Dorette Rickmann

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
>>>
Autor: Clara von Sydow
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Dorette Rickmann
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49–52, S. 797–800, 813–819, 829–834, 858–861
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[797]
Dorette Rickmann.
Eine Stralsunder Geschichte von 1786.
Von C. v. Sydow.


1.

„Vetter, Ihr werdet doch nicht! Will der Hallunke sich vor des Thorschreibers kleiner Bude vorbeischmuggeln! Setzt Euch doch, Vetter! Dorette! Bring' Licht, Mädchen! Man lebt doch keinen Tag hin, daß nicht ein Wunder passirt, wenn man gleich noch so alt wird.“

Dies alles wird in dem freundlichsten Tone von der Welt gesprochen, während die kleine gebückte Gestalt des Thorschreibers bemüht ist, einen großen breitschulterigen Mann hinter sich her in’s Zimmer zu ziehen.

„Ja, Thorschreiber, der soll kein ehrlicher Kerl heißen, der's über's Herz bringen kann, Euer gutes altes Gesicht so links liegen zu lassen. War auch mein Ernst nicht, Alter! Jochen ist eine honnette Haut – ich gehe bis zur Freundschaft mit ihm um – den mag ich schon allein in die Stadt fahren lassen; wir laden doch nicht vor morgen ab.“

Dann wird das Fenster geöffnet, und es heißt: „Fahr' er man zu, Jochen.“

Und nun setzt sich der Inspector Strohmeyer von Ruschwitz dem Thorschreiber gegenüber an den Tisch, und Beide schütteln sich in der Abenddämmerung noch einmal herzhaft die Hände.

Einige Secunden später tritt des Thorschreibers Tochter mit dem gewünschten Lichte in das Stübchen.

„Guten Abend!“ sagt sie leichthin und wirft einen kurzen, scharf beobachtenden Blick auf Strohmeyer.

„Ja – und das ist nun meine Tochter, Strohmeyer!“ spricht der Thorschreiber, und blickt fast ehrfurchtsvoll auf das hübsche Mädchen, dem das zierliche weiße Häubchen so gut zu Gesicht steht.

Dorette ist nie übertrieben zärtlich zu ihm; sie ist wild und eigensinnig und führt eine lose Rede, aber sie ist sein einziges Gut – ist Alles, was ihm von seiner Familie geblieben, und er hat das geweckte Mädchen gut unterrichten lassen. Sie hat alles gelernt, was Johanne Seiler, die reiche Tochter des Bürgermeisters, und die Töchter des Kaufmanns, der dort drüben an der anderen Seite des Stadtthores wohnt, gelernt haben. Er hat seine sauren kleinen Ersparnisse hingegeben, um die wehmüthige Freude zu genießen, sich das Mädchen geistig über den Kopf wachsen zu sehen.

„Sieh, Vetter Thorschreiber, habt Ihr ein schlankes Dirning! Beinah so schön wie Eure Sel'ge war, Thorschreiber.“

„Ja, die Nase ist ihr ein Kleines zu lang gerathen und die Zunge ein Kleines zu spitz, Herr Strohmeyer, aber leidlich schlank mag sie, mit Ihnen gemessen, wohl scheinen,“ sagte Dorette etwas schnell hin und setzte sich neben den Vater.

„Ho, ho!“ lachte der Inspector. „Sieh mal den Krauskopf an! Und mit 'Herr' Strohmeyer bleib mir doch fein vom Halse; ich bin Deines Vaters leiblicher Vetter, der Inspector Strohmeyer von Ruschwitz, und mich dünkt, Niemand ist genöthigt, sich Bedenklichkeiten zu machen, wenn er mich 'Ohm' heißt. Das kommt aber davon, daß man nur alle Vierteljahrhundert von dem verdammten Ruschwitz herunterreist. Zuletzt kennt einen Niemand mehr in der Stadt im Angesicht. Aber für den 'Herrn' laß' Dich nun 'mal ordentlich ansehen, Doring!“

Dabei streckte der alte Inspector die braune Hand nach des Mädchens Arme aus und zog sie etwas näher zu sich heran.

„Hübsch genug zum Küssen, Herr Oheim?“ fragt das Mädchen nach einer Weile gegenseitigen Anstarrens spöttisch. „Weswegen Ihnen nicht in den Sinn zu fahren braucht, daß ich Lust hätte, Sie mit Küssen zu tractiren,“ setzt sie schnell hinzu, als Strohmeyer Miene macht, die Sache zu probiren.

„Ja, nun hör' mir einer das gottvergess'ne Kind an, solch gottvergess'nes Mädchen!“ meinte der Thorschreiber lächelnd.

„Ein Teufelskind ist sie!“ schreit der Inspector und schüttelt sich vor Lachen, als ihm Dorette jetzt gewandt entschlüpft. „Wär' ich dreißig Jahre jünger, kämst Du mir nicht so davon.“

„Gut für Sie, daß Sie’s nicht sind!“ sagte sie stolz.

„Hör' das einer an! Du hast wohl schon einen Galan und künft'gen Eheherrn? Hahahaha!“

Dorette antwortet nicht; sie krümmt nur etwas verächtlich die Lippen, und um ihre feinen Nasenflügel zittert es einen Moment wie Spott und seltsame Leidenschaftlichkeit; denn sie denkt eines gewissen Herrn Putzbach, den der Thorschreiber nicht ungern als Eidam sähe und dem Dorette auch unfehlbar ihre Hand reichen würde, wäre sie wie andere fromme Bürgermädchen, denen des Vaters Wunsch Befehl ist.

„Wenn ich mein Johannes wär',“ sagt der Inspector, „ließ ich Dir das nicht so kaltblütig hingehn.“

„Ja, Vetter, sagt doch 'mal: Euer Johannes!“ fängt nun der Thorschreiber an.

„Ja, ja, mein Johannes,“ spricht Strohmeyer schmunzelnd, halb vor sich hin, halb zum Alten ihm gegenüber, und die Freude giebt seinem breiten, sonst etwas schlauen Gesicht ein unschuldiges Ansehen. „Was glaubt Ihr, Vetter Thorschreiber? Eines Inspectors Sohn, des alten Strohmeyer’s von Ruschwitz Sohn und [798] in Paris gewesen! Hm, hm. Alle Quartal einen Brief geschrieben, wie ihn Euch ein Schreibmeister aus der Stadt nicht feiner zurechtstilisirt, und ein Witz drin, daß Ihr meint, frisch Brunnenwasser spritzt Euch in die alte Visage. Kann jeden Tag mit einem gnädigen Herrn Grafen zurückkommen. Und dann bleibt er in der Stadt und sieht sich im Orgelspiel um, und was sonst zum Geschäft gehört. Und dann – so sollt's doch mit zehn Teufeln zugehen, wenn unser Johanning nicht eine fette Stell' bekäm'.“

Dorette ist aufmerksam geworden, und ihre Blicke heften sich fest auf den sprechenden Alten: das Herz wird ihr groß, wenn sie an Reisen denkt.

„Na, Vetter,“ fährt Strohmeyer fort, „und wann mein Junge erst hier ist, nehmt Euch seiner an! Zwar ist er ein Mann und kein Kind, aber ich denke denn doch, er hat sein altes Insulanerherz wieder mitgebracht und wird seine Verwandtschaft nicht in dem bunten Sündengarten draußen vergessen haben. 's sollt mir doch lieb sein, zu denken, daß er öfter des Abends in des Thorschreibers Bude sitzt. Dann kann er Euch selber sattsam von Allem, was er erlebt hat, Bescheid abgeben.“

Der Thorschreiber nickt und sagt, daß es ihm zu großer Ehre und Freude gereichen würde, wenn der weitgereiste junge Mann mit seiner einfachen Häuslichkeit vorlieb nehme, und Dorette sieht den Vetter schon im Geiste vor sich am Tische sitzen und ihr von den Wundern der berühmten Franzosenstadt erzählen. Sie kennt ihn noch nicht; denn als er vor drei Jahren eines frühen Morgens als Secretär des Grafen auf der Hinreise nach Paris durch's Thor kam, hat sie noch geschlafen, und früher hat es sich auch nicht fügen wollen, daß sie seine Bekanntschaft machte.

„Es kann recht nett werden, wenn der Vetter Johannes öfter kommt,“ meinte sie bei sich selbst und trat schneller denn zuvor das schnurrende Spinnrad.

„Hui! Das fliegt ja, als ob's für Geld ginge oder andern Tags zur Aussteuer im Linnenschrank schimmern sollte,“ neckt der Inspector. „Nicht zu hastig, Mamsell! Das rasche Treten thut Dir Schaden.“

„Das langsame mehr!“ sagt das Mädchen und wirft den Kopf zurück, als wollte sie einen dummen Gedanken abschütteln.


2.

Es ist Tags darauf, als Dorette und einige andere Mädchen von des Bürgermeisters Tochter aufgefordert werden, mit ihr und ihrer reichen Muhme, der verwittweten Frau Consul Gerhard, einen Lustgang in den außerhalb des alten Festungswalles gelegenen großen Kaffeegarten zu machen.

Wie bestimmt worden ist, haben sich die „jungen Frauenzimmer“ beim Bürgermeister versammelt, um von hier aus ihre ältliche Beschützerin gemeinsam abzuholen. Zu diesem Zwecke machen sie sich soeben auf den Weg.

Man hat in diesem Frühjahr kaum einen schöneren Tag gehabt. Die Mädchen sind in bestem Putz und in fröhlichster Laune. Ach, endlich kann man wieder einmal des Sonntags hinaus in den Kaffeegarten! Aber auch durch die Stadt zu gehen, ist heute schon ein Vergnügen. Die alten Giebel sehen doch ganz anders aus, wenn die scheue Aprilsonne sie verheißungsvoll streift, als wenn sie Winters grau und todt mit ihren eisbedeckten Schnörkeln in die schmutzigen engen Straßen hinabstarren.

Und alle Menschen, denen man begegnet, sind so lustig; wenigstens meinen es die Mädchen; denn nicht nur, wie man in den Wald hineinruft, so ruft's heraus – auch wie man den Leuten in's Auge schaut, so schaut's wieder heraus.

„Mädchen, mir passirt heute was!“ ruft Dorette.

„Wenn Du nicht aufhörst, so toll zu sein, Dora, kann Dir's wohl passiren, daß Du wieder, wie im vorigen Jahr, etwas im Garten verlierst, und der arme Herr Putzbach drei Stunden suchen muß, um es Dir wiederzubringen,“ antwortet Johanne Seiler, Dorettens besondere Freundin.

„Ich würde ihm das Vergnügen gönnen!“ und Dorette lacht so spöttisch, daß es den Anderen leid thut.

„Warum bist Du so schlecht zu ihm, Dorette?“ sagt die Kleine mit den stark gepuderten Haaren und den großen, etwas schmachtenden Augen.

„Schlecht auch noch! Ich erlaube ihm, mir in jeder Straße dreimal hinter einander zu begegnen, mich Winters Schlitten zu fahren, mich Sommers zu rudern und mir Almanachverse vorzuleiern, daß es zum Herzbrechen ist – aber vor Lachen – nicht vor Weinen. Er liest wie abgerichtet; der reine Staarmatz! – Außerdem ist es eine gute Empfehlung für einen künftigen Commerzienrath, der seit drei Jahren hinter seines Herrn Vaters Comptoirbüchern sitzt, daß er noch nicht herausrechnen kann, daß er und ich keine runde Zahl machen.“

„Ich möchte wissen, Dora, wen Du noch mal nimmst,“ meint die Kleine mit den Schmachtaugen.

„So – da geht Dir's gerad' wie mir,“ ist die etwas zögernd gegebene Antwort.

Dann lacht Dorette hell auf, und die Anderen antworten ihr im Chor. So geht es über den großen Marktplatz am Rathhause vorbei, dessen Façade mit den spitzen Verzierungen und runden Steinaugen ganz festtäglich schimmert. Aus der unteren, stets nach beiden Seiten der Stadt zu geöffneten Halle, die allgemein als Durchgang benutzt wird, treten eben einige junge Kaufmannssöhne, von denen Zwei in Greifswald Gottesgelehrsamkeit studirt haben. Sie grüßen die Mädchen und sehen Doretten bewundernd nach, die ihnen mit freundlicher Eilfertigkeit zunickt, aber die kleinen purpurrothen Lippen lächelnd dabei aufwirft.

Jetzt geht sie mit ihren Gefährtinnen rechts um die Ecke in die kurze Fährstraße, welche nach der See hinabführt.

Als man an des Thorschreibers Häuschen kommt, zaudert Dorette eine Secunde, kaum aber hat ihr schneller Blick den Vater hinter den Scheiben entdeckt und bemerkt, daß er ruhig das Zeitungsblatt, welches ihm der Herr Bürgermeister wöchentlich einmal schickt, vor sich auf den Knieen hält und darüber hinweg auf's Thor blickt, als sie den Kopf kurz umwendet, wie um zu sagen: „Vorwärts! Es ist Alles in Ordnung!“

Und nun eilen sie durch das alte plump behäbige Fährthor, das sich, blickt man nach der sonnigen Stadt und ihren seit dem Frühling neu aufpolirten Häusern zurück, mit seinen tausend Rissen und Borsten ausnimmt wie ein altes unförmiges Großmütterchen, welches man dicht vor das lachende Haus in den Sonnenschein gesetzt hat, damit ihm die junge Frühlingsluft neckisch über die tiefen Runzeln fahre.

Von der See weht es frisch herauf als die Mädchen hinaustreten. Freundlich drängen sich die Schiffe im leuchtenden Hafen, und breit hat sich die Nachmittagssonne auf der alten Brücke gelagert, sodaß man jeden Spalt, jeden handfesten Nagel, der die braunen Bretter zusammenhält, erkennen kann. Die blauen Wellen plätschern leise durch den Bodden, und am Ufer liegt der Schaum glitzernd, wie aufgerollte Schlänglein.

Der Weg zum Kaffeegarten und zur Wohnung der Muhme Gerhard führt eine Strecke weit links am Ufer entlang, aber Dorette meint, man könnte sich ja zuvor noch einmal auf der Brücke durchsonnen lassen.

An einem der Pfeiler, die am weitesten vom Ufer entfernt sind, ist mit starkem Tau ein Boot befestigt, das verführerisch hin und her schaukelt. Die Mädchen klettern hinein und setzen sich zierlich kokett auf die Bänke; nur Dorette und Johanne Seiler schlendern etwas hinterdrein und wollen, wie es scheint, auf der Brücke bleiben.

Dorette hat ihren Arm nachlässig in den der Freundin geschoben; es sieht aus, als lehne sich ihre hohe, überschlanke Gestalt nicht aus Müdigkeit, sondern aus Träumerei an Johanne's breite Schultern. Träumen liegt sonst nicht in Dorettens Wesen. Möglich, daß es die Frühlingssonne ist, welche das Mädchen verführt, heute so anders zu erscheinen.

Wie sie jetzt hinaus über die Bucht sieht, liegt eine ängstliche Erwartung, eine unruhige Sehnsucht in ihren Augen. Ihre Lippen bewegen sich wie spielend, und wenn sie athmet, scheinen auch sie sehnsüchtig anzuschwellen.

Plötzlich ziehen sich ihre Brauen wie in heftiger innerer Bewegung zusammen: „Ich möchte wissen, wie die Liebe ist!“ denkte sie. – Sie lacht, und dann hört sie auf zu lachen, und lächelt nur mild und leise vor sich hin. Sie sieht, wie sie zu den Füßen eines Mannes sitzt und den Kopf senkt. –

„Halt! Eins, zwei, drei!“ und damit ist sie im Boot, nachdem sie sich mit hastiger Grazie durch das Geländer hindurch gewunden hat.

„Um Gottes willen, Dorette, uns so zu erschrecken!“ rufen die Mädchen. [799] „Ja, warum sitzt Ihr Alle mit solchen Milchgesichtern da, als wolltet Ihr Euch gewaltig amüsiren und kämt nicht dazu? – Ihr jammert mich.“

Ein großes Gelächter antwortet ihr, von der man sich gern Alles gefallen läßt.

„Kinder, Ihr seid nicht sehr verwöhnt!“ sagte sie mit einem flüchtigen Stoßseufzer und mehr bedauernd als spöttisch. „Ihr lacht, wenn ich nur was sage.“

„Aber nun kommt zur alten Gerhard und in den Garten! Sonst complimentirt uns der Bootseigenthümer hier am Ende heraus!“ meint sie einige Minuten später und blickt zerstreut auf.

Gleich darauf wirft sie stolz den Kopf in den Nacken und ein kecker Spott fliegt über ihr bewegliches Gesicht.

„Putzbach! Siehst Du ihn, Dorette?“ rufen die Gefährtinnen von mehreren Seiten zugleich.

Dorette zuckt halb ungeduldig, halb kläglich die Achseln, erhebt sich eilig und klettert, den Anderen voran, zurück auf die Brücke.

„Der frisch geflochtene Zopf hängt wieder in melancholischer Länge über den untadeligen Sonntagsrock herab,“ sagt sie halblaut und wirft über die Schulter fort einen belustigten Blick auf Putzbach.

„Seht nur, ob dieser Zopf nicht Charakter hat! – Früher hatte er ein anmuthig Selbstbewußtsein, seit einiger Zeit aber ist er in sich gekehrt und kleinmüthig und seine reputirliche Länge beängstigt ihn. – Schon in Ansehung dieses Zopfes lohnte sich's, Putzbach's Gemahl zu werden. – Was meint Ihr, es müßte ein artig Vergnügen sein, ihn alle Morgen zu drehen.“

Unter ähnlichen Reden geht es schnell vorwärts, bis Dorette zuletzt wieder nachdenklich und träumerisch wird.

Putzbach, der am Hafen entlang gekommen ist und jetzt noch eine große Biegung desselben zu umschreiten hat, kann es nicht mit der anständigen Bürgern vorgeschriebenen Gangart vereinigen, die Mädchen sofort einzuholen, und folgt ihnen in einiger Entfernung. Erst im Kaffeegarten, als die Mamsells sich bereits unter dem Schutze der Muhme befinden, gesellt er sich zu ihnen.

Es ist ein buntes Getriebe auf Haupt- und Nebenpfaden des beliebten Vergnügungsortes: schöne schwedische Officiere schlängeln sich an würdigen Rathsherren und anderen Vertretern der Stadtobrigkeit vorbei. Elegant gekleidete Damen der vornehmsten Stände mit Steifrock, hoher, gepuderter Frisur und überladen verziertem Seidenkleid sehen vornehm lächelnd auf die einfachere Tracht der Bürgersfrauen herab. Später im Sommer wird sich die Gesellschaft des Kaffeegartens wieder an einzelnen Tischen gruppiren, eine reiche Anzahl bunter, lebender Bilder darstellend, aber heute weht hier noch eine zu frische Küstenluft, als daß man sitzend den herrlichen Frühlingstag genießen könnte; deshalb wandelt man lachend und plaudernd, einzeln oder zu Paaren durch die breiten Gänge.

Putzbach steigt mit beklommener Miene an Dorettens Seite einher. Es sind nicht die klugen Aeuglein der sich von Zeit zu Zeit nach dem Paare umsehenden Matrone Gerhard, welche ihn verlegen machen; es ist die Kälte des Mädchens selbst, die ihm heute noch auffallender denn sonst entgegentritt. Sie duldet ihn neben sich, wie man einen treuen Hund neben sich duldet, den man nicht nach Hause schicken mag, weil das gute Thier nun einmal mit uns gekommen ist, aber ihre Gedanken gehen weit über ihn hinweg. Manchmal lacht sie nur, wenn er etwas sagt, und antwortet nicht einmal. Eine so klägliche Rolle wie heute hat er noch nie gespielt; das fühlt er selbst. Wußte er auch schon lange, daß die schöne Dorette Rickmann nicht glühend in ihn verliebt war, so meinte er doch wenigstens zu bemerken, daß sich ihre Mädcheneitelkeit durch seine Aufmerksamkeiten geschmeichelt fühlte: sie liebte es, ihn zu necken und zu chicaniren – und so lange sie sich wenigstens mit ihm abgab, lag die Möglichkeit nicht fern, daß sie den wohlhabenden Kaufmannssohn doch noch einmal heirathen werde.

Aber heute, heute würdigt sie ihn kaum eines Blickes. Im Innersten empört, ist Putzbach verschiedene Male im Begriff, sich zu verabschieden. Als er aber bemerkt, daß auch sein Zurückziehen nicht den geringsten Eindruck machen würde, fühlt er sich – aller Vernunft zuwider – von Neuem an die Seite des Mädchens gebannt und bleibt fernerhin ihr Begleiter.

Je länger sie mit einander gehen, desto ungeschickter und hastiger werden die Schritte des armen Putzbach. Zuletzt steht der helle Schweiß auf seiner Stirn, und immer wieder fährt es ihm durch den Sinn, daß er sich hier fortwirft und Dorette Rickmann heute so gleichgültig wie jeder Andere ist.

Wie jeder Andere? Luchsartig richten sich Putzbach's wasserblaue Augen plötzlich auf einen jungen Officier, der ihnen jetzt schon zum vierten Male begegnet. Derselbe kennt des Bürgermeisters Tochter und grüßt sie ehrerbietig, aber seine Blicke schweifen dabei mit unverhohlenem Vergnügen zu Dorette herüber, und Putzbach bemerkt, wie des Mädchens leuchtende Augen auch mit lachendem Wohlgefallen über die keineswegs schöne, aber immerhin vornehme und glänzende Erscheinung des jungen Mannes hinstreifen. Er sieht nicht, daß auch diese Beachtung, welche sie dem Officier schenkt, nur eine flüchtige, von augenblicklicher Eitelkeit hervorgerufene ist, und sein stiller Neid begleitet den Vorübergegangenen.

„Es ist nicht Alles Gold, was glänzt, Mamsell Rickmann.

„Ist auch gar nicht nöthig, Herr Putzbach! Wenn es nur glänzt, erfüllt es auch einen Zweck; es macht uns Vergnügen,“ erwidert Dorette, ohne im Geringsten ein spöttisches Lächeln dabei zu unterdrücken.

„Ja, Mamsell,“ antwortet Putzbach stotternd und wird glühend roth im Gesicht, denn er redet sich ganz in Eifer hinein; „das Vergnügen ist eine recht schöne Sache.“

„Wenn ich nur wüßte, warum Sie Ihre Rockknöpfe so maltraitiren!“ fährt Dorette dazwischen. „Haben diese Musterbilder von Ehrbarkeit auch etwas mit unerlaubtem Vergnügen zu schaffen?“

Putzbach läßt, etwas unbeholfen lachend, den gerade bearbeiteten Rockknopf fahren und nimmt seine Rede wieder auf:

„Das Vergnügen, meine ich, ist eine recht schöne Sache – aber es hat –“ hier nimmt seine Sprechweise einen Augenblick etwas Salbungsvolles an – „schlechten Credit, was sage ich? gar keinen Credit, Mamsell! Wer einen Hausstand gründen ...“

„Bitte, Putzbach, haben Sie endlich ein Einsehn! Von Leuten zu hören, die einen Hausstand gründen wollen, ist absonderlich langweilig!“

Putzbach blickt verblüfft zu Boden, und eine Weile sieht er aus, wie der Mann im Märchen, dem das Gesicht stehen blieb, als die Uhr schlug.

Endlich faßte er wieder Muth.

„Aber –“ beginnt er langsam.

„Ach Gott, nun fangen Sie wieder an zu 'abern'.“

„Aber in Ihrem Alter, Mamsell Rickmann,“ fährt der wiederum Unterbrochene unbeirrt mit leiser, etwas flötender Stimme fort; denn es überkommt ihn plötzlich das selig drängende Gefühl eines guten Einfalls, den er wie eine Art von Trumpf auszuspielen denkt: „in Ihrem Alter hat doch jedes Mädchen – gewisse – Wünsche.“

„O ja!“ ruft Dorette überlaut, daß sich Frau Gerhard erstaunt nach ihr umsieht, „ich habe auch gewisse Wünsche.“

Putzbach's Gesicht mit den weitgeöffneten Augen wendet sich so schnell seiner Begleiterin zu, daß sogar der melancholische Zopf in Bewegung geräth. Aber Dorette sieht es nicht.

„Und diese gewissen Wünsche sind?“ fragt er ängstlich flüsternd, während sein liebendes Jünglingsherz mit verstohlener Hast gegen das steife, zugeknöpfte Patricierkleid pocht.

„Daß ich reisen möchte – fremde Länder und fremde Menschen sehen möchte,“ ist die leidenschaftliche Antwort.

„Und – und – wo wollten Sie denn hin?“

„Ich?“ – Dorette zögert einen Moment; dann sagt sie schnell: „Nach Paris möchte ich,“ und ihre Augen funkeln seltsam, und ohne daß sie es selber ahnt, steigt glühendes Roth in ihre Wangen.

Putzbach stutzt, als hätte er eine Ohrfeige bekommen, und nicht lange danach verabschiedet er sich leise seufzend von seiner Göttin. Seine Geduld ist für heute zu Ende; er gesteht sich mit einiger Bitterkeit, daß es für eine künftige ehrsame Hausfrau ein mehr als verwegener Wunsch ist, nach Paris reisen zu wollen – und er nimmt schließlich die kindische Thorheit des armen Bürgermädchens, [800] das ihm heute – leider – leider schöner und vornehmer denn je erschienen ist, für eine persönliche Beleidigung.

Es ist schon gegen Abend, als die Mädchen am Strande entlang wieder zurückgehen. Es ist kühl geworden. Dorette hat ihren bunten Shawl fest umgeschlagen; dagegen ist ihr der große aufgeklappte Hut von der hohen Frisur, welche sie besonders geschickt, halb nach neuester Mode, halb nach eigener Phantasie zu ordnen weiß, herabgeglitten, und kleine ungepuderte Haare wehen ihr lose über die breite Stirn.

„Warum bist Du so eilig, Dora?“ fragt Johanne, die wieder an ihrer Seite geht.

„Weil ich kochen muß und der Abend nicht auf mich wartet,“ sagt sie hastig.

Die blaue Fluth trägt jetzt weithin einen rothen Widerschein; der Wind bläst mit heftigeren Athemzügen, daß die Wellen bewegt durch einander schwellen, und von der Stadt her blitzen die Thürme des Rathhauses und der Sanct Marie golden herüber. Die Wimpel der Maste wehen reiselustig an den ruhenden Schiffen, und die weißen Möven flattern darüberhin.

Ein anderer Frühlingsabend weht wohl jetzt in den lauen Parkgängen und stillen Wäldern des Binnenlandes, aber auch dieser stürmische Hauch, der um die alte Meerstadt flattert, ist voll Wonne und Lebensdrang, voll Kraft und Glanz und voll ahnungsvoller Jugend, und es ist fast, als deckten seine rauheren Schwingen eine desto tiefere, schwellendere Sehnsucht nach den Gluthen des Sommers.

Dorette athmet manchmal tief auf; denn ihr ist, als trüge sie etwas in ihrer Brust, das sich nun aufthun wollte.

O, der thörichte Frühling!

Eine feierliche Neugier überfällt sie. Ihr Herz klopft heftig, als stände sie vor einer verschlossenen Thür, die sie nicht öffnen darf, da diese nur von selber aufspringt. – Wann wird sie aufspringen? Was wird dahinter sein? Oder wird sie sich ihr überhaupt nicht aufthun?

Als sie durch das alte Fährthor gehen, bricht Dorette in ein übermüthiges Lachen aus und zwickt Johanne halb unbewußt so heftig in den Arm, daß diese verwundert fragt, was das heißen soll.

„Nichts!“ antwortet sie schnell mit spöttischem Gesicht, und setzt hinzu, in Ton und Geberde ihren geistlichen Herrn den Pfarrer von St. Nicolai, nachahmend: „Die Mamsell Dorothea hat heute ihren Raptus per excellentiam.“

„O Dora, schon wieder!“ schreit Johanne leise. „Das thut ja weh.“

„Soll's auch,“ sagte Dorette seltsam lachend; „ich möchte aus der Haut fahren.“

„Vor Frühling?“

„Nein, ich bin nicht gefühlvoll. – Gute Nacht, Johanne! Gute Nacht, Lisbeth und Greting! Und wenn Ihr Herrn Putzbach seht, sagt ihm meinen graziösen Empfehl und ich wäre verzweifelt, daß er uns heute so bald verlassen hätte. Im Uebrigen hätte ich gewisse Wünsche und wäre mit einem gewissen schwedischen Officier versprochen.“

Und mit geschmeidiger Wildheit, daß die Kleider ihr um die schmalen Füße fliegen, ist das Mädchen im Hause des Thorschreibers verschwunden.




3.

In dem verschlossenen Hausflur horcht sie auf und bleibt stehn, und als ihre Freundinnen schon längst die Straße hinaufgegangen sind, lauscht sie immer noch an der Thür. In des Thorschreibers Stübchen wird lebhaft gesprochen; ein Fremder redet mit erhobener Stimme zu ihrem Vater. Jetzt hört sie, wie drinnen die Worte „Herr Oheim“ laut werden.

Sie hat es gewußt, daß Johannes Strohmeyer heute kommen wird; es befremdet sie nicht.

Wie schnell ihr Athem geht! Sie wird jetzt einen Mann kennen lernen, der aus – Paris kam – der die Welt sah – und – der ein Mann ist.

Leise schleicht sie durch die Küche in die Kammer und ordnet vor dem Spiegel das Haar, und fragend bohren sich dabei ihre Augen in die Augen des Bildes, das sie von sich selbst erblickt. „Bin ich hübsch?“ fragen diese Augen. „Sind wir schön?“ fragen sie.

„Ja!“ blicken die großen dunkelgrünen Augen im Spiegel und glänzen verheißungsvoll und schillern so räthselhaft, wie das blaugrüne Wasser im Bodden, wenn die Morgensonne es unruhig durchfunkelt. Dann steckt sie das weiße Busentuch sorgfältig über einander, damit es sich geordnet ihrer Gestalt anschmiege, und setzt das blendende Mützchen gerade und zierlich auf die etwas kühn gerathene Frisur, sodaß es wie ein kleiner jesuitischer Heiligenschein von Anmuth und Hausfrauentugend auf den ungezügelten Jugendübermuth des feinen, blühenden Gesichtes herabschaut.

Warum sollte auch der Vetter die Pariser Demoiselles anmuthiger gekleidet finden als sie?

Eine Secunde steht sie noch, den Griff der Thür zögernd in der Hand haltend; noch einmal lauscht sie – dann öffnet sie rasch und tritt zu den Sprechenden.

„Da bist Du ja, Doring!“ sagt der Thorschreiber, und Johannes Strohmeyer erhebt sich, sie zu begrüßen.

Und wie er so vor ihr steht, groß und dunkelblond, mit blitzenden Augen und kräftigen, ebenmäßigen Gliedern, richtet auch sie sich unwillkürlich zu ihrer ganzen Höhe empor, und ein seltsames Gefühl überkommt sie, daß sie ihn mißt, wie ein Gegner den andern mißt, ehe die tödtlichen Waffen zwischen ihnen klirren. Wie man den Widersacher anblickt, der uns zum Zweikampf forderte, so blickt sie auf ihn: streng, hoheitsvoll, mit gleichgültiger Ruhe.

Endlich hört sie auf, Strohmeyer anzustarren; langsam wendet sie den Kopf, als suche sie etwas im Zimmer.

„Glück zu Ihrer Verrichtung in Stralsund, Vetter!“ sagt sie dann, sich wieder zu ihm wendend.

„Danke, Base!“

„Nachdem Sie so viel von der Welt gesehen haben, wird's schwer halten, daß es Ihnen hier gefällt.“

„Wenn mir Zuspruch bei Ihnen erlaubt ist, schöne Base, wird es mehr als leicht sein.“

„Wollen doch abwarten! – Für einen Mann von Welt urtheilen Sie vorschnell.“

„Nehmt doch wieder Platz, Johannes Strohmeyer!“ bemerkt der Thorschreiber dazwischen, und der junge Mann folgt des Oheims Aufforderung.

[813] Dorette hielt sich nicht lange in der Stube auf; sie hatte draußen zu thun. Aber während sie noch Allerlei ordnete, bemerkte sie, daß der Vetter jetzt lauter und schneller redete, als vorher, ehe sie anwesend war, und als sie dann hinaustrat, fing sie von ihm einen pfeilschnellen Seitenblick auf, der ihr folgte.

Strohmeyer wendet sich darauf etwas zerstreut dem Alten zu. Dorette Rickmann hat ihm einen eigenthümlichen Eindruck gemacht, und dieser Eindruck verschärft sich im Laufe des Abends. Sie hat etwas, als sähe sie auf ihre Umgebung herab, auch wenn sie freundlich und hingebend ist, auch wenn sie still dasitzt und mit großen Augen lauscht, oder ihn nach Allerlei fragt, von dem er voraussetzte, daß sie es wisse. Sie fragt wie obenhin, und doch mit einer Miene, die nicht duldet, daß man nur eine Secunde mit der Antwort zögert; ein rasches Feuer leuchtet dabei aus ihren Blicken. Sie läßt sich belehren und hat doch das Ansehen, als theile sie eine Gnade aus.

Alles dies reizt den selbstbewußten jungen Mann; es stachelt ihn an zu interessanten Erzählungen. Doch er spricht mit einem Lächeln, als stehe er auf vornehmer Höhe und sähe auf Das herab, was er erzählt; er führt Dinge und Erlebnisse vor, wie ein Reiter sein Pferd vorführt, der selbst auf ihm bewundert sein will, aber eben deshalb lenkt er sein Roß gemächlich und mit kräftiger Hand; selbst wenn er galoppirt, hat es den Anschein, als erhitzten sich weder Thier noch Reiter. Und Johannes Strohmeyer galoppirt oft und gern: er schildert mit glühenden Farben, aber mit ruhiger Stimme, groß und wuchtig, wenn auch wenig liebenswürdig.

So erzählt er von der Riesenstadt, in der er drei Jahre gelebt hat: von ihren Prachtstraßen, den Boulevards, von dem Louvre-Palast und seinen Schätzen, von den Umgebungen dieser wunderbaren Stadt, von dem glänzenden Elend, das sie birgt, von dem schwachen König und der schönen jungen Königin, die aus Oesterreich nach Paris verpflanzt wurde und, wie ein lachendes Kind über Gräbern, auf dem Ruine des Landes tanzt. Er erzählt auch von den großen Gelehrten und Dichtern Frankreichs; er wird Doretten die Dramen von Racine und Corneille bringen und Voltaire’s Mahomed ihr vorlesen; denn er hat gehört, daß sie bei einem französischen Sprachmeister Unterricht erhalten hat. So erzählt er ihr von dem Verhältniß Voltaire’s zu dem großen Preußenkönig, der eben jetzt in Sanssouci zum Sterben krank sein soll.

Der soll sterben?“ ruft Dorette. „Der große Mann!“ Und nach einer Pause fährt sie fort: „Ich hab’ ein Bild von ihm beim alten Kammermusicus Müller gesehen. Ein gewaltiger Mensch! Einer zum Anbeten und Fürchten!“

„Wahrhaftig, Base Dorette, Sie können sich auch fürchten?“

„Warum nicht? Halten Sie mich für einen Engel oder für einen Teufel?“ fragt sie ernsthaft und mit sonderbarer Hast.

Johannes lächelt eigen und sieht sie an, als habe er ein Recht, es länger als Andere zu thun, ohne daß jedoch etwas Leidenschaftliches aus seinen Blicken spräche.

„Und dürfte ich wissen, warum Sie sich vor ihm gefürchtet hätten? Kennen Sie viel von seinem Leben?“

„Manches, aber Sie mögen sich nur das Bild ansehen, Vetter! Vielleicht bücken auch Sie sich vor dem scharfen Licht, das aus des Königs Augen blitzt, sind Sie gleich ein eingebildeter Mann.“

„Bin ich das? Woher wissen Sie das?“

„Sind Sie es etwa nicht? Denken Sie, die Seeluft ist mir nachtheilig auf’s Gesicht gefallen?“

„Doring, Doring!“ redet der Thorschreiber dazwischen, „wie redet das Mädchen wieder gottlos und ungalant! – Erzählt uns lieber, Johannes, wie Ihr’s beim gnädigen Herrn Grafen gehabt habt, und überhaupt von Euerem eigenen Leben.“

„Ja, Oheim, aber zunächst möchte ich noch von der Base Einiges mehr über die kalten, geistreichen Augen des alten Fritzen erfahren. – Was für eine Farbe haben seine Augen?“

„Hellblaue.“

Und kaum hat sie es gesagt, so fällt ihr die Handarbeit vom Schooße, und sie bückt sich darnach, aber Johannes hält sie schon in Händen und reicht sie ihr herauf; sie beugt sich nieder, um sie ihm abzunehmen, und sieht dabei in zwei schlau leuchtende hellblaue Augen, daß sie unwillkürlich erschrickt.

Dann erzählt Johannes von der Güte des Grafen, der ihn wie einen Sohn gehalten hat, ihn Bücher aus seiner Bibliothek lesen ließ, ihn oft an berühmte Orte führte und ihm außer den Dienststunden volle Freiheit gab.

Jetzt wird er den Grafen zurück auf die Insel begleiten und gleichzeitig seine Eltern in Ruschwitz besuchen, dann aber, wie der alte Inspector schon erzählt hat, in Stralsund bleiben.

Als der Vetter fort ist, fragt der alte Rickmann seine Tochter, wie ihr denn Johannes gefalle.

„Es wird sehr unterhaltsam sein, wenn er oft kommt,“ meint sie; „gut ist er nicht.“ [814] „O Doring, wie kannst Du so bös' Urtheil sprechen, wenn Du Jemanden zum ersten Male im Leben siehst?“

„Bös'? Es ist nicht Jedermannes Sache, gut zu sein!“

Der Alte geht kopfschüttelnd in die Kammer zur Ruhe.

„Gute Nacht, Vater – ich komme auch,“ hat Dorette gesagt, aber sie kommt noch lange nicht. Der Thorschreiber schläft schon eine gute Weile, als sie noch nähend am Tische sitzt. Plötzlich wirft sie die Arbeit eilig zusammen und stößt das Fenster, an dem sie sitzt, weit auf. Gedankenvoll lehnt sie sich über die Brüstung, und wie der scharfe Nachtwind ihr in das heiße Gesicht schlägt, fühlt sie sich unheimlich wohl und behaglich. Ihre Augen dringen hinauf an den gestirnten Himmel, als suchten sie die Lösung eines Räthsels; sie möchte die Arme ausbreiten und an's Meer stürzen. Sie denkt darüber nach, daß Johannes Strohmeyer versprochen hat, nun öfter zu ihnen zu kommen und nebenbei fragt sie, ob er sich wohl, wie Putzbach, in sie verlieben wird. Und wie, wenn auch sie – ? Da kommt es ihr nochmals in den Sinn, daß er nicht gut ist, und sie merkt plötzlich, wie es unangenehm kalt vom Meere heraufweht. Sie zieht sich zurück und schließt das Fenster, aber ehe sie die Lampe löscht und im Finstern zu Bette schleicht, schlägt sie die Hände vor das Gesicht und zieht wieder die Brauen so finster zusammen, wie am Nachmittage auf der Brücke. Aber sie sagt nicht, wie dort:

„Ich möchte wissen, wie die Liebe ist.“

Ueberhaupt denkt sie schon nicht mehr an die Liebe, aber ihr Herz schlägt laut und heftig.

„O, ich wollte reisen! Die Welt sehen! Etwas erleben!“ flüstert sie leidenschaftlich vor sich hin – und sie möchte emporfliegen über die alten Häuser der alten Stadt, in der sie lebt.




4.

Und der Frühling von 1786 geht hin, und der Sommer kommt, gegen dessen Ende der große Preußenkönig wirklich stirbt.

Auch der Sommer schwindet, und der Herbst ist da, der frische klare Herbst, der neue Thatkraft in die Seelen bläst.

Die Zeit der Hoffnung, die Zeit träumerischen Genusses ist vorüber; nur die ewige Sehnsucht bleibt, und weil sie allein das Feld behauptet, wächst sie zum Riesen: In jedem Kranichschrei, der hoch in den Lüften ertönt, in jeder Sturmnacht, welche um die Steinmauern braust, hinter denen die Menschen wohnen, hören diese ihre Stimme. Aber es ist keine weiche Stimme voll süßer Thorheit und voll Schwärmerei – es ist eine Stimme gewaltigen Klanges, die wohl zu ernster Arbeit und zu kräftigem Ausharren paßt, aber jedes Herz hat seine besondere Jahreszeit: Dorette Rickmann sieht in diesen Herbstmonaten mit jedem Tage glücklicher aus: Hoffnung, Sehnsucht, vollkommenster Genuß gießen ihren weichen Schönheitsschimmer über ihre beweglichen Züge. Alles Gute und Große, dessen ihre Natur fähig ist, scheint sich entfalten zu wollen. Sie treibt seltener ihren losen Spott mit Putzbach und seinen Gefährten, und wenn es die Anderen thun, lächelt sie nur mit einem gewissen mitleidigen Wohlwollen; denn es scheint ihr ein dürftiges Vergnügen zu sein, sich über den armen Gesellen lustig zu machen.

Sie benutzt jede Gelegenheit, den Menschen Freude zu machen, wenn sie es gleich in jener wunderlich gleichgültigen Manier thut, welche ihre Freundlichkeit nicht als Güte des Herzens, sondern als bloße Laune erscheinen läßt, und sie kehrt ihrem Vater gegenüber nicht mehr so oft, wie früher, in unvorsichtigen Worten ihre geistige Ueberlegenheit heraus.

Ihr ganzes Leben hat unmerklich einen anderen Gehalt gewonnen; sie hat mit heimlichem Eifer ihre Kenntnisse vermehrt; jede Minute, welche ihr das Hauswesen ließ, hat sie in eiserner Beharrlichkeit zu benutzen gewußt. Sie ist nicht mehr bloße Zuhörerin, wenn Johannes Strohmeyer ihr von der Welt spricht; sie streitet – sie widerlegt ihn.

So lebt sie hin; der Herbst ist ihr nicht Herbst; sie fürchtet keinen Winter. Jeder Tag, der kommt, vergeht ihr wie eine Secunde des Glücks. Sie ist zufrieden, daß ihr Schicksal noch nicht laut ausgesprochen ist. Sie ist sich bewußt, daß der köstlichste Moment des Lebens eben nur ein Moment ist, einer, der nicht wiederkehren kann. Mag die letzte Entscheidung immerhin vor ihren bald haschenden, bald zaudernden Händen entfliehen, einmal wird sie kommen: vielleicht heut, vielleicht morgen, vielleicht in dieser Stunde noch! Es ist keine quälende Ungewißheit; es ist ein süßes, geheimnißvolles Wesen, das sie erfüllt und umgiebt.

Einmal, als sie gerade in solche Stimmung versunken ist, tritt Putzbach zu ihr in's Stübchen. Er sieht noch steifer und feierlicher als gewöhnlich aus und blickt sich halb ängstlich, halb feindselig im Zimmer um, als hätte seine Phantasie jede Ecke mit einem Vetter aus Paris angefüllt, als wären die Zwischenräume rings mit schwedischen Officieren bevölkert.

„Endlich habe ich das Glück, Sie allein zu treffen, Mamsell Rickmann,“ beginnt er mit einer Miene, die seine Worte Lügen straft; denn diese Miene sieht wenig nach Glück aus.

Auf Dorette's Gesicht kämpfen Mitleid und unangenehme Ueberraschung mit einander. Sie antwortet nicht gleich, sondern nöthigt ihn nur mit ungeduldiger Geberde zum Sitzen und beginnt zu spinnen. Eine Weile starrt Putzbach auf die sich rascher und rascher drehende Kunkel, als gäbe es an derselben allerlei welt- und herzbewegende Räthsel zu lösen. Dorette sucht in gewandter Weise über das Peinliche des Augenblicks hinwegzukommen und fragt nach diesem und jenem. Er aber ist nicht im Stande, darauf einzugehen, und weiß endlich keinen anderen Ausweg, als mit der Thür in's Haus zu fallen.

„Sie wissen, Mamsell Rickmann, warum ich gekommen bin,“ sagt er, die Augen krampfhaft fest auf einen Nagel des Fußbodens heftend. Dorette wird zum ersten Mal in ihrem Leben Putzbach gegenüber roth.

„Nein,“ antwortet sie schnell, „aber Sie sind in letzter Zeit ziemlich oft gekommen.“

„Ja, zu oft – ich fühle es – ich habe mich geirrt. Ihre Freundlichkeit – ich bin Ihnen zu oft gekommen. Sie hörten lieber Pariser Hofgeschichten, Mamsell, als das Werben eines redlichen Stralsunder Bürgers. Glänzender mögen sie freilich sein, aber –“

„Freilich hörte ich sie lieber!“ antwortet Dorette und hält ein mit dem Treten des Rades. „Alles ist mir lieber, als Ihr galantes Wesen, Herr. Das hätten Sie längst begreifen sollen. Ich laß mir keine schönen Dinge mehr von Ihnen sagen. Sie langweilen mich! Sie quälen mich!“

„Quäle ich Sie?“ fragt Putzbach mit zitternder Stimme, während Dorette wieder zu spinnen beginnt. Dann ruft er, einen neuen Aufschwung nehmend, plötzlich begeistert aus: „Ich will es nicht mehr thun – und Ihnen keine schönen Dinge mehr sagen; ich bin – lassen Sie mich ausreden, Mamsell! – ich bin auch heute nicht zu diesem Zwecke gekommen – hier, so wahr ich hier vor Ihnen sitze, biete ich Ihnen meine Hand.“

Seine Augen leuchten; er wird kirschroth und streckt bittend die dargebotene Hand aus.

„Und so wahr ich hier vor Ihnen sitze, sage ich Ihnen, daß, wer mir als Liebhaber nicht willkommen ist, es auch als Eheherr nicht ist,“ ruft das empörte Mädchen, während ihr Spinnrad plötzlich von Neuem stockt und der Flachsfaden zwischen ihren beweglichen Fingern zerreißt. „Mag es bei anderen Mädchen anders sein; dies sind meine Gedanken über das Heirathen.“

„Mamsell Dora, seien Sie vernünftig! Schlagen Sie nicht aus Laune eine Partie aus – eine Partie, wie ich sie – wie ich sie, Gott sei Dank, im Stande bin, Ihnen zu bieten. Ja, wie sie vielleicht kein Zweiter in ganz Stralsund bieten kann. Davon wird Ihnen jeder verständige Mann Bescheid abgeben.“

Da erhebt sich Dorette zornig. Und in diesem ehrlichen Zorne erscheint sie dem redlichen Bürger, der erschrocken und einfältig vor ihr zurückweicht, zugleich neu und großartig.

„Genug von diesem Geschäft!“ sagt sie, „Sie verstehen mich nicht, und das ist das beste Zeichen, daß wir nicht für einander bestimmt sind. Für Sie sind andere Frauenzimmer da!“

„Und für Sie andere Männer?“ ruft Putzbach mißtrauisch und endlich doch in tiefster Seele beleidigt aus.

Dorette sieht ihn voll an. „Ja,“ sagt sie mit Nachdruck, und eine heiße, frohlockende Gluth bricht aus ihren Augen. Aber als sie es gesagt hat, schließen sich ihre Lippen so fest und ihre Gestalt nimmt einen so hoheitsvollen Ausdruck an, daß er nicht wagt, weiter zu fragen. Dorette ist so strahlend schön wie nie zuvor.

„Und dies ist Ihr Ernst, Dora? Sie wollen nicht meine Hausfrau werden?“ fragt er nach langer Pause noch einmal.

„Nein,“ sagt sie sanfter, als gewöhnlich; „es ist mir leid, daß Sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten. Ich hab' Ihnen wahrhaftig in keinerlei Stücken Hoffnung gemacht.“ [815] „Nein,“ erwidert er, sich schnell erhebend, um seine Zerknirschung durch eine bürgerlich stolze Haltung zu bemänteln.

Während er in diesem Bestreben noch nach ein paar passenden Abschiedsworten sucht, erscheint Johanne Seiler, für beide Theile eine befreiende Unterbrechung, in der Thür. Aber draußen auf dem Flure, wohin ihm Dorette halb gedankenlos das Geleite giebt, wendet sich Putzbach noch einmal um. Die Abschiedsworte, welche er vorher vergeblich suchte, drängen sich ihm jetzt auf die Lippen, und in bewegtem Tone sagt er:

„Ich wünsche, meine liebe Mamsell Rickmann, daß Sie glücklich mit dem Andern werden.“

„Er faßt sich wie ein Mann und wie ein Bürger,“ würde ihm Dorette noch vor einem Jahre höhnisch nachgemurmelt haben – jetzt zuckt sie nur hastig die Achseln.

Als sie zu Johanne zurückkommt, ist sie sehr aufgeregt.

„Du brauchst mir gar nichts zu sagen; ich weiß Alles, Dorette,“ meint die Bürgermeisters-Tochter.

„So weißt Du es?“ flüstert Dorette leidenschaftlich.

„Nun, Kind, man brauchte eben nicht absonderlich hellsichtig zu sein, um zu definiren, daß hier ein Freier abgeblitzt war.“

Dorette senkt den Kopf, und, die Stirn mit beiden Händen beschattend, fragt sie leise seufzend: „Und – das Andere?“

„Weiß ich lange,“ ist die Antwort. „Oh, madame, lui dit-il, me mettez-vous au rang des aveugles ou des sots?“

„Laß Deine Mama und die schlechten Späße! Ich hätt’ Dir’s längst gesagt, Hanne, aber wozu auch? O –!“ und Dorette lehnt eine Secunde mit geschlossenen Augen gegen die Wand.

„Dorette?“

„Ja, was denn? Hanne, Du weißt ja doch, wie es ist!“

„Glaubst Du denn, daß er gut ist?“

„Nein!“ ruft Dorette mit einer Heftigkeit, daß die Andere erschrickt. „Was kümmert es mich, ob er gut ist oder nicht, wenn wir uns lieben?!“

„Seine Augen sind kalt,“ fährt Johanne unerbittlich fort.

„Aber sie schneiden in die Seele, wie ein zweischneidig Schwert,“ antwortet Dorette feierlich. „Und sie können auch glühen, sag’ ich Dir, und sie müssen auch glühen, und sie sollen’s noch oft thun.“ Dann fährt sie fort, und ihre düster flammenden Augen erweitern sich und leuchten prophetisch: „Wir werden über alle Begriffe glücklich werden. Und nun weißt Du es. Frag’ mich nie danach, und sag’ keinem Menschen was davon! Spiele nicht die Eingeweihte – ich hasse das. Es muß sein, als wüßtest Du nichts; auch wenn wir allein sind.“




5.

Indessen brauchte sich Johanne Seiler keinen Zwang anzuthun: die Mädchen sind in der folgenden Zeit kein Mal zusammen, daß nicht Dorette schon nach den ersten fünf Minuten „seinen“ Namen genannt hätte. Nach und nach fängt sie jetzt doch an, ungeduldig zu werden; sie kann Johanne oft unter wilden, glückseligen Thränen umarmen und alle Zärtlichkeit, die eigentlich ihm gilt, über die Freundin ergießen. Es kommen Secunden, in denen sie zweifelt. „Johanne,“ sagt sie einmal, „er will hoch hinaus; er wird sich nicht binden. Warum widersprichst Du nicht? Lüg’ mir doch!“

Aber solche Secunden gehen schneller, als sie gekommen sind: kann es einen Mann geben, der Dorette Rickmann ausschlägt, wenn sie ihn liebt?

Und Anfang December feiert Dorette zwei herrliche Tage; sie stehen fest in ihrer Seele, wie eine große Sonne, die in alle Ewigkeit strahlt, ob auch Nacht und Wolken über sie hingehen.

Im Stadthaus ist ein vom Bürgermeister veranstalteter Ball. Die Familie Seiler hat versprochen, Dorette mitzunehmen, und Johannes wird natürlich auch dort sein.

Dorette ist früh aufgestanden, ehe noch die Decembersonne in ihre Kammer scheint. Schwebenden Ganges, als hätte das Glück Flügel für sie ausgespannt, steigt sie die alte Bodentreppe hinauf, um aus der Truhe ihr weißes Einsegnungskleid hervor zu holen, das sie beim Morgenfeuer aufbügeln will.

Als sie oben den Deckel öffnet und das blendende Gewand sieht, hebt sich ihre Brust und ein langes, entzücktes Lächeln zittert auf ihren Lippen.

„Johannes! Johannes!“ ruft sie vor sich hin.

Es ist das erste Mal, daß sie ihre Liebe, in diesen Namen zusammengefaßt, laut vor sich selber bekennt. Ein Schauer faßt sie, und plötzlich schwingt sie in jähem Wechsel des Empfindens das behutsam dem Kasten entnommene Kleid übermüthig über ihr Haupt empor und eilt mit erhobenem Arme die Treppe hinab. Während dann das heiße Eisen über den feinen Stoff gleitet, denkt sie an den vergangenen Abend: Das Stadtthor war schon verschlossen und der Alte, ihr Vater, seit Feierabend hinübergegangen zum Nachbar. Da klopfte es an die Thür, und auf ihr „Herein!“ trat Johannes Strohmeyer in’s Zimmer.

Seine Augen blitzten auf, als er sie allein, über ein Buch gebückt, in der Stube sitzen sah. Er nahm ohne Weiteres ihr gegenüber am Tische Platz, nachdem er ihr die Hand zum „guten Abend!“ herübergereicht hatte. Sie sprachen von dem Buch, das sie las, von dem Balle auf dem Rathhause und zuletzt von den Stunden, die Johannes im Orgelspiel nimmt. Dorette erinnert sich noch des ganzen Vorgangs von gestern: Im Laufe des Gesprächs hatte sich der Vetter erhoben, um zwischen den Wänden des kleinen Gemaches auf und ab zu gehen. Als er aber auf das Orgelspiel zu reden kam, stand er plötzlich still.

Indem sich Dorette die Scene vergegenwärtigt, hält sie inne in ihrer Arbeit und starrt auf die Wand: dort stand er ja gestern mit erhitztem Gesicht, die dicken, blonden Haare zurückgestrichen, die Blicke seltsam funkelnd. Sie sieht ihn lebhaft vor sich, wie er den einen Arm, der am Körper ruht, gegen die Wand lehnt und den anderen kühn emporreckt, um absichtslos in der Erregung des Augenblicks auf das Thürsims über seinem Haupte zu greifen. Gleich einer Heldengestalt aus der nordischen Göttersage steht er in der Erinnerung des bewundernden Mädchens da: dieses seltsame Gemisch von Schlauheit und Größe, von Feuer und Kälte in den Zügen! Und in der ganzen Erscheinung jene Schönheit, deren Wesen die Kraft ist!

Dorette aber weiß wenig von den alten Göttersagen, stellt auch sonst keine Vergleiche an; wie gestern geht sie vollständig im Momente unter, als wäre es auch heute leibhaftige Wirklichkeit, was sie vor sich sieht.

Und wie gestern hört sie, daß er sagt, er werde nicht lange mehr beim alten Holztüm Unterricht nehmen; es sei weggeworfenes Geld; er wisse schon jetzt mehr, als der Lehrmeister; mit jedem Tage werde es ihm klarer, daß sein eigentliches Feld die Musik sei; wenn er nur die Mittel hätte, würde er gleich wieder zurückgehen, von wo er im Frühjahr hergekommen wäre, um sie dort zu erlernen; so müsse er freilich klein anfangen und sich selber bilden, aber – und von den folgenden Worten ist ihr jedes einzelne im Gedächtniß geblieben: ,Wer klein anfängt, braucht nicht gleichermaßen klein aufzuhören. Der Mann muß in die Welt. Ein Mann, der an der Heimath kleben bleibt, ist ein Löwe im Käfig. Ich habe Blut geleckt, Base, und muß wieder hinaus. Nach Paris brauche ich nicht wieder; das meine ich nicht, aber ich muß in große Kreise. Ich will in ein Amt, das der Mühe werth ist, verwaltet zu werden. Sehen Sie, Base Dora, Andere verstehen mich nicht; man braucht nicht zu wälschen, um in fremden Zungen zu reden, und wenn ich so etwas zu unsern Stralsunder Spießbürgern sage, bedünkt mich’s, daß ich vor Taubgeborenen eine Bach’sche Fuge mit aufgezogenen Registern spiele. Aber Sie verstehen mich, Doring!’

Ja, sie versteht ihn; sie würde ihn verstanden haben, wenn er sie auch nicht so durchbohrend dabei angesehen hätte. Nie ist er ihr so schön erschienen, als in den Augenblicken, da er so sprach, denn es ist das erste Mal, daß er mit so innerer Ergriffenheit gesprochen hat. Es war ein wunderbarer Klang, den das Wort „Welt“ in seinem Munde hatte, aber, obgleich er sie erbeben machte, hat er einen Wiederhall in ihrer Brust gefunden. Und was ihr seine Reden auch zu denken geben mögen: Eines steht doch fest – und das sind seine letzten Worte, und die kann kein nagender Gedanke ihr zerschneiden und kein jäher Zweifel ihr zerreißen.

„Aber Sie verstehen mich, Doring!“ sagt sie jetzt halblaut.

Dann nimmt sie hastig wieder das Bügeleisen zur Hand.

„Was für Blumen soll ich in’s Haar nehmen?“ fragt sie; und so jagt ein Einfall den anderen.

Was ist das? Ruft man nicht ihren Namen vor der Hausthür? – Natürlich ist es Unsinn, aber sie glaubt gewiß, daß es des Vetters Stimme war.

Noch steht sie horchend mit erhobenem Kopf, als sie von Neuem [816] zusammenschrickt; denn jetzt klopft es an das Fenster, und sie sieht in der Dämmerung des Morgens die Umrisse einer hohen Gestalt, welche dicht an die Scheiben herangetreten ist. Es ist doch Johannes; eilig ergreift sie die kleine Lampe und geht hinaus auf den Flur, das Haus für den Geliebten zu öffnen. Lachend, mit vorgebeugtem Haupte tritt Johannes durch die niedrige Thür.

„Sie wollen wohl nach Paris, Vetter, und einen Gruß für Ihren Alten bei uns zurücklassen? Oder ist Ihnen das Nachtwandeln angekommen?“ fragt sie hastig und leichthin.

„Keins von den Beiden, Base! Der Einfall machte mir nur Spaß, Sie früh Morgens mal recht hausmütterlich herumwirthschaften zu sehen.“

Das Blut schießt ihr verrätherisch in's Gesicht, und er hört, wie sie hastig athmet.

„Sie haben sich in Frankreich die galanten Redensarten recht angewöhnt,“ sagt sie und blickt ihn trotzig, verführerisch an.

„Und Sie sind wieder mal nicht ehrlich, Dora!“ flüstert es zurück, und er schüttelt sie leise am Arm.

„Lassen Sie mich und kommen Sie mit in die Stube! – Sehen Sie: da liegt meine 'hausmütterliche Beschäftigung'. Das Kleid zieh' ich heut Abend zum Ball an. Weiß ist meine Couleur.“

„Schönen Mädchen steht Alles,“ antwortet er.

„Brrr!“ erwidert sie mit graciöser Keckheit. „Und setzen Sie sich dort – ich muß weiter bügeln.“

Und sie stellt sich so, daß er fortwährend ihre ganze Gestalt in's Auge fassen kann, aber über ihrem Thun liegt eine unruhige Beweglichkeit, so gewandt sie auch Alles macht.

Plötzlich tritt er hart an sie heran, bückt sich, stemmt sich mit verschränkten Armen an die Kante des Bügelbrettes und blickt mit einer Miene fast leidenschaftlicher Bewunderung zu ihr auf. Er merkt, wie ihre Hand, die auf dem Griffe des Eisens ruht, zusammenzuckt.

„Warum ich eigentlich kam,“ sagt er, „ist, daß ich fragen wollte, wann ich Sie auf den Abend zu Seiler's holen soll, Base? Ich muß heute ohnedem beim Bürgermeister aufwarten und werde sagen, daß für Ihre Begleitung gesorgt ist; ich darf doch?“ und immer noch blickt er unverwandt in ihr Gesicht.

Ihre Augen glänzen siegreich zu ihm hinüber.

„Kommen Sie! Heute Abend, gegen acht Uhr bin ich fertig,“ stürzt es beinahe unbewußt von ihren Lippen.

„Es ist das erste Mal, Base, daß ich mit Ihnen tanze. Wenn wir mit einem Mädchen tanzen, ist sie unsere Gefangene.“

„Aber wenn wir ‚halt!‘ sagen, müssen Sie uns freigeben,“ antwortet sie gepreßt und versucht gleich darauf recht laut und harmlos zu lachen. „Wir sind Ballköniginnen, Vetter, und Sie haben Unterthanengehorsam zu leisten.“

„Ich will Sie nicht böse machen; sonst würde ich Ihnen aus der Weltgeschichte zeigen, wie schwach Königinnen sind.“

„Auch Maria Theresia?“ fragt sie stolz.

„Nein, die nicht – die große Feindin Ihres großen Fritzen nicht – des einzigen Mannes, den Sie fürchten und anbeten – nicht wahr? Sie haben mich halb geschlagen. Aber was für eine Krone setzen Sie heute Abend auf, Base?“

„Ich weiß nicht; man braucht auch keine Krone, um sich in Respect zu setzen, wenn man von Natur schon Königin ist. Ich hole mir heut Nachmittag ein paar frische Blumen vom Gärtner herein.“

„Ich will hingehn und sie für Sie aussuchen. Es machte mir Spaß – soll ich nicht?“

In diesem Augenblick hört man drinnen in der Kammer den Alten poltern.

„Gegen sieben bin ich mit den Blumen hier. Ist's früh genug?“

„Ja.“

„Adieu, Bäschen! Freuen Sie sich auf heute Abend?“

„Unsinn! warum würd' ich sonst hingehen? Guten Morgen, Johannes!“ ... dann hält sie plötzlich, wie erschrocken, inne.

„Adieu! – Guten Morgen, Dora!“ und er zieht die kleine heiße Hand, welche sie ihm reicht, einen Augenblick schmeichelnd durch seinen Arm, eilt dann aber jählings hinaus und läßt das verwirrte Mädchen allein im Zimmer.

Und Nachmittags um fünf, als es schon anfängt, finster zu werden, sieht man Johannes Strohmeyer raschen Schrittes durch's Thor hinaus zum großen Kunstgarten gehen. Er denkt an Dorette und lächelt, und seine Augen blicken mit unruhiger Lebhaftigkeit vor sich hin. Er fragt nicht, ob sie ihn liebt: natürlich liebt sie ihn – das hat sein durchdringender Blick schon entdeckt, als kaum die ersten Blumen des Sommers blühten.

Und vielleicht wäre seine eigene Liebe jetzt noch leidenschaftlicher, wenn er sein Glück länger zu erkämpfen gehabt hätte. Trotz ihrer schnellen Hingabe aber wird ihm Dorette mit jedem Tage unentbehrlicher und übt eine seltsame Gewalt auf ihn aus. In allen Dingen, die er unternimmt, ist ihm an ihrem Urtheil gelegen, und manchen Abend, den er in angeregter Männergesellschaft verbringen könnte, opfert er, um nur wieder im kleinen Thorschreiberstübchen der Base gegenüber zu sitzen.

So leben sie neben einander hin, und es versteht sich von selbst, daß er sie heirathen wird – wenn er erst so weit ist.

Als er beim Gärtner drei leuchtende, dunkelrothe Rosen für Dorette abschneiden läßt, sieht er sehr befriedigt aus und läßt die Finger spielend über ihre sammetnen Blätter gleiten. Ebenso, ganz ebenso wird das schöne, stolze Mädchen mit sich spielen lassen, wenn er sie erst für sich gebrochen haben wird.

Es ist nur wenige Minuten über sieben Uhr, als er mit den Rosen beim Thorschreiber eintritt. Dorette kommt ihm entgegen und nimmt sie ihm strahlenden Gesichtes ab; das weiße Tanzkleid hat sie schon angelegt und beeilt sich nun, die Blumen als letzten Schmuck in's Haar zu stecken. Aber drei Rosen scheinen ihr zu viel als Kopfputz; sie löst die eine wieder ab und steckt sie vorne an die Brust. Als sie so geschmückt in die Mitte des kleinen Gemaches tritt, glühen ihr Wangen und Lippen so tief vor fieberhaft seliger Erwartung, daß der alte Rickmann in seiner kindlichen Einfalt ausruft: „Nun sag' mir mal Einer, wo die Rosen schöner blühen, auf Doring's Frisur, oder in ihrem Gesicht!“

Dann stellt er sich vor sie hin und sieht sie mit stiller Freude an. Ab und zu nickt er auch wohl vor sich nieder und blickt dann wieder bedeutungsvoll zur Seite, wo Johannes Strohmeyer steht. Freilich – ih freilich doch, dies ist noch ein anderes Paar, als die blühende Dorette und der reiche Herr Putzbach, den die äußere Schönheit nie gedrückt hat.

Anfangs hat es ihm nicht recht in den Sinn gewollt, daß sein junges Kind mit dem weitläuftigen Vetter heute Abend so allein durch die Straßen gehen wollte. Aber jetzt hat er sich ganz darüber beruhigt; es wird ja Alles anders in der Welt; Moden und Sitten und alle altväterischer Gebräuche werden verändert, und seine Dorette muß ja am besten wissen, was sie thun oder lassen kann. So geht er denn ganz in Bewunderung auf.

„Doring, was werden die Leute denken, wenn Du hereinkommst?“ kann er sich schließlich nicht enthalten zu sagen.

„Nichts, Vater! Sind nicht alle so vernarrt in mich, wie Sie. Und Sie hätten, weiß Gott, am wenigsten Grund dazu,“ spricht sie hastig und unachtsam weiter, während sie Mantel und Kapuze über den Arm nimmt. „Eines schönen Tages schwimme ich Ihnen doch davon, und Sie haben als Gluckhenne das Zusehen vom Ufer.“

„Unsinn das – wo wolltest Du denn hinschwimmen?“

„Die Welt ist weit. Wenn ich mich z. B. heute Abend mit einem vornehmen schwedischen Officier verlobte, schwämm' ich Ihnen gewiß gleich davon.“

„Leichtfertiges Zeug, Doring, und davor ist dem alten Thorschreiber gar nicht bange.“

Und wieder sieht er Johannes Strohmeyer mit einem unbeschreiblich tiefen Blicke väterlichster Freundlichkeit an.

„Aber ich fürchte,“ setzt er launig hinzu, „Du schwimmst mir so schon alle Tage davon – und ich Alter seh' Dir dumm nach und weiß viel, wo Du hinsteuerst.“

„Lassen Sie, Vating!“ sagt sie schnell und erröthet.

Der Alte aber lächelt sehr glücklich, wie immer, wenn ihn die Tochter einmal mit dem herzlichen vorpommerschen „ing“ anredet.

Indessen sieht Johannes, der näher getreten ist, fast mit einem Anfluge von Eifersucht auf den Thorschreiber.

„Aber nun habe ich auch lange genug vor Euch auf dem Präsentirteller gestanden,“ ruft Dorette plötzlich und geht, sich leicht von einer Seite zur anderen wiegend, einige Schritte vorwärts. „Vetter, haben Sie auch den Begel nicht vergessen? Das ist ein alter Stralsunder Tanz; den muß Jeder weg haben: wir wollen die Probe machen.“

Doch schon nach wenigen Secunden meint sie: „Bewahre Gott, es ist lächerlich, hier in dem Loch zu tanzen. Ich will mich langsam aufkappen; dann wird's Zeit sein, zu gehen.“

[818] Und kaum hat die Glocke auf Sanct Nikolai acht geschlagen, da schließt sich auch des Thorschreibers kleine Hausthür hinter dem davoneilenden Paare.

„Base, Sie laufen aber wie der Seewind. Frieren Sie? Kommen Sie – ich nehme Sie mit unter meinen Mantel.“

„Danke, meiner hält vielleicht wärmer, als Ihrer,“ und sie richtet sich wieder so stolz neben ihm auf, wie an dem ersten Abend, da er sie sah. – Sie hat es lange nicht mehr gethan, aber es beunruhigt ihn nicht; es macht ihm höchstens Vergnügen. Er weiß jetzt besser, als damals, was dergleichen zu bedeuten hat.

Dann gehen sie weiter durch die engen, spärlich erleuchteten Straßen, Arm in Arm, in gleichem Schritt. Und nun folgt ein Abend mit herrlichen, glücklichen Stunden für Dorette Rickmann und auch für ihn, wenn er gleich nicht, wie sie, wähnt, das Licht des Himmels und nicht das eines irdischen Saales umfluthe sie Beide, so oft sie mit einander durch die Reihen fliegen.

Es ist das erste Mal, daß ihr Johannes öffentlich den Hof macht, und durch sein Beispiel angefeuert, zeichnen sich auch die anderen jungen Männer in Aufmerksamkeiten gegen Dorette noch mehr aus, als es sonst schon ihre Gewohnheit ist; denn unter den vielen Dingen, die ansteckend sind, steht voran das Hofmachen.

Unter ihren Verehrern befindet sich heute Abend auch wirklich ein junger Officier. Es ist, beiläufig gesagt, derselbe, dessen Aufmerksamkeit sie schon vor einem halben Jahre im Kaffeegarten auf sich zog. Was würde Putzbach bei diesem Anblick empfinden, hätte er es nicht verschmäht, zum Tanze auf’s Stadthaus zu kommen; wenn sich der Officier Doretten nähert, um sie zum Reigen zu holen, oder wenn sie ihn gnädig entläßt, lächelt sie allemal auf besondere Weise.

„Was lächeln Sie wieder so, Base?“ fragt einmal auch Johannes, der sie nicht aus den Augen verloren hat.

„Ich dacht’ an’s Fortschwimmen,“ antwortet sie mit leise zuckender Lippe. Da umschlingt sie Johannes und führt sie in rauschendem Tanze davon.

„Base Doring, Sie sind meine Gefangene!“ raunt er ihr zu, daß sie seinen Athem an ihrer Wange spürt.

O Dorette Rickmann, wie kann ein Herz so viel Glück tragen?! Tanzend trägt es sich noch am besten, meinst du; da fühlt man die goldene Last nicht; da fliegt man in den Armen des Geliebten wie ein Vogel der Morgensonne entgegen.

Aber dann ist endlich der Tanz vorüber. Man sagt sich „gute Nacht“, versichert, wie sehr man sich ergötzt hat, hüllt sich in seine warmen Sachen und steigt mit seinem Ritter und den betreffenden Müttern, Muhmen oder Basen die Treppe hinab.

Johannes und Dorette sind außer Seiler’s, welche noch oben zu thun haben, die letzten der Davongehenden. Als sie unten auf die Straße treten, sieht das Mädchen noch einmal zu den Fenstern des Saales, den sie eben verlassen haben, auf.

„Sie löschen schon die Lichter,“ sagt sie. „Armes Geschäft! Ich möcht’ diese herrlichen Lichter nicht ausblasen.“

„Wenn sie immer brennten, würden sie nicht so herrlich sein. Unser Gemüth gefällt sich am Wechsel.“

„Was kauf’ ich mir für den Wechsel, wenn der Augenblick schön ist?“

„Ich finde auch diesen Augenblick schön. Komm’, Base, gieb mir Deinen Arm fester, Du gleitest sonst.“

„Vorwärts!“ flüstert sie, „es ist Niemand, Johannes; es ist nur der Nachtwächter, der hinter uns geht. – Nein, hier links müssen wir gehen.“

Die Straßen, durch die sie schreiten, sind finster und einsam. Der Himmel ist schwer bewölkt; kaum zwei oder drei Sterne schimmern ab und zu hindurch. Er hält ihren Arm mit sicherem Druck in dem seinen, und Dorette hat Lust, die Augen zu schließen, damit es noch dunkler um sie her werde. Der kalte Decemberwind fährt ihr manchmal mit leisem Frösteln durch die Glieder, aber sie athmet ihn aus voller Brust ein. Wie im Traume geht es vorwärts; ab und zu klingt es noch wie ein ferner schmetternder Nachhall der Tanzweisen durch ihr Ohr. Und daneben steigt eine andere Musik gleich leisen, eintönigen Weihnachtsmelodien in ihrer Seele auf und strömt hinaus in die Nacht – das ist das „Du“ von den Lippen ihres Führers. Dieses Du erfüllt ihr die ungestüme Brust mit seligem, nie gekanntem Frieden, daß ihr Herz wunschlos und feierlich still wird. Sie hört es fort und fort, als wäre sie verzaubert und könnte nun in alle Ewigkeit nichts weiter hören und denken.

Immer näher rückt indessen das Ende ihres Weges. Da befällt das Mädchen eine furchtbare Angst, daß sie dem Vetter weinend an die Brust sinken möchte. Es ist ihr, als sollte sie stillstehn, damit die Nacht und das verrauschende Glück auch still stünden. Aber sie gehen mit einander vorwärts, und nach wenigen Minuten stehen sie vor des Thorschreibers Thür.

Johannes schließt die Hausthür auf.

„Gute Nacht, Dorette! Schlaf gut aus! Wo bist Du denn? Ha, hier!“ und er legt seinen Arm auf ihre Schulter.

Es ist, als stände ihr Herz einen Moment still; sie wagt nicht sich zu rühren und starrt schweigend durch’s Dunkel: er wird sie schon loslassen. Da brennt ein heißer Kuß auf ihre Wange. Sie hat ein Gefühl, als falle sie taumelnd zu Boden; der Athem will ihr vergehen, und doch steht sie noch aufrecht und hört die leisen Laute: „Gute Nacht, schöne kleine Base!“

Und dann hört sie weiter, wie der Schlüssel sich kreischend umdreht, wie sie ihn herauszieht, die Thür öffnet und sie drinnen wieder zuschließt. Scheu huscht sie über den Flur, löst ihre schönen Kleider mit zitternden Händen, wirft sie von sich, und nachdem sie eine Weile halb bewußtlos am Bette geknieet hat, versinkt sie tief aufathmend in die schützenden Kissen.

Der Tag nach dem ersten Kusse ist ein wunderlicher Tag. Dorette fängt tausend Sachen an und legt tausend Sachen wieder hin, und doch fühlt sich ihre ganze Person seltsam geweiht: wie sie geht und wie sie steht, ihr ist, als wäre sie größer geworden, als müsse sie sich bücken, um die wohlbekannten Gegenstände um sich herum zu erreichen.

Wohl erwartet sie mit fieberhafter Ungeduld den Abend; denn nun will sie auch mehr: nun will sie auch hören, daß er sie liebt, daß er ohne sie nicht leben kann; nun will sie den brennenden Kuß auch brennend zurückgeben. Aber sie meint, daß es noch nicht geschehen wird, daß seine Zeit noch nicht gekommen ist, und sie sagt lächelnd zu sich selbst, daß der beruhigende Klang ihr voll auf Ohr und Seele fällt: „Er ist Dir ja sicher, Dorette!“

Endlich kommt der Abend, die gewöhnliche Zeit von Johannes’ Besuchen, aber schon als Johannes eintritt, sieht sie, daß es etwas Besonderes giebt; sonst würde er nach dem, was gestern geschehen ist, nicht so ungestüm, nicht mit so eiliger Geschäftigkeit, die seinem Wesen fremd ist, zu ihr kommen; denn zu ihr kommt er ja, wenn auch der Thorschreiber im Zimmer ist.

„Guten Abend, Dora! Gott zum Gruß, Oheim! Ich habe eine Nachricht,“ beginnt er und wendet sich ausschließlich an die Base. Eine Nachricht für sie und die überbringt er so? Dorette wundert sich und starrt ihn fragend an.

„Ja, eine Nachricht!“ bestätigt er, indem er auf sie zutritt und ihr erregt die Hand schüttelt. „Ich habe gar keine Zeit – muß noch heute Abend Alles fertig machen ...“

„Ja, mein Sohn, aber setzt Euch doch!“ bittet der alte Rickmann, der gern Alles gemüthlich bespricht. „Ihr tragt mir ja sonst die Ruh’ zur Stube hinaus, Johannes Strohmeyer.“

„Sitzend oder stehend, Vater Thorschreiber, wie Sie wollen!“ erwidert Johannes und schiebt sich einen Stuhl herbei. „Ich reise morgen früh mit erster Gelegenheit nach Greifswald.“

„Sieh, sieh, was giebt’s denn so schleunig in der hochwürdigen Stadt?“

„Viel, Oheim, viel! Mir ist die Organistenstelle an Sanct Jacobi offerirt,“ und Strohmeyer’s wohlklingende Mannesstimme erbebt unter der Wucht dieser Worte. „Der Herr Graf haben mich beim Herrn Präpositus, seinem Freunde und ehemaligen Stubengesellen, empfohlen und dieser will mir das Organistenamt vermitteln. Nun hat man mich eilig citirt, auf daß ich mich dem Pastor an Sanct Jacobi vorstelle.“

Der alte Thorschreiber hat bei dieser Kunde still die Hände gefaltet, und seine voll scheuer Ehrfurcht zu Strohmeyer aufblickenden Augen glänzen feucht.

„Gott segne Euch Euer gutes Brod, Johannes!“

Johannes aber beachtet die Worte kaum; denn er blickt auf Dorette, die schon secundenlang mit niedergeschlagenen Augen dasitzt. Doch wie sie jetzt die Blicke des Vetters auf sich ruhen fühlt, sieht sie hastig auf.

„Ich gratulire Ihnen, Johannes!“ stammelt sie, und ihr muthiger Blick richtet sich voll heißer Liebe auf ihn.

„Ja, es ist ein guter Anfang,“ antwortet er. „Die Stelle ist wie für mich geschaffen. Die Greifswalder Herren halten etwas [819] auf machtvolles Orgelspiel. Greifswald – da ist Leben und Bewegung – da gilt, was man ist, und nicht, wo man herkommt. Wer sich in Greifswald einen Namen macht, verlöscht nicht wie ein Talglicht, wenn seine Zeit um ist. – Auf die Greifswalder Leute hat man ein Auge. Von dort aus ist weiter zu kommen. Unzählige werden sich um diesen Posten bemühen, und mir fliegt er in den Mund. Base, ich habe Glück.“

Dorette nickt, und ihre kleinen zitternden Finger spielen in innerer Erregung auf der Tischplatte. Vor einer Minute durchstach es sie, wie ein glühender Schmerz. „Die Stelle ist ihm lieber, als Du!“ flüsterte ihr eifersüchtiges Herz. Aber nein – nun ist es vorüber und sie geht mit ganzer Begeisterung seiner Freude auf.

[829] Der Alte schüttelt den Kopf über Strohmeyer's Greifswalder Projecte.

„Johannes, Johannes, wachst nicht über'm Dach hinaus! Ihr paßt sonst mehr in die Stube, und draußen erfriert Ihr. – Wer hoch steigt, kann tief fallen.“

Da lächelt das Mädchen überlegen, und die Augen des Vetters, welche den ihren begegnen, blitzen.

„Oheim, das verstehen Sie nicht,“ sagt er von oben herab und will sich schon erheben, als Rickmann, der von draußen gerufen wird, aufsteht und das Zimmer verläßt, nachdem er, ohne die geringste Empfindlichkeit zu zeigen, dem jungen Manne noch in wenig Worten die herzlichsten Wünsche für seine wichtige Reise mitgegeben und versichert hat, daß, wenn er nicht zum Bürgermeister müsse, er ihn heute Abend gewiß nicht verlassen würde.

Nun sind die Beiden wieder allein.

„Wie hast Du geschlafen, Dorette?“ fragt Johannes und rückt der Base näher.

„Gut,“ flüstert sie, „so gut, wie man nach einem tollen Abend schläft.“

Dann hebt sie das gluthübergossene Gesicht leise herausfordernd zu ihm auf: „Seit wann nennen Sie mich 'Du', Vetter? Es paßt sich nicht.“

„Es paßt sich doch, schöne Base,“ und er fängt sich eine ihrer Hände, um sie fest in den seinen zu halten. „Es paßt sich noch Vieles – Mund auf Mund paßt sich auch. Ich bin Dein Vetter und darf Dich küssen.“

„Laß mich los, Johannes! Du hast kein Recht zum Küssen – Vetter!“ und wie sie das Wort „Vetter“ unwillkürlich betont, fährt sie so heftig zusammen, daß er es an ihrer Hand fühlt.

„Aber gestern ließest Du den Kuß zu.“

„Du hast ihn Dir geraubt.“

„Dorette,“ beginnt er zärtlich, geht aber plötzlich in einen scherzenden Ton über: „Wenn ich von Greifswald wiederkomme, will ich Buße thun.“

Dann erhebt er sich schnell, um zu gehen.

„Leben Sie wohl, Johannes!“ sagt sie liebevoll.

Da packt es ihn noch einmal, als müsse er sie jetzt für immer an sich nehmen. Aber – es wäre zu sehr gegen seine natürlichen Grundsätze: wenn er zurückkommt, wird er ihr Alles sagen; sie wird ihm schon nicht „fortschwimmen“.

„Adieu, süße, schöne Base! Vergiß mich nicht!“

Darauf schütteln sie sich noch einmal die Hand und er geht.

Langsam kehrt sie sich von der Thür ab und setzt das Licht auf den Tisch. Lange starrt sie mit selig leuchtenden Augen hinein und verfolgt das Spiel der rothblauen Flamme, die sich bald glühend nach allen Seiten hin weitet, bald züngelnd schließt.

Dann zieht ein Schatten über ihre Stirn.

„Warum wohl das letzte Wort noch immer hinausgeschoben wird?“ denkt sie und setzt laut hinzu: „Als ob sich das Schicksal fürchtete, einem so viel Glück auf einmal zu geben. – Feige, neidvolle Macht!“

Und doch, wie glücklich ist sie! Als der Alte zurückkehrt, sieht er sie erwartungsvoll an, und als sie schweigt, blinzelt er schlau mit den treuherzigen Augen vor sich hin, als dächte er: „Ja, ja, das ist so das Beginnen der Jugend: für's Erste thun einem alten Manne nichts davon zu wissen.“

Indessen haben seine Worte einen eigenthümlich fragenden Klang, wie er ein Mal über das andere im Laufe des Abends sagt: „Was für ein groß' Glück macht doch Johannes!“

Dann antwortet Dorette hastig allerlei neckisches Zeug, da sie recht gut merkt, wo der Vater hinaus will. Es reizt sie, daß er zu denken scheint, es sei schon Alles im Reinen zwischen ihr und Johannes, und eben deswegen thut sie unwillkürlich, als wolle sie ihr süßes Geheimniß durch lustige Narrheiten verbergen. Merkwürdig, mit welcher List sie dieses Spiel betreibt, als sei ihr des Vaters Glaube Bürgschaft der Erfüllung! Merkwürdig auch, wie sie dann, als der Alte wieder vor ihr zur Schlafkammer geht, mit der Zuversicht leidenschaftlicher Liebe in der Rückerinnerung dieses Abends und in schmeichelnden Zukunftsträumen schwelgt! –




6.


Eine Woche später trifft Dorette Johanne Seiler in der Stadt.

„Nun, Mädchen, wie war es gestern Abend? Du scheinst ja noch ganz gelassen,“ wird sie von der Freundin angeredet.

„Gestern Abend? Es spukt wohl bei Dir, Johanne?“

„Ist er denn nicht bei Dir gewesen?“

„Hanne, wo fehlt Dir's? Er ist ja noch gar nicht zurück. Er meinte, wenn er die Stelle bekäm', würde er dort länger aufgehalten werden. Hanne, Mädchen, wie fügt sich doch Alles günstig! Ich bin ...

[830] „Aber, Kind,“ fällt ihr Johanne in’s Wort, „hier ist er. Ich habe ihn selbst gestern gesehen.“

„Wo?“ fragt Dorette auffahrend.

„Um Gott, Doring, Du erschreckst mich ja mit Deinem Gesicht. Ich meine, es war auf dem alten Markt; er schien wunderbar eilig und sah mich kaum an, als er grüßte.“

Dorette ist ganz blaß geworden.

„Dann hat er die Stelle nicht bekommen,“ sagte sie ärgerlich. „Aber warum nicht, begreif’ ich nicht. Der Präpositus oder der Pastor von Sanct Jacobi muß ein Pinsel sein. Aber kommen hätte er doch können,“ und sie stampft zornig mit dem Fuße auf. „Das ist sein Stolz und Ehrgeiz, daß er nicht kam. Nun, mir ist es gleich – es ist mir nur für ihn leid, daß er unverrichteter Sach’ zurückkommt. Mir ist es Vaters wegen gar nicht so sehr um’s Bald-Heirathen. Und wir werden schon anderswo ankommen; denn das kannst Du nicht bestreiten, seine Person hat ’was Großes und Bestechliches, wo er nur hinkommt.“

„Ja, man sieht, daß er gescheut ist.“

„Neulich auf Euerm Ball spielte er auch die erste Violine und war doch dem Stand’ nach der Niedrigste,“ fährt Dorette hastig beredt fort. „Es ist gut, wenn ein Mann Alles sich selbst verdankt. Was, Hanne: wie arm und ungraziös machte sich die Aufführung Eurer anderen Herrlein, wenn man sie mit ihm verglich! Aber ich will eilen, daß ich nach Haus’ komme; er könnte da sein! Hanning ... nein, laß nur, adieu!“ – – –

Johannes läßt sich bei Rickmann’s nicht blicken.

„Vating, gehen Sie doch mal zu ihm!“ bittet am Abend des dritten Tages Dorette. „Ich weiß, daß er in der Stadt ist; er muß krank sein.“

„Gott woll’ uns gnädig bewahren! Warum redest Du denn nicht eher, Doring?“ ruft der Alte und macht sich zum Ausgehen bereit. Aber noch ist er nicht völlig fertig, als die Hausthür geht. Dorette ist gerade auf dem Flure. Sie erkennt Johannes sofort, obgleich es fast völlig dunkel ist.

„Guten Abend, Johannes!“ Dann ist es mehrere Secunden todtenstill; denn Johannes antwortet nicht gleich.

„Guten Abend, Dorette! Sind Sie’s, Base?“

Seine Stimme klingt unsicher und gekünstelt.

„Wir haben Sie eher erwartet,“ sagt sie beklommen.

„Eher!“ und ein wunderlich kurzes Lachen trifft das Ohr des Mädchens; dann sagt er hastig, wie obenhin: „Ich – ich hatte recht viel zu thun, wissen Sie“ – und sie merkt wohl, wie er das „Sie“ halb verschluckt – „ich bin ja auch erst eben zurückgekehrt. O, es giebt entsetzlich viel Geschäfte,“ setzt er dann noch unnatürlich laut und recht breitspurig hinzu.

Diesmal weiß Dorette nichts mehr zu erwidern; mit langsamen, abgemessenen Schritten, als verlöre sie bei jeder anderen Bewegung das Gleichgewicht, geht sie ihm in’s Zimmer voran.

„Na, Johannes, da seid Ihr ja glücklich wieder heim!“ begrüßt ihn der Alte. „Eben zog ich mir schon die Stiefeln an, um zu Euch zu gehen; wir dachten, es sei Euch was Uebles begegnet.“

„Guten Abend, Ohm.“ Und Johannes reckt sich zu seiner ganzen Höhe auf, als er dem Alten die Hand giebt. Dann setzt er sich, ohne einen Blick auf Dorette, in die erste beste Ecke nieder. Seine Augenbrauen ziehen sich seltsam zusammen, und er wechselt mehr denn einmal die Farbe.

„Nun,“ fängt er endlich langsam an, „wie ist es Ihnen die Zeit über gegangen, Ohm?“

„Uns – o, uns, wie immer,“ antwortet Rickmann und steht ganz verwirrt da; „aber Euch, Johannes! Ihr müßt nun erzählen! Ihr habt sie doch, die Stelle?“

„Ja, ich habe sie,“ antwortet die schneidende Stimme des jungen Mannes; die Worte kommen ihm nur langsam von den Lippen, „und alles lebende und todte Inventar dazu!“

„Schön, schön, um so viel besser, mein Sohn! Also eine zugerichtete Amtswohnung hat der Organist zu Sanct Jacobi? Es wundert mich nur, daß alle die Trödelei mit der Uebergabe so gar schnell gegangen ist.“

„O,“ antwortet Johannes höhnisch, „das machen der Herr Pastor und Präpositus Alles ab!“

Dorette hat sich Johannes gegenüber gesetzt; nur die Länge des Tisches und das kleine flackernde Licht, das auf ihm brennt, ist zwischen ihnen. Unsicher fällt sein Schein auf ihr Gesicht, das eine tödtliche Angst ausdrückt. Sie meint, der Wahnsinn laure hinter des Vetters abgebrochenen Worten, und ein Gemisch von Entsetzen und kaum dagewesenem Mitleid brennt aus ihren Augen, die fest auf ihn gerichtet sind.

„Aber mein Sohn,“ sagt der Thorschreiber, der sich zu den Beiden gesetzt hat; „seid Ihr denn mit Allem zufrieden?“

Johannes wendet sich, als wolle er Dorette ansehen, kehrt sich aber schnell wieder ab; dann richtet er sich etwas auf und erwidert: „Danach wird nicht gefragt, wenn man vorwärts will im Leben. Ich wollte Ihnen doch nur sagen, Ihnen – und – der Base – daß ich auch die Wittwe des weiland Organisten mit übernommen habe.“

Er rückt etwas hin und her und versucht zu lächeln, ist aber todtenbleich geworden. Der Thorschreiber merkt noch immer Nichts.

„Es kann Euch freilich lästig werden,“ meint er, „aber es wird ja wohl ein ruhig und still Frauchen sein. Eine Stube und Kammer müßt Ihr freilich hergeben.“

Da steht Johannes auf. „Oheim, so ist es nicht gemeint. Ich habe mich verpflichtet, sie zu heirathen. Man nennt das die ,Conservation der Wittwe’. Hier ist ein Schreiben – ein offenes Schreiben an den Generalsuperintendenten, der zur Zeit auf Revision ist und nächster Tage nach Stralsund kommt. Darin können Sie’s nachlesen; es ist vom Herrn Präpositus. Ich lasse es bis morgen hier.“

„Johannes, Ihr macht keine guten Witze!“ stammelte der Alte.

„Es ist kein Witz, Oheim. Nicht jede Mahlzeit wird uns appetitlich gedeckt. Ja – warum verwundern Sie sich, Oheim? Was blieb mir anders übrig? So – so – ist das Leben, Base.“

Mit einer gewaltigen Anstrengung dreht sich Johannes um und sieht zum ersten Mal an diesem Abend Doretten in’s Gesicht. Aber der Thorschreiber sieht sein Kind nicht an; er starrt auf Johannes; dann steht er auf und verläßt das Zimmer.

An der Thür ballt er die Faust. „Gott verdamme den Schurken!“ murmelt er – aber Keiner beachtet es. Johannes wollte auch, er wäre bereits draußen. Dorette ist auf den Stuhl zurückgesunken und ihre Hände krampfen sich gegen den Tisch; sie sieht Johannes nicht an; auch rührt sie sich nicht; als wäre sie im Augenblick eines rasenden Schmerzes versteinert, sitzt sie da.

„Dorette!“ ruft er endlich.

Leise zuckt es über ihr Gesicht.

„Es war – Uebereilung. Was sollte ich thun –?“

Ein stechender Blick fliegt zu ihm hinüber.

„Ich wußte nicht, daß“ ... er macht eine kleine Pause – „daß es Dir so nahe ginge!“

Da springt sie empor und steht wieder vor ihm, wie damals, da er sie zuerst sah, nur daß ihr bleiches Gesicht im Zorne aufflammt; ihre Augen messen ihn, wie an jenem Abend.

„Sie sind ein Unverschämter,“ sagt sie mit der Ruhe und Kälte der Verzweiflung. „Denken Sie vielleicht, ich hätte Sie zum Manne genommen? Ich habe mit Ihnen gespielt, wie mit den Anderen, und Sie spielten mit mir; warum auch nicht? Ich verbitte mir Ihre mitleidige Tonart. Wir haben einander nichts vorzuwerfen.“

„Dann ist ja Alles gut, Base! Gute Nacht!“

Und schon hat er den Drücker der Thür erfaßt, um zu gehen, da wird sein Arm von zwei bebenden Händen umklammert und zwei wahnsinnige Augen glühen voll tödtlichsten Hasses und tödtlichster Liebe zu ihm empor.

„Ich hatte vergessen, Ihnen zu gratuliren,“ raunt ihm Dorette zu. Da macht er Miene, ihre Hand zu fassen; er will diese Hand küssen; er will vor dem Mädchen niedersinken und um Gnade bitten; aber, als ahnte sie es, reißt sie sich plötzlich von ihm los und läßt ihn, wie im Abscheu, fahren.

„Gehen Sie!“

Die Thür fällt hinter ihm in’s Schloß.

Minuten vergehen, ehe Dorette ein Lebenszeichen von sich giebt; dann stürzt sie ächzend zu Boden und umklammert den Stuhl, auf dem er gesessen hat.

Unterdessen entfernt sich Johannes hastigen Schrittes vom Hause, aber er kehrt nicht in die Stadt zurück; er geht zum Fährthor hinaus; denn er muß Luft haben. Weiter und weiter stürmt er in die Nacht hinein, und zuletzt steht er auf derselben Brücke, auf der an einem sonnigen Frühlingsnachmittage Dorette Rickmann stand und bei sich selber sprach: „Ich möchte wissen, wie die Liebe ist.“

[831] Düstere Wolken ziehen über den Himmel; nur manchmal tritt der Mond grell hervor und gießt einen zitternden Schein über das schwarze Wasser. Johannes lehnt am Geländer und blickt in die Wogen hinab. Er möchte einen Strich unter die Vergangenheit machen, und doch läßt sie ihn nicht los.

„Es muß im Blute liegen, daß man an einem Tage so anders fühlt, als am anderen; es wird vorüber gehen.“

Und dann tauchen plötzlich wieder die Vorgänge zu Greifswald in seinem Geiste auf, als durchlebte er sie noch einmal: Wieder geht er den Rubenow-Platz auf und ab, an dem altmächtigen Universitätsgebäude und der Jacobi-Kirche vorüber und sagt sich, daß er es sein wird, dessen Orgelspiel in den nächsten Jahren berühmte und erleuchtete Magister und begeisterungsfrische Jünglinge der vornehmen Hochschule lauschen werden. Und wieder läßt er sich von dem alten Custos Marianus, der ihm weitläufig verwandt ist, vorrechnen, was die Organistenstelle an St. Jacobi bringt. Es ist viel, mehr, als er verbrauchen kann, auch wenn er bald heirathet; davon läßt sich zurücklegen zu einem Orgelcursus in Berlin oder Dresden und zu weiteren Unternehmungen.

Endlich geht er zum Herrn Pastor selbst und stellt sich ihm vor. Der originelle alte Herr empfängt ihn zuvorkommend freundlich und wird im Laufe ihrer gegenseitigen Unterhaltung immer herzlicher. Darauf läßt er ihn in Gegenwart des Herrn Präpositus und einiger alter Magister in der Kirche die Probe singen und überzeugt sich von seinen Fähigkeiten auf der Orgel. Diese ist ein selten schönes Instrument. Johannes kann sich nicht satt daran hören und fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben über sich selbst emporgehoben. Dann aber, als er sich nach beendetem Spiel noch einen Augenblick tief aufathmend über die Tastatur beugt, glaubt er ein dumpf getragenes Brausen zu vernehmen. Es quillt nicht aus der Orgel hervor; sie ist verhallt; es steigt aus seiner eigenen Brust herauf, und dennoch vernimmt er es wie eine Fluth fern anbrandender Töne: das Meer der Welt schlägt in allmächtigem Ruf an seine ehrgeizige Seele.

Mit dem Bewußtsein einer großen Zukunft erhebt er sich und wird von den im Schiffe seiner Harrenden theils mit gemessener Würde, theils feurig und herzlich anerkennend beglückwünscht. Auch erfährt er, daß in Zukunft an St. Jacobi die Küsterei von der Organistenstelle getrennt sein wird, und höher, denn zuvor, erhebt Johannes sein Haupt: keine kleinlichen Dienste werden also von ihm gefordert, und es wird ihm vollauf Zeit bleiben, hier den Contrapunkt und das weitere Wesen der Composition zu studiren, wozu ihm auf seinen Reisen Ruhe und Gelegenheit gefehlt haben. Mit jedem Schritt, den er auf dem Greifswalder Pflaster thut, erschließen sich ihm neue ungeahnte Vortheile.

Sobald er wieder in die Wohnung des Pastors zurückgekehrt ist, werden endgültig die gegenseitigen Bedingungen zum äußeren Abschlusse des Geschäftes erörtert. Alles ist schon bis zur Unterschrift fertig, und Johannes wüßte nicht, daß er irgend etwas in den vorgelegten Bestimmungen anders wünschen könnte. Er ist sich überhaupt nur des einen Wunsches bewußt, so bald als möglich seine Ernennung zum Organisten in Händen zu haben. Da sagt der geistliche Herr behäbig:

„Und nun noch Eines, mein lieber Organiste in spe: es betrifft die Conservation der Wittwe; sie ist eine sanfte, liebenswürdige Frau, sodaß Er in dieser Sache gar nicht so gar schlecht fährt. Sie ist mein Beichtkind von altersher, und bei dem Tode ihres seligen Eheherrn habe ich ihr zugesagt, ich wolle die Vacanz nur durch Den beseitigen, der sich nach gegebener Formel des onus conservationis schwarz auf weiß bei mir vereidigte, sie zu freien. Setze Er sich also flugs nieder und schreibe! Die Frau ist zwar etwas kränklich, aber fleißig und sparsam und bringt Ihm ein ansehnlich Vermögen und nur ein Kind, ein Mädchen von sieben Jahren zu. Will Er aber, wie mir scheint, die Katze nicht im Sack kaufen, so geh' Er hinüber und sehe sich das Frauenzimmerchen an!“

„Es wäre mir lieb,“ sagt Johannes vollständig gefühllos und verabschiedet sich vorläufig.

Als er unten die Dom-Straße betritt, tanzen die Gegenstände bunt vor seinen Augen. „Die Stelle! Die Stelle!“ Alle Fibern seines Gehirns drängen diesem einen Gedanken entgegen und halten ihn fest umklammert. Aber – kann er denn von Dorette lassen? Doch sein Herz ist wie todt und leer; nur der gewaltige Ruf der Welt dröhnt durch seine Brust, wie durch eine verödete Stätte. „Die Stelle! Die Stelle!“ Es ist sein einziger Gedanke. Sogleich kann er sie nicht fahren lassen; wenigstes hinübergehen muß er. Und er geht und findet in der Wohnung des verstorbenen Küsters und Organisten eine blasse Frau mit hektischen Flecken auf den Wangen und krankhaft glänzenden Augen. Sie hat schon von seiner Ankunft gehört und empfängt ihn ohne Weiteres als Denjenigen, welcher sie heirathen wird.

„Sie werden ein bequemes und sorgsames Wesen an mir finden. Ich habe meinem seligen Caspar das Leben auch nicht schwer gemacht,“ sagt sie. „Und das Kind ist auch gut. Das Geld steht bei der schwedischen Bank und ist Alles wohlangelegt.“

Er verhält sich starr und schweigsam und ist noch nicht im Stande, sich gleich entscheidend zu äußern. Aber je mehr er in den folgenden Stunden die Sache überlegt, desto annehmbarer scheint ihm Alles. Wohl tritt Dorette's schönes Bild noch schmeichelnd und lockend vor seine Seele, aber mit kräftigem Entschluß drängt er die gaukelnde Gestalt zurück. Die Neigung zu ihr war ein Jünglingstraum, eine rasch verwelkende Blume des heißen Sommers, an der er sich wohl kurze Zeit berauschen konnte, die ihn jetzt aber nichts weiter angeht; denn – er muß vorwärts. So geschieht es, daß er der blassen Frau die Hand zur Verlobung reicht und sie zum Zeichen der Vereinigung einen Ring, den sie aus verschlossenem Kasten holt, an seinen Finger schiebt.

„Und Sie schicken mir einen Ring, sobald es Ihnen möglich ist, von Stralsund aus,“ sagt sie, „damit ich beweisen kann, daß wir versprochen sind!“

Er sagt es zu und küßt das kleine Mädchen, das sie ihm als ihr Kind vorstellt, zum Abschied auf die Stirn. Dann geht er zum Pastor und – schreibt.

Damals kam ihm dies Alles so natürlich vor; warum jetzt nicht mehr? Was hat er denn verloren? Die Ehre? Er hat Doretten nie ein Wort gesagt, das ihn bände. Die Ruhe des Gewissens? Die Base wird sich trösten. Das Glück? Ein oft genannter Mann sein, seine Gaben verwerthen, die Mittel einer sorgenfreien Existenz besitzen – ja, das ist Glück, und doch, das Glück hat er verloren, das Glück, das Glück!

Schauerlich braust der Nachtwind über die offene Bucht; wie ein klaffendes Grab gähnt die gepeitschte Fluth zu seinen Füßen. Laut seufzend, mit unsicheren Schritten verläßt er die Brücke und kehrt zur Stadt zurück. Er will nicht durch das Fährthor die gewohnte Straße hinaufgehen, und doch zieht es ihn unwiderstehlich auf diesen Weg. Als er an des Thorschreibers Haus vorüber muß, sieht er, wie eben eine kleine Gestalt in der Thür verschwindet; das ist der alte Mann, der nicht mit ihm unter einem Dache sein wollte, und der ihn manchmal „mein Sohn“ genannt hat. Ihm ist weh zu Muth. Nun wird sie sich an der Brust des Vaters ausweinen, und er steht draußen. Fast packte ihn ein Grimm gegen den alten Mann, der das Mädchen, welches er geküßt und verlassen hat, jetzt in seinen Armen hält; denn nie ist ihm Dorette begehrenswerther erschienen, als heute Abend, wo sie so stolz vor ihm stand, ihn mit harten lügnerischen Worten von sich wies und sich dann in der ganzen Gluth ihrer jungen, empörten Liebe vor ihm bloßstellte; nie hat er sie so geliebt, wie jetzt, wo er sie für immer verloren hat. Sein Blut kocht, und zugleich schüttelt ihn der Frost; heute erst weiß er, was es heißt, ein Mädchen lieben – und drüben in Greifswald hat er seine Ehre verpfändet.

Er irrt sich aber, wenn er denkt. daß Dorette jetzt schluchzend am Herzen ihres Vaters liegt. Das ist nicht ihre Art; selbst heute nicht. Als sie den Vater kommen hörte, rafft sie sich auf von der Stelle, an welcher sie niedergesunken war. Nun verräth kein Wort, keine Thräne, was in ihr vorgeht. Trotzdem weiß es der Alte, und es schnürt ihm das Herz zusammen; er sieht es nicht an ihrem entstellten Gesicht; denn er fürchtet sich noch immer, ihr in die Augen zu schauen; er sieht es an dem wankenden Gange und den zitternden Fingern des Mädchens und an ihren puppenartigen Bewegungen. Johannes' Name wird nicht zwischen ihnen genannt; schweigend gehen sie neben einander her; nur der Alte seufzt manchmal dumpf auf.

Erst als Dorette hinausgeht, um, wie er meint, das Nöthige in der Wirthschaft zu besorgen, langt er den unseligen Brief hervor, den ihm Johannes gab: da steht es denn schwarz auf weiß, daß Johannes Strohmeyer dem königlich schwedischen Generalsuperintendenten von Greifswald, zur Zeit auf Reisen, zur gefälligen Confirmation überwiesen werde. Er habe die Probe gesungen, ein vorzügliches Orgelspiel vernehmen lassen und sei in allen Stücken [832] für gut befunden worden. Außerdem hätten seine Vernunft, seine Einsicht und sein gutes Herz aus allen Reden hervorgeleuchtet. Auch sei ihm das onus conservationis auf's Nachdrücklichste vorgestellt worden und sein darauf bezüglicher Entschluß sei an Eides Statt von ihm niedergesetzt und folge hiermit im Original bei, das er, der Präpositus, den Herrn Generalsuperintendenten ersuche, ihm ganz gefälligst direct wieder zuzustellen, auf daß er es zu den Acten thun und bei der Institution der Gemeinde vorlegen könne. Dies Alles liest Rickmann mit der fieberhaften Begier, es ganz zu fassen, aber die Buchstaben verwirren sich vor seinen Augen, und der Stil ist ihm unverständlich; er will versuchen, die Brillengläser zu putzen, aber das herabgefallene Tuch, das er dazu von der Erde aufnimmt, ist naß, wie durch's Wasser gezogen.

Er hatte es vorhin in der Erregung nicht mit sich genommen, und Jemand Anderes muß es in seiner Abwesenheit benutzt haben.

„Heiliger Gott, was hast Du mit meinem Kinde gemacht!“ stöhnt Rickmann und wischt mit dem Rockzipfel die Brille.

Aber auch durch die blankgeputzte Brille begreift er nicht mehr von Dem, was der Präpositus geschrieben hat, als vorher. Erst als ihm die folgende Beilage, welche Johannes' eigene Schriftzüge trägt, in die Hand kommt, geht ihm ein klares Licht auf, das sich aber durch zwei bittere Thränen, die schwer wie Schweißtropfen niederfallen, trübt.

„Ich, Karl Wilhelm Johannes Strohmeyer,“ heißt es in dem Schreiben, „bezeuge hierdurch, daß ich den Organistendienst hierselbst suche und mich bei meiner Ehre anheischig mache, des hiesigen Küsters und Organisten seligen Frederick's Wittwe zu ehelichen, widrigenfalls ich mich dieser Ehre für verlustig erkläre, und wenn ich gleich schon zum Dienste gelangt sein sollte, mich alles Rechts und Anspruchs daraus gänzlich bar ansehe.“

Dann folgen noch Ort und Datum, aber der Thorschreiber liest nicht weiter. Er faltet die Papiere heftig wieder zusammen und wickelt sie in einen großen Bogen. Morgen in aller Frühe wird er sie Johannes hintragen; denn er will nicht, daß Dieser noch einmal seine Schwelle betritt.

Dann wartet er, bis Dorette hereinkommt; aber er muß lange warten. Noch sitzt sie draußen auf dem Herde, zusammengekrümmt wie ein angeschossenes Thier des Waldes. Immer unregelmäßiger werden die Schläge ihres Herzens; immer verworrener und bleierner ihre Gedanken; denn sie blutet ja aus tausend Wunden. Endlich stößt sie einen Schrei aus, so wild und herzzerreißend, daß er von der Mauer widerhallt und sie, entsetzt vor sich selber, emporhebt.

Da ringt sie die Hände und schreit abermals, und es ist, als würde ihr leichter in tiefster Seele – und wenn sie nicht schaudernd an ihren Vater dächte, würde sie fort und fort schreien, bis ihr ganz leicht würde und sie todt zu Boden fiele. So aber kommt ein eiserner Wille über sie, daß sie aufsteht und hineingeht.




7.

Reichlich ein Monat ist seit diesem Abend verflossen. Dorette ist im Hause beschäftgt; denn es ist Vormittag und der Thorschreiber muß pünktlich zu Mittag essen.

Wer Dorette Rickmann vor einem Vierteljahre sah, als die Herbstlüfte um Stralsund wehten, der wurde glauben gemacht, daß jedes Herz seine besondere Jahreszeit hat, und wer sie heute sieht, der muß meinen, daß jeder einzelne Mensch auch eine selbstständige Zeitrechnung hat; es scheint ihm nicht möglich, daß erst ein Monat verging, seit Johannes Strohmeyer zuletzt in diesem Hause war.

Dorette hat es eilig, und die Dinge gehen auch vorwärts, wenn sie arbeitet; aber was sie auch thut, alle ihre Hantirungen sehen aus, als wären sie schmerzhaft müde, als hätte sie viele, viele Nächte nicht geschlafen. War sie früher schlank, so ist sie jetzt mager. Der ewige Wechsel in dem Ausdrucke ihres Gesichtes ist verschwunden; dieses Gesicht hat nur noch einen Ausdruck – und das ist der Ausdruck bitteren Spottes.

Nein, es ist nicht wahr, daß seit jenem Abend erst ein einziger Monat in's Land ging – es ist lange, lange, unendlich lange her. Aber wenn wir sie frügen, wann es war, so würde sie sagen: „gestern Abend.“ Vielleicht, weil es eine gute alte Gewohnheit war, zu sagen: „gestern Abend“ – vielleicht auch, weil sie seitdem nichts weiter erlebt hat. Nur aus der Ferne hat sie gehört, daß Johannes Stralsund für immer verlassen hat, daß seine Confirmation hierorts vollzogen wurde und daß er nun in Greifswald auf den Ruf zur Einsetzung in's Organistenamt wartet.

Aber es hat sie kalt gelassen – das Alles sind keine Erlebnisse mehr für sie. Sie weiß, daß in der Stadt viel über Johannes und sie gesprochen wird, und deshalb hält sie sich meist zu Hause. Aber wenn sie doch unter Leute geht, ist sie bitter und unliebenswürdig. Sie hätte die Kraft, sich besser zu beherrschen, aber sie hält es nicht für der Mühe werth.

Sie liest fast gar nicht mehr; die Bücher, die ihr Johannes schenkte, liegen oben in der Truhe bei dem weißen Einsegnungs- und Ballkleide – und vor der Truhe, zertreten und zerstreut, liegen welke Rosenblätter. Ihre einzige Rettung sind das Hauswesen und die Pflege des Alten.

Jetzt ist es gleich zwölf Uhr. Dorette hebt die Speisen vom Feuer und trägt sie hinein. Da kommt auch schon ihr Vater, aber er kommt nicht allein. Er nöthigt einen weißhaarigen, alten Herrn vor sich her in's Zimmer. Mit dem greisenhaften Lächeln, das sich der Thorschreiber in den letzten Wochen angewöhnt hat, bittet er den Fremden, ihm doch die Ehre anzuthun, hier Platz zu nehmen. Dieser sieht mit kleinen, hellblickenden Augen bald auf Rickmann, bald auf Dorette.

„Er ist also der Thorschreiber Rickmann, und dies hier ist Seine Tochter?“ hebt er endlich an. während sein Blick prüfend auf Doretten haften bleibt.

„Ja, Euer Hochedeln, die sind wir.“

„Und ein Johannes Strohmeyer ist mit Ihm verwandt?“

Ein böses Lächeln tritt auf die zugespitzten Lippen des Mädchens, als wollte sie sagen: „Was nun noch?“ Aber sie hält die Musterung des alten Herrn ruhig aus; die Farbe ihres Gesichts wird noch um einen Schein blasser; sonst steht sie wie aus Erz gegossen da.

Doch ihres Vaters Lippen zittern, als er mit einem kurzen „Ja“ antwortet.

„Und Er will Einsprache erheben, daß dieser Johannes Strohmeyer, der bereits vom Herrn Generalsuperintendenten confirmirt wurde und am nächsten Sonntag in das Organistenamt, das er begehrt hat, instituirt werden soll, daß dieser Strohmeyer, sage ich, des Cantors Frederick Wittwe eheliche – wie?“

„Wer sagt das, Herr?“ fährt der Thorschreiber zornig auf. „Ich bin nicht sein Vormund; mag der Strohmeyer thun, wozu ihn der Teufel verführt! Herr du meines Lebens, auch das noch!“

„Ich verbitte mir Schmähungen über denjenigen, den ich mir zum Organisten erwählt habe!“ sagt der Fremde mit Nachdruck. „Es handelt sich hier nur –“

„Wer hat das gesagt?“ unterbricht ihn Rickmann. „Ich bitte Eure Hochehrwürden um Vergebung, aber welcher Mensch hat mich so verleumdet? Welcher? Welcher hat das gesagt?“

„Sei Er nicht so heftig, Alter!“

„Warum soll ich nicht heftig werden Herr? Weil ich ein gemeiner Mann bin, und Ihr ein geistlicher Herr?“

Der Pastor erhebt sich:

„Es handelt sich hier um weiter nichts – diese fatale Historie hat mich schon Noth und Mühe genug gekostet, bis ich mich entschlossen habe und bin selber hierher gereist an die Brutstätte des Geklätsches; darum erschwer' Er mir die Angelegenheit nicht! Hier handelt es sich um weiter nichts, als ob besagter Johannes Strohmeyer gewiß und wahrhaftig mit Seiner Tochter, der Jungfer Dorette Rickmann, versprochen war, und ob Er Einspruch thun will, daß derselbe sich anderweit vereheliche, wie mir durch einen Stralsunder Schulmeister, der auch wegen des vacanten Dienstes bei mir war, zu Ohren gekommen ist?“

Da tritt Dorette vor.

„Hochehrwürden,“ sagt sie, und ein kalter Hohn klingt durch ihre Worte, „zwischen mir und meinem Vetter, Johannes Strohmeyer, hat nie ein Verlöbniß stattgefunden. Mein Vater kann es Ihnen schwarz auf weiß geben, auf daß Sie es auch zu den Acten legen, gleich anderen Schriften, die an Eides Statt geschrieben worden sind.“

„Ja, Euer Hochehrwürden, das will ich. Das ist eine ausgesponnene Lüge, und Niemand kann sagen, daß Johannes Strohmeyer des Thorschreibers Tochter hat sitzen lassen,“ erwidert nun seinerseits der aufgebrachte Alte, dem es ganz entgangen ist, daß Dorette auf das dem Schreiben des Präpositus, beigefügte Document von Johannes' Hand angespielt und also damals doch den offenen [834] Brief gelesen hat, ehe er ihn früh Morgens zu seinem Neffen trug. –

Der Pastor athmet erleichtert auf.

„So ist die Sache beigelegt,“ sagt er, „ich habe jetzt noch andere Geschäfte in der Stadt; heute Nachmittag, lieber Rickmann, komme ich wieder vor und hole mir Sein Papier ab. Adieu, meine Tochter!“

„Adieu, Hochehrwürden,“ antwortet Dorette, einen kalten Blick unter den dunklen Wimpern hervorschießend, und nimmt eine Miene an, als spräche sie auch zu dem geistlichen Herrn, wie einst zu jemand Anderem: „Wir sind Königinnen!“

„Gott befohlen, Alter! Und laß Er sich die Sache nicht so zu Herzen und in das Oberstübchen gehen! Sein Vetterssohn, der Strohmeyer, ist ein gar lieber und wackerer junger Mann.“

Die Lippen des Thorschreibers pressen sich fest auf einander, und er verbeugt sich tief, tiefer denn je, aber seine Glieder beben leise. Nachdem aber der Herr Pastor fort ist und Rickmann eine Weile stumm dagesessen hat, sagt er:

„Doring – ich muß wohl schreiben?“

„Ja, Vater. Hier ist ein weißer Bogen; die Feder thut’s auch noch, und da liegt die Brille.“

„Aber wie soll ich denn schreiben? Ja, wenn man schriebe, gleich wie man spricht; das Donnerwetter sollte sie –! Aber den Stil da bring’ ich nimmer heraus.“

„Schreiben Sie, wie Sie denken, Vater! Für die Sorte ist jeder Stil gut genug; nur sagen Sie, daß nie ein Verlöbniß zwischen mir und – ihm war.“

Und der Alte holt sich den Bogen näher heran, setzt die Brille auf und kaut an der Feder. Plötzlich aber taucht er ein und schreibt; eine dunkle Gluth steigt ihm zu Kopf, während er mühsam Folgendes zu Papier bringt:

„Ich, Unterschriebener, bezeuge hierdurch, daß solche Worte, die da sollen gesprochen sein und von Johannes Strohmeyer darum befraget worden sind, dieweil er sich mit der Wittwe als Küsterin zusammen verehelichen und den Dienst zu Sanct Jacobi in Greifswald antreten will, daß solche Worte nicht gesprochen worden sind, wir wollten darauf Einspruch thun. Es sind solche Gedanken niemals eingefallen und ist auch kein Verlöbniß gehalten worden. Das wäre ein Unverstand von uns, wenn wir solches anfangen wollten. Aber derjenigte, der diese Worte in Anderer Mund gebracht hat, von Einspruch thun, denjenigen halte ich vor des Teufels und einen Windbeutel.

Rickmann, Thorschreiber.“

Als der Alte mit diesem Zeilen fertig ist, liest er sie noch zweimal aufmerksam durch, dann ruft er Dorette, die aus der Tiefe des Zimmers herantritt. Sie nimmt den Bogen in die Hand und liest auch. Aber sie lächelt nicht, wie sie wohl früher gethan haben würde, über die ungelenke alterthümliche Schreibweise des Vaters. Als sie an die letzten Worte kommt, blitzt es seltsam in ihren erloschenen Augen auf.

„Wer ist des Teufels?“ sagt sie mehr sich selbst, als dem Vater. Dieser aber nimmt die Frage heftig auf.

„Nun,“ sagt er, „da steht es ja geschrieben!“ und zeigt auf das Papier.

„Ja wohl, Vater, da steht’s auch. Es ist gut, was Sie geschrieben haben.“

Dann wendet sich Dorette hastig ab, und Rickmann faltet sein Schreiben zusammen.




8.

Wieder ist es Frühling. Die Gebüsche auf dem Rubenow-Platze treiben Sproß auf Sproß, und immer lichter wölbt sich der Himmel über dem ehrwürdigen Haupte des in Erz gegossenen Bürgermeisters, der von hohem Sockel aus den nach ihm benannten Platz beherrscht. Zuweilen setzt sich ein unbefangenes Vögelchen in die Falten seines Rockes, oder gar mitten in sein ernstes Antlitz und zwitschert ein Lied von Sehnsucht und Hoffnung, daß die vorüberschreitenden Magister die Stirnen tiefer in Falten legen und ein Schatten der Erinnerung verstohlen über ihre pergamentenen Gesichter zieht, während mancher junge Student am Eingange der Universität unwillkürlich innehält und sich übermüthig fragt, ob es nicht etwa gerathen sei, heute die Hypothesen des Professor So-und-so auf sich beruhen zu lassen und in den belebten Straßen oder auf den freundlichen Wällen Greifswalds ein Frühlingsprivatissimum zu hören.

Johannes Strohmeyer ist seit Monaten eingeführter Organist; und die Eingabe des Pastors, ihm wegen seines vortrefflichen Orgelspiels und seines gar erbaulichen, vollklingenden Gesanges auch den Cantorentitel binnen Jahresfrist zu verleihen, liegt bei der hohen Behörde.

Eines der alten Giebelhäuser, welche in die kleine Gasse hinabsehen, die vom Jacobi-Kirchplatze aus nach Norden zu in die sogenannte Lange Straße führt, ist mit dem Wechsel der Jahreszeit besonders hübsch aufpolirt worden – in seinem zweiten Stock hat der Organist seine Amtswohnung.

Mitte Sommer läuft das Trauerjahr um den seligen Cantor Frederick ab; seine Wittwe und Johannes Strohmeyer beabsichtigen, dann ihren neuen Hausstand zu gründen. Doch die Frau ist seit einer Woche so krank, daß sie sich hat entschließen müssen, das Bett zu hüten. Seitdem sie ihr ehemaliges Domicil verlassen hat, lebt sie bei einer in der Langen Straße verheiratheten Schwester, deren Mann der Vormund des Frederick’schen Kindes ist.

Es ist Sonntag gegen Abend. Johannes, der seine Braut sonst täglich besucht hat, ist heute noch nicht bei ihr gewesen. Er schlendert eben gerade über den belebten Rubenow-Platz, um zur Kirche zu gehen und für sich allein noch ein halbes Stündchen Orgel zu spielen: Er geht, wie gesagt, sehr langsam. Seine Gedanken ziehen sich vom Wege ab in die Ferne. Er weiß es nicht genau, aber er glaubt, sich nicht zu irren, daß es heute gerade ein Jahr her ist, daß er als Secretär des Grafen nach Stralsund kam und noch gegen Abend seinen Besuch beim Thorschreiber machte. Er erinnerte sich noch ganz deutlich jedes Umstandes bei diesem ersten Besuche. Die Finger seiner rechten Hand pressen sich fester zusammen und krümmen sich leise zur Faust; er gesteht sich wieder einmal, daß er sich verrechnet hat, als er dachte, man könne eine Dorette Rickmann so bald vergessen.

[858] Seit einem Monat ist der Oheim Rickmann gestorben. Dorette, die wilde, schnippische Dorette, ist heute ein stilles, in sich gekehrtes Mädchen; sie hält sich jetzt beim Bürgermeister Seiler auf und wird für die Folgezeit zu Frau Consul Gerhard gehen, welche ja schon ein altes Interesse für das nun verwaiste Mädchen hegt.

Dies Alles giebt dem jungen Organisten viel zu denken, als er über den Rubenow-Platz schreitet. Er ist an der Kirche angelangt und will die schwere Thür öffnen, als ihn der kleine Schwestersohn seiner Braut, welcher ihm schon eine Strecke weit gefolgt ist, einholt.

„Muhme Frederick läßt Sie bitten, Sie möchten doch mal zu ihr kommen,“ sagt er und zieht sehr ehrerbietig seine Mütze.

Ein ungeduldiger Seufzer und ein finsteres Stirnrunzeln sind die nächste Antwort: „Ich komme, Kind.“

Als er nach zehn Minuten das Haus betritt, kommt ihm seine künftige Schwägerin, Frau Romus, schon entgegen.

„Sie ist heute viel kränker; sie will mit Ihnen allein sprechen,“ sagt sie und tritt mit einer halb sorgenvollen, halb beleidigten Miene in den Hof hinaus, während Johannes zu seiner Braut hinein geht.

Diese richtet sich nicht mehr, wie in den früheren Tagen, mühsam auf, um ihn zu begrüßen; sie winkt nur mit den Augen und sagt mit leiser Stimme:

„Setzen Sie sich hier dicht heran, Strohmeyer!“

Er sieht ihr prüfend in’s Gesicht; dann faßt er hastig ihre Hand, als wolle er gewisse Gedanken dadurch ersticken.

„Sie haben heute viel zu thun; verzeihen Sie, daß ich Sie rufen ließ – nicht wartete, bis Sie kämen,“ spricht sie in Absätzen weiter; „aber – es hätte – zu spät sein können.“

„Wirklich?“ fragt Johannes mit einiger Hast.

„Ja, Sie haben es – wohl auch geahnt – daß es zu Ende geht. Haben Sie – den Doctor nicht – gefragt?“

„Nein, ich scheute mich,“ erwidert Johannes beklommen.

Die Frau deutet das auf ihre Weise:

„Ich danke Ihnen, Strohmeyer, daß Sie mich – ein wenig lieb gewonnen haben.“ Dann macht sie eine längere Pause, ehe sie fortfährt: „Ich war recht glücklich mit Caspar, aber Sie sind mir in diesen – paar Monaten – auch lieb geworden. Ich hätte gewünscht, dies“ ... sie deutet auf ihren schwindsüchtigen Hals, in welchem für sie der Tod sitzt, „wäre erst – nach – der Hochzeit gekommen. Vor Allem Frieda’s wegen. Es – ist besser, ein Mädchen hat einen tüchtigen – Stiefvater, als – einen verkehrten Vormund. Ich traue Romus nicht; er hat sein eigen Hab und Gut fast verspeculirt – er kann es bei seinem Mün – del ebenso – machen; die Obervormundschaft ist nicht immer sehr wachsam; ach! was Caspar so mühsam gespart hat! Ich – bin so – heiser – verstehen Sie noch?“

„Ja, Therese ... aber ruhen Sie sich erst aus!“

„So – kommen Sie näher! Ich sage Ihnen das auch, damit Sie mich – nicht verkennen – und nicht meinen, ich hätte Caspar – nicht – betrauert – wie sich’s gebührt; darum war mir so viel daran gelegen, Ihre Hand zu gewinnen – ich – hat – te viel Gutes von – Ihnen vernommen, sehen Sie! – Ach – sehen Sie – wenn Sie – sie adoptiren könnten – viel Vertrauen“ – und ihre Augen leuchten voll auf sein Gesicht, das in unerklärlichem Ausdrucke über ihre Kissen gebeugt ist; – „wenn das wäre, hätten Sie Alles in Händen – Aber Romus läßt es nicht – zu – sprach – schon mit – ihm –“

Johannes antwortet mit starker Stimme:

„Ich meine; ich bin vor den Gesetzen zu jung, um sie adoptiren zu können, aber Rath und Wohlwollen sollen Ihrer Tochter nie von meiner Seite fehlen.“

Dann setzt er noch hinzu, und seine Augen blicken finster: „Lassen Sie sich das Geld nicht so bekümmern, Frau Therese, wenn Ihre Tochter, sonst – glücklich wird! – Für ein Mädchen braucht’s noch weniger des Geldes, als für einen Mann.“

„Ach, ja,“ seufzt die Frau, „aber man – will – doch – auch nicht, daß das schöne Geld – so un – tergeht – auch in Ansehung Ihrer"! – Ihnen – entgeht es nun auch – Ihnen hätte – ich’s auch gar – wohl – gegönnt.“

Johannes lächelt gezwungen, und eine dunkle Röthe steigt ihm bis hoch in die Schläfen.

„Wer weiß, ob mir das Geld Gutes gebrächt hätte!“

„Es hat nicht sein sollen,“ entgegnet die Frau sanft. „Strohmeyer – holen Sie die – Bibel – und lesen Sie mir – einen Abschnitt vor – hernach – will – ich – schlafen – mir ist etwas besser.“

[859] Johannes gehorcht, weiß aber, als er zu Ende ist, kein Wort von dem, was er gelesen hat.

„Ich danke Ihnen,“ flüstert die Kranke; „geben Sie mir Ihre Hand, Strohmeyer! – Caspar wird es nicht übel – nehmen – auf daß ich sie küsse, eh' ich vielleicht – sterbe!“

Johannes fühlt sich plötzlich gerührt; er macht sich bittere Vorwürfe.

„Nicht doch!“ sagt er und küßt sie in das fieberheiße Antlitz.

Aber als sein Mund dasselbe berührt, tritt ein anderer Kuß vor seine Seele, den er in dunkler Nacht auf eine winterlich kalte Mädchenwange gepreßt hat, daß er schnell, wie zurückbebend, das Haupt emporhebt. Sehnsüchtig zieht es ihn zu Doretten; die Vorwürfe in ihm verblassen plötzlich, wie sie gekommen.

Sein Blick ist mitleidslos ruhig, als er jetzt auf die vor ihm liegende Frau sieht.

„Wenn diese stirbt, ist mein Weg frei!“ kann er sich nicht mehr enthalten, deutlich zu denken, „ohne daß ich mein Ehrenwort gebrochen hätte.“

Therese Frederick ahnt es nicht; denn sie winkt ihm freundlich mit den Augen, er möge nun gehen. Es ist das letzte Mal, daß er den Blick dieser Augen zu ertragen hat. – –

Wenige Tage darauf steht er an dem offenen Grabe seiner Verlobten, vor sich den Pastor, der ein erbaulich Gebet spricht, um sich herum die Chorknaben, mit denen er soeben ein geistlich Lied gesungen hat, und hinter sich die Menge der Leidtragenden. Wie abwesend sieht er über die Gruft hinweg, und der durchdringende Duft der grünen Buchsbaumguirlanden, der von dem Deckel des Sarges zu ihm emporschlägt, verwandelt sich vor seinen Sinnen in den Duft dunkelrother Rosen.

Als die Feierlichkeit vorüber ist und Johannes sich, den Uebrigen voran, langsam von der Stätte derselben entfernt, tritt Romus aus der Reihe der Anderen heraus und folgt ihm scharf beobachtend eine lange Weile über den altehrwürdigen Friedhof.

Sich endlich unmittelbar zu ihm gesellend, sagt er lauernd: „Nun können Sie ja die Thorschreiberstochter freien, Schwager! – Aber mit der Controlle wird es nichts. Das Vermögen ist in meiner Hand, und ich werd' es nach Recht und Gewissen verwalten, nicht Sie.

„Fasliger Mensch, wer kümmert sich um das Vermögen, von dem Sie reden!“ braust Johannes auf. „Verwalten Sie es nach Belieben!“

„Aber die Thorschreiberstochter, Herr Strohmeyer, wie steht's mit der?“

„Was kümmern Sie sich um fremde Angelegenheiten? Ehren Sie den Frieden des Gottesackers und lassen Sie mich in Ruhe!“ ist die eisige Antwort, und der also Beschiedene kneift die Lippen ein und zieht sich zurück.

„Der Stich sitzt doch,“ murmelt er, als die Leidtragenden das Mühlenthor passiren und er bei dieser Gelegenheit wieder in die Nähe des verhaßten Mannes kommt.

Auf Johannes' Stirn lagert eine Wolke, und als er in seine Wohnung zurückkehrt, um das Choralbuch abzulegen, bevor er sich, der Sitte gemäß, noch einmal in das Trauerhaus begiebt, bleibt er länger als nöthig; denn ihn schmerzt das dumpfe Haupt und jedes Wort, das die Leute reden, ist ihm zuwider.

Es berührt uns immer unangenehm, wenn Jemand Anderes, den wir nicht für berufen dazu halten, uns die geheimsten Gedanken des Herzens vorsagt – doppelt unangenehm aber, wenn diese Gedanken eine Beimischung von irgend welcher Schuld an sich tragen. Johannes ist auch in den folgenden Stunden so ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, daß er ganz vergißt, was wohl heute seine Pflicht wäre, sich um das verwaiste Mädchen zu bekümmern, dessen Wohlergehen ihm die Mutter an's Herz gelegt hat.

Therese Frederick ist todt – und was er ihr versprochen hat, ist mit ihr begraben. Doch der Hügel, welcher sich über ihrem Sarge wölbt, wirft noch einen langen Schatten auf seinen Weg; denn Johannes sagt sich, daß er eine geraume Zeit hingehn lassen muß, bevor er sich Doretten wieder nähern darf; sonst hat er in Greifswald verspielt.




9.

Es ist fast ein Jahr her, daß Dorette dem alten Thorschreiber die Augen zudrückte, um bald darauf als Gesellschafterin zu Frau Consul Gerhard zu gehen. Die alte wunderliche Matrone kann nichts „Ennuyantes“ um sich dulden, und deshalb lebte sie mit Dorette's meisten Vorgängerinnen auf gespanntem Fuße, während die Thorschreiberstochter wie für sie geschaffen ist.

Sie verlangt nicht, daß das Mädchen sie beständig unterhalte – die Alte ist eine scharfe Beobachterin, außergewöhnliche Menschen – und namentlich Frauen – sind ihr an und für sich eine Unterhaltung. Es wird daher für gewöhnlich nichts von Doretten verlangt, als den kleinen Haushalt zu führen und der augenschwachen Frau Gerhard häufig vorzulesen.

So sind dem Mädchen bis jetzt die Tage gleichmäßig verflossen; denn die häufigen Besuche der Gerhard'schen Hausfreunde sind ihr nachgerade auch so gleichgültig geworden, wie alles Andere, das sie in den neuen Verhältnissen umgiebt, soviel auch diese Hausfreunde ihrerseits von der wieder aufblühenden Schönheit Dorette Rickmann's zu reden wissen und die Gewandtheit bewundern, mit welcher sich die Thorschreiberstochter in dem vornehmen Bürgerhause bewegt. Nur in den allerletzten Wochen hat auch Dorette angefangen, einem der Besucher, dem jungen Handelsherrn Putzbach, eine lebhaftere Aufmerksamkeit zu schenken. Er gehört zur Gerhard'schen Verwandtschaft und hat mithin besonders oft Zutritt zur Wohnung der Frau Consul.

Heute hat Dorette ihre Principalin zu einer kleinen Mittagsgesellschaft begleitet. Eben von dort zurückgekehrt, zieht sie sich auf ihr Zimmer zurück. Noch ist sie sehr aufgeregt; es hat einen eigenthümlichen Eindruck auf sie gemacht, zum ersten Mal wieder „unter Menschen“ zu sein. Sie hat viel gesprochen und viel gelacht.

„Man muß,“ denkt sie jetzt bei sich selbst, „wie sollte man's sonst tragen, all das Geschwätz mit anzuhören – denn mir – mir ist das Vernünftige wie das Unvernünftige gleichgültig; man muß nur vor sich und vor Anderen thun, als mache man sich aus allem Möglichen alles Mögliche! – denn – man muß vorwärts!“ und sie wirft sich auf's Sopha und legt sich müde zurück, während ein eigenthümlicher Schatten der Erinnerung über ihre Züge fliegt. „O,“ ruft sie und streckt seufzend die Arme von sich, „wenn mein alter Vater noch lebte, wär' es ganz gut so.“

Nachdem sie so einige Augenblicke gelegen hat, trat die Aufwärterin ein und meldet, daß ein Herr da sei, der sie zu sprechen wünsche. Dorette richtet sich auf; ihre Brust arbeitet schwer. Es ist Putzbach, den sie heute in der Gesellschaft sah.

Ein Schauer erfaßt sie; ihr Freiheitsbedürfniß empört sich, der keusche Zauber ihrer ersten jungen Liebe, welcher ohne ihre Schuld durch blutige Zornesthränen befleckt wurde, flammt noch einmal in ihrer Seele auf, aber sie muß fest bleiben; denn sie fürchtet, ein Anderer könne zu ihr zurückkehren – sie muß einen Wall um ihr leidenschaftliches Herz thürmen – und wäre es der Name des oft verspotteten Putzbach.

„Sag' Sie ihm, ich erwarte ihn, und führe Sie ihn in's Erkerzimmer!“

Nach dieser ertheilten Ordre erhebt sich Dorette langsam, und langsam tritt sie in den anstoßenden Raum, wo sie einen Armleuchter anzündet. Dann läßt sie sich, möglichst weit entfernt vom Eingang, am Fenster in einen Fauteuil nieder.

In unwillkürlich stolzer Haltung erwartet sie ihren Anbeter. Der Saum ihres langen, modern geschnittenen Trauergewandes liegt auf weichem Teppich, und ihr erhobenes Haupt, wenn es sich leise wendet, streift an schwere seidene Vorhänge. Ihre Wangen glühen vor Aufregung, was wunderbar gegen die Weiße ihres gepuderten Haares absticht. Sie sieht seltsam schön aus – älter als sie ist – aber berauschend schön.

Da geht die Thür auf. Sie will aufschreien vor Schreck, aber der Schrei erstickt schon in ihrer Brust. Starr, mit weit aufgerissenen Augen blickt sie auf den Eingetretenen; dann, als schmerze es sie, wendet sie sich, die Lider krampfhaft schließend, von ihm ab.

Johannes hat sie Jahr und Tag nicht gesehen. Eine Secunde bleibt er in der Thür stehen und senkt die Stirn, wie ein Schuldbewußter, aber in seinen Zügen steht Nichts als Liebe. Und mit der ganzen Gluth eines erst spät, aber desto mächtiger zur vollen Leidenschaft erwachten Gefühls blickt er jetzt auf sie, und langsam tritt seine hohe Gestalt ihr näher.

„Da bin ich wieder, Dorette,“ sagt er leise bittend und kann sich noch gar nicht recht fassen.

„Und was wollen Sie?“ fragt sie, sich zu ihm wendend, und ihre Blicke begegnen sich. Der kalte Strahl aus ihren Augen [860] fährt wie ein Schwert durch sein Herz. Da ermannt er sich und legt wie ein Mann auf einmal sein ganzes Geschick in ihre Hand.

Dich will ich – Du weißt es,“ sagt er mit Leidenschaft.

„Und das sagen Sie, und das wagen Sie mir zu sagen?“

Sie scheint über sich selbst emporzuwachsen.

„Ich weiß, was ich that – ich entschuldige mich nicht – ich sage nicht: des Teufels Künste verführten mich – nein, Dorette, ich, meine Natur, ich selbst that das – aber damals liebte ich Dich nicht, wie heut. Dorette, sieh nicht weg! Nur die Liebe kann sühnen, was an der Liebe verbrochen ist.“

„Wer sagt, daß ich Sie liebte?“

„Dorette, lüge nicht! Ich weiß es besser. Lüge nicht jetzt, wo das Glück zweier Menschen auf dem Spiele steht!“

„Du irrst, Johannes,“ sagt sie tonlos, „heute steht Nichts auf dem Spiel – einst – damals – heut nicht mehr. Mein Glück hast Du auf einen Schlag zertrümmert – geh! es ist lange vorüber.“

„Nein!“ sagt er; „heut ist heut! Es giebt kein 'damals'. – Damals liebte ich Dich nicht, wie heut. Du bist ...“

„Und doch küßten Sie mich?“

„Heute küß' ich Dich nicht. Heute möcht' ich knieen vor Dir. Ich habe Ehr' genossen, und mein Herz blieb hohl – Dorette.“

„Geh, Johannes, ich liebe Dich nicht.“

„Du lügst. Du liebst mich, wie ich Dich liebe. Du bist mein.“

„Nie!“ ringt es sich über ihre bebenden Lippen.

„O Gott,“ ruft er, „giebt es denn keine Vergebung? Dorette, warum nicht? warum: nie?“

„Ich mag nicht mehr,“ antwortet sie und wendet sich schwer athmend von ihm fort. Als sie aber hört, wie er tief aufseufzt, kehrt sie sich wieder zu ihm. Sie sieht ihn matt an, und ihre Stimme sinkt zu einem heiseren Flüstern herab. „Ich mag nicht, Johannes; schon als Kind mocht' ich aus keinem Gefäß trinken, das andere Lippen vor mir berührt hatten. Eine Andere war Deine Braut; es ist kindisch, aber ich kann nicht anders: Du hast sie geküßt?“

„Einmal – ohne Liebe,“ stöhnt er.

„Nein – nein – ich mag nicht,“ wiederholt sie schaudernd, wie zu sich selbst.

„Höre mich an!“ ruft er zornig, „so wirst Du verhungern und verdursten. Du – ich – wir Beide!“

„Ich kann nicht Dein Weib werden. Ich weiß, Du hast sie nie geliebt – Du wirst nie eine Andere, als mich lieben – aber sie war Deine Braut. Ich kann es nicht vergessen.“

„Meine Braut!“ stößt Johannes höhnisch hervor; „wenn Du wüßtest ...“

„Nein, nein, nie!“ fährt sie fort. „Der Neid würde von meinem Brode essen und von meinem Wasser trinken; er ist ein gefräßig Thier – laß mich!“

„Ich lasse Dich nicht und fürchte mich nicht vor Dir,“ und er fällt vor ihr nieder und umfaßt ihre bebenden Kniee.

Da richtet sie sich mit letzter Kraft empor.

„Johannes!“ ruft sie und sieht ihn mit furchtbarem Ernst an; „diese Stunde habe ich kommen sehen. Tag und Nacht habe ich seit Monaten gewußt, daß sie käme, und Tag und Nacht habe ich gesonnen, wie es sein würde, wenn ich jetzt noch – Dein würde. Wir hätten eine Hölle auf Erden. Die Eifersucht ließe mir keine Ruhe. Was Du auch thätest, wozu Dich auch Gaben und Amt riefen, immer würde ich denken: wenn er Dich wieder um sie verleugnen könnte, er thäte es wieder.“ Aber sie kann nicht mehr; die Leidenschaft erstickt ihre Stimme. „O Gott, mein Gott!“ fleht sie dann und ringt verzweifelt die Hände.

Wenn sie jetzt zusammenbräche, ohnmächtig und hülfsbedürftig, wie ein anderes Mädchen! Sehnsüchtig hängen Johannes' Blicke an ihrer schwankenden Gestalt. Aber sie faßt sich. Hastig beugt sie sich nieder und raunt ihm mit glühendem Athem in's Ohr:

„Fort! fort! – wenn Sie Erbarmen haben! Ich kann Ihnen nicht vergeben.“

Er aber kniet noch und rührt sich nicht und hält das Gesicht dumpf stöhnend in den Falten ihres Kleides begraben. Endlich – endlich – erhebt er sich.

„Und dies ist das Letzte?“ fragt gepreßt.

„Ja,“ sagt sie, ohne ihn anzusehen.

Da geht er wankend hinweg, und ihr Herz schreit auf, und sie schaut wild und verzweifelt um sich, als hätte sie eine zweite Jugend und ein zweites Glück verloren.




10.

Des anderen Tages erscheint der getreue Putzbach schon zur Vormittagsstunde bei der Wittwe Gerhard. Diesmal nicht scheu und angstverworren, wie bei seiner ersten Werbung, diesmal stolz und sicher, wie ein Freier, der seiner Sache gewiß und des erhebenden Bewußtseins voll ist, mit seiner Hand eine außerordentliche Gabe darzubringen. Die Zeit hat seine Züge gereift, doch gewissermaßen auch verhärtet, seine Gebärden und sein sonstiges Auftreten abgeschliffen. Er ist weniger lächerlich, als früher, aber auch weniger anziehend, wenn man dieses Wort auch auf solche Persönlichkeiten übertragen darf, die uns kein reines Wohlgefallen, sondern nur eine gewisse, aus Rührung und Belustigung gemischte Theilnahme erregen. Geschäftig nähert er sich Doretten, doch als er ihr aufmerksam in's Gesicht blickt, verläßt ihn einen Augenblick seine zuversichtliche Haltung.

„Mamsell Rickmann, wie sehen Sie nur aus!“

„Ja, es scheint, mir liegt ein ansteckendes Fieber in den Gliedern. Bemühen Sie sich nicht mehr so oft her! Es könnte Sie auch packen.“

„Wie,“ stottert der Bestürzte, unwillkürlich zurückweichend, „wie meinen Sie das? Wollen Sie nicht einen Arzt ...“

„Putzbach,“ sagt Dorette und rührt ihn leicht mit der Hand an, „gehen Sie! Es wird nichts daraus; ich heirathe Sie nie. Sehen Sie nicht so ungläubig aus; ich habe ein böses Spiel mit Ihnen getrieben – ich bin schlecht. Begreifen Sie es doch: ich bin schlecht, und da ich Sie obendrein nicht liebe, verlieren Sie nichts an mir!“

Und Putzbach begreift endlich, noch nicht gleich, daß er „nichts an ihr verliert,“ wohl aber, daß er sie verloren hat, daß sie von Anfang an für ihn verloren war. Eine tiefe Röthe des Zornes steigt ihm bis hinauf unter die gepuderte Frisur und drängt seine kleinen wasserblauen Augen aus ihren Höhlen.

„Sie haben mich behandelt wie einen Schuljungen, Mamsell,“ ruft er mit unstät funkelndem Blick. „Und ich habe Sie geliebt, treu geliebt. Aber Sie können gewiß sein, Mamsell: ich werde nicht wieder in Ihren Weg treten.“

„Ich hab' keine andere Sprache verdient,“ murmelt Dorette und mißt den sich steif vor ihr Verneigenden mit dem Blick.

„Es hat nicht sein sollen,“ poltert Putzbach, sobald er gegangen ist und sich allein auf dem weiten Hausflur des Consulhauses sieht, mit heiserer Stimme vor sich hin. „Schändliche, gefallsüchtige Geschöpfe, diese Mamsells aus niedrigen Ständen! Wenn sie nur nicht so absonderlich schön und graziös wäre und ich mich nicht als dummer Junge schon in ihre galanten Manieren verliebt hätte! Verliebt – verliebt!“ wiederholt er leiser mit klagendem Accent. Dann rafft er sich auf, und der Commerzienrath in spe kommt über ihn. „Doch, es hat nicht sein sollen,“ sagt er bedächtig. „Und – und – ja es ist besser so. Wart', Mamsell, ich werde Euer einer wieder etwas weißmachen!“

„So wäre denn auch dies abgethan,“ spricht Dorette unterdessen bei sich selbst, „und alles Vergangene soll mir vergangen sein.“




11.

Inwieweit es ihr möglich gewesen ist, nach diesen Worten zu leben, erhellt aus dem Bruchstück eines Briefes, das man zwanzig Jahre später, als Dorette eben verstorben ist, unter ihren Papieren findet. Es lautet:

„Und nun laß Dir 'adieu' sagen, Johannes, mein Johannes!“ Diese zwei Worte sind besonders unterstrichen, aber halb verlöscht, als wären Thränen darauf gefallen „Es ist gut, daß wir uns hier auf Erden nicht wieder gesehen haben; ich bin zu grausam häßlich geworden. Sollte ich mich doch geirrt haben, und wären wir dennoch glücklich geworden? Sollte ich Unrecht gethan haben, Johannes? Weil ich Dich fallen ließ, ließest Du Deine Zukunftspläne fallen – hätte ich Dich doch heirathen sollen? Glücklich wäre ich nicht geworden, aber hätte ich es dennoch gemußt, um Dich Dir selber zu retten? Es ist mir nie eingefallen, daß die Liebe Selbstaufopferung fordern könne; Liebe und selbstisches Glück waren immer ein und dasselbe für mich. Aber je näher mir der Tod kommt, desto mehr werde ich mir selber entrückt und sehe Eigenes wie Fremdes, und alle Dinge treten in hellere Beleuchtung. Aber nein, das ist gewiß – vergessen konnte ich nicht. Möge Gott [861] uns Beiden mehr vergeben, als ich Dir vergab! Oder vergab ich Dir? Vergab ich Dir vielleicht schon längst? Und das, was zwischen uns stand, war nicht Härte, sondern Ohnmacht? Ach, vielleicht! Meinetwegen auch das!

Und nun? Was soll ich nun noch sagen? Johannes, ich liebe Dich. Ich habe Dich namenlos lieb gehabt. Ich möchte wissen, ob Du Dich noch an Alles erinnerst: an die Rosen, an das weiße Kleid, an den ersten Abend – Gott! ich bin eine alte Mamsell und werde bald sterben, was will ich noch mit der wahnsinnigen Liebe zu Dir? Mich darin einhüllen, wie in mein letztes Gewand, aber ich fürchte, sie ist nicht 'schneerein'; denn Selbstsucht ist schwarz, wie die Sünde.

Es ist Zeit, aufzuhören, obgleich ich ewig schreiben könnte, da es das Letzte ist, was ich zu Dir spreche.

Was hältst Du von der Aufklärung unserer Zeit? Manchmal zittere ich – und dennoch, schlecht und bitter, wie ich bin, glaube ich an einen Himmel und an eine Barmherzigkeit, und die Thränen kommen mir in die Augen, wenn ich mir vorstelle, wie mir mein alter Vater oben vor dem Himmel entgegenkommt, mich an die Hand nimmt und sagt: 'Doring, was werden nun die Engel sagen?' Ach Gott, was werden sie wohl sagen zu Dorette Rickmann?! Adieu, Johannes! Lebe wohl, Johannes! Es ist das Letzte.
Dorette.“

Ob wirklich je dieser Abschiedsbrief an den Organisten Strohmeyer zu Greifswald gelangt ist, wissen wir nicht. Das aber wissen wir, daß Johannes sein Amt bis zu seinem Ende bekleidet hat. Sein Ehrgeiz scheint früh einen tödtlichen Schlag bekommen zu haben.