Von der hansischen Flanderfahrt/II

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Braun-Wiesbaden
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Von der hansischen Flanderfahrt

II. Amsterdam. Antwerpen. Gent.

Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 676-680
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[676]

Von der hansischen Flanderfahrt.

Von Karl Braun-Wiesbaden. Mit Illustrationen von H. Schlittgen.
II. Amsterdam. Antwerpen. Gent.

An der Schelde in Antwerpen

Amsterdam hat einen ganz specifisch holländischen Charakter, durch den es sich namentlich von den belgischen Städten unterscheidet, welche wir später besuchten. Dieser Charakter spricht sich weniger aus in den öffentlichen Gebäuden, als vielmehr in den Privathäusern, in den Canälen, den Alleen und in den Straßen.

Wir sehen hier in denjenigen Stadttheilen, welche so recht die Eigenthümlichkeiten der Handelsmetropole zur Anschauung bringen, weder Paläste, noch Miethcasernen (oder wie man in Wien sagt „Zinshäuser“), noch Villen, sondern ein eigenthümlich construirtes Wohn- und Geschäftshaus. Ich will es zu beschreiben versuchen:

Dasselbe verfolgt die Tendenz, sich möglichst schmal zu machen. Was es dadurch an Breite verliert, sucht es an Höhe zu ersehen. Das Haus ist hoch und schmal und die Fenster sind hoch und schmal. Es wendet der Straße die Giebelseite zu, und auch der Giebel ist hoch und schmal, gleich den Stockwerken. Die meisten dieser Häuser haben nur zwei Fenster Front, das heißt zu ebener Erde ein Fenster und die Thür. Die behäbigsten nur drei, die Thür mitgerechnet.

Man sieht daraus, wie theuer der Raum war, schon damals, als man diese Häuser gebaut hat; wie sehr man darauf bedacht war, den Verkehrsstraßen zu Wasser und zu Lande den Platz nicht zu verkürzen; wie man zwar für das Licht und die Luft in den vorderen Räumen eifrig besorgt war, wie man aber über dieser Vorsorge für Gesundheit und Behäbigkeit der Menschen die Bedürfnisse des Handels und die Räume für die Waaren nicht vergaß. Jedes Haus hat, oder hatte wenigstens, seine Waarenlager, seine Speicher, seine Vorrichtung zum Hinaufwinden der Waaren. Die Packhäuser und die Geschäftslocale außerhalb des Hauses sind neueren Datums. Dann hat jedes Haus irgend eine Decoration, mit welcher der Giebel plastisch abschließt. Hier ist es eine Blume, dort eine Guirlande, da eine Schnecke, hier eine Wulst oder irgend eine jener altmodischen Verzierungen, wie sie unsere deutschen Bücher aus dem vorigen Jahrhundert als Vignetten aufweisen. Vor den Häusern findet man vielfach noch jene Vorterrassen, welche man bei uns „Beischläge“ nennt, und die man in Danzig beseitigt hat, um mehr Straßenfläche zu gewinnen. Die hohen hellen Fenster werden sehr häufig, und zwar von außen mit einer Art von Feuerspritze gereinigt, was man „Glazen-Wasschen“ nennt. Es sind alles Fallfenster, das heißt, sie sind nicht vertical, sondern horizontal in zwei Theile zerlegt, von welchen man den unteren Theil aufschieben und herunter fallen lassen kann. Die hinaufgeschobene Hälfte schien uns, wenn wir den Kopf unten hinausstreckten, wie eine Guillotine zu bedrohen; natürlich beruhte das auf Täuschung, denn die Einrichtung ist sehr solide und hat insofern einen Vorzug, als solche Fenster, die weder nach innen noch nach außen vorstehen, den Raum nicht versperren. Ueber dem Haus ragen Kamine empor in den mannigfachsten Formen. Die Häuser sind, wie ein Hanseat sagte, „alle schwarz-weiß, wie die preußischen Fahnen“. Sie bestehen aus Ziegel und Holz. Der Ziegel ist dunkel gebrannt, oft auch zum Zweck der Conservirung mit einer dunklen Masse überstrichen, sodaß die Wand in der Nähe dunkelroth oder dunkelbraun, aus der Ferne aber wie schwarz aussieht. Die Einfassungen von Thür und Fenster und alles sonstige Holzwerk ist weiß oder hellgelb. Die Thüren sind bunt angestrichen und meistens geschnitzt. Jede hat ihren blinkenden messingenen Klopfer.

Keine dieser Einzelheiten entspricht irgend einem unserer Schönheitsideale. Aber es ist Leben und Bewegung und eine Fülle von Farben und Formen in einer solchen Häuserflucht, und wenn wir sie mit unseren modernen nach der Schnur gebauten monotonen und uniformen Straßen vergleichen, so können wir nicht leugnen: das Ganze gewährt einen malerischen Anblick, trotz aller barocken, grotesken und schnörkelhaften Einzelheiten, die prima vista Anstoß erregen. Und dann sieht man überall, wie das wahre Bedürfniß richtig erkannt und demselben zweckmäßig entsprochen ist, und auch das macht einen befriedigenden Eindruck.

Die Stadt ruht auf Pfählen wie Venedig; aber „Venedig liegt nur noch im Reich der Träume“, und seine Canäle sind verödet. Hier dagegen pulsirt überall das lebhafte Leben. Da wimmelt es von Menschen und Masten, und nirgends ist Ruhe oder Erstarrung.

Und doch giebt es neben diesen belebten Stadttheilen auch andere, welche in einer stolzen und stillen Vornehmheit und Zurückgezogenheit leben, und an der Außen-Amstel baut man in neuerer Zeit auch frei und einzeln stehende Häuser und Villen. Man kann deutlich erkennen, wie die Stadt und mit ihr deren Wohlstand gewachsen, und wie man dann später angefangen hat, die verschiedenen Functionen zu differenziren, das heißt die Geschäfts- und die Wohnräume zu trennen und diese wie jene ihren verschiedenen Zwecken entsprechend zu vervollkommnen. Aber für den Cultur- und Wirthschafts-Historiker haben jene alten, schmalen, hochbeinigen schwarz-weißen Giebelhäuser doch mehr Interesse, weil hier der Grund zu dem Reichthum der Stadt gelegt worden ist, weil sie uns durch ihren bloßen Anblick belehren.

Soviel von den Häusern, die auf beiden Seiten der combinirten Canäle und Straßen liegen, welche man „Grachten“ nennt. Ich versuche nun ein Bild dieser Verbindung von Wasser und Landstraße zu geben.

In der Mitte also ist der Canal. Auf jeder der beiden Seiten findet man zunächst die Quaimauer, dann eine Allee, dann den Straßendamm, hierauf das Trottoir und endlich die „Beischläge“, welche man hier mit dem Collectivnamen „stoep“ bezeichnet. In die Quaimauer sind in kurzen Zwischenräumen Treppen eingelassen; auch finden sich zahlreiche Vorrichtungen zum [677] Löschen und Laden. Die Allee, welche dann folgt, besteht in der Regel aus Linden und heißt „de boompjes“, die Bäumchen. Dann folgt der Gangsteig, den wir Deutsche Trottoir nennen, die Holländer aber nicht mit einem französischen, sondern mit einem gut germanischen Worte bezeichnen, nämlich „de steenen“, die Steine; denn er ist aus schmalen Klinkers oder hart gebrannten Backsteinen zusammengesetzt, von welchen der eine dem andern als Keil dient, sodaß das Ganze eine große Dauerhaftigkeit und Consistenz hat und weit besser ist, als unsere aus Platten zusammengesetzten Trottoirs, auf welchen man, namentlich im Winter bei Nässe oder Glatteis, keinen sicheren Tritt hat und die schönste Gelegenheit findet, die Arme oder Beine zu brechen. Außer und neben den „Steinchen“ hat man aber häufig zwischen diesen und den Häusern Trottoirs aus Quadersteinen. Endlich folgen jene Terrassen oder Plattformen, welche in einiger Höhe den Häusern entlang laufen, die „stoeps“, welche im Falle einer Ueberschwemmung auch als Nothgang benutzt werden können. In der Regel sind sie mit einem eisernen Gitter umgeben und mit Bänken versehen. Auf diesen sitzt nach gethaner Arbeit der behäbige Hausherr, um in Ruhe sein Pfeifchen oder seine Cigarre zu rauchen. Man nennt das auf Holländisch „stoepen“. Es hat einige Aehnlichkeit mit der Siesta des Türken, welche man Kef nennt, oder mit dem „dolce far niente der Italiener.

Das Wachsthum der Stadt zeigen die beiden Gürtel-Grachten, genannt „Cingel-Gracht“ (von dem lateinischen Worte Cingulum, der Gürtel), nämlich der innere Cingel und der äußere, von welchen jener die alte und dieser die neue Stadt als concentrische Kreise umschlingen, ähnlich wie Wien von dem „Ring“ und von den „Linien“ umfaßt wird. Zwischen beiden Cingel-Grachten im Westen der Stadt liegen die bereits erwähnten vornehmen Quartiere, die „Heeren-Gracht“, die „Keitzers“- und die „Prinsen Gracht“.

„Der Steen“ und Straße in Antwerpen.
Originalzeichnung von H. Schlittgen.

Amsterdam ist eine neue Stadt. Erst nach dem Falle Antwerpens (1585) entfaltete es sich zu seiner höchsten Blüthe. Es hat deshalb wenig alterthümliche oder alte monumentale Gebäude. Die vielthürmige Neumarktwage (de Waag op de Nieumarkt), früher Stadtthor, macht eine Ausnahme. Das ehemalige Stadthaus, welches seit der französischen Zwischenherrschaft konigliches Palais ist (het Paleis van Z. M. den Koning), jedoch wenig oder gar nicht als solches benutzt wird, ist recht imposant, aber im Innern durch den Kunstgeschmack des ersten französischen Kaiserreichs verunstaltet. Ich vermuthe, als es noch Stadthaus war, ist es schöner gewesen. Die Thürme, welche man sonst überall sieht, sind meist reichlich vergoldet, aber ein wenig verschnörkelt. Natürlich hat jeder sein Glockenspiel, auch der auf dem Palaste des Königs.

Jedenfalls aber hinterläßt Amsterdam einen lebhaften und bleibenden Eindenck. Die Grachten mit ihren schönen Alleen und ihren reinlichen Straßen, die zahllosen, zum Theil hochgespannten und hell angestrichenen Brücken und Brückchen, die Erker und Giebel der Häuser, die zwar alle den nämlichen Grundplan haben, aber in den Einzelheiten auf das Mannigfachste variieren, [678] der lebhafte und merkwürdige Verkehr auf den Straßen, die zahllosen Schiffe und Kähne, alles Das vereinigt sich zu einem Bilde, welches ebenso lebendig als charakteristisch ist.

Am zweiten Tage um vier Uhr nahmen wir an Bord unseres „Schwan“ Abschied von unseren Amsterdamer Wirthen, und am anderen Morgen erwachten wir Angesichts der Insel Walcheren und ihrer alten Stadt Vlissingen. Sie ist der Geburtsort des berühmtesten Seehelden des 17. Jahrhunderts, des Admirals Michiel Adriaanszoon de Ruyter; auch hat Vlissingen zuerst von allen niederländischen Städten 1572 die Fahne der Unabhängigkeit aufgepflanzt. Von hier ging es an Südbeveland vorbei, wovon ein Theil in Folge von Damm- und Deichbrüchen im Jahre 1532 „verdronken“, in der Osterschelde, und bald waren wir in Antwerpen, der mächtigen Concurrentin von Amsterdam, deren großartige Blüthe datirt von der Beseitigung des Scheldezolles der Holländer durch die Ablösung von 1863. Wir wurden hier durch ein Comité, an dessen Spize der deutsche Consul stand, und zu welchem zahlreiche hier ansässige Deutsche gehörten, nicht minder freundlich wie in Amsterdam empfangen und zunächst nach dem Rathhause in den großen Saal geleitet, wo uns der Bürgermeister de Wael, eine Hauptstütze der liberalen Partei dieses Landes, in französischer Sprache begrüßte und der Senator Versmann in unserem Namen deutsch antwortete, nachdem Herr de Wael versichert, daß er Deutsch verstehe.

Diese beiden vortrefflichen Reden machten um so mehr Eindruck, als derselbe unterstützt ward durch die historische und künstlerische Ausschmückung des großen Saales, welcher auch „la salle Leys“ genannt wird. Seine Hauptzierde sind die Wandgemälde, mit welchen H. Leys dies Zimmer geschmückt hat. Obgleich dieselben aus der Zeit von 1864 bis 1869 datiren, so wollte doch Mancher darauf wetten, sie seien alt und gut restaurirt. So gut ist der Ton des 16. Jahrhunderts getroffen. Die Stoffe sind der Geschichte der Stadt entnommen und bringen deren Rechte und Freiheiten in anschauliche Erinnerung. Da sehen wir alle jene Fürsten, welche die Stadt mit Rechten und Freiheiten begabten, von Gottfried von Bouillon (1096) bis zu Philipp dem Schönen von Spanien (1491). Wir sehen, wie Karl V. bei seinem feierlichen Einzuge (1514) schwört, die Freiheiten der Stadt zu achten und aufrecht zu erhalten; wie der Bürgermeister, als oberster municipaler Kriegsherr, seine Anordnungen trifft und namentlich 1542 dem Schöffen C. van Spangen den Auftrag zur Vertheidigung der Stadt giebt; wie während der Unruhen von 1567 Margaretha von Parma dem Bürgermeister die Schlüssel der Stadt überreicht etc., Alles mit lebensgroßen Figuren und in lebhafter und doch harmonischer Farbenpracht. Die Architektur zeigt den Stil italienischer Frührenaissance, die Decke das Wappen der Stadt (neben dem Schilde zwei ausgestreckte Hände) und die Schilder der verschiedenen Zünfte. Das große Marmorkamin paßt zu dem Ganzen. Das Rathhaus selber imponirt durch seine Masse. Sein Aeußeres zeigt ebenfalls einen consequent durchgeführten Renaissancestil, unten große Laubengänge oder Hallen, oben einen thurmartigen Mittelbau. Die hohen Gildehäuser, welche den Markt umgeben, tragen dazu bei, den Eindruck zu erhöhen.

Nach dem feierlichen Empfange zerstreuten wir uns in die Stadt, indem Jeder seinen besonderen Liebhabereien nachging. Es ist merkwürdig, was dieses alte Antwerpen, im Vergleiche zu dem verhältnißmäßig jungen Amsterdam, in seinen meisten Theilen für einen modernen Eindruck macht. Der Grachten sind nur noch wenige, der schönen und großen Bassins desto mehr. Ein Theil derselben ist von Napoleon I. erbaut. Er erkannte die mercantile Bedeutung des Ortes und leistete derselben durch diese Anlagen Vorschub, aber gleichzeitig verfolgte er eine Handelspolitik, welche durch ihre Feindseligkeit diese guten Absichten vereiteln mußte. Durch die Continentalsperre wollte er England von dem Festlande ausschließen, in Wirklichkeit aber schloß er sich und die ihm direct und indirect unterworfenen Länder von der See aus. Was früher Napoleon that, das that später der Scheldezoll, der die Entwickelung des Antwerpener Handels hemmte und unterdrückte. Erst seitdem dieses künstliche Hemmniß beseitigt ist, gelingt es Antwerpen, immer mehr die natürlichen Vortheile seiner Lage auszunuzen, worin es durch die Gotthardbahn eine kräftige Unterstützung findet. Auch die große Citadelle, welche früher am südlichen Ende der Stadt lag und dieser in ihrer Entwickelung im Wege stand, ist geschleift und durch detachirte Forts ersetzt worden. Beiläufig bemerkt, ist es uns aufgefallen, daß man, obgleich hier doch der Hauptwaffenplatz des Königreichs ist, so wenig Soldaten und fast gar keine Officiere (welche sich in der Regel der Civilkleidung bedienen) in der Stadt sieht. Dafür erblickt man desto mehr Priester und Mönche. Unter dem jetzigen Ministerium könnte Belgien ein zweiter Kirchenstaat werden, wenn nicht unser Herrgott dafür gesorgt hätte, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Auf dem großen Terrain der ehemaligen Citadelle entfaltet sich eine lebhafte Bauthätigkeit. Die überall abgesteckten Straßen sind schon vielfach mit Häusern besetzt, sowohl mit sehr einfachen, als auch mit recht prachtvollen, zum Theil in einem etwas schwerfälligen Renaissancestil. Auf den noch unbebauten Ländereien wird der Palast für die im Jahre 1885 hier stattfindende Weltausstellung errichtet. Man ist schon mitten in den Vorbereitungen begriffen und hofft, daß sich auch Deutschland an derselben thatkräftig betheiligt.

Wie sehr Antwerpen seine Stellung begreift, beweisen die großartigen und zweckmäßigen Anlagen längs des Ufers der Schelde, welche den Vergleich aushalten mit den Verbesserungen, die London gemacht hat längs der vormals so öden und wüsten Ufer der Themse. Unsere Abbildung S. 676 zeigt die in der Umwandlung begriffenen Schelde-Quais, dahinter die Stadt mit dem mächtigen Thurme der Kathedrale. Früher stand hier ein Stadttheil von meist kleinlichen und ärmlichen Häusern. Die Güter, welche hier ausgeladen wurden, mußten vorläufig da liegen und warten, bis sie von den sogenannten „Nazjen“ (welche man bei uns Markthelfer oder Rheinschnaken“ nennen würde) weiter gewälzt wurden. Die Bahnhöfe hatten keine Verbindung unter einander und mit dem Hafen. Ein wirklicher Centralbahnhof bestand nicht.

Jetzt ist man im Begriffe, wie dies Senator Versmann treffend ausdrückte, die Aufgabe zu lösen, einen allen Anforderungen entsprechenden Quai herzustellen mit Schuppen und allen sonstigen Erfordernissen, die Eisenbahn über denselben zu führen und „die Schienenwege in die unmittelbare, engste und zweckmäßigste Verbindung mit der Wasserstraße und deren Fahrzeugen zu bringen“. Die Anlagen sind noch nicht ganz fertig, aber Das, was fertig ist, bietet die Bürgschaft einer raschen Ausführung (man hat erst 1881 mit derselben begonnen) und eines vollständigen Gelingens. Unsere deutschen Häfen können hier Mancherlei lernen. An dem neuen Quai legte auch unser „Schwan“ an, und der Unterschied zwischen Ebbe und Fluth war an diesem Anlegeplatze so groß, daß wir einmal in gleichem Niveau mit der Quaifläche waren, das andere Mal stark hinauf und das dritte Mal stark hinunter klettern mußten, um auf das Schiff zu gelangen, wobei allerlei komische Dinge passirten, namentlich bei denjenigen theuren Gefährten, welche spät in der Nacht aus dem „Münchener Hofbräu“ zurückkehrten, das hier eine vielbesuchte Filiale hat. Sonst trinkt man hier von deutschen Bieren mit Vorliebe Straßburger.

Der Charakter der Stadt ist ganz anders als der von Amsterdam. Sie hat, obgleich ganz vlamisch, doch in ihrem Aeußern einen etwas französischen Typus, erinnert aber zugleich an eine alte vornehme deutsche freie Reichsstadt. Auf der „Place de Maire“ z. B., die so ziemlich den Mittelpunkt, wenigstens für die Fremdlinge, bildet, findet man im unteren Stockwerke ein reges, geschäftliches Leben. Da sind Comptoire, Magazine und Cafe’s und Kneipen. Aber in den oberen Regionen herrscht ein vornehmes Schweigen; da wohnen die reichen Leute; die Fenster sind verhängt; entweder sind die Eigenthümer in den Bädern und Sommerfrischen, oder sie wohnen hinten hinaus nach den Höfen und Gärten zu. Der Ziegelbau, der in Amsterdam herrscht, ist hier verschwunden. Statt der Backsteine sieht man Marmorfaçaden, aber ich kann mir nicht helfen, auch wenn man das für schlechten Geschmack hält: der Marmor ist zwar vornehmer, aber der Backstein ist pittoresker.

Ich muß nun noch der Museen und der Kathedrale, deren Bilder einer besonderen Darstellung bedürfen, des prachtvollen Festes, das uns die hiesige deutsche Colonie in dem „Cercle artistique“ gab, des Hauses der Osterlinge und des „Musée Plantin“ gedenken. Das Letztere ist eine Specialität, welche in allen fünf Welttheilen nicht ihres Gleichen findet und welche immer mehr Besucher anziehen wird, namentlich solche, welche sich für die Geschichte der geistigen und der wirthschaftlichen Cultur, insbesondere [679] aber für die Geschichte der Buchdruckerei, der Wissenschaften, des Verlags und des Buchhandels interessiren.

Christophorus Plantinus, der dies Haus gründete, war einer jener großen Drucker des 16. Jahrhunderts, welche die Erfindung der Buchdruckerei gemeinnützig machten für die ganze Menschheit. Von kleinsten Anfängen ausgehend, gewann sein Geschäft eine Ausdehnung, daß es sich über ganz Europa erstreckte und er mit den mächtigsten und größten Männern seiner Zeit in Correspondenz stand. Unter seinem Schwiegersohn Moretus und dessen Nachkommen wurde das Geschäft in gleichem oder größerem Umfange fortgesetzt und Jahrhunderte lang wurden die Schätze der Druckerei, des Buchhandels, der Bibliothek, der Bildergallerie und des Archives aufbewahrt und vermehrt in dem nämlichen Hause, worin sie sich noch heute befinden, – in diesem großen und alten Hause, dessen innerer Hof mit Säulengängen umgeben und von einem uralten mannsdicken Weinstock überwachsen ist, der mit seinem frischen, von Sonnenstrahlen durchzitterten Grün die alten röthlich strahlenden Wände ausschmückt. Seit 1873 ist das Ganze im Besitze der Stadt, welche es seit 1877 dem Publicum zugänglich gemacht hat, während der Director des Museums, Max Rooses, und Max Buelens, der verdienstvolle Verfasser der „Annales Plantiniennes“, die in der Domus Plantiniana angehäuften Schätze für die Wissenschaft verwerthen.

Flandrische Mädchen am Massys-Brunnen in Antwerpen.

Das alte Haus der Osterlinge, die maison hanséatique, steht hier in Antwerpen noch, während sie in Brügge gänzlich verschwunden ist.

Wir finden das zwar stattliche, aber sehr verwahrloste Haus am nördlichen Ende der Stadt zwischen dem großen und dem kleinen Bassin. Die drei Quais, welche dasselbe auf der West-, Nord- und Ostseite umgeben, sind nach Hamburg, Bremen und Lübeck benannt. Das Gebäude wurde zwischen 1564 und 1568 aufgeführt, und damalige Schriftsteller behaupten, es sei einem königlichen Palaste vergleichbar. Allein kurz darnach erfolgte der Sturz Antwerpens (1583) und bald darauf begann auch der Verfall der Hansa. Die Mittel zur Unterhaltung des Hauses waren schwer aufzubringen. Das Eigenthum ging ausschließlich auf Hamburg, Bremen und Lübeck über, welche allein sich noch der Sache annahmen. Endlich im Jahre 1863 wurde dasselbe an Belgien übertragen, für eine Million Franken, welche Summe bei Ablösung des Scheldezolles verrechnet wurde. Wenn man sich ein lebendiges Bild machen will von diesem Haus in Antwerpen, so muß man die genaue Beschreibung des „Hauses der Orientalen“ oder Osterlinge von Brügge nachsehen, welche sich in dem Archive der Stadt Köln befindet und die August Reichensperger, unter Beigabe der betreffenden Zeichnung, in seiner Sammlung „Allerlei aus dem Kunstgebiete“ (Brixen, 1867), mit interessanten Randglossen publicirt hat. Der Mangel an Raum zwingt mich, auf die weitere Ausführung dieses höchst interessanten Stoffes zu verzichten. Ich erwähne nur noch den „Quintin Massys Brunnen“, ein Werk aus Schmiede-Eisen, angeblich von dem berühmten Massys, der seiner Zeit Grobschmied und dann ein berühmter Maler („in sijnen tyd grofsmidt en darnaer famus schilder“) war, und den Gottfried Kinkel in seinem „Grobschmied von Antwerpen“ besungen. Unsere nebenstehende Abbildung zeigt den alten Brunnen und einige junge Dirnen, welche ebenso, wie das Milchmädchen auf dem andern Bilde, S. 677, an Kinkel’s Verse erinnern:

„Und seht Ihr Euch das Mädchen an –
Ich weiß nicht, ob’s Euch ganz gefiele –
Es ist kein Weib für jeden Mann,
Etwas im kräftigen Pallas Stile“ etc.

Auch muß ich schließlich noch des schönen Festes gedenken, das uns an dem letzten Abend die deutsche Colonie in Antwerpen in den zu diesem Zwecke gemietheten Räumen des „Cercle artistique, littéraire et scientifique“ gab, einer Gesellschaft, in welcher sich das ganze Culturleben der Stadt concentrirt hat und deren prachtvolle Räume die besten Maler des Landes durch schenkungsweise hierher gestiftete Bilder ausgeschmückt haben in einer Weise, wie sie kein anderes Gesellschaftslocal aufweist. Die Gesellschaft war indeß keineswegs ausschließlich hanseatisch. Man hörte auch viel Blamisch und Französisch. Auch Süddeutschland und die deutsche Schweiz waren vertreten; und wenn ich an den Hader der Parteien und den Krieg der Interessen in Deutschland dachte, so sagte ich mir: „Was vertragen sich doch die Deutschen so herrlich – im Auslande!“

Den Kopf noch voll herrlicher Erinnerungen an den schönen Abend, machten wir am andern Morgen einen sehr langen Gänsemarsch von unserem „Schwan“ (den wir seinem Schicksal überließen, um ihn in Ostende oder Brügge wiederzufinden), die neuen Quais entlang, und an dem alten „Steen“ (siehe die Abbild. S. 677) vorüber – ursprünglich ein Theil der alten Burg, dann Sitz der spanischen Inquisition, die hier noch allerlei Einrichtungen raffinirtester Bosheit und Grausamkeit zurückgelassen, und jetzt ein ganz sehenswerthes Museum von Alterthümern – an die Waesbahn, station du Pays de Waes, wo wir auf das linke Ufer der Schelde übersetzten und, immer noch den Blick auf die thurmreiche Stadt gerichtet, uns auf der Eisenbahn nach Gent einschifften. Wir kamen gegen elf Uhr dort an und unersättliche oder sagen wir lieber wißbegierige und fleißige Touristen, wie wir nun einmal sind, nahmen wir uns kaum Zeit zum Frühstücken und stürzten uns gleich wieder auf die Sehenswürdigkeiten. Wir hatten dabei an Herrn Dr. Frederick, Professor der Geschichte und der Literatur

[680]

Rabot-Thor in Gent.
Originalzeichnung von H. Schlittgen.

an der Universität, einen vortrefflichen Führer. Die Stadt Gent, die Hauptstadt von Ostflandern, erfreut sich einer erneuerten Blüthe. Sie ist jetzt vorzugsweise Fabrikstadt und der Sitz zahlreicher Spinnereien und Webereien, sowie von Spitzen- und von Maschinenfabriken. Ihre Handelsgärtnerei erfreut sich einer großen Berühmtheit. Nicht minder die Spitzenklöppelei. Im Mittelalter war die Tuchweberei das Hauptgeschäft. Die Weber waren sehr streitbare Leute und stets bereit, zu den Waffen zu greifen. Die Stadt hat jetzt über 132,000 Einwohner; und ich glaube, daß sie auch im Mittelalter nicht viel mehr gehabt hat. Die gegentheiligen Angaben beruhen wohl auf Uebertreibung, wie dies Friedrich Oetker in seinen „Belgischen Studien“ nachgewiesen.

Kaiser Karl V., der hier im „Prinzenhof“ geboren ist, einem Gebäude, das schon lange verschwunden und nur in einem Straßennamen einen Niederschlag zurückgelassen, hat einen Aufstand der Stadt benutzt, um ihre Selbstverwaltung zu beschränken und ihr die politische Rechte, die ihr von seinen Vorfahren so reichlich verliehen worden waren, ganz zu entziehen. Dagegen entfaltete die Stadt unter ihm die höchste wirtschaftliche Blüthe. Die Blüthe von Brügge aber ging mit dem Mittelalter zu Grabe, während die von Gent noch lange fortdauerte; und in diesem Gegensatz zwischen beiden Städte liegt auch die Verschiedenheit ihres heutigen Charakters und Aussehens begründet. In Gent ist der Periode der Gothik eine solche der Renaissance gefolgt; die letztere hat versucht, die gothischen Baudenkmale (von welchen vorzugsweise noch einzelne Thore erhalten sind, wie das hier abgebildete alte Rabot-Thor, an welchem Friedrich III. eine Schlappe erlitt, als er 1488 seinem Sohn Max zu Hülfe eilen wollte) zu verdrängen, zu überbieten oder gar zu „verbessern“, das heißt oft: zu verballhornen. Das Rathhaus ist dafür ein sprechendes Beispiel: an den alten Bau, der ein Meisterwerk gotischer Baukunst, hat man einen neuen Flügel angebaut, der sich mit der ganzen anspruchsvollen Pracht des Renaissancestils präsentiert, ohne den Eindruck des alten gotischen Hauses verwischen zu können, während der Gegensatz zwischen beiden Theilen dem Gesammteindruck des Ganzen nur schadet.

In Brügge dagegen hörte mit dem Mittelalter und seiner Kunst auch der Wohlstand der Stadt auf. Damit entging man der Versuchung, den einheitlichen architektonischen Charakter der Stadt durch Renaissance- und später durch Barockstil zu stören. Leider hat man Manches niedergerissen, weil man keine Mittel hatte es zu unterhalten, vielleicht auch keinen Geschmack, um es zu würdigen.

Gent bietet gleichwohl in seiner Kathedrale, in seinem Beffroy, in seinen Bildern, in seinen Beguinenhöfen eine Anzahl von Sehenswürdigkeiten, welche eine eingehende Besprechung verdienen, aber wegen Mangel an Raum hier nicht finden können.