Die falschen Gerüchte
[582] Die falschen Gerüchte, welche über die Arretirung dreier Deutschen in Bordeaux in französischen Blättern verbreitet worden sind und ihren Weg auch bereits nach Deutschland gefunden haben, veranlassen einen Augenzeugen, der dem Schicksale seiner Freunde nur zufällig entgangen ist, ein wahrheitsgetreues Referat zu geben.
Am Sonntag den 14. August, Nachmittags drei Uhr, saßen wir, vier junge Deutsche und ein Schweizer, in einem der ersten Cafés (Café de la Comédie) in Bordeaux ruhig zusammen, ohne irgendwie die zahlreich versammelten Gäste zu provociren, welche sämmtlich der sogenannten anständigen Gesellschaft angehörten; da traf die Depesche vom Kriegsschauplatze ein, daß die deutschen Truppen Nancy besetzt hätten, und verbreitete neuen Schrecken und neue Wuth unter allen Classen der Bevölkerung.
Ein aufgeregter Haufen wälzte sich die Straße herunter nach der Präfectur zu, in seiner Mitte stieß man einen jungen Deutschen mit sich fort, welcher in einem anderen Café auf die empfangene Siegesnachricht der Deutschen gelacht haben sollte. Als der Zug an uns vorüberging und das Gewühl der aufgeregten Menge am größten war, sprang ein Herr, Ritter des Kreuzes der Ehrenlegion – der Name des „Braven“ ist in französischen Blättern rühmlichst erwähnt – auf und schrie: „Hier sind auch noch Deutsche; man darf sie nicht länger dulden, die Spione etc.“ Gleichzeitig ergriff er ein Bierglas und warf es auf unseren Tisch, daß die Scherben uns an die Köpfe flogen. Sofort wurden wir von einander getrennt und jeder einzeln von gegen zwanzig Mann umringt, angefallen, bei der Brust ergriffen und mit den abscheulichsten Schmähungen überhäuft. Mir und einem meiner Freunde, die wir zufällig in etwas bessere Hände gefallen waren, gelang es dadurch uns zu befreien, daß wir die Herren frugen, ob es einer großen Nation würdig sei, wehrlose Deutsche auf so schmähliche Weise zu insultiren. Die zwei anderen Deutschen und den Schweizer aber schleppte man bereits fort nach der Präfectur. Auf dem Wege dahin, umringt von fanatischen Pöbelhaufen, ließ man den Schweizer, nachdem er öffentlich geschworen hatte, daß er kein Deutscher, sondern Schweizer sei, laufen, während die beiden anderen Freunde glücklicher Weise zeitig genug von herbeigekommenen Polizisten in Empfang genommen und so vor der Wuth der Menge geschützt wurden. Von der Präfectur, ohne Verhör gehabt zu haben, führte man sie zu ihrer Sicherheit in geschlossenem Wagen und auf Umwegen zum Gefängnisse, wo sie bei Wasser und Brod bis zum 16. August früh gehalten und dann mit der Weisung entlassen wurden, binnen vierundzwanzig Stunden Frankreich zu verlassen.
Die perfide Ausweisungsmaßregel, der wir Deutschen binnen vierundzwanzig Stunden Folge leisten mußten, hat auch mich gezwungen, über Genf dem Vaterlande zuzueilen. Der Eisenbahnzug, der uns durch Frankreich führte, war erfüllt von Garde mobile, Soldaten der französischen Marine, Feuerwehren, Gensdarmen, sowie von leicht verwundeten Zuaven, großentheils eine Gesellschaft in trunkenem Zustande und von einer Rohheit, wie sie schlimmer kaum gedacht werden kann. Die nette Bande hatte noch ganz ihren Uebermuth bewahrt, und wenn man auch hier und da ein ernstes, finsteres Gesicht sah, so hätte man doch eher glauben sollen, Horden einer siegreichen Armee, als die letzten Stützen des verlorenen Kaiserreichs vor sich zu sehen.
Unsere Lage war unter solchen Verhältnissen natürlich eine höchst peinliche. Ein erster Blick der Franzosen auf uns blondes blauäugiges Häuflein von fünf Mann, die wir zusammen in einem Coupé Bordeaux verlassen hatten, überzeugte jene, daß wir Deutsche (Prussiens) waren, und des Schimpfens, der Drohungen und des Hohnes war während der ganzen Reise kein Ende.
Fast unerträglich war die Nacht vom 16. zum 17. August, die wir im Dampfwagen zubrachten. Kaum hatten wir unsere müden Augen ein wenig geschlossen, so donnerten vom benachbarten Coupé Fußtritte an die Wände, die uns sofort wieder erweckten, selbst gegen Fauststöße von unbekannten heimtückischen Händen mußten wir die ganze Nacht auf unserer Hut sein, und erst der Morgen brachte uns, wenn auch nicht mehr Ruhe, so doch etwas mehr Sicherheit.
Nach vierunddreißigstündiger Fahrt an der Grenze angelangt, hatten wir unsere Pässe vorzuzeigen, und obgleich die Weisung an alle Deutsche ergangen war, Frankreich schleunigst zu verlassen, so wurden doch alle diejenigen, welche keinen genügenden Paß hatten, chicanirt und polizeilich zurückgehalten und diese Maßregel selbst weiblichen Flüchtlingen gegenüber in Anwendung gebracht.
Wie groß die Erbitterung des französischen Volkes gegen die Deutschen ist, ließe sich mit Hunderten von Beispielen belegen. Im Hôtel in Bordeaux, wo ich mit vielen meiner Freunde aß, wurde uns der Tisch gekündigt, weil der Wirth einen Sturm auf sein Haus befürchtete.
Schließlich noch die Mittheilung, wie ich während meiner Reise Gelegenheit hatte, rühmen zu hören, mit welcher Freundlichkeit sich der Schweizer Consul in Bordeaux der süddeutschen Ausgewiesenen angenommen und sie mit Rath und Geldmitteln unterstützt habe. Ueber den nordamerikanischen Viceconsul dort, unter dessen Schutze die norddeutschen Unterthanen [583] herausgegeben – hatte Wilhelm veranlaßt, von Frankfurt a. M., wo Wilhelm beliebter Musiklehrer war, nach Crefeld überzusiedeln. Dort war er in den angesehensten Familien sehr beliebt und verstand es, in dieser Stellung mit dem gerechten Stolze eines bescheidenen, aber von seinem Werthe überzeugten Künstlers sich zu bewegen. Er hatte, wie man sich denken kann, zahlreiche Schüler. Den begabten und strebsamen war er ein anerkannt trefflicher Lehrer. Gedächtnißzerstreutheit ließ ihn allerdings diese und jene Lection vergessen. Eine einzige Lection, welche ihm durch einen talentlosen oder musikalisch nicht ernstgesinnten Schüler verbittert worden, konnte den nervösen, äußerst feinfühligen Mann für den ganzen Tag verstimmen und ungenießbar machen.
Schon oben sagte ich: er war eine „Künstlernatur“. Er war es auch in dem Sinne, daß er Geldangelegenheiten, oft genug zu seinem Nachtheil, mit großer Sorglosigkeit behandelte. Sicher ist, daß er das Metall in den Kehlen seiner Sängerschaaren besser zu bewahren und zu dirigiren verstand, als das Silber seiner Casse. Zum Banquier – dies Geständniß wird mir der verehrte Meister nicht übel nehmen – war Wilhelm entschieden nicht geboren, es müßte denn sein, daß die Folgezeit meine Meinung Lügen gestraft hätte. Als Künstler dagegen hat er stets das Seine geleistet und auch, wie es obige Andeutungen bestätigen, im engern Kreise mit Ernst, Umsicht, großer Begabung und – mit Erfolg für Verbreitung guter Musikpflege gewirkt.
In welch vortheilhaftes Licht sein Name als Componist des Liedes „Die Wacht am Rhein“ getreten ist, braucht hier nicht ausgeführt zu werden. Es ist wahr, das Gedicht des verstorbenen Schneckenburger selbst hat sein gut Theil an der Anfeuerung, die es bei Deutschlands Bürgern und Kriegern bewirkt, doch darf, ohne dem ehrenwerthen patriotischen Dichter zu nahe treten zu wollen, nicht übersehen werden, daß es in der Zeit seiner Entstehung – 1840 – und lange Jahre nachher, so gut wie unbekannt blieb, während das gleichzeitig entstandene Nicolaus Becker’sche Lied die Runde machte. Auch etwelche Musik zu dem Gedicht ist an und für sich nicht fördernd und entscheidend gewesen, von dem Vorhandensein der Mende’schen Composition hat man eigentlich erst jetzt etwas erfahren. Die rechten Töne, welche den Worten Harnisch und Flügel verliehen, daß es gleichsam wie ein Erzengel Michael mit flammendem Schwerte die Heerschaaren begleitet – sie fand erst Carl Wilhelm 1854. Einige Jahre später war das Lied schon von allen besseren Männerchören gekannt und geliebt, was sowohl für den glücklich getroffenen populären Ton, als für den absoluten musikalischen Werth spricht.
Nicht allen Lesern der Gartenlaube wird es bekannt sein, daß Frankreichs berühmtes Kriegslied „Die Marseillaise“ den letzteren Namen erst später erhielt, von dem Dichterkomponisten Rouget de Lisle dagegen „Schlachtgesang der Rheinarmee“ genannt wurde. Nun wohl, Wilhelm’s Lied ist in der That ein „Schlachtgesang der deutschen Rheinarmee“ geworden, und wird fortan zu den durch Bluttaufe geheiligten Nationalliedern der Deutschen gehören. Frankreich sprach Rouget de Lisle eine Pension von jährlich sechstausend Francs (sechszehnhundert Thaler) zu. Was wird Deutschland Carl Wilhelm gegenüber thun? Welchen begeisternden Eindruck hat nicht das Lied im ganzen deutschen Vaterlande hervorgebracht, bei wie viel Strapazen, in wie mancher Drangsal hat es die deutschen Krieger aufgerichtet und gestärkt, wie oft haben seine Klänge den Muth unserer Helden bis zur Todesverachtung entflammt! Preußens Königin Auguste hat bereits anerkennend der Urheber des neuen Bannerliedes gedacht; der greise Schirmherr Deutschlands, König Wilhelm von Preußen, der jetzt in Wahrheit als deutscher Kriegs-„Herzog“ die tapferen Schaaren in das Herz von Frankreich hineinführt, er wird am wenigsten verkennen, wie Carl Wilhelm von Schmalkalden durch sein Lied dem deutschen Heere ein musikalischer Herzog geworden ist und an den erfochtenen Siegen großen geistigen Antheil hat. Nicht nur Ehrengaben aller Art sollten Einzelne, sollten Corporationen, musikalische, wie vaterländische, dem mit Worten und in Gedanken so hochgeehrten Componisten darbieten – die gerechteste Belohnung wäre es, wenn die ganze Nation, wenn die deutschen Bundesregierungen im Verein mit dem gesammten deutschen Parlament Carl Wilhelm, welcher in diesem Jahre sein Jupiteralter antritt, für den Abend seines Lebens vor allen äußeren Sorgen sicherten und ihn in Stand setzten, ungehindert den Trieben seiner hohen musikalischen Begabung folgen zu können.
Wir hoffen mit Sicherheit, daß dieser Vorschlag in Ausführung kommt.