Die geschichtlichen Studien in Russland

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Autor: Boris Minzes
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Titel: Die geschichtlichen Studien in Russland
Untertitel: Eine Skizze
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 8 (1892), S. 161–170.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br
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Quelle: Scans auf Commons
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[161]
Die geschichtlichen Studien in Russland.
Eine Skizze.

Wenn in den nachstehenden Zeilen versucht wird, ein Bild der geschichtlichen Studien in Russland zu entwerfen, so sollen damit nicht eigene selbständige Forschungen über diesen Gegenstand geboten werden. Es kam nur darauf an, den Deutschen Fachgenossen einen kurzen Ueberblick über die Hauptmomente aus der Entwicklung und aus dem heutigen Stande der Russischen Geschichtswissenschaft zu verschaffen, und es war möglich, sich dafür vielfach an das vor Kurzem erschienene vortreffliche Werk A. N. Pypin’s: Die Geschichte der Russischen Ethnographie[1] anzulehnen.

An dem grossen Aufschwunge der Geschichtsforschung, wodurch sich das 19. Jahrhundert so gewaltig auszeichnet, hat auch Russland, wenn auch in einem weit bescheideneren Masse, als Deutschland, Frankreich und England, begonnen sich zu betheiligen. Die anormalen Verhältnisse, in welchen sich, dank dem ungeheuren Polizei- und Censurdruck der despotisch-centralisirten Regierung, die intelligenten und gelehrten Kreise Russlands befinden, waren nicht im Stande, den Trieb historischer Forschung aufzuhalten, obwohl diese misslichen Zustände in vielen Punkten für die gesunde Entwicklung wissenschaftlicher Bestrebungen nichts weniger als förderlich waren.

Selbstverständlich musste sich die Regierung, von ihrem „polizei-pädagogischen“ Standpunkte aus, des geschichtlichen Unterrichts an den Mittelschulen, und speciell an den classischen Gymnasien bemächtigen, damit die heranwachsende Jugend eine „gesunde politische Erziehung“ geniesse. Zwar wurden in der glänzenden Reformzeit des [162] Zaren Alexander’s II. viele wohlthätige Neuerungen durchgeführt, aber die darauf folgenden Stürme brachten allmählich alle liberalen pädagogischen Regungen zum Schweigen, und manche von jenen Neuerungen wurden vollends ausgerottet, als die von der gegenwärtigen Regierung begonnene schroffe Umkehr so erfolgreich die Oberhand gewann. Dem Geschichtsunterricht wird an den classischen Gymnasien eine ziemlich genügende Stundenzahl gewidmet, und wenn wir in dieser Hinsicht einen Vergleich zwischen Preussen, Frankreich, Oesterreich und Russland anstellen, was uns die folgende Tabelle erleichtert[2], sehen wir, dass der Russische Staat in Bezug auf das blosse Wieviel hinter den anderen nicht sehr erheblich zurücksteht. Wichtiger ist freilich das Wie.


  Nach Be-stimmungen der Jahre Geschichts-stunden wöchentlich in allen Classen Unterrichts-stunden überhaupt wöchentlich Zahl der Jahrescurse für Gesch. Procentsatz des histor. Unterrichts
Oesterreich 1888 18 194 8 9 ¼
Frankreich 1890 16 197 10 8
Russland[3] 1890 13 206 8 6 ⅓
Preussen[4] 1892 19 resp. 22 252 9 7 ½ resp. 8 ¾


Seit der Gründung der ersten Russischen Universität in Moskau (1775) und mit der festen Einbürgerung der Sitte, junge Leute, die sich bei ihrer Universitätsprüfung ausgezeichnet haben, behufs weiterer [163] wissenschaftlicher Ausbildung auf Regierungskosten ins Ausland zu schicken, besonders aber durch die stetigen Berufungen ausländischer Gelehrten, meistens Deutscher, auf die Lehrstühle der Russischen Universitäten hat Europäische Wissenschaft und Universitätsbildung einen höchst bedeutenden Antheil an der „Europäisirung Russlands“ genommen[5]. Die historischen Studien werden jetzt an den historisch-philologischen Facultäten getrieben, welche mit den philosophischen Facultäten der Deutschen Universitäten, nach Ausscheidung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer vergleichbar sind: Jede historisch-philologische Facultät zerfällt in vier Sectionen: eine classische, eine Slavisch-Russische, eine historische und eine Rom.-Germanische (die letztere vorläufig nur an der Petersburger Universität). Obligatorische Vorlesungen für die Staatsprüfungen an der historisch-philologischen Facultät sind: Griech. und Latein. Sprache, alte Gesch. des Orients, allgem. Weltgesch., Kirchengesch., Gesch. der Slav. Völker, Gesch. der neuen Philosophie und Gesch. Russlands. Wie beträchtlich der Procentsatz der Docenten für histor. Vorlesungen im weiteren Sinne (einschliesslich Literatur-, Kirchen- und Kunstgeschichte) ist, kann man daraus ersehen[6], dass sich in Petersburg von 58 überhaupt vorhandenen Lehrkräften der hist.-philos. Facultät 27 an histor. Studien betheiligten, in Moskau 24 von 55, in Kiev 12 von 22, insgesammt an diesen drei bedeutendsten Russischen Universitäten also 63 von 135 oder nahezu die Hälfte. – Nur für allg. Weltgeschichte und Geschichte Russlands sind an den sechs Universitäten Petersburg, Moskau, Kiev, Kazanj, Charjkov und Odessa 17 ordentl. Professoren, 2 ausserord., 21 Privatdoc. und 11 Docentur-Candidaten angestellt, zusammen 51, von denen 40 schon thätig sind und 11 nach Ablauf eines bestimmten Termins ihre Lehrthätigkeit beginnen werden. Von diesen 51 Lehrkräften widmen sich 29 der allg. Weltgesch. und 22 der Geschichte Russlands[7].

Die ersten Regungen einer wissenschaftlichen Geschichtsforschung kamen von Westen her, und hauptsächlich von Deutschland. Die kurz nach Peter’s Tode im J. 1726 gegründete Akademie der Wissenschaften (Akademija Nauk), deren Mitglieder fast ausschliesslich [164] Deutsche waren, hatte eine besondere Section für Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, und die ersten grossen histor. Leistungen gehören zwei Deutschen, Aug. Ludw. Schlözer und Gerh. Fried. Miller. Der grosse Aufschwung der Geschichtsforschung äusserte sich in dem unermüdlichen Ansammeln von Dokumenten, und Karamzin, der mit einem so grossen Erfolg zu den Deutschen Historikern in die Schule gegangen, gebührt die Ehre, diese im Laufe von vielen Jahrzehnten angehäuften Quellen nach einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt in seiner Geschichte des Russischen Staates (deutsch von Hauenschild und Goldhammer) durchforscht zu haben.

Aber seit dem allmählichen mächtigen Einfluss der grossen Repräsentanten der historischen-kritischen Schule Deutschlands beginnt die Entwicklung der neuen wissenschaftlichen Geschichtsforschung in Russland. Die Historiker Niebuhr und Ranke, die Philologen Grimm und Bopp, die Juristen Eichhorn, Gans und Savigny fanden in Russlands Gelehrten eifrige und schaffenslustige Jünger. Auf allen Gebieten des Russischen Volkslebens, in Geschichte, Archäologie, Ethnographie, Paläographie, Literaturgeschichte und Slavistik etc. begann ein rastloses Forschen.

Als glänzende Frucht dieses neuen Aufschwunges der Geschichtsforschung muss das Werk M. Solovjev’s (1820–1879) betrachtet werden, die 29bändige, leider nicht vollendete Geschichte Russlands, welche eine unerschöpfliche Fundgrube für jeden künftigen Geschichtsschreiber dieses Staates sein wird. Mit seiner Objectivität und kritischen Methode bildete er eine ganze Schule. Die grosse Mehrzahl aller Arbeiten galt der Russischen Geschichte in ihren verschiedenen Entwicklungsmomenten. Ueber den Ursprung des Russischen Staates schrieben Gedeonov, Ilovajskij, Zabělin, Kunik, Kotljarevskij, Pervoljv u. a.; die politischen Verhältnisse des alten Russland erforschten u. a. K. Aksakov, Kostomarov, Zabělin, Sergěevič. Die Geschichte der allmählichen politischen Centralisation des Moskauer Staates beschäftigte vorzugsweise Zabělin, Solovjev, Kavelin, Bestužev, Ključevskij („Bojarskaja duma“ = der Bojarenrath, 1882), Sergěevič („Věče i knjazj“ = die alte Volksversammlung und der Fürst. 1883); Zagoskin (russkija juridičeskija drevnosti = russ. jurid. Alterthümer, Bd. I. 1890). Sehr viel Aufmerksamkeit wurde der Epoche Peter’s des Grossen geschenkt: Ustrjalov, Solovjev, Pekarskij, Pogodin, Kostomarov waren in dieser Hinsicht sehr thätig; grundlegende Arbeiten Kostomarov’s beleuchteten die Geschichte Kleinrusslands. Die Epoche der Thronrevolutionen und die folgenden Zeiten wurden in vielen Punkten durchforscht, besonders dank der Veröffentlichung von zahlreichen [165] Memoiren und Tagebüchern, die sich auf diesen Zeitraum beziehen. Bedeutende Biographien und Monographien ergänzten diese Arbeiten der Historiker. Auch die musterhafte Ausgabe der Werke Deržavins vom Akademiker Grot, und auf dem Gebiete der Rechtsgeschichte die glänzenden Arbeiten von K. D. Kavelin (1818–1885) und N. V. Kalačov (1818–1885) sind hier zu erwähnen. Die grundlegenden Studien des Letzteren sind publicirt in den von ihm herausgegebenen Bänden des „Archiv für historisches und Rechtswissen“. Reichhaltige Dokumentensammlungen vom Fürsten Rumjancev und Grafen Th. A. Tolstoj und vieler anderer legten den Grund für die jetzt so bedeutenden Anstalten, wie z. B. das Moskauer Rumjancever Muzeum und die Handschriftensection der öffentlichen Bibliothek in Petersburg.

Grossartiges wurde geleistet für die Erforschung des Volkslebens. Die Sammelwerke und Arbeiten von Snegirev, Sacharov, Kirěevskij, Dalj (Märchen- und Sprichwörtersammlung, Wörterbuch der grossruss. Sprache), Jakuškin, Čubinskij, Athanasjev, O. Th. Miller († 1889) sind sehr bedeutend. Der kleinruss. Ethnographie und Gesch. widmeten sich Kostomarov, Maksimovič, Sreznevskij, Antonovič, Dragomanov. Die Geschichte der Kosaken behandelte Evarnickij, auf dem Gebiete der Slavistik arbeiteten Vostokov, Venelin, Sreznevskij, Tichonravov, A. A. Kotljarevskij, A. A. Potebnja, Čubinskij, P. A. Lavrovskij, Pervoljv; auf dem der Literaturgeschichte Buslaev, Athanasjev, A. N. Pypin, Veselovskij. Sehr viel Aufmerksamkeit wurde dem geschichtlichen Leben der Bauern (von Semenov, Semevskij) und der Entwicklung des Sectenwesens (von Ščapov, Prugavin) zugewandt; die geschichtliche Literatur über diese Fragen wurde mit vielen grundlegenden Werken bereichert.

Wie schon Solovjev sich mit der Bearbeitung der Europäischen Staatengeschichte beschäftigte, so weist die Russische Geschichtsforschung bedeutende Arbeiten auf dem Gebiete der Erforschung und Darstellung ausländischer Geschichte und Literaturgeschichte auf, obwohl dieser Zweig des Forschens nicht in demselben Masse die Russischen Historiker beschäftigte, wie die einheimische Geschichte. An die früheren Leistungen eines Kudrjavcev (Gesch. Italiens vom Verfall des weström. Reiches bis zu Karl dem Grossen), eines Miljutin (Beschreibung des Ital. Feldzuges) reihen sich die späteren hervorragenden Arbeiten an, so u. a.: Bogdanovič’s Gesch. der Kämpfe mit Napoleon, Gesch. Alexander I., Nadler’s „K. Alexander I. und die Idee der heiligen Allianz“, Brückner’s Aufsätze und Publicationen über die auswärtigen Beziehungen Russlands (von seinen grundlegenden Geschichten Peter’s des Gr. und Katharina’s II. schon [166] abgesehen), Forsten’s Forschungen, wie z. B. „Acten und Schriften zur Gesch. der Baltischen Frage im 16. und 17. Jahrh.“

Dazu kommen Quellensammlungen, wie die Sammlung von Tractaten und Conventionen unter der unermüdlichen Redaction des Prof. Martens, der daneben histor.-polit. Aufsätze publicirte, und zahlreiche umfangreiche Publicationen verschiedener Gesellschaften, besonders der Historischen. So publicirte die Histor. Gesellschaft u. a. die „Diplomatische Correspondenz der Englischen Botschafter und Gesandten am Russischen Hof“, und die „Relationen und andere Dokumente Englischer Botschafter am Russischen Hofe“. Vieles wird aus dem Archiv des Fürsten Voroncov veröffentlicht (so z. B. im 34. Bande bedeutendes Material zur Gesch. des 7jähr. Krieges).

Wasiljevskij und Uspenskij befassten sich mit der Byzantinischen Geschichte, Tatiščev, Tračevskij machten ihre Studien auf dem Gebiete der auswärtigen Beziehungen Russlands. So schrieb Tatiščev u. a. über Kaiser Nicolaus und die ausländischen Höfe und Tračevskij veröffentlichte in den Bänden der Histor. Gesellschaft Materialien, die sich auf die Geschichte der diplomatischen Verhandlungen zwischen Russland und Frankreich zur Zeit Napoleon’s beziehen. Vinogradov gab werthvolle Beiträge zur socialen Gesch. Italiens und Englands. Vor allem muss der bedeutende Kenner der Englischen Archive Kovalevskij erwähnt werden (u. a. „Untersuchungen auf dem Gebiete der socialen Gesch. Englands im MA.“, Petersb. 1887). Lučickij schrieb über die Geschichte der west-europ. Bauern im 18. Jahrh., Karěev bereicherte die Literatur der Französischen Bauerngeschichte mit einem grundlegenden Beitrag, welcher von der Französischen Kritik mit wohlverdienter Achtung begrüsst wurde. („Die Bauern und Bauernfrage im letzten Viertel des 18. Jahrh.“)

Die sociologischen und geschichtsphilosophischen Studien fanden in Russland eifrige Vertreter, so Michajlovskij, Stasjulevič, De Roberti, Danilevskij, Ziber, M. Kovalevskij, Stronin, und vor allem den unermüdlichen Karěev, der mit seinen zahlreichen Werken und Aufsätzen die geschichtsphilosophische Weltanschauung der Russischen gelehrten Welt zu klären suchte (u. a. gehört ihm das grosse, grundlegende Werk „Die Grundfragen der Geschichtsphilosophie“. 2. Aufl. Petersb. 1887).

Auch die allgem. Literaturgeschichte erfreute sich ernsthafter Pflege, in dieser Beziehung müssen u. a. Veselovskij’s werthvolle Untersuchungen auf dem Gebiete des Folklore und die unter der Redaction Kirpičnikov’s vor kurzem zum Abschluss gebrachte umfangreiche „Allgemeine Literaturgeschichte“ erwähnt werden.

[167] Sehr gross ist die Zahl der verschiedenen Historischen Gesellschaften. Die von ihnen gesammelten und schon jetzt veröffentlichten Materialien sind fast unübersehbar. Die kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Akademija Nauk) in Petersburg leistete sehr viel für die Erforschung der Russischen Geschichte. In ihren „Nachrichten“ (Izěvstija, 1852–1862) und nachher in den „Gelehrten Memoiren“ (Učenyja Zapiski) wurden zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiete der Literaturgeschichte, Ethnographie, Archäologie, Slavistik etc. veröffentlicht. Unter den bedeutenden Arbeiten der Akademiker sind zu nennen: das altslavische Wörterbuch von Vostokov, die grundlegenden paläographischen Untersuchungen und Urkundenforschungen eines der thätigsten Mitglieder, Sreznevskij (1812 bis 1880), „Die Wissenschaft und Literatur unter Peter“ von Pekarskij, dann die Forschungen und Publicationen von Veselovskij und Grot, endlich die umfangreiche „Geschichte der Akademie“ von Suchomlinov (1874–1887)“. Das „Sammelwerk“ (Sbornik) der Akademie (1867–1890, 50 Bände) enthält sehr viele Arbeiten von Akademikern und anderen Gelehrten. Die Akademie vertheilt auch verschiedene Preise (wie den des „Metropoliten Makarij“ oder den „Uvarov’s“) für hervorragende Leistungen, seien es gedruckte oder ungedruckte Werke. Wie stark diese Preise zur Thätigkeit anreizen, sehen wir z. B. aus dem ungeheuren Andrang, der im vorigen Jahr um den Makarijpreis stattfand, wo 31 Werke, darunter 3 Manuscripte, der Akademie vorgelegt waren, und wo sie manche Arbeiten, zu ihrem Bedauern, nicht preiskrönen konnte, da sie nur die Befugniss zur Vertheilung von zwei grossen Preisen (je 1500 Rubel) und 3 kleinen (je 1000 Rubel) hat. Die meisten dieser Werke gehörten der Historiographie an.

Die kais. Russische Historische Gesellschaft (in Petersburg; Imperatorskoe Russkoe Istoričeskoe Obščestvo) ist seit 1869 thätig und befasst sich hauptsächlich mit der diplomatischen Geschichte Russlands im Laufe des 18. u. 19. Jahrh.; sie hat in den bis jetzt erschienenen 70 Bänden höchst werthvolle Publicationen herausgegeben. Die „Moskauer Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer“ (Moskovskoe Obščestvo Istorii i Drevnostej) und ihr Organ „Vorlesungen“ (Čtenija) leistete sehr vieles auf dem Gebiete der Geschichte, Archäologie und des alten Schriftthums. Die kais. Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer (Imperatorskoe Odesskoe Obščestvo Istorii i Drevnostej) ist schon etwa 53 Jahre thätig. Die „Gesellschaft des Annalisten Nestor“ in Kiev (Obščestvo lětopisca Nestora), wurde im Jahre 1870 gegründet und veröffentlichte sehr reichhaltiges Material. Die kais. Gesellschaft [168] der Freunde des alten Schriftthums (Imperatorskoe Obščestvo ljubitelej drevnej Pismennosti) in Petersburg, nach dem Vorbilde der Englischen „Early Text Society“ gegründet, lieferte höchst kostspielige und werthvolle Publicationen alter Drucke und Texte. Auch die „Gesellschaft der Freunde der alten Russischen Kunst“ (Obščestvo ljubitelej drevnjago russkago Iskusstva) leistete sehr Beträchtliches für das Erforschen der Russischen Alterthümer.

Im ganzen Lande sind eine grosse Anzahl von archäologischen Gesellschaften und archäologischen, archäographischen und archivalischen Commissionen verbreitet, welche entsprechende Organe für Publicationen haben. So die kais. Petersburger archäologische Gesellschaft (Imperatorskoe peterburgskoe archeologičeskoe Obščestvo), so die kais. Moskauer Archäologische Gesellschaft (Imper. moskovskoe archeol. Obščestvo). Sehr thätig ist das durch die eifrigen Bemühungen des bedeutenden Rechtshistorikers N. V. Kalačov (1819–1885) im Jahre 1877 in Petersburg gegründete Archäologische Institut (Archeologičeskij Institut). Dasselbe gab zunächst ein Sammelwerk (Sbornik Archeologičeskago Instituta) heraus und publicirt jetzt die „Zeitschrift für Archäologie und Geschichte“ (Wěstnik Archeologii i Istorii). Die Archäologische Commission (Archeologičeskaja Kommissija) veranstaltete viele Ausgrabungen von Grabhügeln an verschiedenen Orten, besonders in Südrussland und in der Krim und besorgte die Veröffentlichung der Ergebnisse dieser Forschungen. Hier ist besonders die rastlose Thätigkeit J. E. Zabělin’s (1820 geboren) zu erwähnen. Mit den archäologischen Arbeiten gingen historisch-archivalische Interessen Hand in Hand. Begeistert von der Pariser „École des Chartes“, bemühte sich Kalačov auch in Russland eine Stätte für Ausbildung gelehrter Archivbeamten zu gründen, was ihm auch gelang. Dank seinen Anregungen wurden in den Provinzen Archivcommissionen eingesetzt behufs Organisation archiv. Sammlungen und behufs Erforschung historischer Documente. – Die Archäographische Commission (Archeografičeskaja Kommissija) und ihre Provinzialsectionen veröffentlichten sehr grosses Material, nämlich Acten und Urkunden histor.-jurid. und diplomat. Inhalts. – Zahlreich sind die Publicationen der Archive, so die des Moskauer Hauptarchivs, der 12 provinziellen Archivcommissionen, des Archivs des Justiz- und anderer Ministerien, endlich die des Archivs der kais. Privatkanzlei (Sbornik istoričeskich materialov izvlečennych iz archiva sobstvennoj ego veličestva kanceljarii).

Als Vereinigungspunkte für die Alterthums- und Geschichtsforscher dienten die Archäologischen Congresse (Archeologičeskie [169] s’ězdy) in Petersburg, Moskau, Kiev, Kazanj, Tiflis, Odessa, Jaroslavlj. Künftiges Jahr wird in Viljna der 9. archäol. Congress stattfinden.

Sehr thätig war die Russische Geographische Gesellschaft (Imperat. Russ. Geografičesko Obščestvo). Die Gesellschaft gab in den Jahren 1853–1864 das „Ethnographische Sammelwerk“ (6 Bände erschienen) heraus (Étnografičeskij Sbornik). Sie gründete viele Provinzialsectionen und seit dem Jahre 1867 hat sie zum Organe die „Memoiren der kais. Geographischen Gesellschaft“ (Zapiski Imperatorskago Geografičeskago Obščestvo); als grundlegende Leistung dieser Gesellschaft ist das „Geographisch-statistische Wörterbuch des Russischen Staates“ (geografičeskij-statističeskij slovarj russkoj imperii, 1885 beendet, umfasst 5 compacte Bände) zu betrachten. Die Gesellschaft der Freunde der Naturforschung, der Anthropologie und Ethnographie (Obščestvo ljubitelej estestvoznanija, antropologii i étnografii, an der Moskauer Universität), leistete vieles auf dem Gebiete vorhistorischer Studien. Seit 1889 dient die „Ethnographische Rundschau“ (Étnografičeskoe Obozrěnie) als Organ dieser Gesellschaft.

Im Jahre 1889 wurde dank den rastlosen Bemühungen des Professors N. Karěev an der Petersburger Universität eine „Historische Gesellschaft“ (Istoričeskoe Obščestvo) gegründet, deren erfolgreiche Thätigkeit aus den drei bis jetzt erschienenen Bänden der „Historischen Rundschau“ (Istoričeskoe Obozrěnie), des Organs dieser Gesellschaft, zu ersehen ist; diese Gesellschaft verspricht zu einer neuen fruchtbaren wissenschaftlichen Stätte des historischen Studiums in Russland zu werden. Es wurde über sie in dieser Zeitschrift vor einiger Zeit schon einmal etwas ausführlicher berichtet, s. Bd. VI, p. 188–189.

Fast zur selben Zeit mit der „Histor. Gesellschaft“ entstand an der Petersburger Universität eine „Neophilologische Gesellschaft“, behufs roman-germanischer, linguistischer und literar.-historischer Forschungen. An der Charjkover und Odessaer Universität sind schon lange historisch-philologische Gesellschaften thätig.

Folgende Zeitschriften befassen sich ausschliesslich mit histor. Fragen: „Das Russische Archiv“ (Russkij Archiv), vom Redacteur dieser Zeitschrift wird auch das an Materialien so reichhaltige „Archiv des Fürsten Voroncov“ (Archiv knjazja Voroncova) herausgegeben; ferner „Das Russische Alterthum“ (Russkaja starina); „Das alte und neue Russland“ (Drevnjaja i novaja Rossija; eingegangen), die „Historische Zeitschrift“ (Istoričeskij Věstnik), „Das Kiever Alterthum[WS 1] (Kievskaja starina) und die vorher erwähnte „Historische Rundschau“. Sehr viel Material ist in den verschiedenen [170] Universitätspublicationen wie in den „Memoiren“, den „Nachrichten“, den „Arbeiten“ etc. zerstreut. Sehr viel Raum widmen den historischen Fragen die grösseren Monatszeitschriften (im Charakter etwa der Deutschen Rundschau, der Revue des deux Mondes, der Nuova Antologia), nämlich: „Der Bote Europas“ (Věstnik Evropy), der mit Gefahr seines Untergangs ehrenvoll das Banner der Europäischen Cultur in der jetzigen Reactionszeit vertheidigt, „Der Russische Gedanke“ (Russkaja Myslj) und „Der Nordbote“ (Sěvernyj Věstnik), vor allem aber das Organ des Unterrichtsministeriums „Žurnal ministerstva narodnago prosvěščenija“, höchst reichhaltig an historischen Arbeiten, unter welchen manche sehr werthvoll sind. – Zu diesen gesellen sich zwei philologische Zeitschriften (beschäftigen sich auch mit literarhistorischen Fragen): Die „Philologischen Memoiren“ (Filologičeskija Zapiski), in Voronež, und der „Philologische Bote“ (Filologičeskij Věstnik) in Warschau, und vier juridische befassen sich auch mit rechtsgeschichtlichen Fragen: „Die Chronik des Demidover Juridischen Lyceums“ (Vremennik Demidovskago Juridičeskago Liceja) in Jaroslavlj (seit 1871), „Der Juridische Bote“ (Juridičeskij Věstnik), Organ der Moskauer Juridischen Gesellschaft, seit 1869; die „Zeitschrift des Civil- und Strafrechts (Žurnal graždanskago i ugolovnago prava), seit 1871, und endlich die „Juridische Chronik“ (Juridičeskaja Lětopisj), seit 1890. – Endlich mögen noch erwähnt sein die periodisch erscheinenden kleinen bibliographischen Zeitschriften: „Knižnyj Věstnik“ (Bücherbote), „Bibliograph“ (Bibliograf) u. a., auch die mit Fleiss und Sachkenntniss verfassten bibliographischen Werke auf dem Gebiete der Geschichtsforschung von V. J. Mežov: „Russkaja Istoričeskaja Bibliografia“ (Die Russische Historische Bibliographie).

Wenn auch im Grossen und Ganzen die Russische wissenschaftliche Literatur keine so eminenten bahnbrechenden Geister, wie einen Grimm, einen Bopp, einen Niebuhr aufweisen kann, so sind dennoch die grossen Erfolge der letzten Zeit nicht zu unterschätzen. Und auch hier bleiben Russlands Forscher dem Europäischen Zeitgeiste treu: sie häufen an und sichten rastlos verschiedenartige Materialien und bereiten den künftigen Generationen eine unerschöpfliche wissenschaftliche Fundgrube, ihnen es überlassend, aus derselben Bausteine für eine in sich organisch geschlossene, kritisch durchdachte und künstlerisch ausgeführte wissenschaftliche Schöpfung zu holen.

Sofia, 5./17. Juni 1892.

Dr. B. Minzes.     



Anmerkungen

  1. Istorija russkoj etnografii; Bd. I und II grossrussische, Bd. III kleinrussische Ethnographie. Petersburg 1891. Dieses Werk ist aus zahlreichen Aufsätzen im Laufe des letzten Decenniums zu einem organischen Ganzen ausgewachsen.
  2. Siehe W. N. Berkut, Das Programm des histor. Unterrichts in den Russischen und einigen ausländischen Gymnasien (russ.). „Istoričeskoe Obozrěnie“ (Histor. Rundschau) II (1891), S. 134–135.
  3. Die Gesammtzahl von 206 gilt nur für den Fall, dass der Schüler nur eine moderne Sprache lernt.
  4. Die Zahl der Geschichtsstunden ist nach dem neuen Preussischen Lehrplan (s. CBl der Unterr.-Verwaltg. 1892 pag. 203) nicht ohne weiteres anzugeben. Die Zahl der Stunden für Geschichte und Geographie zusammen beträgt 26, davon kommen 5 speciell auf Erdkunde (in Quarta und Tertia). Rechnen wir von den je 2 Stunden der Sexta und der Quinta auch die Hälfte auf Erdkunde, so bleiben von den 26 Stunden 19 für Geschichte. Hierzu kommen aber in Sexta, Quinta und Quarta die mit Deutsch verbundenen Stunden für Geschichtserzählungen (in Sexta und Quinta ausdrücklich mit je 1 angesetzt, in Quarta wohl auch als 1 unter den 3 gemeinsamen Stunden zu rechnen). Das ergibt dann 22 Stunden. Man mag aber auch diese 3 Stunden bei Seite lassen, da sie nicht eigentlich Geschichtsunterricht sind und zum Theil durch den Antheil der Geographie an den 19 Stunden compensirt werden.
  5. Vgl. das inhaltreiche und grundlegende Werk von Prof. A. G. Brückner: Die Europäisirung Russlands. Land und Volk. Gotha 1888.– Vgl. auch Suchomlinov, Geschichte der Russischen Akademie (russ.). Petersburg (1887 vollendet).
  6. Die folgenden Angaben entnehme ich den officiellen Berichten. Vgl. Zeitschr. d. Unterr.-Minist. (russ.) 1892, Mai. pag. 51–55.
  7. Siehe die Berichte in der Zeitschrift des Unterrichtsministeriums (russ.) 1891, April. – Vgl. „Istoričeskoe Obozrěnie“ III (1891), S. 174.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schließendes Anführungszeichen fehlt.