auch zu keiner Zeit an Leuten und an Instituten gefehlt, die diesem Bedürfnis entgegenkamen, und zwar in der allermannigfaltigsten Weise. Die stoischen Philosophen, welche der Weissagung (divinatio) in ihrem System einen breiten Raum gaben und sich die Verteidigung derselben sehr angelegen sein ließen, unterschieden zwei Hauptarten, eine künstliche und eine kunstlose oder natürliche divinatio. Jene umfaßte die Disciplinen der Eingeweideschau, der Vogelschau, der Astrologie u. s. w.; in dieser scheiden sich das Hellsehen und der Traum, dessen Deutung indessen ebenfalls der Kunst unterliegt. Hellseher aber hatte man nicht nach Belieben zur Verfügung, namentlich nachdem die alten Orakelstätten, wie Delphi, wo Apollon durch den Mund eines Weibes weissagte, in Verfall und Mißachtung gekommen waren; zum Ersatz also dienten die schriftlich aufgezeichneten Sprüche von Hellsehern der Vorzeit, von denen die Sibylla, früher ein einheitliches Wesen, später in viele Personen geteilt, von sehr früher Zeit ab hervorgeragt und nachmals sogar alle andern unterdrückt hat.

Der Name Sibylla ist von dunkler Bedeutung und nicht einmal von fester Schreibung, insofern Sibilla (als Frauenname) sich auf einer attischen Inschrift des 4. Jahrh. v. Chr. findet. Die Prophetin aber war bereits der attischen und sogar der vorattischen Zeit bekannt; denn aus dem Philosophen Heraklit von Ephesos, der etwa unter Darius Hystaspes’ Sohn blühte, wird folgende Stelle citiert: „Sibylla, indem sie mit rasendem Mund unerheiterte und ungezierte und ungesalbte Worte redet, reicht auf tausend Jahre weit durch die Kraft des Gottes.“ Also in uralten Zeiten sollte Sibylla gelebt haben, ihre aufgezeichneten Sprüche aber erfüllten sich in der Gegenwart oder sollten sich erst in der Zukunft erfüllen. Fragt man aber, woher die Meinung kam, daß sie einer so entfernten Vorzeit angehöre, so wird die Antwort schwerlich fehlgehen, daß Weissagungen über sehr alte Geschichten schon damals unter ihren Sprüchen waren, insonderheit solche über den trojanischen Krieg, wie sie auch in den [178] dem Pausanias u. a. bekannten Orakeln der Sibylla standen und sogar in den jetzigen sich noch finden. Hier wurde und wird auch Homer als der künftige Sänger dieses Krieges erwähnt und seine Kunstform des Hexameters natürlich auf die Sibylla als die wirkliche Urheberin zurückgeführt, deren Bücher Homer gekannt, aber verheimlicht habe. In Hexametern waren gewiß auch die dem Heraklit vorliegenden Sprüche verfaßt, gleichwie die des Bakis, von denen Herodot u. a. reden; die Verse mögen schlecht und der Ausdruck nichts weniger als klar und schön gewesen sein, worauf sich Heraklits Bezeichnungen „unerheitert, ungeziert, ungesalbt“ beziehen. Weiter aber zeigt sich in dieser ältesten Erwähnung bei einem Jonier Jonien als Heimat der Sibylla; d. h. unter den verschiedenen Sibyllen, die man später unterschied, ist die von Erythrai in Jonien als die älteste anzusehen, wiewohl doch schon Euripides (in einem verlorenen Stücke) Sibylla als Libyerin bezeichnete. Aristophanes und Platon geben bei ihren gelegentlichen Erwähnungen keine Heimat an; später aber wird die Kunde ausführlicher, jedoch immer mehr geteilt, so daß auch Sibylla aufhört, Eigenname zu sein, und entweder Beiname oder gar eine Art Gattungsname wird. Die Sibylla von Erythrai soll Herophile geheißen haben, welcher Name auch in ihren Sprüchen nach Pausanias vorkam, neben dem der Artemis; denn sie gab sich ebendaselbst auch für eine Schwester des Apollon aus und anderswo für die Tochter desselben und wiederum für seine Ehefrau. Prophetinnen des Apollon sind die Sibyllen auch sonst; in dem italischen Kyme (Cumae) zeigte man im Apollontempel die Urne, welche die Gebeine der dortigen Sibylle, mit Namen Demo, enthalten sollte. Diese kumäische Sibylla ist schließlich unter den zehn — so viele unterschied Varro — die berühmteste geworden, einerseits durch Vergil, bei welchem sie Äneas in die Unterwelt geleitet, andererseits dadurch, daß 3 Bücher ihrer Sprüche nach Rom, angeblich bereits unter König Tarquinius Priseus, gelangten, und daß nun dort die Sibyllinen viele Jahrhunderte lang, bis in späte Zeiten der Stadt und des Reichs, eine ausgedehnte und wichtige politische Verwendung fanden. Die Vermittelung nämlich ist jedenfalls von Kyme aus geschehen, wiewohl Varro den Tarquinius für zu jung hält, um Zeitgenosse der wirklichen, wenn auch noch so langlebigen Sibylle zu sein, und darum die Erythräerin für die wirkliche Verfasserin der Sprüche erklärte.

Über diese römische offizielle Sammlung sibyllinischer Orakel sind wir verhältnismäßig nicht schlecht unterrichtet. Sie stand unter der Aussicht eines eigenen, sehr vornehmen Kollegiums, der decemviri, seit Sulla quindecimviri, sacris faciundis; diese hatten die Bücher zu Rate zu ziehen, sobald der Senat infolge von Unglücksfällen oder erschreckenden Wunderzeichen dies anordnete. Diesen praktischen Zwecken entsprachen nämlich die Orakel: sie hatten gar keine Ähnlichkeit mit den jetzt vorhandenen Sibyllinen, sondern die Form war diese: wenn dies geschieht, dann nehmt die und die Expiationen vor. Warnungen und Mahnungen mögen, neben einfachen Prophezeiungen des Zukünftigen, auch die vor Alters in Griechenland umlaufenden Sibyllensprüche gegeben haben; aber diesen in Rom gebrauchten merkt man es sofort an, daß sie für das besondere Bedürfnis des römischen Staates fabriziert waren, nur insofern den alten ähnlich, als auch sie die Prädikate „ungeziert und ungesalbt“ verdienen (Diels). Es ist uns nämlich, bei dem Historiker Phlegon in seinem Buche wundersamer Geschichten, ein im J. 125 v. Chr. zur Verwendung gekommenes sibyllinisches Orakel erhalten, indem zwar die Sammlung als solche ein Staatsgeheimnis war, aber die Veröffentlichung einzelner Stücke nach Befinden des Senats unbedenklich geschehen konnte. Die Echtheit dieses Orakels in dem Sinne, den das Wort „Echtheit“ hier haben kann, ist von H. Diels in seinem Buche: „Sibyllinische Blätter“ (Berlin 1890) glänzend erwiesen worden. Charakteristisch und nach römischen Begriffen gleichsam ein Siegel der Echtheit und Unverfälschtheit ist darin die bereits von Cicero an den Sibyllinen hervorgehobene akrostichische Form: der erste Vers des Spruches kann, wie an seinem Platze von links nach rechts, so außerdem von oben nach unten gelesen werden, indem die Anfangsbuchstaben sämtlicher Verse ihn bilden. [179] Cicero bemerkt ganz richtig, daß zu der Theorie von einer gottbegeisterten Seherin diese verzwickte Technik recht wenig stimme; aber was kam darauf an? Das Kapitol und mit ihm die Sammlung verbrannte im J. 83 v. Chr.; indes da der Staat Sibyllensprüche haben mußte, so wurden neue beschafft, aus Italien und Griechenland und namentlich aus Erythrai, gegen 1000 Verse; die Beschaffung konnte nicht schwierig sein.

Diese römischen Sammlungen von Sibyllinen liegen nun von dem Weg, auf dem wir schließlich zu den vorhandenen kommen, etwas seitwärts ab; ist doch auch die akrostichische Technik in diesen nur ganz schwach vertreten. Voraussetzung für die Entstehung unserer Sammlung ist, daß in der hellenistischen Zeit nicht nur in Rom, sondern auch in Ägypten die Sibylla alle alten Nebenbuhler, wie den Bakis, totgemacht hatte, selbst aber sich im Ansehen behauptete, so daß auch die Fabrikation oder Umformung von Sibyllensprüchen mit Vorteil weiterging. Somit fing jetzt auch das alexandrinische Judentum an, sich für seine Zwecke der monotheistischen Propaganda an der Fabrikation zu beteiligen. Man konnte klein anfangen, mit Interpolation in die vorhandenen Sammlungen; allmählich wuchs dann die Interpolation und drängte das ursprüngliche Heidnische mehr und mehr zurück. Ganz nämlich ist dasselbe auch aus den vorhandenen Sibyllinen nicht ausgetrieben, nur daß unter der jüdischen Redaktion die Namen heidnischer Götter verschwinden mußten. Aber nicht nur Weissagungen über Troja und Helena, genau sich deckend mit den von Griechen erwähnten, finden sich in unserer Sammlung vor (III, 414 ff. und ausgeführter XI, 125 ff.), sondern es citiert auch Strabo wörtlich über die Landaufschüttungen des kilikischen Flusses Pyramos zwei sibyllinische Verse, welche sich ziemlich ebenso hier erhalten haben (IV, 95 f.). Auch anderes von heidnischen Schriftstellern aus den Sibyllensprüchen Citierte findet sich in unseren Sibyllinen mehr oder weniger deutlich wieder. Daß dies nicht bei allem der Fall ist, begreift sich leicht, nicht nur aus den Schicksalen der Sammlung, sondern auch daraus, daß die Redaktoren nur für die damals bedeutenden Länder und Städte Interesse hatten, insbesondere der Jude nur für die, wo es auch reichlich Juden gab; also Griechenland, mit Ausnahme von Korinth, fiel ziemlich aus, während desto mehr Ägypten, Kleinasien, Italien hervortraten. Aber was über diese Länder und vollends über einzelne Städte derselben gesagt wird, mag man im Wesentlichen auf heidnischen Ursprung zurückführen, da doch ein Jude schwerlich das Interesse hatte, ein Orakel über Rhodos oder Kyzikos oder Laodikeia eigens zu fälschen. Jedoch, obwohl diese Abschnitte nicht wenig zahlreich und nicht unbeträchtlichen Umfangs sind: die große Masse des Erhaltenen ist dennoch von Grund auf neu gemacht, sei es von Juden oder von Christen, oder mindestens erst in der Zeit der römischen Kaiser fabriziert und dann etwa von Juden oder Christen umgeformt.

Die jüdische Sibylla nun ist erstlich eine unermüdliche Predigerin für den Monotheismus und gegen den Götzendienst. Solange das Judentum Propaganda trieb, was es in späterer alexandrinischer Zeit und noch zu Christi Zeiten ganz gehörig that, in Ägypten, und wo es sonst hinkam, war dafür die Maske der alten Prophetin ein ganz vorzügliches Mittel, denn die Meisten ließen sich aufs Leichteste täuschen. Die Reden gegen den Götzendienst pflegen sich mit der Weissagung der kommenden Gerichte und insonderheit des Endgerichts zu verbinden; die Sibylla macht es, wie es Paulus und andere Prediger des Christentums gemacht haben, nur daß ihr der Geist und der religiöse Gehalt fehlt. Einen weiteren, reichen Stoff bietet ihr die Weltgeschichte seit Noah, natürlich ins Futurum umzusetzen; denn diese Sibylla ist Noahs Enkelin und Schwiegertochter (III, 826). Es scheint indessen auch von diesen Erzählungen ein Teil heidnischen Ursprung zu haben. Denn was B. III, 97 ff. zunächst berichtet wird, über den babylonischen Turm, der auf Befehl Gottes von den Winden umgeblasen wurde, und über Kronos und Titan und ihren Krieg (108 ff.), wird mit genauem Entsprechen von dem heidn. Historiker Alexander Polyhistor (um 80-40 v. Chr.) aus den Orakeln der Sibylla [180] angeführt, nur mit den Abweichungen, daß nicht Gott, sondern die Götter die Winde senden, und daß neben Titan nicht Kronos, sondern der in unseren Sibyllinen überhaupt fehlende Prometheus erscheint. Dasselbe, aber ohne Berufung auf die Sibylla, jedoch mit Kronos und Titan, findet sich in Fragmenten des Abydenos, der (nach neuesten Forschungen erst in nachchristlicher Zeit) eine Geschichte der Assyrier und Meder schrieb. Es gab also mit diesen Inhalt heidnische, nach irgendwelchen Historikern gemachte Sibyllenorakel, und damit steht in Zusammenhang, daß auch Griechen unter den Sibyllen eine assyrische oder babylonische aufzählen, gerade wie die Sibylla des 3. Buchs am Schlusse sagt, daß sie von den hohen Mauern des assyrischen Babylon komme und keineswegs Erythräerin und ebensowenig Tochter der Kirke (d. h. Kymäerin) sei (V. 809 ff.). Dahinter folgt freilich die Stelle, worin sie sich für die Schwiegertochter Noahs ausgiebt (823 ff.), und jene selben Griechen, wie Pausanias, bemerken, daß die Babylonierin nach andern Hebräerin sei; also auch eine jüdische Bearbeitung dieser Sibyllinen, wie sie uns im 3. Buche vorliegt, war in weiteren Kreisen bekannt geworden. Die Untersuchungen Hilgenfelds und Ewalds haben ergeben, daß das 3. Buch, soweit es eine relative Einheit ist, von einem ägyptischen Juden unter dem 7. Ptolemäer, Ptolemaios Physkon, um 140 v. Chr. verfaßt wurde; aber für Originaldichtung wird man es nicht ansehen dürfen, sondern wenigstens zum Teil für Kompilation oder höchstens Überarbeitung älterer Vorlagen. Die Geschichte der Welt und ihrer einander ablösenden Reiche wird darin bis auf die damalige Gegenwart fortgeführt. Über die erste Unterlage, die Dynastie des Kronos, ist noch zu bemerken, daß die Umwandlung der hellenischen Götter in alte Könige nicht nur der Richtung der Zeit entspricht, wo der Euhemerismus, nach Euhemeros von Messana (um 300 v. Chr.) benannt, alle Mythen in dieser Weise auflöste, sondern daß auch Lactantius ziemlich genau dieselbe Geschichte, in aller Breite erzählt, aus Ennius’ Euhemerus anführt, also Euhemeros’ „Heilige Urkunde“ letzte Quelle für alles ist. Die Sibyllisten der Kaiserzeit setzten die Weltgeschichte fort und behandelten namentlich eingehend die einzelnen römischen Kaiser, die hauptsächlich nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen angedeutet werden (s. B. V, 1-51). Man merkt hier zwar deutlich den Juden, welcher den Vespasian brandmarkt und gegen alle Geschichte durch den eignen Sohn der Herrschaft beraubt werden läßt (V. 36. 38 f.); daß aber der Jude nicht alles selbst gemacht, sondern Fremdes umgeformt hat, zeigt sich anderswo deutlich.

Die jüdische Fabrikation oder Aufputzung wurde schließlich von der christlichen abgelöst, indem die auf die jüdische folgende christliche Propaganda den Namen der alten Sibylle immer noch als ein geeignetes Mittel erfand, um Heiden zu imponieren. Schon alte Kirchenväter hatten von den jüdischen Sibyllinen ausgiebigen Gebrauch gemacht, und nun fanden sich auch Leute, welche die Sibylla die evangelische Geschichte im Futurum erzählen ließen oder mit Ἰησοῦς Χριστὸς θεοῦ υἱὸς σωτὴρ σταυρός ein Akrostich bildeten. Adeo nullus mentiendi modus fuit.

Was nun als letztes Ergebnis aller dieser Umformungen und Zudichtungen schließlich auf uns gekommen ist, bildet immerhin eine ganz unverächtliche Masse, mehr als 4000 Hexameter. Aber nur die Masse ist unverächtlich, alles andere minderwertig und natürlich auch das einzige Echtheitssiegel vorhanden, das Ungeputzte und Ungesalbte der Form, in der Überlieferung noch gesteigert, manchmal bis zu völliger Sinnlosigkeit, die an die Vorträge absichtlichen Unsinns erinnert, wie man sie zuweilen in vergnügten Gesellschaften zu hören bekommt. Natürlich ist auch die Verskunst schlecht; es verdient Erwähnung, daß dies auch gebildeten Heiden an den ihnen christlicherseits entgegengehaltenen Sibyllinen auffiel, und daß die Antwort lautete, natürlich habe die Sibylle in richtigen Versen gesprochen, aber so schnell, das die nachschreibenden Tachygraphen (Stenographen) nicht immer richtig hätten folgen können (Suidas). Die Sammlung aber, wie sie vorliegt, ist nichts weiter als ein zufälliges Chaos, [181] noch dazu unvollständig erhalten. In den Titeln werden 15 Bücher geschieden, von denen bis in dieses Jahrhundert hinein nur die acht ersten vorlagen; erst A. Mai hat 1817 und 1828 nach einer Mailänder und zwei vatikanischen Hdschr. zunächst B. XIV, dann XI-XIV herausgegeben, so daß drei Bücher immer noch fehlen. Aufschlüsse über das allmähliche Anwachsen der Sammlung geben die Benutzungen bei den Kirchenvätern, am Meisten die bei Lactantius. Dieser sagt auch ausdrücklich (div. inst. 1, 6,13): „Von den einzelnen Sibyllen (deren er aus Varro zehn kennt), mit Ausnahme der Cumäerin, deren Bücher von den Römern geheim gehalten werden, hat man je ein Buch; da aber diese Bücher [alle nur] den Namen der Sibylle tragen, so meint man, daß sie von einer stammten, und sie sind zusammengeworfen und können auch nicht geschieden werden, so daß jeder einzelnen ihr Eigentum zugewiesen würde, ausgenommen bei der Erythräerin; denn diese hat ihren wahren Namen ihrem Gedicht eingefügt und vorher verkündigt, sie werde Erythräerin genannt werden, während sie in Wahrheit aus Babylon stamme.“ Das ist die vorhin erwähnte Stelle am Schlusse des dritten Buchs, wo nur der Name (jedenfalls Sambēthe) jetzt in einer Lücke von zwei Versen fehlt. Lactantius scheint also neun oder, da er die Erythräerin mit der Chaldäerin identifiziert, acht Bücher Sibyllinen gehabt zu haben. Aber man darf diese nicht ohne Weiteres unter den vorhandenen suchen wollen, noch meinen, daß die Einteilung in Bücher und der Umfang der einzelnen gerade so wie jetzt gewesen seien. Im Gegenteil, da Lactantius mit einer gewissen philologischen Genauigkeit, der man ein besseres Objekt wünschen könnte, Sorge trägt, bei diesem Buche der Erythräerin dieselbe regelmäßig als solche zu bezeichnen, so ersehen wir, daß darin zwar die Stelle über den Turmbau und was sich daran anschloß (noch V. 228 f.), und ebenso die letzten etwa 200 Verse mit Ausnahme des Schlusses enthalten waren, daß dagegen die mittleren Teile fehlten; aus diesen werden nämlich zwei Stellen (V. 545 ff. und 652 ff.) ohne den Zusatz Erythräa citiert und keine mit demselben. Dagegen haben den Zusatz Stellen, die in unseren Sibyllinen fehlen, bei Theophilus aber ausführlich mitgeteilt sind (s. unten Proeomium), und bei einer derselben (V. 5 f.) bemerkt Lactantius, daß sie den Anfang bilde. Somit mag das Buch damals 400-500 Verse gehabt haben und nicht, wie jetzt, die übergroße Zahl von mehr als 800. Lactantius’ Citate aus „anderen Sibyllen“ erstrecken sich über die Bücher IV-VIII unserer Sammlung; einige Citate finden sich überhaupt nicht wieder, so daß es auch hiernach vollkommen möglich ist, daß er im Ganzen acht Bücher gehabt hat. Der Bestand bei den älteren Kirchenvätern, wie bei Clemens Alexandrinus, erscheint im Allgemeinen geringer, indem namentlich bei Clemens VI. VII. VIII ausfallen. Eine Redaktionsthätigkeit sodann, die im Sammeln und im Scheiden bestand, legt sich ein ungenannter Byzantiner bei, von dem der in unseren Hdschr. überlieferte Prolog zu den Sibyllinen stammt; nach Alexandre (s. u.) lebte dieser Redaktor im 6. Jahrhundert, und er wird ja wohl das zusammengestellt haben, was unserer Sammlung zu Grunde liegt, ganz oder zum Teil. Doch fehlt viel daran, daß unsere Hdschr. selbst einen übereinstimmenden und festen Bestand gäben. Es sind von ihnen drei Klassen zu unterscheiden, von denen die beiden ersten nicht weiter als bis VIII reichen; dieses VIII. Buch aber steht in der einen am Ende, in der anderen an der Spitze. Die dritte Klasse ist die, aus der A. Mai die späteren Bücher herausgegeben hat; außerdem geben diese Handschriften Buch IV, unter der Bezeichnung X, VI als IX und den Anfang von VIII als den von XV. Endlich ist zu erwähnen, daß die Überschriften der Bücher mehrfach das Gegebene als Excerpt bezeichnen; nicht πρῶτος λόγος, sondern zu ἐκ τοῦ πρώτου λόγου.

Es ist also hier alles voll Konfusion, und man wundert sich schließlich, daß sich doch mit Ausnahme des Prooemiums von III und weniger anderer Stellen das, was die Kirchenväter aus ihren Sibyllinen citieren, in den unsrigen immer noch vorfindet. Im Großen und Ganzen also sind die heidnischen Zeugnisse für Christus und Moses, auf welche sich die Kirchenväter, in gutem Glauben zwar, aber in großer Einfalt, so gern berufen, von der Kirche behütet [182] worden; wir haben, wie wir schon sahen, sogar weit mehr, als jene hatten. Eine Scheidung nun nach den Urbestandteilen und eine durchgehende Sonderung des Heidnischen, des Jüdischen und des Christlichen ist ganz offenbar unmöglich, wenn auch bei vielen einzelnen Stücken der Ursprung völlig klar ist. Aber bei sehr vielen anderen ist er eben gemischt: heidnische Grundlage in jüdischer Überarbeitung oder jüdische in christlicher; durch christliche Hände ist schließlich alles gegangen. Da wir hier, entsprechend dem Plane des Werks, der sich auf die jüdischen Bestandteile der Sibyllinen beschränkt, nur einen Teil der Sibyllinen geben, die kleinere Hälfte, und von den Büchern nur drei, so wenden wir uns nun ausschließlich zu diesen.

Das 3. Buch, wie es in den Hdschr. überliefert ist, beginnt nach kurzem Eingange mit einer Ermahnung zur Verehrung des wahren Gottes (1-35), die wir hier weggelassen haben, weil sie sich inhaltlich und vielfach auch in den Worten mit dem deckt, was Theophilus überliefert und Lactantius als Eingang dieses Buchs bezeugt. Die folgenden Stücke, 36-45, 46-62, 63-92, berühren sich sehr stark mit dem VIII., auch mit dem I. und II. Buche; wir haben sie beibehalten, obwohl sie alter Bezeugung ermangeln, und nur ein sinnloses kleines Stück weggelassen, 93-96. Alexandre rechnet bis hierher III § 1, welchen Paragraph er verwirft, und dann von 97 ab einen alten, sich an das erste Prooemium anschließenden Bestand, bis V. 294 (§ 2). In diesem Stücke wird die Geschichte der Welt von der Sintflut bis zum messianischen Reich erzählt oder prophezeit; der Anfang ist grundschlecht, wird aber nichtsdestoweniger, so wie ihn die Hdschr. haben, von Theophilus citiert, nur daß V. 104 fehlt und statt 107 (bis wohin das Citat reicht) ein jetzt im VIII. Buche (5) stehender Vers sich findet. Die Kritik ist hier und an anderen Stellen ebenso leicht wie schließlich fruchtlos, man könnte auch sagen zwecklos. Als § 3, nach ihm späteren Ursprungs, rechnet Alexandre V. 295-488, eine Sammlung vermischter Orakel gegen alle möglichen Völker und Städte, als § 4, wieder echt und mit § 2 zusammengehörig, den Rest, obwohl hier zunächst das Orakeln ganz in derselben Weise weitergeht; aber es steht V. 489 ff. eins von den gewöhnlichen Prooemien der Sibylla: als ich eben aufgehört hatte, da trieb mich von Neuem der Gott an. Erst mit 545 beginnen wieder die Deklamationen gegen den Götzendienst, der Lobpreis der Juden und die eschatologischen Prophezeiungen; doch bildet auch dies noch durchaus keine ursprüngliche Einheit, und wir sahen vielmehr vorhin schon, daß 545 ff. allem Anscheine nach bei Lactantius in einem anderen Buche standen, und nicht minder 652 ff., wonach sich das ganze Stück 624-701 als ein hier ungehöriger Einschub darstellt. Nämlich 619-623 werden von Lactantius als der Erythräerin angehörig bezeugt, und 702 schließt sich an 623 vortrefflich an. Dafür wird ein Stück nahe dem Anfang von § 3 (V. 314-318) durch Erwähnung des siebenten Herrschers (318) mit § 2 und 4 enger verbunden; also auch dies, gleichwie § 2 nach V. 192 f. und § 4 nach 608 ff., ist unter Ptolemaios VII. Physkon entstanden, und es wird auch sowohl V. 314 ff. als 611 ff. deutlich auf die Kriegszüge des Antiochus Epiphanes nach Ägypten Bezug genommen. Nicht zu vergessen ist auch, daß das Orakel über Troja, V. 464 ff., zwar nicht von Lactantius, aber doch von älteren Griechen der Erythräerin zugeschrieben wird. Endlich zeigt sich bei V. 383 ff. eine merkwürdige Verwandtschaft mit einem Orakel, welches nach Strabo (XVII, 814) die zu Alexanders des Großen Zeit lebende Erythräerin Athenais, eine Art neuer Sibylle, über Alexanders göttliche Abkunft gegeben haben soll; natürlich wird in den jetzigen Sibyllinen diese Abkunft nur erwähnt, um geleugnet zu werden. Was also im 3. Buche zusammengehört, kann mit Sicherheit auf die Redaktion oder Autorschaft eines ägyptischen, um 140 unter Physkon schreibenden Juden zurückgeführt werden, indem sich an dieses siebente Königtum in der Erwartung des Juden alsbald die messianische Zeit anschließt, er also noch kein achtes erlebt hatte. Dagegen das Stück in § 1 V. 46 ff. enthält eine deutliche Beziehung auf das Triumvirat des Antonius, Oktavianus und Lepidus (52) und vielleicht eine andere auf Kleopatra, der die Weltherrschaft geweissagt wird (75 ff.), wiewohl sich hier [183] auch anderes hineinmischt: die Königsherrschaft Roms auch über Ägypten (45), die doch erst mit Oktavians Siege anhob, und der aus den Sebastenern, d. h. den Samaritanern, kommende Beliar, d. i. Antichrist (68 ff.). — In 464 ff. wird ein verwüstender italischer Bürgerkrieg geweissagt, wie er jedenfalls 140 v. Chr. noch nicht gewesen war. — Von christlicher Überarbeitung ist das ganze Buch verschont geblieben, denn auch V. 776, wo die Hdschr. „den Sohn Gottes“ statt „den Tempel Gottes“ bieten, ist wohl nur gewöhnliche Verderbnis.

Bei dem verhältnismäßig kurzen 4. Buche kann wenigstens die einheitliche Redaktion unbedenklich angenommen werden. Die Sibylle predigt den einen Gott, preist die Juden, denen beim Endgerichte die Seligkeit in Aussicht gestellt wird; dann kommt Weltgeschichte, bei der auch Xerxes’ Heereszug (76 ff.), der Peloponnesische Krieg (83 ff.) und Alexanders Thaten (86 ff.) Erwähnung finden, und gleich hinter diesen (96 f.) stehen die zwei Verse, die Strabo als sibyllinisch citiert. Hier also ist die heidnische Grundlage deutlich genug und die jüdische Zuthat ebenso, wenn die Zerstörung Jerusalems durch die Römer (115 ff., 125 ff., 136) und die Flucht Neros über den Euphrat (119 ff.) und seine Wiederkehr (138 f.) geweissagt werden. Schließlich Bußpredigt und Verkündigung des Endgerichts. Die späteste erwähnte Thatsache ist der Ausbruch des Vesuv i. J. 79 n. Chr., wonach sich die Zeit der Redaktion ungefähr bestimmt. Christliches zeigt sich auch hier nicht.

Endlich das 5. Buch ist deutlich wieder ein Konglomerat. Zu Anfang steht römische Geschichte bis zu Hadrian und seinen Nachfolgern, V. 1-51, also aus der Zeit der Antonine; aber dann redet wieder ein ägyptischer Jude gegen Ägypten und seinen Götzendienst, und es geht in so buntem Wirrsal weiter, daß hier auch Alexandre keine Einteilung nach Paragraphen versucht hat. Die römische Zerstörung des Tempels kommt mehrfach vor (150 f., 160 f., 398 ff.), auch der wiederkehrende Nero (155 ff., 215 ff., 363 ff.); leidenschaftliche Deklamationen gegen Rom zeigen den erbitterten Juden. Neu in Vergleich zu III und IV ist die Bezugnahme auf den ägyptischen Tempel des Onias und seine Zerstörung, die auf Vespasians Befehl geschah, hier freilich als von den Aethiopen geschehend geweissagt wird (501 ff.). Ferner ist neu die Weissagung von einem Kriege der Gestirne untereinander, kurz behandelt schon 207 ff. und nun in dem wahnsinnigen Finale 512-531 breit ausgeführt. Dies sieht einmal wieder wie ursprünglich heidnisch aus; als christlich gefärbt erscheint nur die eine Stelle 256-259, wiewohl auch hier zunächst von Moses und Josua die Rede ist.

Zu der weitschichtigen Litteratur über die Sibyllinen ist die Zusammenstellung bei Schürer, Jüd. Gesch.³ III, 448 ff., zu vergleichen. Von den Ausgaben der Orakel (Buch I-VIII von Betulejus, Basel 1545 und, mit Castalios Übersetzung, 1555; Opsopoeus, Paris 1599 u. 1607; Buch XI-XIV von Angelo Mai [s. o.]) besitzt grundlegende Bedeutung die von C. Alexandre, 2 Bde. Paris 1841-56; 2. Ausg., ohne die wichtigen Exkurse, 1869; aus neuerer Zeit die von Rzach, Wien 1891. Da bei der Beschaffenheit des Textes und vor allem der des Inhalts eingehende textkritische Erörterungen völlig gegenstandslos sein würden, so hat der Übersetzer den Text zu Grunde gelegt, der aus den Rezensionen von Alexandre und Rzach als der wahrscheinlichst ursprüngliche zu ermitteln war. Übrigens schließt sich die Übersetzung möglichst genau an das Original an und will namentlich auch nicht deutlicher sein als dieses. Die Verse der Sibylla lesen sich in der von Alexandre verbesserten lateinischen versifizierten Übersetzung Castalio’s ganz elegant und leidlich sinnvoll; aber das Original ist nun einmal nicht so, und wer Sinn und Zusammenhang übersetzend hineinlegt, wo keiner ist oder keiner mehr ist, der verfälscht oder erlaubt sich unzulässige Freiheiten. Ein ziemliches Maß von Widersinn ist somit im Texte zugelassen worden; wo indes die Sache ganz arg wurde, sind Punkte gesetzt und in einer Anmerkung das Nötige angegeben.

Die in den Anmerkungen citierten Namen beziehen sich auf folgende Schriften:

[184]

  • Badt, De oraculis Sibyllinis a Judaeis compositis, Bresl. 1869, u. Urspr., Inhalt u. Text des 4. Buches der sibyll. Orakel. Bresl. 1878.
  • Bleek, Über die Entst. und Zusammensetzung der uns in 8 BB. erhaltenen Sammlung sibyllinischer Orakel (in Schleierm.’s, de Wette’s u. Lücke’s theol. Ztschr. 1819 u. 1820).
  • Friedlieb, Die sibyllin. Weissagungen etc. Lpz. 1852.
  • Gfrörer, Philo II, S. 121 ff.
  • Ludwich, „Zu den sibyll. Orakeln“, in d. Jahrbb. für klass. Philol. 1878, S. 240 ff.
  • Maaß, De Sibyllarum indicibus. Greifsw. 1879.
  • Meineke, „Zu den sibyll. BB.“, im Philologus 1869, S. 577 ff.
  • Mendelssohn, Zu den oracula Sibyllina, ibid. 1890, S. 240 ff.
  • Nauck, Kritische Bemerkungen, in den Berichten der Petersburger Akademie, Bd. II-IV (1859-80).
  • Struve, Fragmenta librorum Sibyllinorum quae apud Lactantium reperiuntur. Regiom. 1817.
  • Volkmann, De oraculis Sibyllinis Lips. 1853. Lectiones Sibyllinae. Pyritz 1861.
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