Die zehnte Sprache
„Meine spanische Pfeife, Skarnikatis!“ rief mit kräftiger Stimme der Hauptmann Krieger über den Flur hinüber nach der Bedientenstube, in welcher der vierschrötige Litthauer auf die Winke seines Herrn und Gebieters harrte.
Skarnikatis stammte aus dem Lande, in welchem der Ur und der Elenhirsch zu Hause sind, und hatte mit ihnen die urwüchsige Kraft gemein, während ihm seine Wildheit durch mehrjährige Dienstzeit als Stangenreiter abgewöhnt worden. Er begab sich alsbald zu der mit den buntesten Bändern geschmückten Pfeifengalerie, welche sich über seine Lagerstätte und die benachbarte Zimmerwand erstreckte, und wählte mit kundiger Hand eine Pfeife, deren Bänder die spanische Farbe trugen. Als er mit einem Fidibus, auf welchem ein genauer Sprachkenner spanische Vocabeln erkannt haben würde, das Kraut der Havanna angezündet hatte, begann der Hauptmann sein vertrauliches Gespräch mit dem treuen Diener, durch welches er bisweilen das einförmige Schweigen seiner Junggesellenwirthschaft unterbrach.
„Verwünschter Lärm da drüben!“ sagte er, mit der Pfeifenspitze auf die Gerüste zeigend, die ihm gegenüber aus der Erde wuchsen.
„Arbeiten schnell,“ entgegnete Skarnikatis achselzuckend; „doch Mauern so dünn; ein anständiger Windstoß muß das ganze neue Gerumpel uber den Haufen werfen.“
„Du hast Recht; doch es empört mich, daß sie mir die freie Aussicht und den Himmel verbauen. Im Uebrigen freue ich mich gerade heute, wo meine spanische Woche beginnt, über Deine täglich zunehmende Aehnlichkeit mit Sancho Pansa. Nicht blos wird Dein Körperumfang dem stattlichen Embonpoint des spanischen Schildknappen immer ähnlicher; Du weißt auch, wie Jener seine Sprüchwörter, stets neue Anekdoten im Gespräche anzubringen. Du wirst, seitdem Du den Stangenreiter an den Nagel gehängt hast, täglich mehr ein gebildeter Mensch.“
„Etwas bleibt immer hängen, sagte das Schaf, als es seine Wolle an der Hecke verlor,“ entgegnete Skarnikatis mit einem breiten und wohlwollenden Lächeln; „ich war Ihr Bursche und wollte es bleiben, als Sie den Dienst quittirten; denn ich habe ein anhängliches Herz, und ich hätte mich schwer von Ihren schönen Pfeifen getrennt.“
Hauptmann Krieger hatte, nachdem er den Abschied genommen, weil ihm das Friedensexercitium keine Theilnahme mehr einflößte, sich in die kleine Bergstadt zurückgezogen, wo sein Erscheinen alsbald großes Aufsehen erregte; denn er war ein Sonderling, und manche seiner Eigenheiten würde auch in größeren Kreisen aufgefallen sein. In dem Städtchen wurde er bald der Mittelpunkt aller Gespräche. Er war ein stattlicher Mann in den besten Jahren, doch seine Züge hatten etwas Düsteres, Melancholisches, und nur das Aufleuchten seiner dunklen Augen hatte bereits bei mancher vorüberwandelnden Schönen unwillkürlichen Antheil erweckt. Die jungen Mädchen pflegten ihn auch in Schutz zu nehmen, wenn er bei Kaffee- und Theegesellschaften von den älteren Damen in Acht und Bann gethan wurde; denn er hatte, so kurz seine Anwesenheit in dem Städtchen war, bereits eine große Sündenlast auf sich geladen. Nirgends bei den Honoratioren hatte er Besuch gemacht, ja er war nicht einmal Mitglied des Casinos geworden, und man konnte deshalb mit Recht bezweifeln, ob er zu den anständigen Menschen gerechnet werden dürfe. Das Casino vereinigte alle urtheilsfähigen Bürger, alle, welche im Besitze einer Würde, eines eigenen Hauses oder auch nur eines anständigen Cylinderhutes waren, allabendlich in seinen Räumen. Wer sich aus solchem Kreise selbst ausschließen konnte, der trat in eine sehr zweifelhafte Beleuchtung.
Noch mehr Anstoß erregte der Hauptmann durch seine Pünktlichkeit; sie war so groß, daß die Bewohner der Straßen, durch die er spazieren ging, ganz wie es von dem Königsberger großen Philosophen verlautet, die Uhren nach seinem Erscheinen stellen konnten. Zwar gab es in dem Städtchen keinen Philosophendamm, wie in der Stadt der reinen Vernunft, und auch Skarnikatis begleitete nicht, wie der selige Lampe, mit einem rothen Regenschirme seinen Herrn; aber es gab ein stilles Mühlthal, welches der Hauptmann täglich besuchte, und an jeder Straßenecke wußte man genau die Minute, zu welcher der Hauptmann um dieselbe biegen mußte. Die Sonne ging nicht pünktlicher nach dem Kalender auf und unter.
Als es bekannt wurde, daß der Hauptmann sich dem Studium der neuen Sprachen mit seltenem Eifer ergeben hatte und neun derselben sprach, war die Entrüstung über diese Zeitverschwendung eine allgemeine. Die Mehrzahl der Einwohner des Städtchens lebte sogar mit der eigenen Muttersprache auf einem gespannten Fuße, und nur einige Töchter der Honoratioren brachten es im Französischen zu den üblichen Sprachfehlern.
Erschien dies Alles schon als eine sehr ungewöhnliche Art, sich durch die Welt zu schlagen, so mußten die besonderen Grillen des Hauptmanns, als sie stadtkundig wurden, die größte Verwunderung erregen. Man erfuhr, daß er jede Woche einer anderen Sprache widmete, daß er für jede dieser Sprachen seine [834] besonderen Pfeifen, mit den Landesfarben geschmückt, besaß, was sich auch auf die Aschen- und Fidibusbecher, ja selbst auf die Fidibusse erstreckte, die aus den älteren überflüssig gewordenen Vocabelheften dieser Sprache zurechtgeschnitten wurden. Zwar verrieth Skarnikatis keine der Eigenheiten seines Herrn, doch wer kennt die hundert geheimen Wege, auf denen die Kunde des Verschwiegensten unter die Menschen kommt? Das übertreibende Gerücht verbreitete sogar, daß er für jede dieser Wochen die angemessenen Flüche in Anwendung bringe, daß er seine Bedienten bald mit einem sacredieu, bald mit einem carramba oder mit einem pox on You überraschte.
Oft lag er am Fenster und sah über den Garten hinweg, der seiner Wohnung gegenüber lag mit rauschenden Bäumen, mit Frühlingsblüthen oder Herbstfrüchten, nach den blauen Bergen am Horizont. Der Blick der Jugend schaut mit Sehnsucht in die blaue Ferne; da dämmert ein unbekanntes, ein ungeahntes Glück. Hinter diesen Linien liegt irgend ein wunderbares Eden. Für den Hauptmann gab es keine goldenen Zukunftsträume mehr; er wußte längst, daß hinter den Bergen, wie vor denselben, nur Arbeit und Elend sei, und daß nur das Vexirspiel eitler Hoffnungen herüber- und hinüberfliege. Dennoch blickte er an schönen Abenden mit Behagen auf das friedliche Naturbild, auf Garten und Feld und die von der Röthe des scheidenden Tages verklärten Berge; es kam ein Geist der Ruhe und des Friedens über ihn; er vergaß sogar seine Vocabeln, die wie eine wilde Jagd ihm den Tag über durch den Kopf schwirrten, und es mahnte ihn oft leise an Gefühle, die ihm unbekannt geblieben waren. „Zu spät,“ sagte er dann zu sich selbst; „wie die schönsten Jahre meines Lebens vereinsamt waren, so werden es auch die letzten sein.“ Hatte er doch nichts als seine Bücher und den Blick auf die stille Landschaft.
Doch auch in das Städtchen drang der rastlose Geist der Speculation; überall stiegen Häuser aus der Erde; auch der Garten, über dessen Wipfel der Blick des Hauptmanns in die Ferne schweifte, wurde eine Beute des Unternehmungsgeistes und an einen Speculanten verkauft, welcher ihn der Baulust und dem wachsenden Verkehre erschloß.
Noch ragten eine Zeitlang die blauen Berge über die Ziegelwände des Erdgeschosses hervor, doch Stockwerk wurde auf Stockwerk gethürmt; die Berge verschwanden, mit ihnen die Poesie der Ferne, der Zauber der Abendbeleuchtung; das Haus erhob sich als eine jener tausend Stätten, wo die alltägliche Bedürftigkeit des Lebens waltet, die Abwehr gegen die Noth, das Hin- und Herlaufen um des Erwerbes willen.
Der Hauptmann sah dem Wachsthum dieses ihm so mißliebigen Mauerwerkes mit stillem Ingrimm und verzweifeltem Humor zu.
Inzwischen wurde dem gegenüberliegenden Hause der Dachstuhl aufgesetzt; die Töpfer und Stubenmaler verschönerten sein Inneres; der Hauptmann sah mit stiller Resignation dem Walten dieser Hausgeister zu:
„Wenn früher der Abendstern heraufkam oder der volle Mond hinter den Bergen aufstieg, vergaß man es ganz, daß man sich unter Menschen befand, deren Köpfe nicht heller sind, als ihre Straßenlaternen; man hatte das Gefühl von etwas Höherem – doch das verstehst Du nicht, Skarnikatis. Meine Pfeife ist mir über dem Aerger ausgegangen. Ein Fidibus! Und wie früh es dunkel wird im Zimmer! Sonst konnt' ich um diese Zeit noch den Kalender lesen; es strömte eine solche Helle von den Bergen in's Zimmer. Und jeder aufgehende Stern erschien mir in der spanischen Woche wie ein Stern von Sevilla. Jetzt kauert der verfinsternde Dachstuhl zwischen mir und dem Abendroth und den glühenden Wolken, in welchen ich oft den Löwenhof in der Alhambra zu sehen glaubte. Es wird jetzt düsterer und einsamer hier.“
Aehnliche Selbstgespräche hörte Skarnikatis stets mit verständnißinniger Miene an, wobei er sich einzelne ausländische Kernflüche des Hauptmanns aneignete, die er gelegentlich bei der Zofe der Bel-Etage zur Geltung brachte.
Wochen vergingen in solchen trüben Stimmungen. Im Hause drüben wurde es lebendiger; hochbeladene Möbelwagen hielten vor den Thüren; hier wurde ein Pianoforte herbeigeschleppt, dort ein elegantes Büffet abgeladen.
In dem Stockwerk unmittelbar gegenüber entfaltete sich ein geringerer Glanz. Dort schien eine Beamtenwittwe zu walten, welche bessere Zeiten gekannt und Einiges aus denselben in die unfreundliche Gegenwart hinübergerettet hatte. Ein Zimmer wenigstens war elegant möblirt und auch ein Fortepiano fehlte nicht, ein unheimliches Instrument, das der Hauptmann mit stillem Argwohn betrachtete, denn wenn es einmal seine Flügel zu rühren begann, dann war es um seine Abendruhe am Fenster gänzlich gethan.
Lange Zeit hindurch erschienen diese Befürchtungen unbegründet; der Deckel des Claviers beschirmte wohlwollend das ganze Nest von Tönen; kein einziger wurde flügge und schwärmte hervor. Das Clavier blieb ein so friedliches Möbel, wie jedes andere im Zimmer. Die Beamtenwittwe zeigte sich nur hin und wieder in diesem Prunksalon; in der Regel saß sie nebenan in einem Zimmer, das nirgends von Mahagoni leuchtete, das nur Kirschbaum- und Birkenholztische und Stühle zeigte; da saß sie und stickte oft bis tief in die Nacht hinein.
Der Hauptmann hatte sich allmählich an sein Gegenüber gewöhnt; es erschien ihm harmlos genug, so wenig er den früheren anmuthigen Fernblick vergessen konnte.
An einem Morgen – es war in der italienischen Woche; Skarnikatis hatte eben den Kaffee gebracht – nahm der Hauptmann plötzlich die Pfeife aus dem Munde, und alle seine Züge drückten Erstaunen und Verzweiflung aus; der Diener sah ihn mit einem Gesicht voll lauter Fragezeichen an; er hatte ihn selten so bestürzt gesehen.
„Hörst Du, Skarnikatis?“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann!“
„Corpo di bacco – das ist drüben.“
„Drüben im neuen Haus, ja wohl.“
„Der heimtückische Klapperkasten! Es ist kein Zweifel mehr. Das Ungeheuer ist aus seinem Schlummer erwacht. Irgend eine Drachenjungfrau hat ihm Leben eingehaucht.“
In der That klangen einige wirbelnde Läufe mit großer Fertigkeit gespielt, aus dem offenen Fenster des Salons herüber.
„Auch das noch!“ rief der Hauptmann. „Wir ziehen aus, Skarnikatis. Das ertrag’ ich nicht mehr; vielleicht ist’s nur ein vorübergehender Besuch.“
„Nein, das Zimmer ist bewohnt; ich sah gestern eine Menge von Koffern und Sachen hineintragen.“
„Wir ziehen aus,“ erklärte der Hauptmann mit entschlossener Miene.
„Aber die Dinger sind ja überall,“ meinte Skarnikatis mit beruhigendem Tone; „man gewöhnt sich daran wie an den Lärm einer losgeschossenen Kanone. Anfangs kitzelt es etwas das Ohr, später hört man nicht mehr darauf.“
Der Hauptmann trat an’s Fenster und sah gegenüber ein hellschimmerndes Kleid an dem Clavier. „Das sind die Schlimmsten,“ rief er ärgerlich; „ein männlicher Clavierbändiger gönnt wenigstens seinem Instrument längere Zeit Ruhe, doch diese weiblichen Centauren sind mit ihren Pianofortes zusammengewachsen. Lasciate ogni speranza – es ist das alte Unglück, das mich verfolgt.“
Den ganzen Tag verschmähte es der Hauptmann, an’s Fenster zu treten und einen Blick hinüber zu werfen, dorthin, wo sein neuer Quälgeist häufig genug die Tasten rührte. Erst gegen Abend konnte er nicht umhin, seiner Gewohnheit zu folgen, sich an’s Fenster zu lehnen und die frische Luft zu athmen, die von den Bergen herüberwehte. Mit finsteren Blicken musterte er das unvermeidliche Gegenüber; es war kein Zweifel: man hatte sich dort auf längeren Aufenthalt eingerichtet. An dem einen Fenster zeigte sich eine Epheulaube, deren Ranken zu einem Käfig emporkletterten, in welchem ein zartes Vögelchen hin- und herhüpfte. Es war allerdings nicht der gelbe, schmetternde Sänger der Canarischen Inseln, welcher für das Clavierspiel eine zu lärmende Begleitung geboten hätte; es schien ein schüchterner, heimathlicher Sänger zu sein. Ein sehr schmaler Balcon, der kaum diesen Namen verdiente, eine Art Vorsprung, damit man in’s Freie treten und frische Luft schöpfen könne, war auch mit Epheu umkränzt. In seiner Mitte erhob sich eine fragwürdige Gipsfigur, irgend eine die Laute rührende Schöne, und ein paar prächtige Camellien entfalteten zur Rechten und zur Linken der Lautenschlägerin ihre Kelche.
Der Hauptmann war für so geschmackvolle Ausschmückung [835] nicht unempfänglich, aber das Wohlgefallen, das er daran fand, mußte alsbald zurücktreten gegen den Aerger, den ihm der erneute über das Pianoforte dahinbrausende Sturmwind der Töne einflößte. Er trat vom Fenster zurück, nahm die Gedichte von Giuseppo Giusti zur Hand, deren epigrammatische Schärfe und galliger Humor zu seiner Stimmung paßten, und vertiefte sich in die Lectüre, so lange es die hereinbrechende Dämmerung erlaubte. Dann warf er wieder einen Blick hinaus und hinüber; endlich zeigte sich die gefährliche Nachbarin, die Drachenjungfrau. Sie stand zurücksprechend an der halbgeöffneten Balconthür; lange blonde Locken wallten über ihre Schultern herab.
„Eine geniale Künstlerin also, wie sie die Conservatorien unsicher machen,“ dachte der Hauptmann; „ich kenne diese löwenmähnigen Musikjüngerinnen; sie besitzen meistens eine schreckenerregende Energie und aus ihren Zügen spricht kein Herz.“
In diesem Augenblick drehte sich die blondgelockte Schöne um und trat zur Lautenschlägerin hinaus. Der Hauptmann nahm seine finstersten Mienen an, um gleichsam die erste Parallele zur Belagerung der feindlichen Festung zu eröffnen; doch unwillkürlich lichteten sich seine Züge wieder. Das war ja ein reizendes Mädchen, und ihre Erscheinung hatte nichts gemein mit der Berserkerwuth, die ihre Fingerspitzen am Clavier beseelte. Die Gestalt war schlank und fein und doch nicht von jener duftigen Zierlichkeit, wie sie manche niedliche Nipptischfiguren besitzen. Alles an ihr, Gestalt und Züge, hatten echt mädchenhaften Reiz. Der Hauptmann konnte nicht umhin, an die Sanct Cäcilie Raphael’s zu denken, als sie ohne Absicht und Koketterie mit ihren blauen Augen zu den rothen Abendwölkchen am Himmel emporsah; der sanfte, schwärmerische Ausdruck ihrer Züge hatte etwas ungemein Gewinnendes. Dem Hauptmann ging die Pfeife aus, und es fehlte nicht viel, so hätte er den schönen Pfeifenkopf, auf welchem das silberne Savoyische Kreuz im rothen Felde schimmerte, an der Fensterbrüstung zerschlagen.
„Das ist die Mamsell, die den großen Spectakel macht,“ ertönte hinter ihm plötzlich die Stimme des wackeren Skarnikatis, welcher sich durch diese Bemerkung in die Gunst seines Herrn einzuschmeicheln hoffte.
„Corpo di bacco! Was erlaubst Du Dir?“ rief der Hauptmann erzürnt, aus seinen Träumereien aufgescheucht.
„Sehr lebensgefährlich sieht sie gerade nicht aus,“ fügte der treue Diener beruhigend hinzu, indem er am Aermel seines Herrn und Gebieters eifrig herumbürstete.
Wie ein Vögelchen, das der Lärm menschlicher Stimme verscheucht, war das Mädchen inzwischen in das Zimmer zurückgehuscht; bald waren an ihrem Fenster die Rouleaux mit ihren unmöglichen grünen Blumen und blauen Blättern heruntergelassen, und nur das hindurchschimmernde Lampenlicht verrieth, daß Sanct Cäcilie noch mit irgend einer stillen Thätigteit beschäftigt war; denn das Clavier blieb stumm.
Ueber Ariosto und Dante hinweg blickte am nächsten Tag der Hauptmann schon in der Frühe nach dem Lebenszeichen seines Gegenüber. Lange blieben die Rouleaux unten. Endlich erklang das Clavier; eine Beethoven’sche Sonate, so ausdrucksvoll gespielt, daß der Hauptmann andächtig zuhörte, tönte herüber und bald darauf erschien das Mädchen wieder auf dem Balcon, so morgenfrisch, so ohne alle Vormittagsblässe, im einfachen lichten Gewande, eine Camellie im Haar. Der Hauptmann, der sich schüchtern etwas vom Fenster zurückgezogen hatte, um sie nicht mit aufdringlichen Blicken zu belästigen, konnte sein Auge nicht abwenden.
Kein Astronom hat den Durchgang der Venus durch die Sonne mit größerem Eifer beobachtet, als der Hauptmann von jetzt ab das Erscheinen und Verschwinden des schönen Sternes, der so plötzlich an seinem Horizonte aufgegangen war. Er wußte genau, wann sie auf den Balcon zu treten pflegte, überhaupt zu welcher Zeit des Tages sie zu Hause war, und verfehlte dann nicht, mit seinen Büchern sich in die Nähe des Fensters zu setzen, daß der Blick hinüber frei war. Wenn sie Clavier spielte, stand sein Fenster offen; er hatte sich auf einmal in einen leidenschaftlichen Musikfreund verwandelt und schlug mit der Pfeife den Tact zu ihrem Spiele. Nur etwas beunruhigte und ärgerte ihn: es ließ sich in den nächsten Tagen bisweilen das A-B-C der musikalischen Kunst hören, kindliche Tonleitern und Accorde, herumtastende und falsche Griffe, und dies beleidigte weniger seinen Geschmack, als der Gedanke, daß ein so reizendes Mädchen zu so kläglichen Unterrichtsstunden verurtheilt sei, sein Gefühl verletzte. Das paßte ihm nicht zu dem Lichte der Verklärung, in dem er seine Sanct Cäcilie sah.
Skarnikatis bemerkte bald, daß der ganze Kalender des Hauptmanns in Unordnung gerathen sei. Zur Zeit, wo er sonst seine täglichen Spaziergänge machte, pflegte die Schöne gegenüber auf dem Balcon zu sitzen, das sinnende Haupt über irgend ein Buch geneigt; so wurde denn die Uhr des Hauptmanns anders gestellt; er verschob seinen Spaziergang auf eine andere Stunde, um ungestört das liebliche Bild von drüben in sich aufnehmen zu können.
Aber was war das für ein sonderbares Gefühl, welches in das Herz des militärischen Sprachlehrers seinen Einzug hielt? Er hatte das Zeitwort „lieben“ in neun Sprachen conjugirt; er hatte in neun Sprachen die Gedichte gelesen, welche der Neigung des Herzens, der Leidenschaft gewidmet waren; doch die Liebe war ihm nur eine Vocabel, wie andere mehr. Weshalb zog es ihn immer an’s Fenster, wenn das blondlockige Mädchen ihm gegenüber saß?
Skarnikatis hatte mit seiner litthauischen Schlauheit bald den Eindruck bemerkt, den die anmuthige Clavierspielerin auf seinen Herrn machte, und auch ihrem Spiel warme Lobeserhebungen gespendet, wobei er nur das Unglück hatte, mehrmals die Fingerübungen ihrer Schüler durch seine glänzenden Censuren auszuzeichnen. Gleichzeitig aber hatte er Erkundigungen eingezogen, was man in dem Nachbarhause von der Dame wußte; er hatte erfahren, daß sie Hulda Freiberg heiße, in dem Städtchen nicht zu Hause sei, sondern von auswärts komme. Im Uebrigen versiechten seine Quellen; man wußte nichts von ihrer Heimath, ihrer Familie.
So vergingen mehrere Wochen; Hulda am Clavier und auf dem Balcon war der immer gleiche Stern, der über den wechselnden Kalenderwochen strahlte. Auf die italienische folgte die französische; Petrarca’s Laura verwandelte sich in eine reizende Ingénue der modernen Komödie Augier’s und Sardou’s, aber trotz der Camellie in ihrem Haar in keine Camelliendame; es giebt ja so harmlos kindliche Mädchengesichter in der Portraitgalerie der neuen französischen Schauspieldichter neben den Damen mit Camellien, Perlen und in Lila. Es folgte die polnische Woche; dem Hauptmann erschien Hulda auf einmal als eine schöne Sarmatin, aus deren Schuh er gern auf ihr Wohl getrunken hätte. Dann kam die spanische Woche; er sah sie, in die Mantilla gehüllt, auf der Giralda in Sevilla stehen. Wie man durch die bunten Scheiben einer Einsiedelei den Himmel und seine Sterne immer in neuen Farben sieht, so sah die erregte Phantasie des Hauptmanns das Mädchen in jeder Woche im Lichte einer andern Volkspoesie, je nachdem diese oder jene Sprache auf seinem Programm stand; im Bildersaal der Weltliteratur war sie das bleibende Titelkupfer.
Wieder war im Reigen der sich ablösenden sprachlichen Wochen die italienische herangekommen. Der Hauptmann saß bei den Sonetten des Petrarca; da trat Skarnikatis plötzlich in großer Aufregung herein; sein ganzes Wesen bewies, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen sei, und dennoch flüsterte er so leise, daß sein Herr ihn erst auf wiederholte Anfrage verstand:
„Das Mädchen von drüben!“
Diesmal ereilte das Savoyische Kreuz auf dem Pfeifenkopf sein unvermeidliches Geschick; der Hauptmann sprang so rasch vom Sopha empor, daß der Kopf am Tischbein zerschellte, und während Skarnikatis in größter Eile die Scherben zusammensuchte, fuhr sein Herr aus dem Schlafrock in den Hausrock und aus dem Hausrock wieder in die Regimentsuniform, die ihm beim Abschied bewilligt worden war; denn nur so erschien er sich würdig genug, die Schöne zu empfangen.
Endlich! Skarnikatis legte sein breites Gesicht in würdige Falten, als er der Dame mittheilte, daß sein Herr sie erwarte.
Hulda trat ein.
Die Lichterscheinung, die in’s Zimmer tritt,
Bringt eines fremden Himmels Schimmer mit.
Sie trat ein, und der Hauptmann begriff nicht, daß dieses große Ereigniß so spurlos in seinem Zimmer vorüberging; ein kleines Erdbeben in diesem Augenblick hätte ihn nicht in Erstaunen gesetzt; er würde es weniger wunderbar gefunden [836] haben, als den Besuch des jungen Mädchens. Alles war indeß still, selbst Petrarca raschelte nicht mit seinen Blättern – und doch glaubte der Hauptmann in diesem Augenblicke einen Chor von Unsterblichen auf seinen Bücherbrettern singen zu hören das große Lied der Liebe, das ewige Lied der Dichter, welche Beatrice, Armida, Laura, Julie, Desdemona, Dulcinea von Toboso gefeiert hatten.
Der Hauptmann wies der anmuthigen Besucherin einen Platz auf dem Sopha an und entdeckte erst in diesem Augenblicke zu seiner größten Bestürzung, daß dasselbe jeder Eleganz entbehrte und daß seine anfänglich eselsgraue Grundfarbe durch die Strahlen der Sonne und den Neid der Götter sich in ein ganz unsagbares Etwas verwandelt hatte, für das es in der Farbenlehre kein Capitel gab. Seine Verlegenheit verbarg sich hinter einem so ernsten und feierlichen Ausdrucke der Gesichtszüge, als ob er einem Kriegsgericht präsidire und die Lippen nur öffnen werde, um über den Delinquenten die Kugel zu verhängen.
„Ich komme, Herr Hauptmann, Ihre Güte in Anspruch zu nehmen,“ begann Hulda mit verbindlichem Lächeln.
Der Hauptmann bemühte sich sogleich, dieses Lächeln zu erwidern, doch gelang ihm dies nicht nach Wunsch, denn seine Aufregung war noch so groß, daß sie keine behagliche Freundlichkeit aufkommen ließ. So verfing sich das Lächeln unter den Spitzen seines Schnurrbartes, während auf dem übrigen Gesicht der ernste Ausdruck erwartungsvoller Spannung lag.
„Ich bin, wie Sie vielleicht wissen werden,“ fuhr Hulda mit gleicher Freundlichkeit fort, „seit einiger Zeit Ihre Nachbarin.“
„Ich weiß es, mein Fräulein, und freue mich darüber.“
„Keinesfalls wird diese Freude eine ungetrübte sein, denn ich bereite der ganzen Nachbarschaft eine unwillkommene Störung; doch es ist nicht meine Schuld; der Kampf um’s Dasein –“
„Sie kämpfen ihn mit Noten, ich mit Vocabeln.“
„Ich hörte davon, Herr Hauptmann, und dies ist der Anlaß meines Besuches; ich erfuhr, daß Sie Unterricht in den neuen Sprachen ertheilen, und es ist mein Wunsch, mich im Italienischen zu vervollkommnen. Darf ich fragen, ob ich in dieser Sprache bei Ihnen Stunde nehmen kann?“
„Ich bin sehr gern bereit dazu,“ erwiderte der Hauptmann. „Das Italienische ist meine Lieblingssprache; ihr melodischer Klang, der poetische Duft, der schon den Wortlaut selbst umschwebt – –“
„Auch ich kenne ihre Elemente; es ist ja die Kunstsprache der Musik. Sie sind glücklich, Herr Hauptmann, so viele Sprachen zu kennen und zu sprechen; wie reich wird Geist und Leben dadurch! Ich meine, man zieht mit jeder Sprache einen neuen Menschen an, oder mindestens klingt eine neue Saite der Menschheit in unsere Seele hinein. Dumpfe Engherzigkeit besteht nicht neben so weitverbreiteter Kenntniß; diese muß die Seele befreien.“
„Sie haben Recht, mein Fräulein! Wer nur seine Muttersprache kennt, wird leicht beschränkten Sinnes.“
„Wie bereue ich,“ sagte Hulda, sich die blonden Haare, die unter dem leichten Strohhütchen auf die Stirn gefallen waren, zurückstreichend, „Ihre ernsten Studien durch meine leichtfertigen Fingerübungen so oft gestört zu haben! Welch ein Gedächtniß verlangt solche Sprachenkunde, und das Gedächtniß verlangt Ruhe und Stille. Sie zürnen mir doch nicht, Herr Hauptmann, wegen meines Clavierspiels?“
„Keineswegs,“ erwiderte dieser, „Sie spielen ja so vollendet; ich höre Ihnen oft andächtig zu.“
Das Gespräch drehte sich dann um die Lectionen; man bestimmte Zahl und Zeit, und der Hauptmann freute sich im voraus des öfteren Zusammenseins mit dem anmuthigen Mädchen. Hulda erhob sich, musterte die Bibliothek und gab ihrer Freude über die vielen schönen Bücher lebhaften Ausdruck; sie hüpfte von einem Schranke zum andern. „Wie viele unsterbliche Namen, wie viele große Geister aller Völker sind hier in Ihrem Banne! Lauter zugekorkte Flaschen! Ei, wenn das Alles einmal die Pfropfen sprengte und herausschäumte, es müßte Ihnen unheimlich zu Muthe werden.“ „Sie meinen, wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht zu bannen vermag?“
„Nein, wie dem Zaubermeister, der vor der Fülle der Geister erschrickt, der sie aber dann beherrscht und es versteht, wie ein Geist zum andern Geiste spricht.“
Mit freundlichem Lächeln empfahl sich nach diesen Worten die neue Schülerin, vom Hauptmanne bis an die Treppe geleitet, während Skarnikatis, nicht ohne mit schweren Stiefeln einmal ihr Flügelkleid am unteren Saume festgehalten und in den Nähten gelockert zu haben, ihr das Geleite bis an die Hausthür gab.
Der Hauptmann aber schüttete, in sein Zimmer zurückgekehrt, den Fidibusbecher mit den Papierschnitzeln des Inferno aus und füllte ihn bald darauf mit Fidibussen, auf denen die Vocabeln des Paradiso prangten. –
Hulda war eine fleißige und gelehrige Schülerin; sie hatte Gedächtniß, Verstand, Sinn für das Schöne. Der Hauptmann weihte sie in manche verborgene Schönheiten der italienischen Dichter ein; er zergliederte ihr das Dante’sche Riesengedicht mit Hülfe großer Zeichnungen, die er früher entworfen hatte. Es gab da manche Stellen, über welche seine Erläuterung flüchtig hinweggleiten mußte; bei anderen dagegen verweilte er mit Vorliebe. Als er aber die hinreißend schönen Terzinen las, in denen der Dichter das Mißgeschick der anmuthigen Francesca von Rimini und ihres Geliebten besingt, da war es ihm, als ob ihm selbst erst das Verständniß dieser Worte aufginge. Saß Hulda nicht da, so anmuthig in das Lesen vertieft, wie jene Francesca, mit so gespanntem Antheil, ohne jeden Argwohn? Gab es hier einen schöneren Commentar, als einen „dritten“ Kuß, der für Dante das geworden wäre, was jener zweite für Galeotto wurde? Ein vermessener Gedanken; der Hauptmann wagte ihn nicht auszudenken; doch es schien ihm, als ob sie ahnungsvoll seine stumme Kühnheit fühlte. Eine flammende Röthe bedeckte auf einmal ihre Züge, und sie stockte beim Lesen. Sie hatten schon manchen kecken Liebeshandel Ariosto’s ohne Anstoß gelesen – warum setzte sie die Taubenliebe der Francesca so in Verlegenheit? Das Lesen war doch kein Verbrechen, auch nicht das Lesen, dem der Liebesgott über die Schultern sieht. Doch sie fühlte das Gleichartige heraus, und daß sie es fühlte, erweckte auf einmal in der Brust des Hauptmanns Hoffnungen, die sich nur schüchtern an’s Licht wagten. Wäre es möglich? Erwiderte sie eine Neigung, die sich bei ihm von Tag zu Tage entschiedener ankündigte?
Und warum sollte er an seinem Glücke verzweifeln? Der Spiegel, den er jetzt bisweilen befragte, theilte ihm mit, daß er noch Eroberungen machen könne. Seine Züge waren ernst, doch frisch; kein einziger vorlauter Silberfaden blickte aus seinem dunklen Haar; seine Augen hatten ein feurig Leuchten; seine Gestalt war fest, männlich und edel. Er hatte sich nie darum gekümmert; es war ihm, als entdeckte er jetzt zum ersten Mal sich selbst, wie er als lebendes Wesen von Fleisch und Blut in der Welt der Erscheinungen wandle.
Seitdem sie den fünften Gesang des Dante’schen Inferno durchstudirt, änderte Hulda ihr Benehmen gegen den Hauptmann in auffälliger Weise. Hatte sie ihm sonst von ihrem Balcon freundlich zugenickt, wenn sie ihn am Fenster erblickte, so zog sie sich jetzt mit scheuem Gruß zurück, wenn er sich zeigte; dagegen glaubte er zu bemerken, daß sie oft, versteckt hinter der Epheulaube des einen Fensters und, wie sie meinte, unbeachtet, auf ihn mit großen Augen hinüberschaute, unbeweglich, still, wie man auf ein Wunder schaut, sodaß ihm oft vor sich selbst unheimlich wurde; denn er hatte nie etwas Merkwürdiges an sich entdeckt und begriff nicht, daß er irgend einem Wesen in der Welt beachtenswerth oder gar bedeutend vorkommen könnte. Nach jener Lectüre hatte Hulda mehrfach die Stunden ausgesetzt, unter dem Vorgeben des Unwohlseins, und als sie wieder erschien, da konnte sie ihre Befangenheit, ihr Herzklopfen nicht verbergen, denn aus ihrem ganzen Wesen, selbst aus den zögernden Blicken, mit denen sie ihn jetzt ansah, merkte er, daß er ihr nicht gleichgültig war.
Bald sollte er sich noch mehr davon überzeugen. Eines Tages erschien noch eine andere junge Dame bei ihm, mit der Bitte, ihr englische Stunden geben zu wollen. Ihre Eltern lebten an dem Orte in bescheidenen Verhältnissen, wie er erfuhr; ihr Vater war ein pensionirter Beamter, dessen Lebensfreuden sich auf eine Whistpartie im Casino beschränkten; sie selbst war längere Zeit auswärts gewesen. Gabriele – den Taufnamen verrieth ihre Visitenkarte – war in jeder Hinsicht der Gegensatz zu [838] Hulda; sie hatte keine Spur der harmlosen Heiterkeit, wie sie der blondgelockten Schönen eigen war. Ihre Züge waren zigeunerhaft düster; ihre Augen blickten schmachtend und schwermuthsvoll und waren oft wie von Thränen verschleiert; ihre Lippen zuckten oft wie von innerem Groll, von tiefer Verbitterung. Sie hatte eines der Gesichter, die uns eine lange Leidensgeschichte erzählen. Wenn ihr irgend etwas Theilnahme abgewann, dann sah man, daß sie noch jung war; dann leuchteten ihre Augen, dann flog ein frischer rosiger Hauch über ihre Wangen; sonst vergaß man bei ihrem Anblick, an Jugend oder Alter zu denken; man sah nur ein zerstörtes Leben, über dessen Blüthen der Hauch des Schicksals verwüstend hinweggezogen war. In Rede und Bewegung hatte sie etwas Leidenschaftliches, und Skarnikatis, den ihr ganzes Wesen beunruhigte, verglich sie mit einem angeschossenen Elenthiere, das bald rechts, bald links durch das Gestrüppe zu brechen sucht. Der Hauptmann fand schon bei der ersten Unterhaltung, daß sie Geist hatte; merkwürdige Einfälle und Gedankenblitze zeigten sich in ihrem Gespräch, doch es war ein unruhiger Geist, scharf, erbittert, leidenschaftlich, ja gehässig. Der Hauptmann zögerte nicht, ihr die gewünschten Stunden zuzusagen; ihn überraschte und erfreute es zugleich, in der spießbürgerlichen Einsamkeit des Städtchens zwei junge Mädchen zu finden, mit denen er sich angenehm unterhalten konnte. Im Uebrigen fand es Niemand anstößig, daß junge Damen bei ihm zuhause Stunden nahmen; er galt für ein Original, für eine wunderbare Sprachmaschine, aber kaum für einen Menschen. Wenigstens dachten die Honoratioren des Städtchens hierüber nicht weiter nach, und da sie ihn nicht decliniren konnten, sahen sie ihn für ein Neutrum an.
Mehrfach traf es sich, daß Hulda in’s Zimmer trat, während Gabriele mit der krampfhaften Hast, die ihr eigen war, ihre Bücher und Hefte zusammenraffte, da ihre Lection eben beendet war. Obgleich der Hauptmann die beiden jungen Damen mit einander bekannt machte, so stellte sich doch kein freundschaftliches Verhältniß zwischen ihnen her; ja die sonst so sanfte Hulda maß ihre Mitschülerin mit feindlichen Blicken.
„Sie ist wohl sehr geistreich?“ sagte sie eines Tages, als Gabriele das Zimmer verlassen hatte und der Hauptmann den Giuseppo Giusti aufschlug, den er jetzt mit seiner Schülerin las, um sie an die schwierigeren Wendungen des neuen Satirikers zu gewöhnen.
„Scharf, wie unser Dichter,“ antwortete er.
„Und das gefällt Ihnen wohl?“ sagte Hulda. „Das sprüht, das funkelt. Wir andern lammfrommen Gemüther haben nichts so Pikantes zu bieten. Eine Zunge, die wie ein Guillotinenmesser den Nächsten abschlachtet – was ist dagegen ein Herz voll Güte und Liebe? Das erscheint langweilig; alles Sanfte, Ruhige wirkt ermüdend; eine stille Tiefe des Geistes wird nicht mehr anerkannt. Ein Bach, er mag noch so krystallklar sein, verliert sich im Gebüsch, wenn er keinen lärmenden Wasserfall zu Stande bringt. Das muß plätschern, schäumen, tosen; das ist der Geschmack der Welt und der Männer.“
„Sie irren, mein Fräulein,“ sagte der Hauptmann; „uns ergötzt wohl ein Sprühregen von Einfällen und alle die Fächerschläge der weiblichen Koketterie, aber tieferen Eindruck machen auf uns doch nur die Frauen und Mädchen, welche Naturen sind, die sich nicht zu geistreichem Wesen steigern, sondern sich mit aller Unbefangenheit und Wahrheit geben, bei denen Geist und Herz in harmonischem Einklang und was sie fühlen und sagen eine stille Offenbarung der Natur ist.“
„Doch ich glaube, die Fächerschläge sind den Herren der Schöpfung lieber als die tieferen Eindrücke, mit denen sie nichts anzufangen wissen. Und ist diese Gabriele denn nicht schön, nicht anziehend für geistreiche Männer, was immer noch mehr ist als schön? Leuchten ihre Augen nicht oft mit einem bestrickenden Glanze? Hat sie nicht etwas Geheimnißvolles, was auf dunkle Schicksale deutet?“
„Gewiß,“ sagte der Hauptmann, „sie hat Trauriges erlebt, wie sie oft erwähnte, und diese Erlebnisse haben ihr den herben Ausdruck in Wort und Ton gegeben.“
„Herb? O ja,“ sagte Hulda, indem sich ein trotziger böser Zug um ihre Lippen lagerte, „man kennt das. Um so verlockender ist dann das süße Liebeswort für den Glücklichen, der hingebender Neigung gewürdigt wird. Für die Welt die bittere Schale, für ihn – doch wo waren wir gestern stehen geblieben?“ [849] Sehr erregt blätterte Hulda in Giusti’s Gedichten und fand dann bei der Uebersetzung für seine bittersten Ergüsse den geeignetsten Ausdruck. Der Hauptmann sah auf das blonde Köpfchen, das so trotzig auf die Hand gestützt war, auf die schwellenden Lippen, auf die Augen, welche mit Mühe eine Thräne zurückhielten; er hätte ihr diesen holden Trotz, der so vielversprechend war für seine eigene Neigung, von den Lippen küssen mögen, aber mit jener Grausamkeit, die der Leidenschaft so wenig fremd ist, wie den Triumphen der Eitelkeit, begann er sie zu quälen, um nochmals die Probe auf seine Rechnung zu machen.
„Gabriele ist in der That eine fesselnde Erscheinung; sie hat den Reiz des Ungewöhnlichen, und ich glaube wohl, daß ihre Leidenschaftlichkeit –“
„Wenden wir uns lieber zu Giuseppo Giusti!“ sagte Hulda kurz und las mit hastigem Eifer die ersten Strophen des „Gingillino“.
Diese Eifersüchteleien, welche selbst den frommen Zügen des sanften Mädchens einen böswilligen Trotz gaben, ließen den Hauptmann an seinem Glücke nicht länger zweifeln. Es hatte sich im Schatten der italienischen Lorbeerhaine, unter den erhabenen Bildern eines Dante, Tasso und Ariosto die unbewachte Neigung in zwei Herzen geschlichen, welche sich dieselbe immer noch nicht zu gestehen wagten. Der Hauptmann erschrak davor wie vor einer Neuerung, welche sein bisheriges Leben aus den Fugen zu rücken drohte; der ganze Reiz einer festwurzelnden Gewohnheit sträubte sich dagegen. Lieben – welche Ketzerei nach so langen, frommen Jahren des Junggesellenlebens! Lieben, vielleicht gar heirathen – welch ein nicht auszudenkender Gedanke! Ihn floh jetzt häufig der Schlaf; im Halbtraum hörte er in seinem Zimmer leise, trippelnde Schritte, bis er sich die Augen rieb und erkannte, daß es nur ein Traumgebilde seiner lebhaften Phantasie sei. Schon um drei Uhr des Morgens rief er seinen Skarnikatis, daß er ihm den Kaffee bereite, las bei Kerzenlicht seine ausländischen Classiker und starrte dann in die Dämmerung der Frühe hinaus, bis die Morgensonne die Rouleaux ihm gegenüber mit ihrem ersten Glanze vergoldete.
Die Morgenfrühe ist die Zeit mannhafter Entschlüsse. Der Hauptmann faßte den Entschluß, diesem schönen Mädchen näher zu treten und womöglich den Schleier zu lüften, der über ihrer Vergangenheit schwebte. Noch an demselben Tage folgte er ihr von fern, als sie gegen Abend ihre Schritte in das Mühlthal richtete, den Lieblingsspaziergang der schönen Welt des Städtchens. Die Sonne warf ihre schrägen Strahlen durch das Laub der Erlen und hohen silbernes Weiden, welche den schäumenden Bach entlang wuchsen, und tauchte den westlichen Himmel dann in ein rothes Feuer, welches gleichsam von den Wipfeln herabzutriefen schien und hinter dem Unterholze des Waldes einen flammenden Hintergrund bildete. Der Hauptmann fand Hulda auf einer Bank im Schatten eines hohen Weidenbaumes, gegenüber der epheuumrankten Mühle, deren Rad in den schäumenden Fluthen wühlte.
„So in Gedanken versunken, mein Fräulein?“
Hulda fuhr wie aus Träumen auf. „Ich habe früher viel gezeichnet,“ sagte sie; „man gewöhnt sich dann, die Natur mit den Augen des Malers zu betrachten. So vertiefe ich mich in das landschaftliche Bild, welches den Griffel des Zeichners herausfordert; denn es ist ebenso abgeschlossen wie anmuthig und von der Natur selbst zu den passendsten grünen Rahmen gefügt.“
„So viele Künste treiben Sie?“
„Meine Eltern hielten mich in früher Jugendzeit dazu an, und so habe ich auch nach ihrem Tode –“
„Ihre Eltern leben nicht mehr?“
„Vater und Mutter verlor ich in den letzten Jahren,“ sagte Hulda mit tiefem Seufzer, „ich habe mit ihnen mein Lebensglück begraben; ich stehe einsam in der Welt.“
„Und darf ich fragen –“ fuhr der Hauptmann fort.
„Fragen Sie lieber nicht,“ sagte Hulda, „woher ich komme, was mich hierherführt! Ich würde die Antwort schuldig bleiben. Es sind traurige Verhältnisse, kaum der Theilnahme werth, und ich habe mir selbst Schweigen über dieselben gelobt.“
„Doch wenn ich diese Theilnahme hegte? Es ist nicht Neugier in mir – – So lange ich in diesem Städtchen lebe, habe ich mich nie um irgend eines Menschen Schicksal gekümmert. Man kennt es ja auswendig; es ist ein Satz, der immer aus denselben Vocabeln besteht. Wenn ich bei Ihnen eine Ausnahme mache, so mögen Sie dies einem ungewöhnlichen Antheile zuschreiben!“
„Ich bin Ihnen dankbar dafür, herzlich dankbar,“ sagte Hulda, indem sie mit einem von Thränen umschleierten Auge zu ihm emporsah, „doch überlassen Sie mich meinem einsamen Geschick!“
„Wenn ich Ihnen aber mit Rath und Hülfe beistehen könnte –“
„Es ist dies unmöglich in meiner Lage.“
[850] „Nichts ist inniger Theilnahme unmöglich. Vertrauen Sie sich mir ganz an! Haben Sie Feinde, ich will Sie gegen dieselben in Schutz nehmen. Haben Sie irgend eine Neigung,“ fügte der Hauptmann zögernd hinzu, „so will ich – ja ich will die Hindernisse besiegen helfen, die Ihrem heißesten Wunsche entgegenstehen. Das will ich.“
Und nach diesen nicht ohne Selbstüberwindung gesprochenen Worten knöpfte er sich den Rock mit hastiger Entschiedenheit zu und nahm den Stock mit herausfordernder Miene in die Hand.
„Sie irren,“ sagte Hulda jetzt mit freundlichem Lächeln, „ich bin durch keine verhängnißvolle Neigung bedrängt. Was mich stört und bedrängt, ist meinem Herzen fremd. Aufrichten könnte mich eine innige Liebe.“
„Corpo di bacco!“ fuhr der Hauptmann plötzlich auf; „wenn’s Ihnen um’s Herz wäre wie mir, würde ich Sie fragen: Wollen Sie meine Laura, meine Beatrice sein?“
Hulda erhob sich und hielt die Hand an das klopfende Herz; sie wagte nicht, dem Hauptmann in’s Gesicht zu sehen. Die Sonne war untergegangen; die Mühle lag im Schatten; glanzlos schäumte das Wasser in eintönigem Fall über das langsamer arbeitende Rad.
„Träume der Dichtung!“ flüsterte sie.
Schon war der Hauptmann über seine Kühnheit erschrocken; er riß die Knöpfe seines Rockes wieder auf, wie um Athem zu schöpfen, und strich sich mit der Hand über die Stirn. In der abgewandten Haltung des Mädchens sah er eine zarte Ablehnung.
„Möge das Wort ungesprochen sein, da Sie es so wünschen!“ sagte er hastig; „es war eine Uebereilung, zu der mich mein volles Herz hinriß. Was könnte ich Ihnen bieten? Ein einförmiges Leben, abgeschlossen von der Welt, nach dem Stundenschlag geregelt, ohne Glanz, ohne Wechsel, ohne das Glück der Jugend. Alles Glück liegt in der Jugend – glauben Sie mir! Sie kennt nicht das verhängnißvolle Wort: ‚Zu spät!‘ Mich verfolgt es bei jedem Schritt, bei jedem Gedanken. Lasciate ogni speranza! Keine Beatrice führt uns zu lichten Höhen. Was sind unsere Hoffnungen, unsere Wünsche? Larven, keine Schmetterlinge, und wenn einer noch an’s Licht sich wagt, findet er keine Blume mehr und erfriert in der kalten Luft. Vergeben Sie, vergessen Sie, und bleiben Sie mir eine fleißige Schülerin! Es wirft doch etwas Sonnenschein in mein einsames Stübchen.“
Und der Hauptmann zog den Hut und ging mit raschen Schritten von dannen. Hulda wandte sich in hastiger Bewegung um; sie sah ihm nach; ihr war’s, als müsse sie ihn zurückrufen, ihm nacheilen; doch sie bezwang sich. Was konnte sie ihm sagen, ihm bieten? In welche Verwickelungen und feindliche Verhältnisse stürzte sie den braven, schlichten Mann, dessen Ruhe für lange Zeit gestört sein würde! War es nicht blos grenzenlose Gutmüthigkeit, ritterlicher Eifer, was ihn bestimmte, sich ihrer anzunehmen, ihr einen Schutz für’s ganze Leben zu verheißen? Und doch – es war, als ob er einen tiefen Schmerz empfände über ihr kaltes Schweigen. Hatte sie ihn gekränkt? Ihr selbst wäre es bitteres Leid gewesen. Von widersprechenden Gedanken bestürmt, welche ihr ein tiefes, inneres Ungenügen zurückließen, trat Hulda ihren Rückweg an.
Der Hauptmann war erstaunt, in der Abenddämmerung Gabriele auf seinem Zimmer zu finden. Sie hatte ihn lange erwartet, zuletzt ihr Strickzeug herausgenommen und sich häuslich eingerichtet.
„Herr Hauptmann,“ sagte sie aufstehend, „entschuldigen Sie meine Eigenmächtigkeit! Ich hätte es nicht gewagt, auf Ihr Zimmer Beschlag zu legen, wenn ich nicht an Sie eine sehr dringende Bitte hätte. Auch mußte ich eigentlich erwarten, Sie zu Hause zu finden; denn welches Datum in der Weltgeschichte steht fest, wenn Ihr Stundenplan sich verschiebt? Jetzt glaube ich auch nicht mehr, daß die Schlacht bei Sedan am ersten September geschlagen worden ist; man kann sich auf nichts mehr in der Welt verlassen.“
„Ein nothwendiger Ausgang!“ sagte der Hauptmann, nicht ohne Verlegenheit. Nicht blos die Lüge, die ihm fremd war, auch eine halbe Wahrheit, die er vorbrachte, erregte ihm Unbehagen.
„Es handelt sich um einen englischen Brief, den Sie mir corrigiren, dem Sie eine stilvollere Fassung geben sollen,“ sagte Gabriele; „doch es ist kein gleichgültiger Geschäftsbrief; es ist ein Brief, an dem ein Stück meines Lebens hängt. Ich schenke Ihnen alles Vertrauen, Herr Hauptmann.“
„Das dürfen Sie.“
„Sie wohnen in diesem Städtchen, aber Sie gehören ihm nicht an; Sie sind, Gott sei Dank, hier ein Wesen höherer Art. Sonst würde ich lieber mit zwanzig Grammatikfehlern die Post unsicher machen, als ein einziges Geständnis; auf meinem Gewissen haben. Sie geloben mir Schweigen?“
„Auf mein Wort, mein Fräulein!“
„So hören Sie! Der Brief hat seine Vorgeschichte. Wie Sie mich hier sehen,“ fuhr Gabriele fort, die sich auf einen Schaukelstuhl gesetzt hatte und sich bei ihrer Rede hin- und herwiegte, „ich bin armer Eltern Kind – und es ist kein sonderliches Glück, arme Eltern zu haben, die noch dazu durch einen kleinen Titel an handwerksmäßigem Nebenerwerb gehindert sind. Man ließ mir indeß mit großen Opfern eine anständige Erziehung zu Theil werden; ich lernte viel; wir aßen dafür oft trockenes Brod am Abend. Ich wurde, was ein gebildetes Mädchen werden kann: Gouvernante. Ich machte mein Examen; das ist doch etwas. Wie viele vornehme Damen würden durch das Examen in den Augen der Leute sinken, sagte ich mir, ich habe doch einigen Grund, auf sie herabzusehen. Wissen ist Macht – bei den Männern vielleicht; uns Mädchen giebt es ein Recht, höhere Domestiken zu werden. Ich bestand gut im Examen – Sie lächeln, Herr Hauptmann? Wie bösartig Sie sind!“
„Bewahre! Ich traue Ihnen alle möglichen Kenntnisse zu.“
„Nur nicht im Englischen, will Ihr Lächeln sagen. Sie haben Recht,“ fügte sie seufzend hinzu; „das Englische war meine schwache Seite und ist es leider Gottes später noch mehr geworden. Ich kam als Gouvernante in ein Banquierhaus in der Residenz; man behandelte mich menschlich; die Frau Commerzienrath schenkte mir ihr Vertrauen, womit nicht viel Staat zu machen war, und wenn ich mit dem Commerzienrath unter vier Augen war, so warfen zwei von diesen vier unter der Brille sehr vielsagende Blicke auf mich. Er sagte mir öfter, daß er mich geistreich und reizend finde; mich rührte das nicht, denn er hatte sonst einen schlechten Geschmack, und war auch selbst ein Beweis für die Geschmacklosigkeit, mit welcher die Natur oft angesehene Männer ausgestattet hat. Im Salon wurde ich geduldet; ich durfte Thee einschenken und Brödchen umherreichen; man stellte mich der Gesellschaft vor, aber immer mit einer gewissen Verschämtheit und sprach meinen Namen so leise aus, daß ich oft glauben mußte, es knüpfe sich ein Verbrechen daran, das man verheimlichen wolle. Sie wissen ja, was Ausschuß ist auf den Messen; man bringt solche Teller, die einen Riß haben, auch auf den Tisch; doch wünscht man nicht, daß genauer hingesehen werde. So fühlt’ ich mich als Gouvernante.“
„Es ist gut,“ warf der Hauptmann ein, „daß für mich diese Gesellschaft nicht vorhanden ist. Ich würde schlecht zu ihr passen, denn ich schätze die Menschen nur nach ihrer Bildung; jeder andere Maßstab ist mir verwerflich.“
„O, es giebt auch dort Ausnahmen,“ sagte Gabriele, „und ich lernte eine solche kennen. John Smith, ein junger und reicher Engländer oder vielmehr ein Deutsch-Engländer – denn er stammte von Deutschen, die sich in London niedergelassen hatten – zeichnete mich aus; er unterhielt sich gern mit mir, zum großen Aerger der jungen Damen, welche es nicht passend fanden, daß ein Mann von Welt Geschmack am weiblichen Gesinde fand. Ich wurde dann immer rasch abberufen; man wußte es so einzurichten, daß ein Kind über irgend eine Schwelle stolperte oder ein anderes zu Bett gebracht werden mußte. Es gab zwar noch eine Bonne, doch die war nur für’s Ausgehen und für’s Französische; alles Andere lag mir ob. Trotz dieser planvoll bereiteten Hindernisse wußte Smith es doch möglich zu machen, daß wir uns öfter sprachen; er kam zu einer Vormittagsstunde, in der ich meistens mit den Kindern im Garten war. Der junge Mann flößte mir bald Neigung und Vertrauen ein; er hatte die Welt gesehen, war in Calcutta und in New-York gewesen; er war ein Gentleman von feinen, vornehmen Manieren, und nur zuweilen befremdete mich anfangs ein etwas blasirter Ton, den er mir gegenüber mühsam in die Sprache der Empfindung umzustimmen suchte, und seine Abneigung gegen [851] alles Deutsche. Er sprach am liebsten englisch, und wo er deutsch sprechen mußte, wie mir gegenüber, die ich mich an die gurgelnden Stromstrudel der englischen Conversation schwer gewöhnen konnte, da that er es mit einem fast komischen englischen Accent und zahlreichen eingeflochtenen Redewendungen aus der Sprache Shakespeare's und Byron's. Gleichwohl eroberte er mit diesen in ein buntscheckiges Gewand gekleideten Empfindungen mein Herz, und ich durfte nicht zweifeln, daß auch ich ihm nicht gleichgültig sei.
Zu einer Erklärung, mit der er zögerte, kam es durch ein unerwartetes Ereigniß. Während eines Gesellschaftsabends hatte mich der Banquier unter einem Vorgeben in das Treibhaus gelockt, das an die Salons stieß, und hier in einem Myrthen- und Oleanderversteck, in einer durch seine Weine angeregten Stimmung, trotz meines Sträubens, in seine Arme geschlossen, Smith war uns, gefolgt; er hatte unbemerkt den Auftritt belauscht; er wußte, daß ich keine Schuld hatte, und ihn empörte die Unwürdigkeit, der ich hier preisgegeben war. Er erklärte mir, daß er mich aus dieser Stellung befreien werde, daß er mich von jetzt ab als seine Braut betrachte, und wiederholte diese Erklärung mir schriftlich am nächsten Tage in einem Briefe, der ein vollständiges Eheversprechen enthielt. Ich war überglücklich; nicht nur erfüllten sich die Wünsche meines Herzens, auch meine äußere Lebensstellung war für immer gesichert. Unser Verkehr wurde seitdem rückhaltloser, doch schien es mir oft, als ob ihn der Gedanke beunruhige, daß seine Familie die getroffene Wahl nicht billigen werde; es gab Augenblicke, in denen ich ihn kalt und herzlos finden mußte, und noch immer zögerte er mit der Anerkennung unseres Verhältnisses vor der Gesellschaft, als ob eine falsche Scham ihn zurückhielte.
Wiederum wurden jene Myrthen und Oleander verhängnißvoll für mich; denn als er mich eines Abends in demselben Versteck, in welchem der Banquier mir seine Neigung aufgedrungen, mit dem Recht des Bräutigams umarmte und küßte, da waren die Rollen getauscht; der schon lange eifersüchtige Hausherr war uns nachgeschlichen und bereitete uns eine Scene in der Gesellschaft, die meinen Ruf für immer vernichten mußte, wenn ihn Smith nicht augenblicklich wieder herstellte. Ich wurde schimpflich aus dem Hause gejagt; Smith schwieg. Ich schrieb am nächsten Tage an ihn; ich erhielt keine Antwort. Bald darauf erfuhr ich, er sei nach England zurückgereist – ohne nur ein Wort des Abschiedes, der Ermuthigung, ohne sein Versprechen einzulösen, ja nur einzugestehen. In tiefster Beschämung reiste ich zu meinen Eltern zurück; ihnen gegenüber konnte ich mich durch die Briefe des Bräutigams rechtfertigen, der Welt gegenüber aber konnte und wollte ich es nicht; noch hoffte ich mit verschwiegenen Wünschen auf eine spätere glückliche Lösung, die ich nicht durch unvorsichtiges Preisgeben des Geheimnisses verscherzen wollte. Diese Hoffnung hielt mich aufrecht; sie wurde lebendiger, als ich vor kurzem durch den Brief einer Freundin erfuhr, daß Smith nach unserer Residenz zurückgekehrt sei. Jetzt steht die Entscheidung bevor; er muß sich erklären oder ich rechtfertige mich, indem ich sein schriftliches Eheversprechen in jenen Kreisen bekannt mache, die mich verlästert haben. Der Brief, den ich an ihn schreiben will, ist der wichtigste meines Lebens. Ich will ihn englisch schreiben, weil ich weiß, daß dies auf ihn weit größeren Eindruck macht und sein vornehmes Achselzucken über die deutsche Sprache vom Hause aus abgelehnt wird. Das Concept dieses Briefes überreiche ich Ihnen, Herr Hauptmann, mit vollem Vertrauen; verbessern Sie nicht blos das Fehlerhafte, geben Sie ihm durch Wahl der bezeichnendsten Wendungen, die mir nicht zu Gebote stehen, wärmeren Hauch und größeren Nachdruck!“
Der Hauptmann hatte andächtig zugehört, und nur unwillkürlich streiften seine Blicke bisweilen hinüber, wo die heimgekehrte Hulda mit nachdenklicher Miene neben der Lautenschlägerin stand.
„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, mein Fräulein,“ sagte er dann, „ich werde Ihre Empfindungen so gut retouchiren, wie ich irgend vermag. Mit diesem Patron müssen Sie freilich ein ernstes Wort sprechen – pox on him! Ich glaube, er wird sich sehr bessern müssen, wenn Sie mit ihm glücklich werden sollen. Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit wieder. Ich werde den Brief verbessert in Ihre Hände legen.“
Gabriele erhob sich; sie war bleich geworden und stützte die Hand auf den Tisch. Die Bemerkungen des Hauptmanns hatten sie empfindlich getroffen: sie fühlte die Hoffnungslosigkeit aller ihrer Schritte, ihr ganzes zerstörtes Leben, mit der wilden Hast, die ihr eigen war, eilte sie auf den Hauptmann zu, drückte ihm die Hand mit dem Ausdruck herzlichen Dankes und stürmte dann zur Thür hinaus und die Treppe hinunter.
„Das ist ein Meteor,“ rief der Hauptmann, „von dem ich nicht wünschen möchte, daß es meine Bahnen kreuzte – wie ganz anders da drüben mein sanfter Abendstern!“
Klänge, von tiefster Empfindung getragen, wehten mit dem Abendwind herüber; sagten diese Töne vielleicht, was die Worte verschwiegen hatten? Der Hauptmann lauschte wie in Träumen verloren; längst war ihm seine Pfeife ausgegangen. Er hörte nicht, daß es sieben Uhr schlug, die Stunde, in welcher seine Wochen sich ablösten, doch schon stand Skarnikatis vor ihm mit der englischen Pfeife, auf welcher das Drachenbanner gemalt war. Der Hauptmann schlug den „Petrarca“ zu und griff nach Byron; er las den zweiten Gesang des „Don Juan“, denn die kindliche, anmuthige Haidi erschien ihm ein Abbild seiner Hulda. In der Morgenfrühe des nächsten Tages schmückte er den Brief der unglücklichen Gabriele mit den dichterischen Blüthen auf, die er im Herbarium seiner Vocabelhefte für stilistische Zwecke eingetrocknet hatte.
Der Tag, dessen Sonne sich verdrossen aus rothen Nebelschleiern erhob, sollte einer der unruhigsten werden, welche das Leben des Hauptmanns seit langen Jahren aufzuweisen hatte.
Er sah hinüber – noch regte sich nichts; es blieb still den ganzen Vormittag; auch keine Taste rührte sich. War Hulda unwohl? Hatte sie Gewissensbisse, daß sie ihn zurückgewiesen? Und war dies auch wirklich eine Ablehnung gewesen? Hatte er nicht zu schwarz gesehen?
Der Mittag kam heran; es blieb auffallend still. Da plötzlich – der Hauptmann wollte seinen Augen nicht trauen – er glaubte eine Vision zu haben. Ein Herr erschien drüben, der sich einen Stuhl neben die Statue rückte und behaglich darauf Platz nahm, indem er den Rauch einer Cigarre in die Luft blies. Skarnikatis wurde herbeigerufen, um das unerhörte Ereigniß mit Hülfe seiner in den litthauischen Urwäldern geschärften Sinne zu bekräftigen. Die Thatsache blieb unerschütterlich. Der Herr nahm seinen Hut ab – Gott sei Dank! er hatte graue Haare, über welche schon ein silberner Schimmer spielte. Der Vater konnte es nicht sein; Hulda hatte ja keine Eltern mehr. Doch vielleicht ein Bräutigam? Man hat diese Sorte auch in Grau – der Hauptmann sah in den Spiegel, um sich zu überzeugen, daß das herannahende Alter bei ihm selbst die Haare noch nicht abgefärbt hatte. Doch so gut wie er konnte ja auch ein anderer älterer Herr auf Freiersfüßen gehen; auf ein paar Jahre mehr oder weniger, auf ein früher oder später ergrautes Haar konnte es nicht ankommen. Er beruhigte sich bald wieder. Durch ein Augenglas sah er, daß die Züge des Fremden scharf geschnitten waren und einen grämlichen Ausdruck hatten; es war in ihnen keine Spur jener Unruhe zu bemerken, von welcher doch keine Leidenschaft frei ist, so lange sie nicht des gesicherten Besitzes theilhaft geworden.
Der Hauptmann warf nochmals einen Blick hinüber; er sah immer dieselben Rauchwolken sich um die Lautenschlägerin kräuseln. Da plötzlich – es war keine Doppelseherei – ein zweites Glühwürmchen am Epheu – der Feuerschein einer zweiten Cigarre! Da stand ein junger Mann, welcher seinen Arm um die Lautenschlägerin geschlungen hatte und sich mit dem ältern Herrn lebhaft unterhielt. Ein vornehmer Engländer in Haltung und Anzug; die Lord Byron’sche Schleife flatterte weltschmerzlich genial in der Luft; er hatte eines der stillen feinen Gesichter, die auf den ersten Blick etwas Mädchenhaftes haben, doch sieht man näher hin, da leuchten die Augen mit einem nixenhaften Glanze, und um die Lippen lagert sich ein Zug spöttischer Ueberlegenheit.
Was bedeutete das? Hier war kein Zweifel mehr – das war der glückliche Liebhaber! Darum Hulda’s Schweigen bei seinem Antrage. Er sann eben darüber nach, in welchen Kessel des höllischen Trichters er den aufdringlichen Nebenbuhler am liebsten hinwünschen, ob er ihn durch die Lüfte wirbeln lassen oder mit einem schweren Bleimantel belasten sollte, als Skarnikatis eintrat, welcher achselzuckend auf die Fremden deutete, die er bereits von der Hausthür aus entdeckt hatte.
„Es ist nicht geheuer da drüben,“ meinte er mit seinem [852] breiten Lächeln. Der Hauptmann bemächtigte sich seiner und schüttelte ihn am Kragen, als wenn er den Nebenbuhler drüben dingfest machen wollte.
„Was giebt’'s? Wer sind die Herren? Hast Du’s erfahren? Warst Du auf Kundschaft?“
Skarnikatis konnte zunächst nur durch ausdrucksvolles Mienenspiel sein Befremden über die gewaltthätige Behandlung ausdrücken, die ihm zu Theil wurde. Dann holte er tief Athem und theilte dem Hauptmanne mit, daß er allerdings auf Kundschaft gewesen sei, daß aber Niemand drüben wisse, wer jene Herren seien. Nur so viel sei gewiß: es müßten dort sehr lebhafte Verhandlungen stattgefunden haben; man habe einen leidenschaftlichen Wortwechsel vernommen und einmal sogar etwas wie einen Aufschrei des Mädchens.
Der Hauptmann wurde nachdenklich. Banditen konnten es nicht sein; doch wer kennt nicht die geheimen Dolche, mit denen in unserer Gesellschaft oft gesetzlich erlaubte Raubanfälle gemacht werden? Ihn tröstete nur das Eine, indem er zornglühende Blicke hinüber warf: Hulda wußte, wenn sie bedrängt oder bedroht war, wo sie Hülfe finden konnte. Und so lehnte er sich trotzig in der Regimentsuniform zum Fenster hinaus, aber das Mädchen zeigte sich nicht; auch die Fremden verschwanden vom Balcon; es trat eine unheimliche Ruhe ein.
Seinen Nachmittagsspaziergang machte der Hauptmann mit seltener Hast; er wollte wieder zu Hause sein, um sich zur Beobachtung auf seine Warte zu begeben. Gegen Abend kam Gabriele, früher als abgemacht war, denn auch sie trieb eine innere Ungeduld; sie konnte nicht früh genug den Brief in ihre Hände bekommen. Der Hauptmann hatte ihn prächtig retouchirt, etwas dichterisch zwar, doch warm zum Herzen sprechend; hin und wieder fand sich Gabriele nicht zurecht – sie mußte den Hauptmann als Dictionnaire benutzen; denn ihr fehlten einige Vocabeln. Freude über den gelungenen Brief und Aufregung über den Erfolg trieben Gabriele an’s Fenster, um frische Luft zu schöpfen. In ihrer Leidenschaftlichkeit war sie rücksichtslos; sie that, als wenn sie hier zu Hause wäre, und stieß den einen Fensterflügel auf. Auf ihren Zügen lag der volle Widerschein des Abendrothes; sie sah schön aus in der glühenden Beleuchtung.
„Dort wohnt also Ihre Schülerin Hulda,“ sagte sie zurücksprechend; „nun, recht poetisch, fürwahr. Eine Art steinerne Harfenistin vor der Thür! Glücklicher Weise geht sie nicht mit dem Teller herum, um zu sammeln. Und die vielen Blumen!“
„Gleich und gleich – hier ist’s die Wahrheit,“ sagte der Hauptmann, etwas unwirsch.
„Mir kommen diese Blumen zu lyrisch vor.“
„Sie sind in einer bitteren Stimmung, mein Fräulein.“
„Sie trauen mir nicht Gefühl zu, ich weiß es,“ sagte Gabriele. „O, wer blond oder goldlockig wäre, wie das Musenkind drüben – da zweifelt Niemand an einer tiefempfindenden Seele. Horch – die Thür knarrt – sie ist es – sie tritt heraus – sie sieht nach den Wolken; jetzt stützt sie das Köpfchen auf die Hand; bei Gott, sie hat Thränen im Auge. Das arme Kind! Nun, gewiß ist ihr auf ihrem Flügel eine Saite gesprungen; der Clavierstimmer bringt das rasch wieder in Ordnung; solche Schmerzen heilen schnell. Fort ist sie wieder und läßt nicht einmal ambrosisches Licht zurück. Es giebt keine Engel mehr.“
„Ich würde Sie arg schelten,“ sagte der Hauptmann, „wäre mir nicht Ihr trauriges Schicksal bekannt. Sie sind boshaft – Hulda’s Seele ist wie ein weißes Blatt.“
„Merkwürdig genug bei einem Mädchen, von dem man nicht weiß, von wannen es kommt, noch wohin es geht; das reine Blatt wird wohl auf der andern Seite vollgeschrieben sein.“
Gabriele lachte triumphirend; der Hauptmann rüstete sich eben zu zorniger Gegenrede, als er durch die Veränderung entwaffnet wurde, die mit dem Fräulein vorging. Ihr Lachen wurde auf einmal krampfhaft; sie streckte die Arme wie abwehrend aus, starrte mit ihren Blicken vor sich hin, als sähe sie ein Gespenst, und sank mit einem leisen Schrei auf den Stuhl zurück. Der Hauptmann trat besorgt an sie heran.
„Es ist nicht möglich – nicht möglich,“ flüsterte sie, indem sie sich mit gewaltsamer Anstrengung wieder aufrichtete und hinaussah. Sie rieb sich die Augen, als wollte sie einen Traum verscheuchen.
„Und doch – er ist’s, er ist’s.“
An der Lautenschlägerin stand der junge Mann mit der Byron’schen Schleife.
„Er ist’s – und bei ihr!“ rief Gabriele, die Hände ringend. „Er ist in dieser Stadt; er weiß, daß ich hier weile, und er ist – bei ihr.“
„Wer denn in aller Welt?“ fragte der Hauptmann.
„O, ich bin grenzenlos betrogen,“ sagte Gabriele, bei welcher der Schreck jetzt einer sich steigernden Leidenschaft Raum gab, „er kommt hierher, ohne nach mir zu fragen; er vermeidet mich, sucht diese Clavierprinzessin auf. Lassen Sie mich – ich muß hinüber – vor ihren Augen will ich ihn anklagen und zu Boden schmettern.“
„O, ich verstehe,“ sagte der Hauptmann, auf den Brief deutend, „unsere gemeinsame Arbeit ist jetzt überflüssig geworden.“
„Ja,“ rief Gabriele, „es ist dieser John Smith, dessen heilige Betheuerungen und Eide ich noch nicht zu Asche verbrannt habe, der mich dem Schimpfe preisgab, den ich jetzt verabscheue.“
Sie warf das Fenster zu, daß die Scheiben klirrten, und griff nach ihrem Hute so hastig, daß sie die stolze Feder knickte, die sie aus der Residenz mitgebracht hatte und gegen welche selbst die Feder auf dem Hute der Landräthin nicht aufkommen konnte.
„Was wollen Sie thun, Fräulein?“ fragte der Hauptmann. „Ich will hinüber – ihn zur Rede stellen, ihn entlarven; o ich weiß nicht, was ich will,“ rief Gabriele, in krampfhaftes Weinen ausbrechend.
„Hören Sie mich, mein Fräulein! Sie werden eine unglückliche Rolle spielen, Ihr Zartgefühl preisgeben, dem Spotte und dem Gelächter verfallen; denn man muß sein gutes Recht nicht auf dem Markte verkünden, und wenn man nichts hat als sein gutes Recht, so hat man verzweifelt wenig und läuft Gefahr, von aller Welt ausgelacht zu werden. Wir müssen die Sache feiner einfädeln; nehmen Sie mich zu Ihrem Bundesgenossen an!“
„Mit Freuden!“ sagte Gabriele, „es scheint mir fast, als ob ich Ihnen trauen dürfe. Sie haben wohl auch guten Grund, gegen ihn, den ich nicht mehr nennen mag, Partei zu nehmen?“
„Nein, o nein! Ich habe nicht das geringste Recht dazu. Doch wenn dieser junge Mann – God damn him! – in der That sich in das Herz Hulda’s einzuschleichen sucht, so bin ich der Mann dazu, sie zu warnen. Und das soll morgen geschehen, morgen! Wenn Sie, mein Fräulein, mir dazu den Brief mit dem Heirathsversprechen geben.“
Gabriele stand unschüssig. Kannte sie denn so sicher den Zusammenhang, in welchem John Smith und Hulda standen? War es nicht möglich, daß er seine Verpflichtungen hier einlösen und sie heute selbst doch noch aufsuchen wollte? Es schien schicklicher zu warten und auf den Vorschlag des Hauptmanns einzugehen; sie versprach, ihm den Brief zu bringen und gab ihm Vollmacht, mit Entschiedenheit einzuschreiten. Dann trat sie noch einmal an’s Fenster; gespenstig blickte die Lautenschlägerin in die Dämmerung; das Licht einer Lampe wurde hinter dem Rouleau sichtbar – war Hulda allein, war sie noch mit ihm zusammen? Es fröstelte Gabriele bei dem Gedanken an eine trauliche Abendbeleuchtung am häuslichen Herd, während sie selbst wie eine Einsame und Verbannte durch die Dämmerung schleichen mußte. Die Welt kam ihr auf einmal so fremd und kalt vor; eine Thräne im Auge eilte sie mit einem „gute Nacht!“ hinaus. –
So früh, wie es die Schicklichkeit irgend erlaubte, erschien sie am nächsten Vormittag, den wichtigen Brief in der Hand, bei dem Hauptmann.
Wie erstaunte sie über den Empfang, der ihr zu Theil wurde! Draußen kein Skarnikatis, der ihr sonst mit Lächeln die Honneurs machte. Sie klopfte an; kaum ein leises „Herein!“ ließ sich vernehmen. Sie trat ein – da stand Skarnikatis mit gefalteten Händen, als wenn er an einer Leiche stände; der Hauptmann aber, sonst so galant in seinen Begrüßungen, erhob sich nicht vom Sopha; er starrte wie ein Wahnsinniger auf ein Kissen mit einem gestickten Vergißmeinnicht, das er krampfhaft
[854] fest in den Händen hielt. Das ganze Zimmer schien mit seinen Bewohnern nervös geworden zu sein; einige erschreckte Bücher waren aus den Fächern gefallen; die englische Pfeife lag an der Erde und hatte weithin die Tabaksasche ausgestreut; in einer vergessenen Kaffeetasse schwamm die Milch so schwermüthig auf dem edlen Mokka, als wäre sie durch ein einschlagendes Gewitter sauer geworden; die Gardinen am offenen Fenster hatten sich aus ihren Ringen gelöst und wehten im Winde gespenstig hin und her.
„Zu spät – sie ist fort,“ sagte der Hauptmann mit matter Stimme.
„Fort!“ wiederholte der Diener dumpf wie ein Echo aus den litthauischen Urwäldern.
„Und er – und er?“ fragte Gabriele aufgeregt.
„Natürlich auch fort!“ erwiderte Skarnikatis für seinen in Gedanken versunkenen Herrn.
„Und wann in aller Welt – “
„Mitten in der Nacht! Sie haben einen Wagen bestellt, der sie nach der nächsten Station fuhr; das Mädchen und die beiden Herren, der alte und der junge! Wohin? Das wußte mir Niemand drüben zu sagen, dagegen gab man mir die Bescheerung da mit, die sie für meinen Herrn bestimmt hatte.“
Da erhob sich der Hauptmann; er legte das gestickte Kissen so sanft auf das Sopha, als wäre ein Kind darin eingewickelt, und gab seiner Schülerin die Hand: „Entschuldigen Sie mich, Fräulein! Doch die unerwartete Abreise meiner Nachbarin hat mich ganz verstört; alle unsere Pläne sind gescheitert.“
„Wie? Und sie ist abgereist ohne Abschied, ohne Ihnen zu sagen wohin, ohne Ihnen zu schreiben –“
„Nur drei Worte hat sie mir geschrieben, ein herzliches Lebewohl. Sie hat mir als Vermächtniß dies von ihrer Hand gestickte Kissen hinterlassen und,“ setzte er etwas leiser hinzu, „die gestickte Geldbörse mit dem Honorar.“
„So ist es also wahr,“ rief Gabriele, „ich bin aufgegeben, gänzlich verlassen. Er ist so treulos, wie ich es kaum zu fürchten wagte. Der Schändliche!“
Der Ton ihrer Entrüstung war so hinreißend, daß Skarnikatis nicht umhin konnte, die Faust zu ballen.
„Doch ich raste nicht, bis ich ihn gefunden. Kann ich nicht mit ihm glücklich sein, so soll er es auch nicht werden. Zerreißen Sie diesen Brief, Hauptmann! Was ich ihm jetzt zu sagen habe, verlangt einen anderen Ton. O, wie ist Alles so eng und dumpf hier – in’s Weite! In’s Weite!“
„Wenn wir nur eine Spur entdecken könnten,“ sagte der Hauptmann melancholisch; „doch es fehlt ja jeder Anhalt. Hulda Freiberg – wer weiß, ob auch dieser Name der richtige ist! Und sie will ja nicht, daß man ihrer Spur folge.“
„Was die Mamsell betrifft,“ sagte Gabriele hochmüthig, „so werden wir Ihr wanderndes Fortepiano schon auffinden, sobald wir nur Herrn John Smith aus seinem Versteck aufgestört haben. Das möge meine Sorge sein! Noch heute zieh’ ich wieder nach der Residenz; ich gebe meine Zeugnisse einem Vermittler. Sie sind glänzend; ich werde schon wieder eine Stelle finden. Die Stadt ist groß; in vielen Kreisen weiß man nichts von meinem Abenteuer. Doch ich will ihn rastlos aufsuchen und mich an seine Ferse hängen, wie ein unheimlicher Schatten.“
„Schreiben Sie mir stets Ihre Adresse, mein Fräulein!“ sagte der Hauptmann, „bleiben wir in Verbindung! Vielleicht gelingt es mir, zu entdecken, wohin sie sich gewendet haben; betrachten Sie mich als Ihren Mitverschworenen!“
„Wohl! Ich verspreche Ihnen, Nachricht über Alles zu geben, was mich betrifft.“
„Ich bleibe hier, wie die Schnecke in ihrem Haus,“ sagte der Hauptmann, indem er wehmüthig hinzufügte: „einsam – jetzt mehr als je – mehr als je!“
Gabriele schoß noch einmal wie eine Sternschnuppe an’s Fenster, warf einen Blick hinüber, der fast als ein Versuch der Brandstiftung angesehen werden konnte, und gab dem Hauptmann die Hand.
„Besten Dank für Ihre Stunden! Sie werden wiederum unterbrochen; ich soll einmal im Englischen eine Stümperin bleiben; vielleicht leiste ich dafür etwas im Teuflischen!“
Der schale Wortwitz war ein Ausdruck ihrer innersten Erregung; hat doch schon Shakespeare gezeigt, daß die Verzweiflung witzig macht. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, so athmete der Hauptmann auf, als ob ein Druck von ihm genommen wäre; denn das Wesen seiner Schülerin hatte etwas Beängstigendes für ihn. Aber sie sprach ja von ihr, die ihn so ganz erfüllte. Erst als Gabriele fort war, erfaßte ihn das Gefühl grenzenloser Oede und Einsamkeit. Wieder begann das alte Leben mit seiner geregelten Einförmigkeit, doch es war nicht mehr das alte; ihm fehlte das Behagen, die Zufriedenheit. Immer schweiften seine Wünsche in die Ferne und von den Classikern seiner neun Sprachen gefielen ihm nur diejenigen, in denen er den Ausdruck seiner Unbefriedigung, seiner Sehnsucht wiederfand. Täglich ging er in’s Mühlthal wie sonst; er setzte sich auf die Bank, auf welcher Hulda gesessen hatte, und blickte träumerisch auf das Rad und das herunterstäubende Wasser. Der Herbst streute seine gelben Blätter in den Bach; der Winter versilberte das Dach der Mühle und hemmte den fröhlichen Bach in seinem Lauf – er merkte es nicht; er sah immer um sich das frischeste Grün und hörte das Rauschen der Mühle, auch wenn sie still stand.
Zum Hohn für seine Erinnerungen hatte ihm gegenüber ein alter Major sich einquartiert. Es kam ihm vor, als sähe er sich selbst in einem Vexirspiegel. Ueber der Lautenschlägerin hing oft ein alter Officiersmantel, den der Bursche ausklopfte. – –
Gabriele schrieb mehrmals; ihre Briefe waren ebenso geistsprühend, wie leidenschaftlich zerrissen. Sie hatte eine Stelle bei einem General gefunden. Ihre Nachforschungen nach dem Aufenthalt des treulosen Bräutigams waren vergeblich gewesen; nur das hatte sie erfahren, daß er auch damals nicht, wie es hieß, nach London gereist sei, sondern sich längere Zeit in deutschen Hansestädten aufgehalten hatte; sie hoffte noch immer auf die Züchtigung des Verräthers.
Der Hauptmann begann Hulda bereits für ein Traumbild zu halten, das auf seinem Lebenswege gegaukelt und unfaßbar wieder verschwunden war. Nachdenken hierüber und Sorge über die geheimnißvolle Begegnung mit der Geisterwelt brachten es dahin, daß einzelne Silberfäden in sein dunkles Haar sich mischten wie Skarnikatis zuerst entdeckte, der ihm eines Morgens ein corpus delicti mit nachdenklichen Mienen präsentirte.
„Ich werde alt,“ sagte der Hauptmann, „es geht mit mir zur Neige. Wie thöricht war ich, ein Glück zu hoffen, das nur der Jugend gehört! Carramba,“ – es war seine spanische Woche – „uns ziemt es, wie dem Kaiser Karl dem Fünften im Kloster von Sanct Juste, Grabesgedanken zu hegen.“
Sein Lebens- und Stundenplan blieb unverändert; nur nahm er keine Schülerinnen mehr an und wies selbst die Tochter des Bürgermeisters zurück, die ihr Französisch über die Conjugationen hinaus ausdehnen wollte.
[865] Es war ein schwüler Sommertag; der Sonnenbrand lag blendend auf den hellen Sandfelsen an der böhmisch-schlesischen Grenze; desto kühler war es in dem Felsenlabyrinth in Weckelsdorf, dem neu entdeckten Naturwunder. Adersbach ist ein Felsengarten, der mehr im französischen Geschmack nach der Schnur gezogen; Weckelsdorf ist ein Felsenpark, in welchem die Felsen oft als Versatzstücke für landschaftliche Decorationen verwendet und in dem Schatten des Waldes zerstreut sind.
Eine Gesellschaft verschiedener Besucher lauschte gerade in den hohen Hallen des Naturdomes zu Weckelsdorf dem Orgelspiel, welches wie in majestätischen Fugen aus den Spalten desselben hervorzuquellen schien. Der Zauber beruhte zwar auf einer künstlichen Täuschung; es war eine Drehorgel, welche an einer Stelle gespielt wurde, von der aus ihre Klänge in das Felsenlabyrinth eindrangen und durch die Akustik der Natur zu prachtvollen orgelartigen Tönen anschwollen, aber die Täuschung war so wirkungsvoll, daß sich keiner der Anwesenden dem Eindruck feierlicher Andacht zu entziehen vermochte.
Darauf hielt der Fremdenführer in dem Naturdom eine Predigt. Die Narrenfeste Altfrankreichs kehren doch immer wieder, wenn auch in veränderter Form; diese Predigt erinnerte an dieselben. Sie begann mit schwunghaften Versen in Mahlmann’schem Styl und endete mit einer Wendung an die Mildthätigkeit des Publicums und einer Berufung auf den Preistarif.
„Corpo del diavolo!“ brummte einer der Anwesenden in seinen Bart; „auch die erhabensten Natureindrücke kann man nicht ungestört genießen; immer mischt sich die täppische Eitelkeit und Behaglichkeit der Menschen hinein. So macht sich auch dieser Fremdenführer aus den Felswänden ein Piedestal, um seine albernen Verse gegen gleich baare Bezahlung herzudeclamiren. Und diese bunte gemischte Gesellschaft mit den rotheingebundenen Reisebüchern in der Hand und den Ausrufungszeichen im Gesicht! Daß man hier nicht allein wandern darf in der erhabenen Einsamkeit dieser Felswüste – man könnte sich hier oft in das Inferno träumen.“
Zornig schlug der Hauptmann mit seinem Stock an einen der Felsenpfeiler, der die Hallen des Naturdomes bilden half, und ließ dann die Gesellschaft, die sich nach dem pflichtmäßigen Genuß dieses cyklopischen Felsentempels wieder an die enge Pforte drängte, an sich vorüberziehen, etwa wie Polyphem die Hammel des Odysseus und mit einer keineswegs menschenfreundlicheren Gesinnung.
[866] Plötzlich war es ihm – nein, es konnte keine Vision sein.
Hatte doch eben ein Besucher, von Kopf bis zu Fuß sommerlich hell wie ein Kohlweißling, seine Cigarre angebrannt, und bei dem plötzlichen Schein, der die Düsterheit des Felsendomes erhellte, glaubte er ein Gesicht zu erkennen – ein Gesicht, das er seit einem Jahr hundertmal in seinen Träumen gesehen. Doch es war nur ein Augenblick; da verschwand es wieder in der Menge der bunten flatternden Bänder und der Modehüte, die hoch oben auf den aufgethürmten Frisuren saßen. Das Gesicht aber, das er zu erkennen glaubte, trug den schlichten, runden, breitrandigen Strohhut mit den Feldblumen am blauen Bande.
Der Hauptmann hatte nur einen Gedanken, dem Traumbild nachzustürzen, das er im flüchtigen Lichtschein gesehen; draußen im Licht des Tages war keine Täuschung mehr möglich. Doch nicht so leicht war es, seiner krampfhaften Ungeduld zu folgen. Ein langer Zug schöner Damen, zum Theil mit staubaufwirbelnden Schleppen, drängte sich durch die enge Pforte, und die Galanterie gebot ihm, den Parademarsch dieser Modekupfer nicht zu stören. Wenn er sie wieder verlor, nachdem er sie kaum gefunden hatte! Dieser Gedanke ließ ihn alle Rücksicht vergessen. Mit einem kühnen Entschlusse schlüpfte er mitten in den Zug hinein.
Er beflügelte seine Schritte und ging, an verschiedenen Gruppen vorüber, auf den Waldwegen, zu denen sich hier anfangs das Felsenlabyrinth erweitert; doch den entzückenden Strohhut bemerkte er nicht darunter. Sollte sie einen andern Weg nach Weckelsdorf zurückgegangen sein?
In diesen mißmuthigen Gedanken wurde er plötzlich durch den überraschenden Anblick eines großartigen Amphitheaters unterbrochen. Ein herrlicher Architekt, dieser Quadersandstein! Welche prachtvolle Rotunde er hier errichtet hat! O, wenn es Berg- und Waldgeister giebt, so müssen sie in Mondnächten auf diesen Felsenspitzen ihre Nationalversammlung abhalten oder zusehen, wenn drunten in der mit Felsen durchwachsenen Arena die Elfen ihre Mondscheintänze aufführen. Auf der kleinen Bergfahrt, die der Hauptmann unternommen, hatte noch kein Naturschauspiel auf ihn einen so gewaltiger Zauber ausgeübt. Einen Augenblick vergaß er darüber sogar die Hast, welche seine Entdeckungsreise nöthig machte, und bewegte sich in langsamerem Schritt. Plötzlich, als der Weg um eine Felsenecke bog, sah er den schäferlichen Strohhut vor sich; jetzt war kein Zweifel mehr möglich; auf einer Bank saß Hulda – und ganz allein.
„Fräulein Hulda!“ rief er mit einem so triumphirenden Jubel, wie er vom Mast des Schiffes ertönte, als die Genossen des Columbus zuerst das langersehnte Land entdeckt hatten.
Hulda fuhr empor, die linke Hand auf’s Herz gepreßt.
„O, wie möcht’ ich Sie schelten!“ rief der Hauptmann jetzt herzlich auf sie zugehend und ihr die Hand schüttelnd, „so zu verschwinden, ohne eine Spur zu verrathen, so Ihre Freunde im Ungewissen zu lassen! Selbst den Dank für das reizende Vergißmeinnichtkissen konnte ich Ihnen nicht abtragen.“
„Die Verhältnisse zwangen mich dazu,“ sagte Hulda, deren Antlitz eine feurige Röthe überflog.
„Wie bin ich glücklich, Sie wiederzufinden! Wie oft habe ich an Sie gedacht, meine holde Francesca von Rimini –“
„Herr Hauptmann!“ sagte Hulda verlegen.
„Und Sie sind allein hier?“
„Nur mit meinem Vormund, der dort beschäftigt ist das Echo des Amphitheaters mit den Namen aller Hauptfirmen der Hansestadt Bremen zu ermüden.“
„Jetzt müssen Sie mir beichten; hier giebt es kein Entrinnen mehr.“
„Die Umstände, die mich damals bestimmten –“
„Mögen sein, wie sie wollen,“ warf der Hauptmann ein, „das ist gleichgültig. Ich habe ein Jahr lang Ihr Bild im Herzen getragen, ein Jahr lang über dem Räthsel gebrütet, welches den Namen Hulda Freiberg führt. Länger will ich mich nicht mit Schatten quälen – und ich habe ein Recht auf Enthüllungen, da ich sie selbst Ihnen zu geben vermag.“
„Sie selbst, Herr Hauptmann?“ fragte Hulda zweifelnd.
„Ich selbst, und wer weiß, ob das, was ich Ihnen mittheilen kann, nicht in Ihr Leben eingreift!“
„Das ist kaum möglich,“ sagte sie lächelnd, „ich habe den Schleier des Geheimnisses, in das ich mich hüllen mußte, Ihnen gegenüber doch niemals gelüftet, und so neugierig das Bergstädtchen auch ist, es wird doch an seiner unbefriedigten Neugierde, was mich betrifft, noch lange zehren müssen.“
„Sie irren, mein Fräulein. Ihr Schleier ist an einer Stelle durchsichtig; um es zu beweisen, brauche ich blos einen Namen zu nennen.“
„Und dieser Name?“
„John Smith,“ sagte der Hauptmann mit nachdrücklicher Betonung.
Hulda fuhr zusammen. Glücklicherweise ertönte gleichzeitig mit den Worten des Hauptmanns ein Böllerschuß, den der Vormund hatte abbrennen lassen; der Wiederhall sprang von Fels zu Fels, wie ein endloser Donner.
„Wie ich erschrocken bin!“ sagte sie, indem sie die Schuld auf den Lärm des Böllers schob.
„Ihr Vormund wird sich von dem Echo sobald nicht trennen,“ erwiderte der Hauptmann; „wie ich sehe, läßt er den Böller noch einmal laden. Ich beschwöre Sie, mein Fräulein – ein so günstiger Augenblick kehrt uns sobald nicht wieder – reden Sie, brechen Sie jetzt Ihr Schweigen! Das Glück Ihres Lebens steht auf dem Spiel, und ein alter vergessener Freund will nicht in die Einsamkeit zurückkehren, wo er längst seine thörichten Wünsche und Hoffnungen begraben hat, ohne diesen Augenblick für sich und auch für Sie, mein Fräulein, benutzt zu haben.“
„Woher kennen Sie Herrn John Smith?“ fragte Hulda.
„Das ist zunächst mein Geheimniß. Ich kenne ihn nicht, aber glauben Sie mir, Sie sollen ihn durch mich kennen lernen.“
Hulda sah den Hauptmann mit fragenden Blicken an, und seine letzten Worte erweckten in ihr eine unbestimmte Hoffnung; es schien ihr jetzt eine Pflicht, ihr Schweigen zu brechen. Sie waren ungestört; der Vormund legte ein ganzes Capital in Böllerschüssen an und schien über die reiche Verzinsung durch ein höchst solventes Echo eine kindische Freude zu empfinden: denn man hörte ihn von fern mehrmals applaudiren, als wäre das Echo eine Primadonna oder Ballettänzerin. Freilich wurde die Erzählung Hulda’s oft zur Unzeit durch das lärmende Vergnügen unterbrochen; denn die Interpunction, welche die Böllerschüsse anbrachten, war keineswegs correct.
„Wie ich Ihnen erzählte,“ begann das anmuthige Mädchen, „habe ich meine Eltern verloren; mein Vormund, ein reicher Onkel in Bremen, nahm mich zu sich und verwaltete mein kleines Vermögen; es ist derselbe Herr, der dort so unermüdlich die Gebirgsartillerie commandirt. Trotz mancher Eigenheiten, zu denen auch ein zu häufiger Besuch des Bremer Rathskellers gehört, war er freundlich gegen mich, eine Freundlichkeit, welche nur, wenn die zwölf Apostel ihn in eine erregbare Stimmung versetzt hatten, bisweilen heftigeren Ergüssen Raum gab. Im Uebrigen ist er ein Ehrenmann, nur von engherzigen Lebensansichten. Da traf es sich, daß ein junger Geschäftsfreund aus London zu ihm kam –“
„John Smith,“ warf der Hauptmann dazwischen.
„Derselbe,“ sagte Hulda.
„Ich habe ihn gesehen, bei Ihrem Abbild, der kalten, steinernen Lautenschlägerin, gesehen mit seiner Byron’schen Cravatte, diesen fliegenden Engländer.“
„Ich flößte ihm eine mir unerklärliche Theilnahme ein, denn unsere Naturen sind grundverschieden; mir widerstrebte sein überlegener, spöttischer Ton. Er glaubte, weil er die Welt gesehen, weil er im Osten, wie im Westen zu Hause war, alles verachten zu können, was Anderen heilig ist. Er kam öfter nach Bremen und blieb länger dort, als seine Geschäfte nöthig machten; er nannte mich seine Lotosblume, doch ich hatte keine Lust, mich in einen Sumpf verpflanzen zu lassen, wo diese Blumen mit ihren indischen Göttern blühen. Versumpft erschien mir sein ganzes Wesen, geistig todt, trotz der aufflackernden Lichter des Witzes. Unglücklicher Weise nahm die Verzauberung zu, in die ich ihn versetzt hatte; er hielt bei meinem Onkel um meine Hand an. Ein Geschäftsfreund, eine glänzende Partie – Sie können sich denken, mit welchem Jubel der Antrag aufgenommen wurde. Der Onkel hielt mein Sträuben für eine kindische Laune; es begann eine Zeit der Marter für mich, die mich oft in Verzweiflung versetzte.
Da kam ein Zwischenfall. Ein kaufmännisches Unternehmen des Onkels war gescheitert; er wurde dadurch nicht [867] nur tief geschädigt, sondern gerieth in vollständige Bedrängniß – die helfende Hand von John Smith allein konnte ihn retten. Dieser war zartfühlend genug, mich als Preis seiner Hülfe zu verlangen. Ich wußte keine andere Rettung für mich, als die Flucht; meine Ersparnisse reichten zur Reise aus; mein Clavierspiel genügte, um mir fortzuhelfen. So zerriß ich mit einem kühnen Entschlusse unerträgliche Bande; ich entkam insgeheim und unbemerkt und hoffte in dem fernen Bergstädtchen vor allen Nachforschungen sicher zu sein. Sie hatten meinen blauen Augen und blonden Haaren wohl nicht solche Vermessenheit zugetraut?“
„Vermessenheit? Vielleicht eher als –“
„Herzlosigkeit, wollen Sie sagen? Ich reiste nicht ab, ohne ein Schreiben zu hinterlassen, in welchem ich sagte, daß ich mir ungestörte Bedenkzeit verschaffen wolle, doch daß ich bestimmt niemals Herrn Smith meine Hand reichen würde, wenn er jetzt meinen Onkel nicht aus seiner Verlegenheit rettete. Er hat es gethan; wir sind ihm Dank schuldig.“
Der Hauptmann schleuderte mit seinem Stocke einen Kiesel, der im Wege lag, herunter in die Arena des Amphitheaters.
„Doch auch mein stilles Asyl wurde verrathen. Ein reisender Bremer Kaufmann, der die ganze Provinz mit seinen Kaffeesorten unsicher machte, war auch bis in das Städtchen gedrungen und hatte mich zufällig auf der Straße gesehen. Er berichtete das in Bremen, und die Folge davon war, daß der Vormund und Herr John Smith mich zurückholten; ein fernerer Widerstand war unmöglich, er hätte mich mit den Gerichten in Conflict gebracht.“
„Und Sie sagten mir kein Wort –“
„Was ich in dem Städtchen erlebte, kam mir wie ein schöner Traum vor. Und so wollte ich auch Ihnen wie eine Traumgestalt entschwinden, keine Verwirrung bringen in ein so schönes glückliches Leben.“
„Glücklich? O nein,“ sagte der Hauptmann, „ein Leben ohne Wünsche ist vielleicht Glück, doch es ist ein dumpfes Glück, ein Glück der Unwissenheit. Es giebt auch eine Unwissenheit des Herzens, doch wenn einmal die Ahnung eines schöneren Lebens über uns gekommen ist, wenn glühende Wünsche unser Herz erfüllen, dann, ja dann – doch wo ist Ihr John Smith?“
„Gegenwärtig in Adersbach, wo er sich an Backhühnern und Ungarwein gütlich thut. Er wollte uns nicht hierher begleiten; er hätte nicht Lust, sich bei dem durcheinander geworfenen Kegelspiel der Weckelsdorfer Felsen zu langweilen.“
„Er ist Ihnen hierher gefolgt? So ist er wohl Ihr Bräutigam?“ fragte der Hauptmann zögernd.
„Er betrachtet sich vielleicht so; auch hege ich für ihn einige pflichtschuldige Dankgefühle in meinem Herzen, doch seit ich edle Menschen kennen lernte – was haben Sie mir über ihn mitzutheilen? Woher wissen Sie von ihm?“
„Er wurde erkannt, als er auf Ihrem Balcon stand.“
„Erkannt – und von wem?“
„Von einer meiner Schülerinnen, von Gabriele.“
„Gabriele, immer Gabriele!“ rief Hulda aufgeregt. „Bei jedem Schritte muß ich ihr begegnen.“
„Das arme Mädchen!“
„Arm – und von Ihnen bedauert? Mir kam sie sehr reich vor, reich an Geist und Bosheit. Doch sie und John Smith – wie findet sich das alles zusammen? In welche geheimen Intriguen bin ich verstrickt? Und Sie, der edelste aller Menschen, Sie hätten mit die Hand im Spiele?“
„Gabriele schenkte mir ihr volles Vertrauen.“
„Ich zweifle nicht daran,“ sagte Hulda erblassend mit einem feindlichen Blicke, der ihre sonst so morgenhellen Züge entstellte.
„Gabriele kennt John Smith; sie hat ihn in der Residenz kennen gelernt, als sie dort Gouvernante war. Er hat ihr seine Liebe erklärt.“
„Unmöglich!“ rief Hulda in heller Entrüstung.
„Er hat ihr schriftlich sogar die Ehe versprochen.“
„O diese Gabriele! Sie erzählt ja die reizendsten Märchen, eine allerliebste Scheherezade! Und Sie glauben –“
„Ich glaube es, weil ich den Brief von John Smith gelesen, weil ich ihn längere Zeit in Händen hatte und ihn jeden Augenblick wieder erhalten kann.“
„Von wem?“ fragte Hulda.
„Von Gabriele.“
„Sie correspondiren mit ihr?“
„Bisweilen.“
„O mein Gott! Ich wußte, daß dieses Mädchen mir Unheil bringt.“
„Unheil? Das nennen Sie Unheil? Ist es nicht ein Glück, seine Freunde kennen zu lernen?“
Hulda stand eine Zeitlang in Gedanken verloren.
„Sie sind überzeugt, daß jener Brief von John Smith geschrieben worden?“
„Gabriele lügt nicht. Als sie den Brief erhalten, kam es zu einer Begegnung zwischen Beiden, einer Liebesscene, welche belauscht wurde und das Mädchen um seinen Ruf und seine Stellung brachte. Doch statt sein Versprechen zu erfüllen, verließ er die Residenz am Tage darauf und gab der Geliebten nie mehr ein Lebenszeichen. Sie kennen jetzt John Smith.“
Es trat eine längere Pause ein. Der Hauptmann köpfte mit dem Stocke einige Disteln und begann, als Hulda noch immer schwieg, sogar eine Silberdistel, die mit ihrem Blumenstern am Boden festgewachsen schien, aus der Erde zu graben.
„Kommen Sie zu meinem Onkel!“ sagte Hulda dann mit entschlossener Miene. „Er ist ein Ehrenmann. Ich glaube, Sie haben mir die Freiheit wiedergegeben.“
Eben zog der Bremer Kaufmann die Börse, um die Böllerschüsse zu bezahlen, welche das Amphitheater zu seiner Freude und auf seine Kosten bis in seine Grundfesten erschüttert hatten. Er sah nicht ohne einiges Befremden seine Nichte im Geleite eines fremden Mannes herankommen. Der Hauptmann wurde als der Sprachlehrer aus dem Bergstädtchen vorgestellt, und so gingen sie weiter in freundlichem Gespräch, vorbei an den Obelisken und Pyramiden, den Felsenzungen und Felsennasen der phantastischen Trümmerstadt. Als sie durch das sogenannte Sibirien kamen, wo in den dunklen Felsgängen ein Eiseshauch weht und ein Häufchen Schnee dem heißesten Sommer trotzt, rief Hulda aus:
„So sieht es in manchen Herzen aus, in denen das Eis nimmer schmilzt.“
„Caramba,“ sagte der Hauptmann, „Sie haben Recht.“
Der spanische Ausruf gewann ihm augenblicklich die Theilnahme des Großhändlers, welcher längere Zeit in Südamerika, in Peru und Ecuador, zugebracht hatte. Bald war eine Unterhaltung in fließendem Spanisch in bestem Gange; Hulda hörte mit Freuden zu, obschon sie kein Wort davon verstand. Im lebhaften Gespräch erreichten sie das Gasthaus, wo der Kaufmann es sich nicht nehmen ließ, den theuersten Ungar zu bestellen. Mitten in einem Getümmel von Gästen, bei einem Glase köstlichen Tokaier, machte der Hauptmann seine Eröffnungen über John Smith. Hulda sah an dem Schreck des Onkels, daß der entscheidende Schritt geschehen war; er schien anfangs noch Bedenken zu hegen, die wurden aber durch den Hauptmann siegreich widerlegt.
„Kommen Sie alsbald mit nach Adersbach!“ fuhr der Kaufmann plötzlich in Deutsch heraus; „canario! Die Sache muß noch heute in’s Reine kommen. Es ist Platz in unserem Wagen – seien Sie unser Gast!“ – –
Bald wühlten die Räder der eleganten Equipage den Staub auf den holperigen Landwegen auf, welche die beiden Felsenstädte mit einander verbanden. Der Mond ging blutroth am Horizonte auf; es war ein sternenheller Abend. Der Onkel war auf dem Rücksitz eingeschlafen, von dem Tokaier in süße Träume gewiegt. Der Hauptmann und Hulda saßen lange stumm neben einander.
„Haben Sie bisweilen meiner gedacht?“
„Ach, Ihr reizendes Stübchen war mir eine Welt,“ sagte Hulda, „so unter den Geistern aller Völker und Zeiten zu leben im Verkehr mit allem Schönen und Großen, was sie geschaffen und gedacht!“
„Leider gilt Ihre Theilnahme nur dem Stübchen, nicht dem unheimlichen Bewohner.“
Hulda schwieg. Der Wagen erhielt von einigen Steinen des Weges einen so gewaltigen Ruck, daß der Onkel zu erwachen drohte; doch die Gefahr ging vorüber.
„Und wenn ich Ihnen nun sage, daß Sie das Glück dieser freundlichen Idylle zerstört haben, daß mir alle diese Sprachen [868] jetzt oft erscheinen wie eine babylonische Verwirrung, ein sinnloses Durcheinander der sich abquälenden Menschheit, daß mich ein Zug unbegrenzter Sehnsucht in die Ferne zieht – ich weiß selbst nicht wohin, doch nein, ich weiß es nur zu gut – zu der feindlichen Macht, die meines Lebens stilles Genügen zerstört hat.“
Hulda’s Augen leuchteten. „Sie sprechen wohl von Gabriele?“ warf sie diesmal mehr freundlich als bitter ein.
„Und wieder wie damals vor der Mühle weisen Sie mich kalt zurück. So sagen Sie es doch wenigstens, daß ich Ihnen gleichgültig bin, daß Sie nichts für mich empfinden können!“
„Ich kann nicht lügen,“ flüsterte Hulda.
„O, das war nur ein geflüstertes Wort, doch es ruft mächtig jedes Echo in meinem Herzen wach. Ich bin Ihnen nicht gleichgültig, und dennoch weisen Sie mich zurück.“
Wieder regte sich der Onkel; der Hauptmann hätte ihm in diesem Augenblicke den giftigsten Schlaftrunk geben mögen und sein Seelenheil auf’s Spiel gesetzt. Glücklicher Weise siegte noch einmal der ungarische Trank über die böhmischen Landwege.
„Sie wissen jetzt,“ sagte Hulda, „was mich damals verstummen ließ. Es war die Sorge um Ihre Ruhe. In unklare, verworrene Verhältnisse hätte ich Sie hineingezogen, und wenig Aussicht war auf eine glückliche Lösung. Jetzt, ja seit heute ist es anders geworden –“
Der Hauptmann äußerte seine Freude über das Wort in Ausrufungen aus drei Sprachen und einem warmen, nicht unerwiderten Händedruck.
„Anders – wenn Sie mir Ihre Neigung bewahrt haben, wenn nicht Gabriele –“
„Corpo di bacco!“ rief der Hauptmann ärgerlich, „Mitleid ist nicht Liebe.“
„Nun denn,“ sagte Hulda mit warmer, wachsender Innigkeit, „so mögen Sie es erfahren, daß ich seit unserer Trennung keinen anderen Gedanken hatte, als Sie, daß ich in Sehnsucht Ihrer dachte. Nichtssagend und leer kam mir diese Jugend vor, welche die Begeisterung für das Edle und Schöne verloren hat, alt, abschreckend in ihrer geistigen Verknöcherung, in der kläglichen Lüge, mit der sie Liebe und Bewunderung heuchelte. Da dacht’ ich an Sie, an die Jugendfrische Ihres Geistes und Wesens. Was war nun Bremen und Hamburg, Calcutta und New-York? Ich warf das Städtchen in die Wagschale, und sie sank in unergründliche Tiefen hinunter – mein Alles, mein Leben!“
Der Hauptmann besiegelte dieses Geständniß mit einem feurigen Kuß. Er wunderte sich, daß über sein unerhörtes Glück nicht die Sterne aus ihren Bahnen fuhren; er sehnte sich nach einem mitfühlenden Freunde, und wäre es nur sein Skarnikatis.
Der Onkel fuhr auf und rieb sich die Augen – ein Hofhund hatte mit lautem Geheul angeschlagen; der Wagen rasselte über das Pflaster; man war in Adersbach. John Smith stand, eine feine Havanna rauchend, an der Thür des Wirtshauses.
„Nun, wie geht es den Naturwundern da drüben? Es sollen wunderbare Zahnstocher sein, welche dieser schlesische Gott – Rübezahl heißt er, glaube ich – bisweilen aus Langerweile benutzt. Ich langweile mich riesig, ohne ein Gott zu sein.“
Der Empfang von Seiten Hulda’s und des Kaufmanns war kalt genug, Smith ließ sich indeß dadurch nicht stören; dem Hauptmann gegenüber spielte er den indischen Lord und zeigte freundliche Herablassung. Doch der alte Kaufmann besaß feste Zähigkeit in seinen Vorsätzen; ohne solche Zähigkeit wird man kein Millionär; er wollte das Deck noch heute klären, wie er seiner Nichte wiederholt versicherte, und nahm Smith zu einer wichtigen Unterredung bei Seite. Dieser ließ die Cigarre ausgehen, denn er glaubte, es handle ach um ein glänzendes überseeisches Geschäft. Die Unterredung dauerte eine Stunde lang. Als die beiden Nabobs von einem Spaziergang in die Felder zurückkehrten, bestellte John Smith augenblicklich Pferde und Wagen. Ueber den Inhalt des Gespräches verlautete wenig; Smith erklärte nur, plötzlich abreisen zu müssen, und setzte sich noch zu kurzem, behaglichem Gespräche an den Tisch. Er leitete dasselbe unbefangen auf Gabriele, und Hulda machte aus ihrem Widerwillen gegen das geistig scharfe, aber herzlose Mädchen kein Hehl. Der Wagen des Engländers war vorgefahren.
„Es freut mich, daß sie Ihnen mißfällt, liebe Hulda. Wir haben den gleichen Geschmack. Im Uebrigen ist sie meine Braut, und ich werde sie heirathen. Man muß sein Wort halten; zwei schöne Augen ließen mich dies vergessen.“
Er drückte Hulda freundschaftlich die Hand und empfahl sich, ein Lied trällernd. Von dem schweigsamen Onkel erfuhren sie nur, daß Smith aus seinem Verhältniß und seinem Eheversprechen kein Hehl gemacht, dieses letztere indeß nur für eine Uebereilung erklärt habe.
Im Feuer des ersten Entzückens zögerte der Hauptmann nicht, um Hulda’s Hand anzuhalten. So sah der Gatte freilich nicht aus, welchen der Onkel für seine Nichte im Geiste erkoren hatte, und die Mienen desselben verfinsterten sich in bedenklicher Weise. Er gestand nun, daß er ihn für einen Ehrenmann, aber die Partie für seine Nichte nicht geeignet halte. Ein junger englischer Kaufherr, mit Pflanzungen in Brasilien und einer Estancia in Buenos Ayres mit unermeßlichen Rinderheerden, war sein Ideal gewesen. Er versprach, sich den Antrag, der ihm so plötzlich gekommen, zu überlegen. – –
Monate vergingen; die Brieftauben der Liebe flogen hin und her. Hulda’s zärtliche Zuschriften enthielten Versicherungen ausdauernder Liebe, doch sprachen sie stets von des Onkels hartnäckiger Abneigung, seine Zustimmung zu geben. Endlich kam ein entscheidendes Schreiben. Der Onkel sehe ein, daß er auch den Gerichten gegenüber seine Weigerung nicht aufrecht erhalten könne; er werde der Hochzeit kein Hinderniß in den Weg legen, aber er ziehe seine Hand ab von seiner Nichte, und auf jede Erbschaft müsse sie verzichten. Die Zinsen ihres eigenen, sehr bescheidenen Vermögens werde er ihr nicht entziehen; man erwarte den Hauptmann in Bremen.
Hell brannten die Freudenfeuer in Kopf und Herzen des braven Mannes. Was kümmerten ihn Erbschaft und Zinsen? Sah er doch aus jeder Zeile, wie er von dem reizenden Mädchen geliebt wurde! Das war ein Hin- und Herlaufen; Skarnikatis hatte immer Sonnenschein im Gesichte, der allen Zofen in den Nachbarhäusern auffiel; ja diese wollten sogar einmal eine Thräne in seinem Auge bemerkt haben, die sie nach genauesten Untersuchungen nur für eine Freudenthräne halten konnten; irgend ein Leid war ja dem treuen Diener nicht widerfahren.
Der Hauptmann miethete ein kleines Quartier mit der Aussicht auf die Berge; die Bedientenstube durfte nicht fehlen, und wenn die anderen Stübchen deshalb noch so eng wurden; denn nie hätte er sich von Skarnikatis getrennt. Er sicherte sich eine größere Zahl von Schülern und Schülerinnen, hoffte, daß auch Hulda ihre Clavierstunden fortsetzen würde, und begab sich dann mit seinem litthauischen Freunde auf die Reise nach Bremen. Er hielt es für ein glückliches Vorzeichen, daß an diesem Tage gerade seine italienische Woche begann. Seine Regimentsuniform mit allen Orden hatte er mitgenommen.
Der Empfang am Bahnhofe in Bremen war sehr freundlich; der Onkel schien es für eine Ehrensache zu halten, seine Abneigung gegen die Wahl seiner Nichte keineswegs zur Schau zu tragen. Bei der Vorfeier und der Feier der Hochzeit selbst waren die angesehensten Bremer Patricier mit ihren Frauen und Töchtern zugegen. Der Hauptmann war tief bewegt über die Auszeichnungen, die ihm zu Theil wurden, über die Herzlichkeit, mit der man ihm entgegenkam.
Zurück in das stille Städtchen! Er rüstete am Tage nach der Hochzeit die Abreise und sprach dem Onkel seinen herzlichen Dank dafür aus, daß er, obgleich er die Heirath nicht gebilligt, eine so großartige Hochzeitsfeier veranstaltet habe, die allerdings mit den bescheidenen Lebensverhältnissen, in die er Hulda einführe, in auffallendem Widerspruche stehe. Der Onkel lud ihn ein, noch einen Tag zu bleiben und die Villa in Augenschein zu nehmen, die er sich vor der Stadt habe bauen lassen.
Es war ein schöner Sommertag, als sie hinausfuhren. Schon von der Heerstraße aus sahen sie hinter dem eleganten Gitter hochwipflige Bäume, hinter denen sich das Landhaus verbarg. Da, über reizenden Baumanlagen und Terrassen, die mit mächtigen Oleanderbäumen geschmückt waren, erhob sich der säulengetragene stattliche Bau, gekrönt von einer neunfenstrigen Rotunde. Den Hauptmann ergriff ein Gefühl des Bangens und schwermüthiger Bedrängniß. An so glänzende Verhältnisse war Hulda gewöhnt – wie würde sie sich zurechtfinden in einem ängstlich kleinen, auf den täglichen Erwerb angewiesenen Leben!
[869] Zwischen diesen Gefühlen schwankend, folgte der Hauptmann der Führung des Onkels, zunächst durch die reizende, blumengeschmückte Veranda in eine Reihe von Zimmern, die neu und elegant möblirt, mit prächtigen Tapeten und Teppichen geschmückt waren. Das eine der Zimmer schmückte ein schöner Concertflügel; der Hauptmann wollte seinen Augen nicht trauen, als er im Käfig denselben Vogel erblickte, der ihm gegenüber im Fenster gehangen, unter derselben Epheuumrankung; ja, war es möglich? da stand ja die Lautenschlägerin von Epheu umrankt, ganz wie ihm gegenüber auf dem Balcon.
„Das ist Hulda’s Zimmer, wenn sie zum Besuche kommt,“ sagte der Onkel erläuternd.
Ehe sie die Treppe hinaufstiegen, mußte der Hauptmann sich noch das Bedientenzimmer ansehen. Es war sehr sauber [870] und geräumig und mit jeder Bequemlichkeit ausgestattet. Auch bemerkte er zwei große Bilder; das eine stellte ein Artilleriemanöver vor, das andere eine Elenjagd. In dem Stangenreiter des einen Geschützes auf dem ersten Bilde, sowie in einem Hülfsjäger auf dem zweiten glaubte er die breiten Gesichtszüge seines treuen Dieners wiederzuerkennen.
„Das ist für Skarnikatis, wenn Ihr hier zum Besuche kommt,“ erläuterte der Onkel.
Diese Aufmerksamkeit rührte den Hauptmann so, daß ihm die Thränen in die Augen traten; er belohnte sie mit einem herzlichen Händedrucke.
Nun ging es die Treppe hinauf; doch was der Hauptmann hier erblickte, war ganz geeignet, ihn außer Fassung zu setzen.
Unter einer Kuppel, die ein schönes Oberlicht gewährte, befand sich eine Rotunde, von welcher neun fächerförmige Ausstrahlungen nach den Fenstern zu gingen. Diese durch Zwischenwände geschiedenen Räumlichkeiten konnten als eben so viele Zimmer betrachtet werden. In der Mitte der Rotunde stand ein großer runder Tisch, mit Schreibzeug jeder Art versehen. Ueber jedem Eingang nach den Seitenräumen befanden sich Vorhänge in bunter Farbe; der Hauptmann erkannte bei näherem Hinblick, daß dieses die Landesfarben waren, die seine Pfeifengalerie schmückten. Er schritt in das französische Zimmer; an beiden Seiten standen Repositorien mit prachtvoll eingebundenen Werken der französischen Literatur, unterbrochen nur auf der einen Seite von einem Sopha, über dem kostbare Meerschaumköpfe mit französischen Quasten hingen, auf der andern von einem Stehpult. Er schritt in das englische Zimmer; hier trugen die Repositorien die ausgesuchtesten Werke der englischen Literatur und die Quasten der Pfeifen die englischen Landesfarben. Fast erschrocken über diese Entdeckung und zweifelnd an seinen gesunden Sinnen, schritt der Hauptmann von Zimmer zu Zimmer, in das spanische, italienische, russische, schwedische, polnische, türkische, griechische; überall dieselbe Einrichtung, überall dieselbe glänzende Bibliothek, auch wo es sich um die seltenen Werke der wenig bekannten Sprachen handelte.
„Sesam, thu’ Dich auf! Aber träum’ ich denn?“ rief der Hauptmann, als er zu dem Onkel und seiner jungen Frau von seiner Wanderung zurückkehrte. „Es ist unmöglich; es kann nur ein Traum sein.“
„Aber glaubtest Du denn, wackerer Schwiegersohn,“ fuhr der Onkel fort, „daß ich den Liebling meines Herzens, so viel Sorgen er mir auch gemacht, daß ich meine Hulda in die Welt hinausziehen lassen würde, ohne für sie und den Gatten ihrer Wahl zu sorgen? Diese Wahl – ich gestehe es – hat mich anfangs befremdet; sie entsprach nicht meinen Erwartungen, doch der eine Gedanke: das ist ein Ehrenmann – schlug alle Bedenken nieder. Fast schien es mir strafbar, daß ich sie hegen konnte; ich mußte gut machen, was ich verschuldet hatte. Diese Villa, lieber Schwiegersohn, gehört Dir und Deiner Frau; sie ist Euer Hochzeitsgeschenk, und herzlich freu’ ich mich, daß ich Euch in meiner Nähe habe.“
Der Hauptmann, immer mehr verwirrt, stotterte Worte des Dankes und küßte sein liebes Weibchen. Dann aber kamen neue Skrupel und Zweifel über ihn.
„Doch das Quartier, das ich dort schon gemiethet habe –“
Onkel und Nichte konnten ein heiteres Lachen nicht unterdrücken, daß sich der brave Mann so wenig in seine neuen Verhältnisse zu finden wußte.
„Ihr lacht? Der Onkel mag lachen! Der ist ein reicher Mann. Doch wir? Was sollen wir thun? Dort habe ich meine Privatstunden; ich fand jetzt neue Schüler und Schülerinnen. Und hier? Wie sollen wir in dieser herrlichen Villa leben? Dazu muß man reich sein.“
„Er hat nicht Unrecht, der brave Schwiegersohn,“ sagte der Onkel schmunzelnd, „doch warum ist er so leichtsinnig und stürzt sich in eine Ehe, ohne sich nach den Verhältnissen seiner Braut zu erkundigen? Bester Hauptmann, Hulda ist ja Erbin einer halben Million, die ich für sie verwalte, und vom heutigen Tage ab erhaltet Ihr die vollen Zinsen ihres Vermögens.“
„Ich bin glücklich,“ rief Hulda, „Du liebtest ein armes Mädchen um seiner selbst willen; Andere liebten mein Geld. Diese Liebe verbürgt mir ein dauerndes Glück.“
Und in herzlicher Umarmung konnte der Hauptmann die Betäubung verbergen, in die ihn diese unerwartete Enthüllung versetzt hatte.
„Doch so innig ich Dich liebe, ich will nicht blos der Mann meiner Frau sein. Ich habe ein großes Werk unter der Feder, ein militärisches Lexikon in neun Sprachen; jetzt habe ich Muße, es zu vollenden; es bringt mir einen sicheren Gewinn.“
„Ohne Sorge, mein Freund! Doch die Privatstunden hören auf,“ flüsterte Hulda.
„Nicht alle,“ sagte der Hauptmann, indem er sie an’s Herz drückte, „der Cursus, der jetzt beginnt, soll erst mit unserem Leben enden.“
Die schönsten Flitterwochen folgten. – Das junge Paar hörte, daß Smith Gabriele geheiratet habe. Bald aber kam die Nachricht, daß er wenige Tage nach der Hochzeit nach Calcutta abgereist sei, von wo er erst nach langen Jahren zurückkehren werde. Mrs. Smith blieb zurück und hatte an ihrem Namen zu leiden, da sie durchaus die Zisch- und Gurgellaute der englischen Sprache nicht zu beherrschen vermochte; eine so wenig englische Mistreß erregte besonders bei den echten Söhnen John Bull’s achselzuckendes Mitleid. Im Uebrigen wußte sie sich über die Abwesenheit ihres Gatten, die sich in ein chronisches Uebel für ihr ganzes Leben verwandelte, zu trösten. Es fanden ihretwegen mehrere Duelle statt, und die Chronik der Residenz kam nicht zu Athem, wenn sie von ihr zu erzählen hatte.
Der Hauptmann und seine junge Frau lebten in ungestörtem Glück und Einverständniß in der reizenden Villa. Bald fanden sich kleine Schüler und Schülerinnen ein, welche, zum Hohn für alle Grammatik, die Muttersprache mit den Ausrufungswörtern begannen und dann erst zu den Hauptwörtern Papa und Mama übergingen.
„Du meine zehnte Muse!“ sagte der Hauptmann oft, wenn seine Hulda traulich an seinem Arbeitstisch saß. „O, schöner als alle neun Sprachen, die ich so lange studirt, ist die zehnte, die Du mich gelehrt hast: die Sprache des Herzens.“