Die Studentenloge im königlichen Schauspielhause zu Berlin

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Titel: Die Studentenloge im königlichen Schauspielhause zu Berlin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 847, 848
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[847] Die Studentenloge im königlichen Schauspielhause zu Berlin. Denjenigen, welche in der Morgenstunde zwischen acht und neun Uhr den der Jägerstraße zugewandten Theil des Schillerplatzes passiren, wird es nicht entgangen sein, daß dort eine dichtgeschlossene Phalanx junger Leute die Thür des königlichen Schauspielhauses belagert. Mag es regnen oder schneien, mögen die Decemberstürme auch noch so rauh die jungen Wangen peitschen, unbeweglich beharren die Jünglinge auf ihrem Platze, und je näher die Zeiger der nebenanstehenden Kirchen auf die neunte Stunde rücken, um so beträchtlicher wächst das Häuflein der theaterbeflissenen Söhne der Alma mater Berlins. Endlich schlägt es neun Uhr; der Glückliche, welcher der Thür zunächst steht, faßt krampfhaft die eisige Klinke; der fest ausschreitende Schließer verkündet klirrend seine Ankunft; das „Ruhig, ruhig, meine Herren!“ des bärtigen Schutzmanns ertönt, jedoch nur, um ungehört zu verhallen, denn schon stürzt durch die geöffnete Thür die jugendfrische Cohorte unaufhaltsam bis zum Billetschalter vor. Doch hier strecken sich zu gleicher Zeit zehn bis zwölf Hände in die Oeffnung, alle bewaffnet mit der studentischen Legitimationskarte, dem blauen Bon und einem Fünfsilbergroschenstück; der Billetverkäufer weiß natürlich nicht, wem er zuerst gerecht werden soll, bis endlich ein schutzbeflissener Mann des Gesetzes Ordnung in die wogende Schaar bringt, indem er sie „zu Vieren“ abzählt und dann jeden einzeln vor den Schalter läßt. Diejenigen, welche die fortlaufenden Nummern eins bis zwölf – sie bilden die beiden vordersten Bänke der Loge – erhalten haben, eilen freudestrahlenden Antlitzes von dannen; es folgen darauf minder frohe, sogar mitunter verteufelt mürrische Gesichter, denn diese Plätze sind nichts weniger denn gut, bis endlich die letzte Nummer 47 verkauft worden ist. Wenige Minuten nach neun Uhr herrscht tiefes Schweigen in diesen noch soeben wildbelebten Räumen: die Studentenloge ist ausverkauft.

So etwa verläuft jeden Morgen der Hergang am Schillerplatze. Sehr stürmisch, ja zuweilen gefährlich ist es an den Tagen, wo eine Novität oder ein classisches Stück gegeben wird. Auch Lustspiele, in denen Vater Döring und seine getreue Partnerin, die Frieb-Blumauer, beschäftigt sind, erweisen sich als zugkräftig; jedoch der stärkste Magnet für die Studenten ist ein Mann, der von ihnen mit Beifall förmlich überschüttet wird, der auch in Leipzig wohlbekannte Richard Kahle. Ein Stück, in dem Kahle beschäftigt ist, füllt die Studentenloge bis zum letzten Platze, und der Künstler darf dessen gewiß sein, daß ihn nach jedem Actschlusse Hervorruf von Seiten seiner frühern Commilitonen ehrt. Denn Kahle ist Student gewesen, besuchte noch in jüngster Zeit als Schauspieler die Collegien des bejahrten Professors Werder und zeigt überhaupt unverhohlen, daß er ein reges Interesse für die Studentenschaft empfindet. Mag es nun auch immerhin der Fall sein, daß ein großer Theil des Beifalls, der ihm so bereitwillig gespendet wird, dem collegialischen Enthusiasmus der Studenten zuzuschreiben ist, die Kahle wohl immer noch als zu ihnen gehörig betrachten, so ist der Künstler dennoch in der That großartig. Wer Gelegenheit hatte, seinen Narciß, Richard den Dritten, Narr in „Was ihr wollt“, Marinelli und besonders Lear und Franz Moor zu sehen, stimmt gern und willig ein in den Applaus, der donnernd aus der kleinen Parterreloge erschallt.

[848] Neben Kahle sind es Döring und die Frieb-Blumauer, welche in hervorragendem Grade die Gunst der Studentenloge genießen. Doch bei ihnen haben die Studenten mit keiner Opposition zu kämpfen, wie dies bei Kahle der Fall ist. Dieses Veteranenpaar der Hofbühne besitzt die ungetheilte Neigung des gesammten Berliner Publicums, das sich von den aristokratischen Logen bis zum höchsten Gipfel des Olymps beeifert, seinen innigsten Beifall zu zeigen. Hauptsächlich glänzen beide Künstler in den harmlosen Lustspielen von Benedix; doch wem sind nicht außerdem die Musterdarstellungen der Frieb als Amme in „Romeo und Julie“, als Daja im „Nathan“, als Martha im „Faust“, wem nicht Döring’s Nathan, Mephisto und vorzüglich sein Malvolio in „Was ihr wollt“ bekannt?

Ein anderes, in der Studentenloge vielleicht noch geschätzteres Künstlerpaar sind Louise Erhartt und Berndal. Wie die Frieb und Döring die Hauptstützen des heitern Genres sind, so halten die Erhartt und Berndal durchaus das classische Drama aufrecht. Und weil sie gerade die Repräsentanten unserer erhabensten Dichtungen sind, die ohne sie sicher mehr und mehr aus dem einfachschönen Hause am Schillerplatze verdrängt würden, erfreuen sie sich auch des ungetheiltesten Beifalls der Studentenschaft. Einer von diesen beiden in der Geschichte des Berliner Hoftheaters so strahlenden Namen auf dem Theaterzettel genügt schon, um ein oben geschildertes Gedränge zu bewirken; sind Beide in irgend einem classischen Stücke beschäftigt, so ereignet es sich wohl, daß, wie jüngst bei einer Vorstellung des Don Carlos (30. October), vierzig Studenten, ohne ein Billet erhalten zu haben, davon ziehen müssen. Ein classisches Drama, ausgenommen die des großen Briten, die wiederum ungewöhnlich oft vorgeführt werden, ist eben nachgerade eine Seltenheit im Vergleich zu der ungemein häufigen Aufführung von Stücken, die für die Literatur nichts als kurzlebende Eintagsfliegen sind. Don Carlos hat bisher immer noch seinen Platz im Repertoire zu behaupten gewußt, und es ist immerhin dankend anzuerkennen, daß die Generalintendanz des Hoftheaters nicht dem herrschenden Geschmacke derart Rechnung trägt, daß sie das classische Genre gänzlich verabschiedet. Diese trostlose Oede bei classischen Dramen ist unbeschreiblich; während „Mamsell Angot“, „Die Fledermaus“, „Mein Leopold“ und die „Sieben Raben“ das Publicum zu Schaaren in die Räume der Friedrich-Wilhelmstädtischen, Wallner- und Victoriabühne ziehen, zeigt die Clavigofeier ein kaum zur Hälfte besetztes Parquet, der aristokratischen Logen und des ersten Ranges gar nicht zu gedenken. Als decorative Verzierung sind die drei bis vier von Cadetten besetzten Parquetbänke zu erwähnen, deren Insassen sehnsüchtig zum ersten Rang hinaufblicken und sich die holden Stunden im Geiste ausmalen mögen, da sie nicht mehr auf das plebejische Parquet commandirt, sondern ihnen artige Freibillets zum ersten Rang zugeschickt werden.

Bedauernswerthe, schnürbrust-verzierte Söhne des Mars, während euch die behaglich gepolsterten Parquetplätze, auf denen ihr so erbaulich die euch ewig fremden Räume des Schillertempels anschauen könnt, für eure hohe militärische Würde ungeziemend erscheinen, sitzen hinter euch, weit hinter euch, im entlegensten Eckchen, siebenundvierzig Jünger des Apoll, eines weit edlern Gottes, als euer menschenvertilgender Ares es ist, und schwitzen in dem engen Raum wie die Bratäpfel; während ihr gelangweilt – denn die schöne Helena und Ritter Blaubart sind euch capabler – die heiligen Klagen Tasso’s oder Iphigeniens anhören müßt, pochen hinter euch die Herzen der hellenisch gebildeten Jünglinge und in Manches Brust befestigt sich der Entschluß: Du mußt Aehnliches zu vollbringen versuchen.

Erhebend ist es, daß bei der immer mehr und mehr durchgreifenden Apathie der Berliner gegen das classische Drama die Studentenloge fort und fort das regste Interesse dafür zeigt. Freilich ist in den letzten Jahren manches edle Meisterwerk unserer Dichterheroen vom Repertoire geschwunden, und die Reihen der Darsteller classischer Rollen sind sehr empfindlich gelichtet worden. So Frau Jachmann-Wagner und Robert! Welchem altern Studenten – die der jüngern Semester kennen diese Namen wohl nur vom Hörensagen – treten nicht jene Abende vor die Seele, da Fr. Jachmann-Wagner die Iphigenie, die Mutter der feindlichen Brüder, die jungfräuliche Königin und die Antigone, Robert den Max, Mortimer, Romeo oder Don Carlos darstellte! Beide verließen fast zu gleicher Zeit die Berliner Hofbühne, Johanna Wagner gewiß schmerzlich bewegt von einem Publicum scheidend, von dem sie sich so geschätzt wußte, Emerich Robert aus unbekannten, vielleicht unmotivirten Gründen grollend, um unter Laube’s Aegide ein neues Feld für seine seltene Begabung zu gewinnen. Beide werden in Berlin wohl niemals ersetzt werden, und die Parterreloge war sich wohl bewußt, welchem Verlust die Hofbühne entgegen ging, denn die Abende, an denen die Jachmann und Robert zum letzten Male vor das Publicum traten, gehören zu den stürmischsten, die der Verfasser dieser Zeilen erlebt.

Die kleine Parterreloge im äußersten Winkel des Schauspielhauses hat übrigens auch ihre Stammgäste, und die Inhaber der hintersten Parquetplätze wissen manche Geschichte davon zu erzählen. Augenblicklich sind mir und wohl Jedem, der das Hoftheater häufiger besucht, drei Studenten bekannt, welche kaum etwas Anderes als das Theater studiren. Sie lesen jede bedeutende Zeitung Berlins und Wiens, das heißt sie haschen nach den Theaternachrichten, die darin enthalten sind. Wenn irgend ein neues Stück gegeben, oder in irgend einem Repertoirestück eine Veränderung in der Besetzung vorgenommen wird, trifft man sie sicher im Theater. Da sitzen denn die drei theaterstudirenden Söhne der Universität womöglich auf den drei ersten Sitzplätzen des Parterreraumes, die sie sich des Morgens nach langem Harren und mit vielen Rippenstößen sauer erkauft haben, und entwickeln in der Unterhaltung eine Kenntniß der gesammten Theaterverhältnisse, die überraschend ist. Ganz genau kennen sie natürlich jeden Stammgast des Schauspielhauses und wissen auf das Genaueste und Bestimmteste anzugeben, wo Frenzel, Remy, Schmidt-Cabanis, Glaßbrenner, Fontane, Gumbinner, Lindau und all die anderen kritischen Größen Spree-Athens ihren Platz haben. Besonders ereignißvoll ist für sie natürlich ein Novitätenabend. Der Dichter des Stückes kann nicht gespannter sein als die drei Insassen der Loge.

Und wie streng kritisch verfahren sie; ihr Beifall ist durchdringend, denn sie klatschen im Tempo, ihr abweisendes Zischen verhängnißvoll. Rosen’s „Schwere Zeiten“ wurden im jüngsten Frühjahre wohl nicht zum Mindesten von ihnen und ihrem Anhange, denn sie scheinen in der Parterreloge die Hegemonie zu besitzen, mit Donnergepolter zu Grabe getragen und die Iphigenie der Erhartt jeder Kritik zum Trotz mit unzähligen Hervorrufen belohnt. Nicht selten finden sie jedoch in der eigenen Loge – der fortwährenden Meinungsverschiedenheiten mit dem übrigen Publicum gar nicht zu gedenken – energischen Widerstand. Dann glühen die begeisterten Gesichter der Söhne der Berliner Hochschulen, „Hie Welf, hie Waiblingen!“ schallt es in dem engen Raume, und jede Partei sucht auf die durchdringendste Weise ihre Ansicht geltend zu machen. Ein solcher Kampf fand jüngst bei der ersten Aufführung von Brachvogel’s „Alte Schweden“ statt.

Welche Rolle die Studentenloge bei Aufführung des neuesten Lindau’schen Stückes spielte, und welche Conflicte dadurch zwischen der Intendantur und der Universität hervorgerufen wurden, dürfte den Lesern der Gartenlaube aus den Tagesblättern genügend bekannt sein.