Die erste Fahrt auf der Eisenbahn von Paris nach Orléans

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Titel: Die erste Fahrt auf der Eisenbahn von Paris nach Orléans
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aus: Illustrirte Zeitung, Nr. 4 vom 22. Juli 1843, S. 52–54
Herausgeber: Johann Jacob Weber
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Entstehungsdatum: 1843
Erscheinungsdatum: 1843
Verlag: J. J. Weber
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: MDZ München, Commons
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Die erste Fahrt auf der Eisenbahn von Paris nach Orléans.


Diese Bahn ist am 2. Mai mit allen Feierlichkeiten eröffnet worden, die bei diesen Gelegenheiten wiederzukehren pflegen. Frühstücks von einigen hundert Couverts, Austheilung von Ehrenzeichen, Einweihungen, Reden, Trink- und Lobsprüche kamen hier wie anderwärts vor. Alle diese Herrlichkeiten mitzugenießen, kommen wir freilich nun zu spät; aber wir wollen ein noch schnelleres Gefährt, als die Locomotive, anspannen; die beflügelte Phantasie soll uns in den Bahnhof der Paris-Orléans-Eisenbahn hintragen und wir wollen eine Fahrt unternehmen, während wir uns behaglich aufs Sopha strecken. Bequemer können wir es nicht haben.

Der Bahnhof von Paris.

Die Paris-Orléans-Eisenbahn ist nicht eine Vergnügungsbahn [53] für die Pariser, wie es die Bahnen nach Saint-Germain und Versailles sind, die man befährt, um sich zu erfrischen an der Natur außer den Mauern von Paris, sondern sie ist das erste Glied in der großen Eisenbahnkette, die den Norden Frankreichs mit seinem Süden, Bordeaux und Nantes mit Havre und Belgien verbinden soll. Hierin liegt ihre Bedeutung.

Durchfahrt unter der Straße nach Cour de France

Der Bahnhof, den wir betreten, ist hoch und geräumig, er ist bereits auf sehr großen Verkehr eingerichtet. Niemand braucht zu drängen, oder steht dem Andern im Wege.

Das Bahngebäude ist in einem edlen, einfachen Geschmack aufgeführt und die äußere Architectur erscheint übereinstimmend mit dem Zwecke des Innern. Vorzügliche Rücksicht ist auf Geräumlichkeit zu ebener Erde genommen, man sieht daher von außen nur weite Arcaden mit hohen Bogenfenstern; den Eingang bildet ein Vorgebäude, das sich über der Anfahrt wölbt und den großen Hof begrenzt. Jenes Vorgebäude dient namentlich zum Ab- und Aufladen von Päckereien.

Der Bahnhof ist länger als 300 Meter oder 900 rheinische Fuß und auf seiner ganzen Länge durch eine bewunderswürdig leichte Bedachung mit Oberlicht versehen. Die dazu gehörigen Räume erstrecken sich bis zum Boulevard de l’Hôpital, wo wir die für die Verwaltung bestimmten Wohnungen erblicken. Die beiden Seiten öffnen sich gegen Straßen – auf der einen vom Quai d’Austerlitz kommen wir herzu – die andere ist ausdrücklich dazu bestimmt, Gepäck und Reisende nach Paris zu führen.

Wir treten ein in das Gebäude und werfen einen Blick auf diese kühne Bedachung über 500 Ellen Länge! Scheint es Euch nicht auf Augenblicke – und, lieben Leser! Ihr müßt Eure Phantasie doppelt so stark anspannen, da Ihr eigentlich Nichts seht, nicht einmal auf unserem Holzschnitte – als wenn das Dachgerüst das Gerippe eines vorsündfluthlichen Unthiers, vielleicht eines Megatherions, sei, unter dem wir uns befinden? Das Licht strömt aus hunderten von Fenstern herein, magisch wird aber die Beleuchtung sein, wenn wir von Orléans zurückkommen und die düstern Spalten des Sparrwerks mit den Strahlen der Gasflammen spielen. Vier Bahngleise, zu beiden Seiten mit Erhöhungen zum Auf- und Absteigen, nehmen die Bahnwagen bei der Abfahrt und der Ankunft auf und verzweigen sich im Hofe in andere Geleise nach den verschiedenen Wagenschuppen, Werkstätten und Nebengebäuden.

Wir haben noch Zeit bis zur nächsten Abfahrt und wollen daher einen Blick auf die Geschichte dieser Eisenbahn werfen, die während ihres Entstehens mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.

Im Jahre 1838 wurde einer Gesellschaft die Concession zur Erbauung einer Eisenbahn von Paris nach Orléans, mit Zweigbahnen nach Corbeil, Pithiviers und Arpajou, ertheilt, das Maximum der Steigungen auf 3 Millimeter per Meter und der kleinste Krümmungshalbmesser auf 1000 Meter festgesetzt. Die Gesellschaft, auf ein Actiencapital von 40 Millionen Franken begründet, legte sofort Hand ans Werk und beauftragte den Ingenieur Julien mit der Ausführung, der sich derselben auch mit solchem Eifer unterzog, daß schon nach 18 Monaten die Zweigfahrt über Choisy Petit Bourg nach Corbeil befahren werden konnte. Während dieser Zeit war die Hauptlinie genau untersucht worden und hatten sich die ernstesten Bedenken wider die Zweigbahnen nach Arpajou und Pithiviers, deren mögliche Einträglichkeit mit dem für sie aufzuwendenden Bau- und Betriebscapital außer Verhältniß zu stehen schien, erhoben. Während dieser Zeit war auch die Aufregung für Actienunternehmungen sehr herabgestimmt, so daß die Gesellschaft sich genöthigt sah, die Regierung um ihre Dazwischenkunft, in Bezug auf den Geldpunkt, anzugehen.

Dieselbe gewährte auch einige Erleichterungen in den Steigungs- und Krümmungsbedingungen, und begab sich einiger anderer Rechte; doch schlug dieses nicht durch.

Den 15. Juli 1840 jedoch schritt die Regierung zu andern Maßregeln. Sie versprach der Gesellschaft auf das einzuschießende Vermögen von 40 Millionen Franken eine Rente von 4 % während 46 Jahren und 324 Tagen, wogegen die Gesellschaft ihr Capital mit 1 % jährlich tilgen sollte. Natürlich fehlte es nun nicht an Einzahlern auf die Actien. Das Steigungsverhältniß wurde auf 5 Millimeter per Meter herauf-, der Krümmungshalbmesser auf 800 Meter herabgesetzt, und die Zweigbahnen Pithiviers und Arpajou ließ man fallen. Unter Einfluß dieser großen Begünstigungen nahmen die Arbeiten an der Bahn den raschesten Fortgang. Der Ingenieur hatte 5 Jahr Zeit zum Bau; die Hälfte genügte ihm zur Vollendung. Der erste Spatenstich geschah zu Anfang 1841, und am 1. Mai

Bahnhof in Orléans.

[54] 1843 wurde die letzte Schiene gelegt. – Die Schnelligkeit, mit der die Arbeiten vollführt sind, hat aber keineswegs ihre Tüchtigkeit beeinträchtigt. Nichts ist auf den Schimmer gebaut; Alles ernst und gewissenhaft behandelt. Nichts fällt pfuscherhaft ins Auge, sondern überall spricht sich das Gepräge ausgezeichneter, meisterhafter Bauart aus. Und in diesem Punkte ging das Interesse der Gesellschaft und des Publicums mit der Eigenliebe des Ingenieurs Hand in Hand, denn eine Concession von 99 Jahren ist einem Monopol gleichzuschätzen.

Doch genug der ernsten statistischen Betrachtungen; hinaus in die schöne Landschaft! Wir wollen uns auf den offenen Wagen setzen und die frische Luft nicht scheuen; können wir uns doch um so besser umsehen. – Es ist ein Hochgenuß, durch die blühenden Gefilde zu fliegen! Im Vorüberzuge tauchen schimmernde Häuser, Kirchthurmspitzen vor unseren Augen auf und verschwinden wieder, schnell wie eine optische Erscheinung. Jeden Augenblick entfalten sich neue Bilder auf unserm Fluge von dem mächtigen Paris bis zur stolzen Stadt der Jungfrau von Orléans.

Sobald wir die Thore von Paris hinter uns haben, durchschneiden wir die Fluren von Ivry, Vitey und Choisy-le-Roi, wir befinden uns unter den Kanonen der Festung Ivry. Warum donnern sie uns nicht ein Willkommen zu, die wir auf den Siegesschwingen der Industrie vorüberbrausen? Möchten sie doch ihren ehernen Mund immer nur aufthun, um die Vervollständigung der ehernen Freundschaftsbande der Nationen zu feiern; niemals aber zu deren Zertrümmerung. Auf der ganzen Wegstrecke bis Juvisy, wo die Zweigbahn nach Corbeil abgeht, überblickt man den Lauf der Seine und ihre reiche Thalebene; hier taucht ein Schloß hinter dichten Buchen auf, dort ragt der hohe Schornstein einer Fabrik hervor und kräuselt seine schwarzen Wolken empor. Ueberall Wohlstand, Leben und Bewegung! –

Von Juvisy ab wendet sich die Bahn mit einem Bogen von 1500 Meter Halbmesser in der Richtung nach Etampes und läuft bald darauf unter der Chaussee durch, welche von Antibes nach Paris führt. Der Brückenbogen dieses Uebergangs hat 8 Meter Spannung und 5 Meter Höhe und ist, wie alle Bauwerke dieser Linie es sind, dauerhaft von Stein aufgeführt. Die Chaussee hat dieses Ueberganges wegen zu beiden Seiten auf eine lange Strecke zu einer Neigung von 3 Centimeter in 1 Meter erhöht werden müssen. –

Nicht weit davon entfernt öffnet sich uns das Thal der Orges, oder vielmehr das „Thal der Schlösser“. Denn zwischen Jusivy und Arpajon ist Alles bedeckt mit den prächtigen Landsitzen französischer Großen, der Bankiers, der Pairs, der Generale. Schlösser aus allen Zeitaltern! Einige reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück, während andere kaum die Hand des Baukünstlers verlassen zu haben scheint. Als zwei große Wahrzeichen auf diesem architectonisch angebauten Felde wechselnder Erinnerungen steigt dort der Thurm von Montlhéry empor, der gegen den Himmel zu murren scheint: warum nicht, wie ehedem, jetzt noch zitternde Vasallen zu seinen Füßen schleichen; und auf dieser Seite trauert die Thurmruine von Etampes mit ihren halb eingestürzten riesigen Mauern, an denen der Zahn der Zeit seit dem 10. Jahrhundert genagt hat, wo, wie man glaubt, die alte Zwingburg gebaut wurde.

Die Eisenbahn hat in mehren Fällen, trotz des Widerstrebens der Eigenthümer, die schönen Parks dieser Schlösser und Landsitze durchschnitten. Der Gewerbfleiß hat das Gesetz für sich; er ist der Allmächtige, vor ihm versinken die Reste mittelalterlicher Herrlichkeit! Was würden die alten Ritter sagen, welche zu ihrer Zeit von ihren Adlerhorsten herunterstiegen, um ihre Nachbarn zu befehden, und, man kann es nicht verhehlen, zuweilen auch die Reisenden zu plündern, was würden sie sagen, diese alten Barone, welche niedere und hohe Gerichtsbarkeit besaßen und das schöne Herrenrecht, was sie so ungern aufgegeben haben, wenn sie, den Hut unterm Arme, vor dem Gewerbfleiß erscheinen und ihn noch begrüßen müßten, wenn derselbe ihr Eigenthum durchgraben, ihre Wässer abdämmen, ihre Forsten niederschlagen will? – Gewiß, sie würden glauben, der Welt Ende sei nahe und Alles stürze in einen ewigen Ruin zusammen. – Und dennoch geschieht dies Alles, ohne daß die Sonne minderen Glanz, wie ehedem, hätte. Ja! sie geht täglich über neue Fortschritte auf, welche die Entwickelung des Menschengeistes hervorbringt. Davor aber mußten die Vorrechte Einzelner stürzen, und das Wohl der Gesammtheit sich auf den Trümmern erheben. Die rohe Kraft, die Gewalt des Stärkern hat zu herrschen aufgehört. Das Reich des Geistes ist angebrochen. Die Zeiten sind glücklicher Weise vorüber, von denen der Dichter sagt:

„Der erste König war ein glücklicher Soldat.“

Es genügt nicht mehr, stark zu sein, um zu regieren, man muß zugleich weise und klug sein. Deswegen sitzt heut’ zu Tage auch die Industrie mit den Großen und Reichen zu Tische, aber – alle Achtung – mit demjenigen Anstand, der sich ziemt. – So hat allerdings die Eisenbahn die Parks ihrer ganzen Länge nach durchschnitten, aber sie hat zierliche Wegübergänge gebaut, so viele man immer verlangt hat; ebenso oft eiserne Geländer und Brücken unter der Bahn, so daß die Mannigfaltigkeit der Schönheiten der Parks nur erhöht wird durch die Bahn, mit ihren Locomotiven und Tausenden von Reisenden, die wie ein Guckkastenbild vorüberziehen.

Wir befinden uns mit auf dem Zuge, durchdampfen das Thal von Orges und das von Yvette. Die beiden Flüsse sind überbrückt, die Yvette mittelst dreier Bogen von 8 Meter Spannung und 14 Meter Höhe. Nichts Reizenderes, als diese Thalübergänge; weit vermag das Auge den Wendungen der Flüsse zu folgen, wie sie durch Wiesen, Grün und Bäume ihre Silberstreifen ziehen.

Wir halten zu Saint-Michel vor dem prächtigen modernen Schloß von Lormoy, welches Herrn Paturle – einem bedeutenden Fabrikanten – gehört, und wo ein artesischer Brunnen von 120 Meter Tiefe zur Speisung der Locomotiven gebohrt ist, und setzen unsere Fahrt durch die reizende früchte- und ereignißreiche Umgegend von Paris fort. Beinahe mit jeder Raddrehung der Locomotive treten neue Bilder hervor, aber es ist unmöglich, ihre schönen Umrisse, ihre frische Farbenpracht mit Worten auf das Papier zu zaubern, wir könnten nichts als die Ausdrücke des Entzückens fortdauernd wiederholen; was für unsere Leser, die nicht wirklich im Wagen sitzen und die Herrlichkeit rings umher mit den Augen genießen, von wenig Interesse sein würde. Etampes ist erreicht; von da geht es durch ein trauriges ebenes und unfruchtbares Land, hier ist la Beauce, dort schon Sologne! – Endlich gelangen wir nach Orléans in einen weiten Bahnhof, nach einer Fahrt von 15 Meilen, welche wir in 41/2 Stunden vollendet, und dabei noch über eine Stunde auf dem Wege verweilt haben, auch nicht so rasch gefahren sind, um uns desto besser umzusehen.

Hier in Orléans war es, wo bei der Einweihung am 2. Mai die Prinzen von Frankreich, welche die erste Fahrt mitgemacht hatten, von den Behörden empfangen wurden, wo der Minister Teste im Namen des Königs den drei Directoren Kreuze der Ehrenlegion überreichte und die Ingenieure Jullien und Thoyot einige Grade höher beförderte, wo der Erzbischof von Orléans die Locomotiven einsegnete und der Abbé Fayet eine geistliche Rede hielt. Die Kanonen donnerten dazwischen, die Glocken riefen zur Andacht. Der Prinz von Nemours musterte die Nationalgarde, die schönsten Mädchen von Orléans streuten Blumen, die dreifarbige Fahne wallte in der Luft und von duftenden Blumenketten war Alles überdeckt. Wir sehen sie noch verwelkt herabhängen. Ein großes Festessen machte den Beschluß. Wir aber kehren nach Paris zurück und dann auf den Schwingen der Phantasie wieder nach unserem geliebten Deutschland.
F.