Ein Apostel der Volksaufklärung

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Autor: E. P.
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Titel: Ein Apostel der Volksaufklärung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 878–880
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein Apostel der Volksaufklärung.


Vor einigen Tagen, am 2. December, wurde zu Offenbach bei Frankfurt am Main das Denkmal eines Mannes enthüllt, den wir mit Recht als einen Apostel der Volksaufklärung bezeichnen können. Wir meinen den am 26. September 1876 verstorbenen Heribert Rau, über dessen Leben und Wirken die folgenden Daten nicht unwillkommen sein dürften. Es war ein in seinem äußeren Gange zwar einfaches, seinem inneren Gehalte nach aber um so reicher gestaltetes Leben, dessen Umrißlinien wir hier zu zeichnen beabsichtigen.

Ueber Heribert Rau’s Wiege ging der Stern der Befreiung des Vaterlandes vom Joche der Fremdherrschaft auf, und der Stern der Freiheit ward für ihn auch Symbol, ward zum Leitstern seines Lebens. Er ist geboren zu Frankfurt am Main am 11. Februar 1813. Als Sohn eines Kaufmannes wurde auch er zum Kaufmanne bestimmt. Der tiefinnerliche, unbezwingbare Trieb nach Höherem ließ sich indeß in dem jungen Manne wohl eine Zeitlang zurückdämmen, nicht aber völlig unterdrücken. Die Erstlingsspenden seiner schöngeistigen Production erschien zu Anfang der vierziger Jahre in Gestalt einiger Novellen, Romane und Operntexte.

Als dann 1844 in Folge des frechen Gaukelspiels der Ausstellung des sogenannten „heiligen Rockes“ in Trier und des gegen dasselbe geschleuderte Ronge’schen Briefes aus Laurahütte die religiöse Reformbewegung entstand, da schloß sich auch Rau mit Begeisterung derselben an, indem er zunächst aus der römischen Kirche, welcher er durch die Geburt bis dahin noch äußerlich angehört hatte, austrat und mit andern gleichgesinnten Freunden in Frankfurt am Main die noch jetzt dort bestehende deutschkatholische Gemeinde in's Leben rief. Unter außerordentlichem Zudrange hielt er populäre Vorlesungen über Kirchengeschichte, die dann unter dem Titel „Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche von ihrer Entstehung bis auf die Gegenwart“ von der Literarischen Anstalt in Frankfurt verlegt wurden, und über die „Geschichte des alten und neuen Bundes“, welche später in zwei Bänden bei Groos in Heidelberg erschien.

Jene Tage und Ereignisse wurden nun entscheidend für seinen ganzen ferneren Lebensweg und Entwickelungsgang. Nach ernstem Kampfe mit sich selbst verbrannte er mit entschlossener Hand die Schiffe, welche ihn seither getragen, warf den kaufmännischen Beruf ganz bei Seite und bezog, obschon verheirathet und bereits Vater zweier Söhnchen, noch im reiferen Mannesalter die Universität Heidelberg, um dort unter Paulus’ Führung theologischen und geschichtlichen Studien obzuliegen und sich dann ausschließlich der Sache der religiösen Aufklärung als deutschkatholischer Prediger und Lehrer zu widmen.

Nach Ablauf seiner Studienzeit folgte Heribert Rau zunächst einem Rufe an die Gemeinde nach Stuttgart, welcher er von 1847 bis 1850 als Prediger angehörte, worauf er in gleicher Stellung nach Mannheim übersiedelte und daselbst sieben Jahre lang segensreich und allgemein hochgeachtet wirkte. Seine feurige, schwungvolle Beredsamkeit wußte hier wie in Stuttgart – wo er auch mit Künstlern und Schriftstellern in mannigfachen geselligen Verkehr trat – einen zahlreichen und anhänglichen Hörerkreis um sich zu sammeln.

Aus Rau’s zehnjähriger Stuttgarter und Mannheimer Periode erwuchs eine stattliche Reihe von Büchern und Schriften zumeist religiösen und populär-wissenschaftlichen Inhalts, deren einige ein wahrhaft epochemachendes Aufsehen erregten; so die zweibändige Predigtsammlung „Feuerflocken der Wahrheit“, der „Katechismus der Kirche der Zukunft“, welcher vier Auflagen erlebte, die „Apostelgeschichte des Geistes“ – vor Allem und ganz besonders aber die „Neuen Stunden der Andacht“, von welchem vierbändigen Werke der Verleger Otto Wigand in Leipzig eben die sechste Auflage zur Versendung bringt, und das zuerst in sieben Bändchen anonym erschienene, später zu einem umfangreichen Bande verewigte „Evangelium der Natur“, welches einen außerordentlichen, ja einen geradezu phänomenalen Erfolg hatte. Dieses vielgefeierte, von den Dunkelmännern aber auch glühend gehaßte Buch, das die Grundlehren der Astronomie, Geologie, Anthropologie, Physik und Chemie zum ersten Male in populärer und dabei doch anziehender Gesprächsform vorzutragen versuchte, ging in drei sehr starken deutschen Auflagen über die halbe Erde, und in einer zu Amsterdam erschienenen holländischen Uebersetzung massenhaft nach den niederländischen Colonien, namentlich nach Java. Auch die „Apostelgeschichte des Geistes“ und der „Katechismus der Kirche der Zukunft“ sind in’s Holländische übertragen worden, und diese drei Werke allein haben in unzählige Köpfe den ersten Funken des Nachdenkens und der religiösen Aufklärung geworfen.

Doch gerade Rau’s große Erfolge auf dem Gebiete der Volksaufklärung sollten zum Anlaß werden, daß er aus der ein Jahrzehnt mit Hingabe verfolgten Bahn gewaltsam wieder in die seiner ersten, belletristischen Periode hinübergedrängt wurde. Der um jene Zeit besonders mächtigen politisch-kirchlichen Reaction in Baden war der in Wort und Schrift kühn vorstürmende Prediger der Mannheimer deutschkatholischen Gemeinde längst ein Pfahl im Fleische: sein so entschieden mit den alten Anschauungen brechender „Katechismus der Kirche der Zukunft“ mußte zum Anlaß und Vorwand für das badische Ministerium werden, Rau, ohne daß er nur darüber vernommen, und ohne daß ihm eine Vertheidigung gestattet worden wäre, seiner Predigerstelle in Mannheim zu entsetzen.

Rau, von dem Felde seiner bisherigen Wirksamkeit hinweggemaßregelt, kehrte 1857 nach seiner Vaterstadt Frankfurt zurück, die er dann auch bis zu seinem neunzehn Jahre später erfolgenden Tode nicht mehr verlassen hat. Hier war es nun, wo in den folgenden acht Jahren jene Serie von „biographisch-culturhistorischen Romanen“ entstand, welche Rau's Name auch in Kreise eindringen ließ, die von seiner seitherigen literarischen Wirksamkeit auf religiösem Gebiete gar nichts wußten, vielleicht nicht einmal etwas wissen wollten. Es sind die in rascher Aufeinanderfolge – in der Regel jedes Jahr einer – erschienenen Romane: „Mozart, ein Künstlerleben“ (6 Bände), „Beethoven“ (4 Bände), „Alexander von Humboldt“ (7 Bände), „Jean Paul“ (4 Bände), „Hölderlin“ (2 Bände), „Theodor Körner“ (2 Bände), „Garibaldi“ (3 Bände), „William Shakespeare“ (4 Bände) und „Karl Maria von Weber“ (3 Bände).

Von allen diesen Romanen war es wieder der erste, [879] „Mozart“, welcher von dem außerordentlichen Erfolge getragen war. Das Bestreben, den Lieblingscomponisten des deutschen Volkes diesem auch in erzählender Form näher zu bringen, förderte ein Buch zu Tage, welches rasch auch zu einem Lieblingsbuch der deutschen Familie wurde, vier Auflagen erlebte und in einer englischen Ausgabe in New-York erschien. Auch wurden die ersten fünf Romane dieses Genres sämmtlich in deutsch-amerikanischen Blättern nachgedruckt, selbstverständlich ohne daß der Autor nur einen Pfennig Honorar dafür erhielt, ebenso wenig wie für die New-Yorker englische Ausgabe seines „Mozart“. Auch sein „Beethoven“ brachte es noch zu einer zweiten Auflage.

Bereits 1843 hatte Rau einen Band Gedichte bei Frank in Stuttgart und vier Jahre später einen „Deutschkatholischen Volkskalender“ bei Groos in Heidelberg erscheinen lassen. Das Jahr 1859 brachte unter dem Titel „Natur, Welt und Leben“ eine neue Gedichtsammlung (Leipzig, O. Wigand) und einen Volkskalender „Nach der Arbeit“ (Frankfurt, Meidinger) von ihm, welch letzterer so großen Absatz fand, daß der ersten rasch vergriffenen Auflage eine zweite folgen mußte, was auch mit seinem Kalender für das nächste Jahr der Fall war.

Es ist klar, daß eine solche fast überreich zu nennende literarische Fruchtbarkeit – liegen von Heribert Rau im Ganzen doch, von seinen kleineren Schriften und Broschüren, Operntexten etc. abgesehen, achtundvierzig Werke in einhundertdrei Bänden gedruckt vor – nur zu ermöglichen war durch eine ganz außerordentliche Productionskraft, einen nie ermattenden Fleiß und einen rastlosen, fast verzehrenden Schaffensdrang. Ja, „verzehrend“ in des Wortes strengster Bedeutung. Denn ohne diesen fieberhaften, sich selber nie genugthuenden Drang und das unablässige Ringen und Streben, demselben Befriedigung zu verschaffen, hätten wir den liebenswürdigen und treuen Mann wohl noch Jahre lang unter uns weilen und wirken sehen. Wie er es aber trieb, bleibt nur zu verwundern, daß sich sein von Haus aus kräftiger Körper nicht noch früher aufgerieben hat. In der Periode seines angestrengtesten Schaffens, wie manche Nacht machte er zum Tage, wie kürzte er die so nöthige Zeit des Schlummers, „wo das Gehirn seine Mahlzeiten hält“, auf ein Minimum von oft nur zwei bis drei Stunden ein, bis lange nach Mitternacht im Bette lesend und so die Vorstudien zu seinen eigenen Arbeiten machend, dann, nach kurzem, unruhigem Schlummer, sich des Morgens um drei oder vier Uhr wieder vom Lager erhebend, um die Gebilde seiner Phantasie oder die Gedanken, welche seinen nie rastenden Geist erfüllten, auf’s Papier zu übertragen. Und dann: wie empfand er, was er schrieb! Seine Romanschöpfungen, welche er abschnittweise, wie sie entstanden, im Familienkreise vorlas, hat er völlig in sich durchlebt, und als er so eines Tages das Todescapitel aus seinem „Mozart“ den Seinen vorgelesen, war ihnen Allen, als sei ein ihnen theurer Mensch geschieden. Der Autor zumeist aber empfand Freud’ und Leid mit den Gestalten seines dichterischen Schaffens, und wenn er daran ging, das Ende eines seiner Helden zu schildern, so schnitt ihm das selber in’s Herz, und diese Empfindungen zitterten noch tagelang in ihm nach. Zu dem schweren Nervenleiden, das den letzten Abschnitt seines Erdendaseins verdüsterte, hat er in jenen Tagen einer schriftstellerischen Ueberproduction und Ueberanspannung seiner geistigen Zeugungskraft sicher den Grund gelegt.

Eine gleich umfassende und vielseitige Thätigkeit wie Rau hat vor ihm kaum ein zweiter deutscher Schriftsteller entfaltet. Die von ihm geschaffene, so überaus große Zahl von Werken aus fast allen Zweigen der Literatur konnte natürlich nicht überall und immer von gleichem Werthe sein, und nun gar zu verlangen, daß er auch auf allen wissenschaftlichen Gebieten, über die er geschrieben, als Selbstforscher thätig gewesen, hieße das Universalgenie eines Humboldt von ihm fordern. Er ließ sich daran genügen, das Edelmetall der Wissenschaft, welches Andere aus den Tiefen heraufgeholt, in handliche, gangbare Münze umzuprägen und unter die Leute zu bringen, und wenn er hier auch dann und wann einmal fehlgriff und für echtes Gold nahm, was die exacte Wissenschaft bereits wieder als Irrthum verworfen hatte, so verschwinden derartige gelegentliche Fehlgriffe verglichen mit den unleugbar großen Verdienste, welches sich Rau dadurch erwarb, daß er so viele Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung überhaupt in ansprechender Form zu popularisiren wußte. Den Leitsternen seines Lebens: Liebe zum Vaterlande, Freiheit des Gedankens, Aufklärung des Volkes und Erziehung desselben zu edler Menschlichkeit, ist er wissentlich niemals untreu geworden, und in diesem Sinne hat er auch auf einen außerordentlich großen Leserkreis anregend, erhebend und befruchtend gewirkt.

Die deutschkatholische Gemeinde in der Frankfurt benachbarten Fabrikstadt Offenbach am Main berief im Sommer 1868 Rau in ihre erledigte Predigerstelle. An der Spitze dieser Gemeinde stand damals noch, und bis zu seinem am letzten Tage des eben genannten Jahres erfolgten Tode, derselbe Mann, welcher sie 1845, als die erste des südwestlichen Deutschlands, in’s Leben gerufen hatte: Rau’s alter Freund und Kampfgenosse, der durch seine Poesien auch in weiteren Kreisen bekannt gewordene Kaufmann Joseph Pirazzi. Dieser lenkte die Wahl der Gemeinde auf Heribert Rau, welcher mit Freuden dem an ihn ergehenden Rufe Folge leistete, seinen Wohnsitz zwar im nahen Frankfurt beibehielt, während der nächsten sechs Jahre aber, bis zum Sommer 1874, ununterbrochen als Prediger und Religionslehrer in Offenbach thätig war.

Diese neue Wendung seiner Lebensbahn gab dem in letzter Zeit durch mannigfache widrige Schicksale, namentlich auch durch bedeutende pecuniäre Verluste, welche zum Theil auf das Fallissement des Verlegers seiner gelesensten Romane zurückzuführen sind und sich bei herannahendem Alter und naturgemäß abnehmender Productionskraft doppelt schmerzlich fühlbar machten, verdüsterten und gebeugten Manne wie mit einem Zauberschlage die alte Federkraft und Thatfreudigkeit neu zurück. Mit der Begeisterung eines Jünglings warf er sich noch einmal in die Wogen der religiösen Bewegung, und seine schwungvollen Vorträge füllten allsonntäglich die weiten Räume der Offenbacher freireligiösen Gemeindehalle mit einer aus allen Confessionen gemischten zahlreichen Zuhörerschaft. Während der Wintermonate hielt er daneben auch noch an Wochenabenden vielbesuchte Vorlesungen aus dem Gebiete der Erdbildungs-, Kirchen- und Culturgeschichte in Offenbach, die dann später ebenfalls im Buchhandel erschienen sind – ja, überdies fand er in diesem Endabschnitte seines arbeitsvollen Tagewerks auch noch zu zwei neuen Romanschöpfungen Zeit und Kraft und auch eine neu überarbeitete und erweiterte vierte Auflage seines „Katechismus der Vernunftreligion“ erschien noch im Jahre 1873.

Es war das letzte Aufleuchten der dem Erlöschen nahen Schaffens- und Lebenskraft, welches sich in diesen Vorträgen und Schriften documentirte. Spuren des Alters und des heranschleichenden körperlichen Verfalls zeigten sich bereits im letztgedachten Jahre bei unserm Freunde, und gleichen Schritt damit hielt eine sich neuerdings wieder bei ihm einstellende gemüthliche Verstimmung, welche zeitweise bereits in düstere Schwermuth überging. Die einst so elastische Spannkraft seines Geistes, die ihm früher innewohnende hohe Freudigkeit des Strebens und Wirkens begannen allgemach zu erlahmen und zu weichen: der Gedanke, vor der Zeit aus dem Kreise der Seinen und eines ihm liebgewordenen Berufes scheiden zu müssen, drückte den einst so kräftigen Mann nieder; er erschien gramvoll und sorgenbeschwert, und die ehedem so elastische Spannkraft seines Geistes mit einem Male geknickt und gebrochen.

In den Tagen des Sonnenscheins und der Stürme hatte Rau die verständnißinnigste Freundin, die treuste Beratherin und Mithelferin in der theuren Gefährtin seines Lebens, Friederike Wilhelmine geborene Müller aus Frankfurt, gefunden, mit der ihn seit dem Sommer 1839 das Band der glücklichsten Ehe vereinigte. Sie ist, wie er selbst von ihr gesagt, die lichte Seite seines Daseins gewesen. Die Charaktere beider Gatten hatten sich schön ergänzt, Eines ging in dem Andern völlig auf, und nur auf dem Boden eines so ungetrübten ehelichen Zusammenlebens konnte so viel Gutes und Schönes erwachsen. Heribert Rau wußte das richtige, gesunde Urtheil seiner Frau auch wohl zu schätzen, und selten ging, ohne daß er es zuvor befragt hatte, eine Arbeit von ihm in die Oeffentlichkeit. In manchem widrigen Geschick seines Lebens war ihm der edle und dabei feste Charakter seiner Gattin eine Stütze und ihr feinfühliger Tact, ihr scharfer Blick wußten in schwierigen Momenten, wo die Wage seines Willens anstand, den richtigen Ausschlag [880] zu geben. Und was waren ihm erst die Kraft und der Heroismus seines Weibes in den Tagen der schweren Heimsuchung, welche mit ihrem tiefen Schatten die letzten beiden Jahre seines Daseins verdunkelte!

Im Sommer 1874 nahm Rau einen mehrwöchentlichen Landaufenthalt im Taunus und an der hessischen Bergstraße, in der Hoffnung, die freie Natur, die erfrischende Berg- und Waldesluft werde auch seinem zerrütteten Gemüths- und Nervenleben Heilung geben. Doch es war bereits zu spät; das Uebel, welches ihn gepackt, nahm seinen langsamen, aber stetigen Fortschritt. Es war eigentlich kein Einzel-Leiden, sondern ein Conglomerat von Uebeln, welches gegen ihn anstürmte: chronische Nervenentzündung verbunden mit Hypertrophie des Herzens und Wassersucht, und daraus erwachsende Anfälle von qualvollster Athemnoth. Der Schlaf, welchen er einst freiwillig geopfert und von seinem Lager gescheucht hatte, floh ihn nun, da er ihn so innig herbeisehnte, wochen-, monatelang, und nur mit Hülfe narkotischer Mittel konnte er ihm dann noch künstlich zugeführt werden, aber nicht Erquickung und Stärkung, sondern nur eine sich oft tagelang hinziehende dumpfe Betäubung, ein Mittelzustand zwischen Schlaf und Wachen, war die Folge des Chlorats und Digitalins, zu dessen Anwendung der Arzt, um dem Kranken momentane Erleichterung zu verschaffen, so oft schreiten mußte. Dazwischen traten wieder Perioden anscheinender Besserung und größerer geistiger Frische, wo er an den Erscheinungen und Begebenheiten der Außenwelt erneuten Antheil nahm und Besuche von Freunden gern empfing. Doch der Gedanke an seine nahe Auflösung beschäftigte ihn gerade dann sehr häufig, wenn er ihm auch aus Rücksicht für die Seinen selten oder nie Worte lieh. Unterm 6. November 1874 schrieb er in einem an seinen Sohn Eduard gerichteten Briefe eine Art letzten Willens nieder, in welchem sich nachstehende beachtenswerthe Stelle findet:

„Die Meinen sollen sich bei meinem Tode vernünftigerweise aller großen Schmerzensäußerungen enthalten und meinen Wunsch achten und ehren, der seit langer Zeit darnach ging: nach den namenlosen Qualen ewiger Schlaflosigkeit endlich den Frieden ewiger Ruhe und stillen Schlafes zu finden.“

Heribert Rau hat im Manuscript noch zwei Bände Gedichte „Liederfrühling im Herbste des Lebens“ hinterlassen, die noch manche späte Blüthe seines sinnigen Gemüthes entfalten. Darunter befindet sich auch ein Sonett: „Der sterbende Schwan“, welches tiefe Schwermuth athmet und worin er das eigne Ende poetisch verklärt. Er schildert darin einen Schwan, der auf waldumschlossenem See dahinzieht und, von einem Pfeile tödtlich getroffen, vor seinem Verscheiden noch einmal melodisch zu singen anhebt. Dann heißt es:

„So hat auch mich des Schicksals Pfeil getroffen;
Die Freude starb; es starb mein letztes Hoffen;
Fast wird das Todesweh zur süßen Lust.
Da hebt der Geist noch einmal sein Gefieder,
Und schmerzerzeugte, tiefgefühlte Lieder
Entquellen sterbend noch der wunden Brust.“ …

Von Januar 1875 an verließ Rau seine Wohnung nicht mehr und verbrachte seine Tage fast ausschließlich nur noch in ewigem ruhelosem Wechsel zwischen Bett und Sessel. Wer hätte unter solchen Umständen aber denken sollen, daß dem an Herz und Nieren todtkranken Mann sein ältester Sohn noch im Tode vorausgehen würde? Und dennoch sollte die schwergeprüfte Familie auch dieser furchtbare Schlag noch treffen: der liebenswürdige junge Mann erlag am 6. November 1875 einem schweren Nerven- und Gemüthsleiden, an welchem er seit einiger Zeit rettungslos dahinsiechte.

Nach Monaten erst erfuhr Rau den ihm sorgfältig geheim gehaltenen Tod seines Kindes, den er wohl längst im Stillen geahnt haben mochte, über welchen sich Klarheit zu verschaffen er aber offenbar scheute, denn er fragte in dieser ganzen Zeit niemals nach dem Sohne. Als ihm endlich die traurige Gewißheit nicht mehr länger verborgen bleiben konnte, brach der arme Mann in lautes Jammern und Wehklagen aus. Aber immer noch widerstand Rau's Natur dem unablässig auf sie anstürmenden Heer von Uebeln; ja, der Arzt erklärte, mit Bestimmtheit keineswegs sagen zu können, welche Frist ihm noch zugemessen sei. Sicher sei nur Eines: daß er nie mehr gesunden werde. Unter diesen Umständen mußten Alle, die es aufrichtig wohl mit ihm meinten, wünschen, daß seinen Leiden der Tod endlich Erlösung bringe. Und die Erlösung kam. Im August 1876 traf ihn der erste Vorbote des Todes in einem Schlaganfall, der seine linke Seite lähmte. Die Klarheit des Geistes, die Frische des Gedächtnisses aber verblieb ihm noch immer und bis an’s Ende.

Rau hatte von je in der äußeren Erscheinung auf sich gehalten; sein ästhetisches Bedürfniß offenbarte sich auch hierin; sein Habitus war allzeit der eines Gentleman. Und so fand man ihn auch stets in seiner Krankenstube, mochte er nun zu Bette liegen, oder, in seinen langen Hausrock von dunkelbraunem Sammet eingeknöpft, im Sessel ruhen.

Als der Verfasser dieser Mittheilungen den Kranken kurz vor seinem Tode noch einmal besuchte, traf er ihn im Bette und gegen früher merklich gealtert, aber seine Züge in keiner Weise entstellt, vielmehr zu einem lieben, sanften Greisenantlitz verklärt. Und gerade so lag er auch da, als der Tod ihm Befreiung von allem Erdenschmerz gebracht hatte. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. Er schlug sein großes, sanftes Auge zu dem Besucher auf und sagte in langen Zwischenpausen: „O lieber Freund – – Sie ahnen nicht – – wie sehr ich leide.“ Die ausgesprochene Hoffnung auf baldige Besserung erwiderte er mit einem schmerzlichen Lächeln und einem Blick nach oben.

Am 25. September, Morgens 8 Uhr, als er sich eben wieder vom Lager erheben und nach dem Sessel begeben wollte, traf ihn ein zweiter Schlaganfall, der ihm die Sprache und bald auch das Bewußtsein raubte. Nur noch einmal hörte man das Wort „Aus!“ sich ihm von den Lippen ringen. Ja, es war aus mit ihm. Um zwei Uhr des andern Nachmittags that er seinen letzten Athemzug. –

Ein langes Gefolge von leidtragender Freunden und Gesinnungsgenossen begleitete den geschiedenen Kämpfer in den Morgenstunden des 29. September auf seinem letzten Wege zu dem schönen Frankfurter Friedhof. – Am Grabe sprachen nach einander Worte der Verehrung und Liebe: der Prediger der Frankfurter deutsch-katholischen Gemeinde, Wilh. Flos, der würdige Schüler Uhlich’s, Johannes Ronge, Vertreter der Mannheimer, Offenbacher, Hanauer und Wiesbadener deutsch-katholischen Gemeinde, welche Lorbeerkränze an dem Grabe niederlegten, und zuletzt noch, indem er ihm die drei symbolischen maurerischen Rosen auf den Sarg hinunter warf, ein Mitglied der Frankfurter „Loge Sokrates“, welcher der Hingeschiedene angehört hatte. –

Heribert Rau ist gestorben, aber in vielen tausend Herzen, die seine Schriften erhoben, erhellt und erfreut, wird sein Name in dankbarer Erinnerung fortleben.

Eines seiner Mahnworte an das deutsche Volk lautete: „Werdet freie Menschen, die nicht mehr der Vortheil der Herrschsüchtigen unter den Priestern trennt!“

Ja, – werdet freie Menschen!

E. P.