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Die Studir-Epidemie

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Textdaten
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Autor: Dr. J. Herm. Baas
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Titel: Die Studir-Epidemie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 674–675
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[674]

Die Studir-Epidemie.

Von Dr. J. Herm. Baas (Worms).

Wie es scheint, finden Sie den Ausdruck ‚Studir-Epidemie‘ ein wenig stark?“

„Stark finde ich ihn allerdings, das will ich nicht leugnen!“

„Lieber würden Sie wohl von ‚Studirsucht‘ reden?“

„Milderen und, gestehe ich es, auch etwas weniger derben Klang hätte das gewiß!“

„Aber eine Sucht, die über ein ganzes, großes Land verbreitet ist und mit jedem Jahr weitere Fortschritte macht, muß man denn doch wohl, wenigstens vom medicinischen Standpunct aus, geradezu als ‚Epidemie‘ bezeichnen!“ –

So verständigten wir uns unter einander und auch der Leser dürfte wohl auf Grund dieser Auseinandersetzung die Ueberschrift annehmbar finden, sodaß wir sofort die Sache selbst näher in’s Auge fassen können.

Wer immer die Reden, welche in den letzten Jahren bei Antritt oder Niederlegung des Rectorenamtes auf unseren Universitäten gehalten wurden, einigermaßen beachtet hat, fand sicherlich, daß in den meisten eine durch Ziffern belegte, bald größere, bald geringere Zunahme der Studentenzahl hervorgehoben ward. Das galt für fast alle einundzwanzig deutschen Hochschulen und wurde stets als ein sehr erfreuliches Zeugniß für die Zunahme der vaterländischen Cultur und natürlich auch als ein Ruhmestitel für die betreffende Universität selbst in Anspruch genommen. Und das verflossene Sommerhalbjahr brachte, wie aus allem hervorgeht, den Hochschulen immer noch größeren Stoff zu derartigen Anpreisungen; denn von nicht wenigen her wurde gemeldet, daß sie während desselben die höchste Zahl Studirender seit ihrem Bestehen (z. B. München, Bonn) erreicht haben, daß ein solcher Besuchsstand noch nicht da gewesen (Erlangen), daß die gegenwärtige Studentenziffer die höchste dieses Jahrhunderts (z. B. in Würzburg) sei, und wie die Ausdrücke mit geringen Verschiedenheiten in der Fassung immer lauten mochten.

Mit den oben berührten, zum Theil sehr schön stilisirten Lobreden und erhebenden Zahlenbeweisen für eine gewaltig fortschreitende Cultur des – Brodstudiums will nun aber eine gewichtige andre Thatsache leider gar nicht übereinstimmen, nämlich die, daß einzelne Regierungen es bereits für geboten erachteten, vor der Wahl mehrerer Studienzweige – zumal vor dem Ergreifen des Rechts- und des höheren Lehrfaches – geradezu zu warnen: der Bedarf des Staates an Vertretern dieser Fächer sei mehr als gedeckt, so daß die Aussicht auf baldige dienstliche Verwendung für solche nicht vorhanden sei etc. Nur das Studium der Theologie ward öfters noch von kirchlichen Behörden als aussichtsreich bezeichnet. Dagegen wurden betreffs des Studiums der Medicin, für welches der Staat und die Behörden kein directes Dienstinteresse haben, wiederum auf ärztlichen Congressen und noch bestimmter aus den Kreisen der praktischen Aerzte vielfach Stimmen laut, welche das Fach als völlig besetzt, ja in den meisten Städten, besonders in Großstädten, wohin der Zuzug am stärksten ist, für durchaus überfüllt erklärten.

Auch erhoben erfreulicherweise in jüngster Zeit selbst einzelne Hochschullehrer, darunter besonders gewichtig der Hallenser Professor Conrad, ihre Stimme gegen die Ueberhandnahme des Studirens, weil dadurch die Studien Noth leiden, vor allem der Ernst und die Tiefe derselben abnehmen, statt dessen aber die Sucht, möglichst bald fertig zu werden, um so vielleicht noch bei dem gewaltigen Andrang einen Vorsprung für’s praktische Leben zu gewinnen, immer mehr zunehmen müsse.

Noch mehr aber klagten viele Gymnasialdirectoren und -Lehrer über Ueberfüllung der Classen mit Hochschulaspiranten, und gegenüber den vielfachen Bestrebungen, selbst den Realschulen das Recht der Ertheilung des Reifezeugnisses für die Universität zu verschaffen, vertreten deshalb auch einzelne Gymnasiallehrer den Standpunkt, daß man sogar in den Gymnasien die Ansprüche an die zukünftigen Studirenden eher erhöhen müsse und sicher sie nicht herabmindern dürfe, damit der ungesunde Zug zum Studirenwollen nicht noch größer und dadurch der Unterricht nicht noch schwieriger und unbefriedigender werde.

Eine solche Ansicht vertrat der inzwischen seiner Stelle enthobene Straßburger Gymnasial-Director Dr. Deecke, wie seiner Zeit die Tagespresse eingehend berichtete.

Ganz abgesehen von höheren wissenschaftlichen und von pädagogischen Rücksichten, fragen sich aber auch jetzt schon Viele, die das Leben kennen: „Was soll in Zukunft aus den überzähligen Studirten werden? Vom ‚Studirthaben‘ allein kann man ja doch in dieser schnöden Welt nun einmal nicht leben, am wenigsten in unserer anspruchsvollen Zeit! Woher sollen nur noch die Stellungen kommen, welche selbst blos während etwaiger Wartezeit den Ueberzähligen den einfachen Lebensunterhalt gewähren werden?“

Das aushelfende Brodschriftstellerthum z. B. hat durch solche schon jetzt eine verderbliche Höhe erreicht, die Presse leidet nicht Noth an Bewerbern aus diesen Kreisen um Redacteurstellen und dergleichen, und das Ausland, speciell Amerika, bedarf keiner deutschen Studirten mehr. Da tritt allerdings das Gespenst des Studirtenproletariats, wovon man hier und da schon ganz offen in der großstädtischen Presse spricht, immer drohender auf, bis es endlich zur Wirklichkeit werden muß. Was es aber gerade mit einem solchen auf sich hat, das braucht man sich nicht auszumalen: liefert doch Rußland ein abschreckendes Beispiel eines solchen und ein Bild der Gefahren, die daraus der Gesellschaft und dem Staate erwachsen.

So weit sind wir freilich vorerst noch nicht; aber man muß dagegen wirken, ehe es dahin gekommen und so lange es noch an der Zeit ist. Die einflußreiche Presse vor Allem muß mit warnender Stimme den Ruf erheben: „Es studiren heutzutage zu Viele!“ Aber es soll nicht hinzugesetzt werden, wie zuweilen pharisäischer Weise aus gewissen Kreisen heraus geschieht: „Und vor Allem zu viel Unberufene“, womit dann gewöhnlich die Söhne der Bürger und Bauern gemeint sind. Denn so lange Cultur und Wissenschaften bestehen und fortschreiten, waren in allen Zweigen menschlicher Thätigkeit gerade unter den sogenannten „Berufenen“ immer am wenigsten Auserwählte, im Gegentheil, es stammten diese in weit überwiegender Zahl stets gerade aus den Reihen des Volkes; wir erinnern nur an Kepler, Luther, Fichte, Liebig und wie sie Alle heißen, deren Väter keine Hof- und Geheimräthe waren.

Nach dem schon eingangs genannten Professor Conrad betrug die Ziffer aller deutschen Studirenden im Jahre 1874 rund 13,800 – und damals wurden, soviel wir wissen, gerade keine Klagen über Mangel an Studirten laut, eher bereits das Gegentheil. Vergleicht man aber nunmehr mit dieser Angabe die Ergebnisse der neuesten Hochschulstatistik, so bekommt man fast Zweifel über die Richtigkeit jener bescheidenen Ziffer, so sehr ist dieselbe im Verlauf von nur zehn Jahren in Schatten gestellt, ohne daß die Bevölkerung des Reichs und damit die Bedürfnisse des Staats an Beamten etc. auch nur entfernt in entsprechendem Maße gewachsen wären. Die Einwohnerzahl Deutschlands hat sich unterdessen zwar immerhin um einige Millionen vermehrt, die Anzahl der Studirenden dagegen ist nahezu auf die – doppelte Höhe gestiegen.

Bereits im Wintersemester 1881 bis 1882 gab es nicht weniger als 24,866 Studenten (also etwa 10,000 mehr als 1874) an den 21 deutschen Hochschulen. Und von da an ist mit fast mathematischer Regelmäßigkeit in jedem Studienhalbjahr diese Zahl, zuweilen fast gar um ein ganzes Tausend, gewachsen. Im Sommersemester 1882 betrug dieselbe 25,818, der darauffolgende Winter ergab 26,263, das nächste Sommersemester 1883 bereits 26,630. Am höchsten aber stellte sich der Hochschulbesuch im Winter 1883 bis 1884: es waren 27,454 Studenten in den Universitätslisten verzeichnet, fast genau die doppelte Anzahl, wie zehn Jahre vorher, sodaß auf 1700 Seelen ein Studirender entfiel. Innerhalb fünf Semester, also zweiundeinhalb Jahren, demnach dritthalbtausend Studenten mehr, als vorher!

Das darf man denn doch gewiß als eine epidemische Zunahme bezeichnen, also als eine krankhafte, weil ja diese Zunahme auf das natürliche Wachsthum der Bevölkerung und das wachsende Angebot des Staates nicht zurückgeführt und nicht damit in Einklang gebracht werden kann.

Und dabei sind die zahlreichen, doch auch als Studirende aufzufassenden Schüler der Bau- und Forstakademien, der polytechnischen Hochschulen etc. noch nicht einmal in Rechnung gebracht!

[675] Viel auffallender tritt die ungesunde Neigung zum Ergreifen der Studirtenlaufbahn aber dann vor Augen, wenn man einen einzelnen Studienzweig herausgreift.

Wir wählen als Beispiel die Medicin, einestheils, weil sie uns am nächsten angeht und wir daher auch die Gestaltung der Dinge im späteren praktischen Leben genauer kennen, anderntheils aber und ganz besonders aus dem schon oben berührten Grunde, weil die staatlichen Behörden kein unmittelbares Interesse und noch weniger die Neigung haben, hier ein abmahnendes Wort zu sprechen.

Im Wintersemester 1881 bis 1882, das wir auch hierbei zum Ausgangspunkte wählen, studirten 4984 junge Leute Medicin. Aerztemangel herrschte aber schon damals sicherlich nicht, am wenigsten in den Städten. Und dennoch stieg die Zahl der Medicinstudirenden im folgenden Halbjahr auf 5418. Der nächste Winter 1882 bis 1883 steigerte diese Ziffer bereits auf 5656, der Sommer 1883 ergab wiederum ein Mehr von 287 Studenten (5943) und im darauffolgenden Wintersemester war das sechste Tausend um 472 überschritten! Das giebt also für den einen Studienzweig der Medicin eine Zunahme von anderthalbtausend Studenten im Verlaufe von nur zweiundeinhalb Jahren!

Muß sich da nicht jeder Unbefangene die einfache Rechenexempelfrage vorlegen: wo sollen denn, wenn die Ziffern nur annähernd noch einige Jahre so fort anwachsen, schließlich die Kranken, von denen doch jeder Arzt einen bescheidenen oder auch unbescheidenen Theil behandeln möchte, zu finden sein? Müssen da nicht viele Aerzte müßig gehen? Sagte doch schon im Jahre 1876 der berühmte Chirurg Stromeyer, freilich nicht ohne Uebertreibung, daß die Hälfte der Aerzte nichts zu thun habe!

Für jeden vorurtheilslos Beobachtenden ist heute die Ueberfüllung des medicinischen Faches außer Frage, zumal in Städten; aber auch auf dem Lande hat in vielen Gegenden Deutschlands (z. B. in Rheinhessen) bereits jeder größere Flecken seinen Arzt, ja sogar manche ganz kleine Dörfer unter tausend Seelen entbehren nicht ihres eigenen Doctors der Gesammtmedicin. Selbst für geringbedachte Assistenzarztstellen an Bürgerspitälern, Privatkliniken etc., für die sich früher kaum ein Bewerber fand, melden sich jetzt leicht Dutzende solcher. Es ist das bereits ein Zeichen ungesunder Concurrenz.

Doch kehren wir zu unserm Hauptgegenstande zurück und versuchen wir, die Ursachen aufzufinden, welche dem oben durch Zahlen erwiesenen stetig wachsenden Andrange zum Studiren hauptsächlich zu Grunde liegen mögen.

Eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache selbst, des letzteren liegt ohne Zweifel in der Einführung des an ein ganz bestimmtes Maß von höheren Schulkenntnissen, vielmehr an ein vorgeschriebenes Reifezeugniß geknüpften Privilegiums des einjährigen Freiwilligendienstes. Es ist ja natürlich, daß Jeder, der die Mittel und die Gelegenheit dazu hat, dem dreijährigen Militärdienst ausweicht, um in einem Jahre seiner Pflicht zu genügen. Viele Eltern aber sind, seitdem diese Einrichtung allgemein geworden ist, weniger der mit jenem Dienste verknüpften höheren Bildung oder auch nur der Zeitersparniß wegen, als in Folge der Sucht, äußerlich hinter ihren Mitbürgern nicht zurückstehen zu wollen, bemüht, ihren Söhnen die Berechtigung dazu zu verschaffen. Gilt doch der Einjährigendienst heuzutage in vielen Kreisen als ein Zeugniß für Wohlhabenheit. Bringen aber nun einmal die Betreffenden das Geldopfer, so wollen sie ganz natürlich auch alle Möglichkeiten, die durch dasselbe zu erreichen sind, ihren Söhnen offen halten. Die Knaben werden deshalb am liebsten im Gymnasium untergebracht, damit sie, sofern sie nur irgend günstig beanlagt sind, durch Fortsetzung des Classenbesuchs über die für die Erlangung der Einjährigfreiwilligen Concession festgesezte Stufe hinaus dann das Reifezeugniß für den Hochschulbesuch erlangen können. Erweist sich aber, daß die geistige Befähigung nicht genügt, den Knaben in den höheren Classen trotz aller Nachhülfestunden u. dergl. vorwärts zu bringen, so wird er von der Schule genommen und ist erst recht schlimm daran.

Bekanntlich ist das Berechtigungszeugniß an die erfolgreiche Zurücklegung der Untersecunda geknüpft, die meisten Knaben haben also ihr sechszehntes Lebensjahr bereits hinter sich, wenn sie jenes erhalten haben. Zum Erlernen eines Gewerbes, eines Handwerkes, des Ackerbaues etc. sind sie dann, abgesehen von ihrem Alter, auch als „Halbstudirte“ nicht mehr zu bringen oder nicht mehr zu gebrauchen.

„Ei!“ sagt da die Mutter, „so lassen wir unsern Sohn studiren, da kommt er auch zu einem ‚bessern‘ Leben wie wir, und dazu noch zu Ehren!“ Gesagt und – ohne Kenntniß der Verhältnisse – auch gethan! Damit ist ein Studirender mehr vorhanden und es wachsen, weil dieser Vorgang sich sehr oft wiederholt, auf solche Weise die Hunderte, ja Tausende von überzähligen Studirten derart aus dem Boden heraus: meist junge Leute, die aus rein äußerlichen Gründen, nicht aus innerem Drange studiren und deren Herz von der edlen Leidenschaft für die Wissenschaften niemals ergriffen wird. Diese reinen und wahren Brod- und Versorgungsstudenten haben denn auch nach dem Urtheile sachverständiger Männer in den letzten Jahrzehnten reißend zugenommen, und Aussichten, daß dies in Zukunft anders werde, sind nicht vorhanden, es sei denn, daß das Institut des einjährigen Dienstes aufgehoben werde, was nicht zu hoffen ist.

Weiter hat wohl auch Viele während der letztverflossenen zehn Jahre das Darniederliegen der Landwirthschaft, der Gewerbe, des Handels etc. zum Ergreifen der scheinbar so viel besseren Beamten- und Studirtenlaufbahn veranlaßt. Diese Ursache wird jedoch sicher dann wegfallen, wenn sich jene Nahrungszweige wieder heben; sie ist also keine bleibende, wie die vorher besprochene. Man wird dann wieder einsehen, daß Handwerk und Handel etc. unter Umständen besser im Leben fördern, als das Studiren. Selbst die „Sicherheit der Zukunft“ der Kinder, worauf bekanntlich gerade deutsche Eltern, im Gegensatze zu Engländern, Amerikanern etc., so bedeutendes Gewicht legen und wie sie schablonenmäßig bei der Studirtenlaufbahn vorausbestimmt zu werden pflegt, wird nicht mehr den Ausschlag geben, sobald Handel und Handwerk in den veränderten Verhältnissen der Neuzeit wieder ihre sichere Basis gefunden. Das Wagen und Ringen in Handel und Industrie ist in unserm so lange vorzugsweise Ackerbau treibenden Lande noch immer verhältnißmäßig sehr neu, und viele Eltern ziehen demselben eben die Laufbahn des Studirten vor, weil sie ganz genau vorauswissen, wie sich das Leben ihres Sohnes in derselben schablonenmäßig abwickelt. Es ist eine Beschränktheit der Lebensauffassung, die noch aus den Zeiten der Unterordnung und Unfreiheit unserer Nation herrührt und deshalb, weil sie so lange währte, auch heute noch mächtig nachwirkt, trotzdem die Stellung Deutschlands endlich wieder eine wahre Weltstellung geworden ist. Das kleinbürgerliche Denken und Handeln klebt eben den Deutschen von früher her noch vielfach an!

Dazu kommt noch, unserer Ansicht nach, daß der Deutsche von jeher geneigt ist, das Wissen zu überschätzen, es höher zu stellen, als das Können und Handeln, ganz besonders als das Handeln, welches mit körperlicher Anstrengung und Arbeit verbunden ist. Trotzdem er das schöne Sprüchwort hat: „Arbeit schändet nicht!“ taxirt er doch vielfach noch körperliche Arbeit als allzu untergeordnet im Gegensatze zu den Amerikanern, Engländern, selbst den Italienern und Franzosen, die auch jene hoch stellen, weil sie wissen, daß ohne sie die geistige nichts wirkt und nichts ist.

Mit dem soeben Gesagten in Zusammenhang steht die Anschauung, deren kürzester Ausdruck das so häufig gehörte Wort ist: „Mein Sohn soll sich einmal nicht so plagen, wie ich!“ Da man diesen Ausspruch besonders häufig gerade aus dem Munde Solcher hört, deren Beschäftigung körperliche Anstrengung verlangt, der Handwerker, Ackersleute etc., so ist er nichts Anderes, als der Ausfluß der landläufigen, zumal von den „Gebildeten“ geübten Mißachtung, die man körperlicher Arbeit zu Theil werden läßt, wenn auch Philosophen meinen, er sei der Ausfluß jener dem Menschen im Grunde angeborenen Faulheit, welche dieser nur unter civilisirten, das heißt sehr zusammengesetzten und schwierigen Lebensverhältnissen zu überwinden gezwungen sei. Wie dem aber auch sein mag, so viel ist sicher, daß man gerade in genannten Kreisen die Studirlaufbahn als die leichtere, angenehmere und auch ehrenvollere betrachtet. Leider wird dadurch das Handwerk im weitesten Sinne selbst geschädigt; denn die begabteren Kräfte werden ihm in Bethätigung jener Anschauung oft genug entzogen – und doch hat gerade und nur für solche auch heute noch das Handwerk (einschließlich Industrie und Technik etc.) einen goldenen Boden!